

WESTDEUTSCHLAND NACH 1945 - Mythos Trümmerfrauen
Nach dem Zweiten Weltkrieg kümmerten sich vor allem professionelle Baufirmen um die Beseitigung der Trümmer, mit Hilfe tüchtiger Frauen. Aber nicht sie, sondern die "Trümmerfrauen" wurden zum Mythos. Von Marita Krauss (BR 2021)
Credits
Autorin: Marita Krauss
Regie: Martin Trauner
Technik: Siglinde Hermann
Es sprachen: Katja Amberger, Detlef Kügow, Christiane Blumhoff, Jerzy May
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Else Rau
Linktipps
ARD Archivradio (2025): Reportage über Trümmerfrauen in Berlin
vDas Bild der fröhlich anpackenden Trümmerfau prägt bis heute unsere Wahrnehmung vom Wiederaufbau der zerbombten deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon während des Krieges hatte Goebbels Propagandaministerium Schauspielerinnen in den Trümmern fotografieren lassen, um nach alliierten Luftangriffen Zuversicht in der Bevölkerung zu verbreiten. Nach dem Krieg prägen wieder Frauen die Aufräumarbeiten, vor allem auch, weil viele Männer umgekommen oder in Kriegsgefangenschaft sind. Sie machen aber im Gegensatz zur Nazi-Propaganda keinen Hehl daraus, wie hart diese Arbeit ist. Gut zu hören hier im Beitrag aus Berlin vom 21. Juni 1947. JETZT ANHÖREN
ZDF (2022): Ein Tag in Dresden 1946
Elli Göbel ist eine von über 500 Trümmerfrauen, die helfen, die zerbombte Stadt wieder aufzubauen. Die fiktive Biografie zeigt Schicksal und Lebenswirklichkeit. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ERZÄHLERIN
Sie holen mit bloßen Händen Steine aus den Trümmern, klopfen Mörtel von Ziegelsteinen, schichten Ziegelhaufen auf, schieben schwere, mit Trümmerschutt gefüllte Loren – Frauen, und zwar nur Frauen erscheinen auf Fotos der unmittelbaren Nachkriegszeit als die Heldinnen des Neuanfangs.
MUSIK
ERZÄHLER
Solche Fotos der Jahre 1945 und 46 sprechen Bände. Die deutschen Frauen, so suggerieren sie, packen an, sie beseitigen den Schutt, den der Krieg der Männer hinterlassen hat, sie ziehen den Karren aus dem Dreck. Die Frauen waren diejenigen, heißt es, die ganz allein und ohne professionelle Hilfe den Schutt wegräumten.
ZITATORIN
Die Trümmerfrauen sind zum Symbol für den Aufbauwillen und die Überlebenskraft der Deutschen in der Nachkriegszeit geworden. Ohne ihre Schwerstarbeit wären die deutschen Städte lange Zeit Schutthalden geblieben, ohne ihre unermüdliche Tätigkeit das Überleben der Familien nicht gesichert gewesen.
ERZÄHLER
So steht es auf der Internetplattform des Deutschen Historischen Museum Berlin. Über die Trümmerfrauen, so scheint es, gibt es wenig Dissens, sie gehören mittlerweile zum offiziellen Geschichtsbild. Von „Trümmermännern“ wird selten gesprochen. Es ist auch nicht von den Baufirmen die Rede, die Abriss und Wiederaufbau mit Hilfe professioneller, meist männlicher Bauarbeiter bewältigten. Unerwähnt bleiben ebenso die alliierten Besatzer, die mit schwerem Gerät, logistischer Unterstützung, Manpower und Unmengen von Material halfen. Nein, es waren die deutschen Frauen.
ERZÄHLERIN
Aber wer die Bilder der Ruinenstädte kennt, weiß, dass das nicht ausgereicht haben kann: Mehrstöckige Häuser mussten eingerissen werden, meterhohe Mauern waren zu stützen oder zu sprengen, enorme Schuttberge von Straßen und Plätzen zu räumen. Alles durch die deutschen Hausfrauen mit bloßen Händen?
ERZÄHLER
Grund genug also zu fragen: Gab es denn diese Trümmerfrauen überhaupt, die – zur Arbeit für geringen Stundenlohn dienstverpflichtet – öffentliche Straßen und Plätze von Trümmern und Schutt befreiten, diesen auf Loren luden und abtransportierten, alles im Dienste der Gemeinschaft? Eine Bestandaufnahme.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Bei Kriegsende 1945 bestand die Bevölkerung in Deutschland überwiegend aus Frauen, Kindern und alten Menschen. Die Männer, die den Krieg überlebt hatten, kamen oft erst nach Jahren zurück. Die Frauen wurden daher notgedrungen zu Heldinnen des Alltags: Mit Improvisation, Hamstern, Geschick und Schwarzmarktkäufen hielten sie ihre Familien über Wasser.
ERZÄHLER
Der Zeitzeuge Christian Hallig beschreibt den Alltag dieser Frauen der Trümmerzeit in den letzten Kriegsjahren und nach Kriegsende:
ZITATOR
Hetzen nach Lebensmitteln auf Karten, stundenlanges Anstehen, um die mageren Rationen zu ergattern. Die Kinder versorgen. Tätig als Krankenschwester, als Wehrmachtshelferinnen, an den Flakbatterien oder in den Fabriken beim Granatendrehen. Und als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen. Zu Hause immer die Feuerpatsche und den Eimer mit Wasser bereit, wenn die Bomben wieder einmal die Wohnung durchgeblasen haben. Krieg aus. Nun erst recht ran. Denn die Männer sind gefallen, vermisst oder noch in Gefangenschaft. … Stets ist der Tag zu kurz, er müsste zehn Stunden mehr haben, um das zu schaffen und zu organisieren, was das Überleben ermöglicht.
ERZÄHLERIN
Aus Hunger wurde bei Kriegsende auch geplündert. Die Münchnerin Else Rau, Jahrgang 1910, berichtete im Gespräch mit der Autorin Carlamaria Heim von der großen Plünderung der Wehrmachtsbestände im Münchner Bürgerbräukeller unmittelbar vor dem Einmarsch der Amerikaner am 30. April 1945. Die hungrigen Frauen und Männer schleppten heim, was sie tragen konnten. Else Rau war mit ihrer Mutter zusammen aufgebrochen, um auch etwas zu erwischen und kam mit einer schweren Kiste wieder aus dem Lagerkeller nach oben:
O-TON Else Rau
Komm i rauf – Nacht. Na war neba mir a Frau, na hat’s g‘sagt: ‚Hab‘m Sie wos dawischt?‘ ‚Ja‘, hob i gsagt, ‚aber glaub’n‘s, i glaub i muas lieg‘n lass‘n, i kann‘s nimmer hoamtrag’n. Und mei Mama had ma an der Stimm erkannt. ‚Els, Els,‘ hat’s g’sagt, ‚kumm her!‘ Na hamma de Kistn aufn Schlittn nauf und hamma’s hoamg’fahr’n. Na samma hoam. Na hamma de Kistn aufg‘stemmt. Dann war‘n da Fleischdos‘n drina. I konn Eahna sag’n: Also mei Mamma hat direkt zerst a Gsetzl g‘woant vor lauta Freid, glaub‘m‘s des? Also i hab‘s gar net fass‘n kenna. Und mir hab‘m an Kater doch g‘habt, gell, der hat doch a so an Kohldampf g‘habt. De erste Dos‘n de ma aufgmacht hab‘m, den ersten Bissen hat d’Katz kriagt.
ERZÄHLERIN
Einen Tag später ergatterten die Münchenerinnen und Münchner auch noch Wein. Else Rau:
O-TON Else Rau
Mir san nüber. Dawei san die Leut bis zu de Wadl im Wein gewatet. Wissen‘s, des war die – i versteh’s vielleicht scho – die Gier, und an Hahn, an Zapfhahn ham‘s net g’habt, da ham’s de Spund eintret’n, da ist der Wein rausg’laufa. Na hat d‘Mama zwoa Putzkiebi voll Wein und an Suppenhafa a voll a no hoamg‘schleppt, gell, oiso na hamma a no an Wein g‘habt, Da drin san lauter so kloane Garterln gwesen. Und de oiden Leit – mei, de jungan, de warn ja meistens gar net da - und de hab‘m nachat a eanan Wein g‘habt und hab‘m dann g‘sunga und war‘n fröhlich, gell – wissen S‘, des war – de hab‘m so richtig an, i mecht fast sag‘n, ned as Kriegsende, sondern mehr oder wenicher an Sieg g’feiert – mecht i fast sag‘n. Des war für uns boid a Sieg. Weil ma was z‘Essn g‘habt ham.
MUSIK
ERZÄHLER
Der Krieg war zu Ende, doch nun standen die Deutschen vor der gigantischen Aufgabe, die Trümmer zu beseitigen. Antonie Rasch aus Haunstetten bei Augsburg in einem Interview:
ZITATORIN
Ein schauerliches Bild bot sich uns, als wir wieder in unsere Straße kamen. Unser Haus war schwer von Brandbomben getroffen. Nur noch die Grundmauern standen, außerdem noch die beiden Kamine und die fielen nach einem schweren Gewitter in sich zusammen. Das Haus war völlig unbewohnbar. … Dem Wiederaufbau des Elternhauses galt unser ganzer Ehrgeiz. Als mein Bruder am 22. Juli 1945 aus der amerikanischen Gefangenschaft nach Augsburg kam, haben wir beide sofort beschlossen: „So, jetzt bauen wir das Haus wieder auf.“… Zuerst mussten wir Unmassen von Schutt aus dem Trümmerhaufen räumen…. Meine Aufgabe war es, die noch brauchbaren Ziegelsteine mit einem Hammer vom Mörtel zu befreien. Die Steine mussten picobello sauber sein, sonst hielt der neue Mörtel nicht an den Ziegeln und die ganze Arbeit war umsonst. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich Steine klopfte, in meiner Erinnerung kommt mir die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Es war eine Sträflingsarbeit. Ich weiß noch gut, einmal habe ich mit einem Helfer um die Wette gehämmert. Wir schafften 300 Steine an einem Tag, das war unser absoluter Rekord. Die harte Arbeit machte mir damals nichts aus, ich hatte mein Pflichtjahr auf dem Land in Waal bei Buchloe absolviert und konnte zupacken wie ein Mann.
ERZÄHLER
Elisabeth Widmann, 1945 Mutter einer dreijährigen Tochter, ebenfalls aus Haunstetten:
ZITATORIN
Mit dem Aufbau ging es nur zögerlich voran. Mein Mann hatte gleich eine Stelle als Maurer wieder angenommen. Wir brauchten ja Geld. Und Arbeit für Maurer gab es in jener Zeit genug. Er konnte also nur in seiner knappen Freizeit an dem Haus arbeiten. Ich kümmerte mich damals in erster Linie um unsere Tochter und die Versorgung der Familie. Die schwere Arbeit auf dem Bau konnte ich ja nicht verrichten. Steine klopfen und Nägel gerade biegen gehörte jedoch zu meinen Aufgaben. Auch rührte ich schon mal den Mörtel an, bis mein Mann von der Arbeit heim kam, so dass er gleich loslegen konnte.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Frauen, die in den Trümmern arbeiteten, die für den privaten Wiederaufbau Steine klopften, die als „Trümmerspechte“ aus den Trümmern Brennholz zogen, solche Frauen gab es also viele. Doch immer arbeiteten Frauen und Männer gemeinsam in den Ruinen der Städte. Was aber war mit der "deutschen Trümmerfrau", die ganz allein die Städte von den Trümmern beseitigte? Wie ist dieser Mythos entstanden?
ERZÄHLER
Bereits in der NS-Zeit wurden Trümmerfrauen-Fotos inszeniert. Es sind NS-Propagandabilder des Fotografen Hugo Schmidt-Luchs überliefert, der 1944 in Hamburg Schauspielerinnen zu einem „Trümmerfrauen-Fotoshooting“ zusammengeholt hatte. Sie stehen bei strahlendem Sonnenschein hübsch, jung und lachend, mit Röcken, ungeeignetem Schuhwerk und natürlich ohne Handschuhe auf Ziegelhaufen und geben sich in der Kette Ziegelsteine weiter. „Gemeinsam sind die Schwachen stark“, signalisieren diese Bilder. Ob die Fotos noch im Rahmen der NS-Propaganda Verwendung fanden, ist nicht bekannt. Sie sind jedenfalls der Prototyp der Trümmerfrauen-Fotos, wie sie noch heute in Schulbüchern zu finden sind.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Trümmerfrauen – oder vielmehr das, was man dafür hielt – blieben auch nach Kriegsende ein Motiv für Fotografen. Doch die fotografierten Frauen waren oft nicht, was man sich heute vorstellt. Dies beweist ein Foto, dessen Geschichte sich nachverfolgen lässt: Lachende junge Frauen mit den charakteristischen Kopftüchern stehen auf einem schmalen Sims, von dem aus es scheinbar tief nach unten geht. Sie reichen sich Steine weiter. Dieses Bild findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen im Internet, unter anderem als „Trümmerfrauen in Würzburg, 1945“. Auch in einem bayerischen Schulbuch ist es abgebildet, zusammen mit Fotos zu deutschen Soldaten auf dem Weg in die Kriegsgefangenschaft, Kindern, die in Ruinen spielen, und einem Bild mit Menschen, die auf dem Trittbrett eines überfüllten Zuges mitfahren. Dort wird es bezeichnet als „Trümmerfrauen in München“.
ERZÄHLER
Was zeigt das Bild nun wirklich? In der Originalbeschriftung der Kontaktabzüge steht: „Pg-Frauen arbeiten am Färbergraben“. Es handelt sich also um einen Schutträum-Einsatz ehemaliger NS-Parteigenossinnen, die wegen ihrer Mitgliedschaft in der Partei nach Kriegsende zu gemeinnütziger Arbeit beim Schutträumen verurteilt worden waren. Auch diese Frauen arbeiteten übrigens zusammen mit Männern, wie sich an einem weiteren Foto dieser Räumaktion zeigen lässt. Doch der Fotograf hatte für das Foto alle Frauen zusammengeholt und das Bild später dann auch noch so beschnitten, dass ein Loch in der Straße wie ein dramatischer Abgrund wirkte. „Trümmerfrauen“ bei der Arbeit erschienen ihm attraktiv.
ERZÄHLERIN
Verpflichtende Räumaktionen waren nichts Neues. Bereits während der NS Zeit wurden Frauen, Schülerinnen und Schüler oder Angestellte von Betrieben im Rahmen des so genannten „Ehrendienstes“ am Wochenende zur freiwilligen Trümmerräumung aufgerufen. Dieser typische NS-Begriff „Ehrendienst“ taucht wieder Anfang 1946 in Würzburg auf:
ERZÄHLER
Frauen und Männer wurden unter dieser Bezeichnung dazu verpflichtet, eine bestimmte Zahl von Tagen Trümmer zu räumen. Auch in anderen Städten, so in Kassel, musste jede Frau acht Tage im Jahr Trümmer räumen. In West-Berlin wurden ab Juni 1945 Frauen wie Männer als „Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen im Baugewerbe“ dienstverpflichtet. Sie verdienten 60 oder 70 Pfennige pro Stunde und erhielten bei der Lebensmittelzuteilung Schwerarbeiterzulagen. In Berlin arbeiteten im Juli 1946 rund 41.000 weibliche und etwa 37.000 männliche Hilfskräfte bei der Trümmerräumung mit. Solche Dienstverpflichtungen sind der historische Boden, auf dem die Erzählung von den Trümmerfrauen entstand.
ERZÄHLERIN
Doch ebenso real sind die amerikanischen Besatzer, die in allen zerstörten Städten von Anfang an mit schwerem Gerät, mit Lastwagen und Personal halfen: Denn es bestand ein hohes Risiko, dass Menschen ums Leben kamen, wenn Fassaden einstürzten. Mit Trümmerfrauenarbeit allein hätte man nirgends die öffentliche Sicherheit garantieren können. Schwerarbeiten leisteten dann auch deutsche und ungarische Kriegsgefangene oder internierte NS-Profiteure. In einem amerikanischen Wochenbericht für den Regierungsbezirk Schwaben vom November 1945 heißt es:
ZITATOR
Die Reparaturarbeiten an der Reichsautobahn schreiten voran, wir beschäftigen dafür SS-Männer. Für den Bau von Lechbrücken wurden 60 Gefangene herangezogen.
ERZÄHLERIN
Ehemaligen Nationalsozialistinnen wurde mit dem Entzug der Lebensmittelzuteilung gedroht, sollten sie sich weigern, ein gewisses Pensum an Trümmerräumarbeiten zu leisten.
MUSIK
ERZÄHLER
Das Bild der heldenhaften Trümmerfrau, die Deutschland mit bloßen Händen aufräumte, setzt sich also aus vielen Mosaiksteinen zusammen, zu denen die Dienstverpflichtung ebenso gehört wie die Inszenierung durch die Fotografen. Gespeist wurde es damals sicher auch von dem Wunsch nach einem Vorbild, nach Menschen, die anpacken, um einen Weg aus den Trümmern zu finden.
ERZÄHLER
Der Alltag der Frauen in den Jahren nach 1945 war auch ohne zusätzliche Schwerstarbeit anstrengend und zermürbend. Die eigentlichen Hungerjahre standen der Bevölkerung noch bevor: Die offiziellen täglichen Rationen sanken auf 1.500 bis 1.000 Kalorien. Ohne markenfreie Zusatzernährung ging es den Menschen schlecht. Es brach die Zeit der Ersatzprodukte an: Trockenmilch, Trockenei, als Ersatzkaffee den „Muckefuck“ aus Zichorien. Statt Essig nahm man Rhabarber- oder Berberitzensaft. Fleischpflanzerl wurden mit püriertem Salat von roten Rüben gestreckt. Und die Kochbücher des Jahres 1946 enthielten jede Menge Kartoffelrezepte. Eine Zeitzeugin:
ZITATORIN
Jeden Tag ging ich aus dem Haus, um irgendetwas Essbares für meine Familie zu suchen. Da stand plötzlich einmal ein Wagen mit Spinat, ein anderes Mal einer mit Blattsalat. Oder eine Bäckerei verkaufte etwas, das wie schwarzer Kuchen aussah und ein klein wenig süß schmeckte… Was Kartoffeln anbelangte, hatte ich mit dem Himmel einen Vertrag abgeschlossen: ‚Lieber Gott, wenn Du mir nicht hilfst, immer wieder Kartoffeln zu organisieren, lege ich mich ins Bett und rühre keinen Finger mehr!‘ Ich brauchte mich nicht ins Bett zu legen. Es geschahen Dinge, die Wunder ersetzten.
ERZÄHLER
Da es auch an allem anderen fehlte, musste die Hausfrau nicht nur beim Kochen improvisieren. Dunkle Sachen wusch man mit dem Sud von Efeublättern oder mit Ochsengalle, für helle Wäsche nahm man Kastanien oder Kartoffelschalen. Zum Einweichen für die große Wäsche empfahlen die Frauenzeitschriften „Der Silberstreifen“ oder „Der Regenbogen“ Holzaschenlauge. Und was man nicht mehr weiß bekam, konnte man auch färben. Um alte Kleidungsstücke neu erscheinen zu lassen, griff man notgedrungen ebenfalls auf die Natur zurück und färbte mit den Schalen Roter Rüben Textilien karminrot, mit Spinatbrühe hellgrün, mit Birkenlaub grüngelb, mit Sauerampfer maisgelb. Auch die Kosmetik war nun sehr naturnah: Regenwasser oder dünner Aufguss aus Lindenblüten- oder Kamillentee dienten als Gesichtswasser und die Haare wurden mit einer stark verdünnten Spirituslösung massiert, wenn sie zu sehr unter den „Wuckerln“ gelitten hatten, den Röllchen aus Papier oder Holz, auf die sie über Nacht aufgedreht wurden.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Kultur bot ebenfalls eine wichtige Möglichkeit, sich vom Alltag abzulenken; doch auch hier war der Hunger immer dabei. Else Rau erlebte im Münchner Prinzregententheater am 15. November 1945 die Operneröffnung mit Fidelio:
O-TON Else Rau
Im Vorraum vom Prinzregententheater da hab‘n de Ami so a Art Küch‘ eingerichtet g’habt, gell, mit eahnerne Gulaschkanonen und wia ma da so im Theater g’sess‘n san, gell, mia ha’m, Guat‘l hamma koa g’habt, na hat a jede drei Erbs’n im Mund g’habt, wissen’s zum Zutzl’n, drum dass ma was im Mund g’habt hat. Auf oamoi kumma da Gerüche, Gerüche nach Gulasch. Zwiefin und feine Gewürze und Fleisch und Gulasch, Gulasch, Gulasch – i kon Eahna sag’n, des is immer intensiver wor’n, und ‘s Wasser is‘ uns im Mund z’amg’lauf’n, oiso i kon Eahna sag’n, wir san mim Schlucka nimmer nachkumma. Oiso es war phantastisch. Dabei hab‘n de nacha in der großen Pause g‘sehn, dass die herauß‘d eahnare Gulaschkanonen da in Tätigkeit g‘setzt ham und ham da ‘kocht. Meine Güte, oiso des war unbeschreiblich, was ma da für a Gier kriagt hat. Also Fidelio und Gulasch, is für mich ein Begriff!
ERZÄHLER
Der Alltag der Frauen war Abenteuer genug und ein täglicher Kampf ums Überleben. Neben Essensbeschaffung, Haushalt, Kindererziehung und manchmal etwas Freizeit bestimmte Erwerbsarbeit ihr Leben. Da ganze Jahrgänge an jungen Männern durch den Krieg dezimiert worden waren, mussten viele Frauen damit rechnen, ledig zu bleiben. Umso wichtiger wurde die Arbeit für sie. Auf dem Land war das zunächst vor allem die Tätigkeit auf dem Bauernhof: So arbeiteten evakuierte Städter und Städterinnen, aber auch viele der Flüchtlinge aus den Sudetengebieten, aus Schlesien oder Ostpreußen für Unterbringung, magere Ernährung und geringen Lohn auf den Feldern und im Stall. In der Stadt wurden Frauen hingegen immer mehr in qualifizierten Berufen tätig. Waren bereits in den Zwanzigerjahren Berufe wie Büromädchen, Stenotypistin, Sekretärin, Telefonistin oder Laborantin üblich geworden und hatten die Arbeit als Dienstmädchen in der Hauswirtschaft abgelöst, so ging nun der Aufstieg der Frauen weiter. Ein Bericht des Münchner Wiederaufbaureferats für 1946 hält fest:
ZITATOR
Von dem patriarchalischen Zustand, dass der Mann die Familie ernährt und die Frau das Hauswesen besorgt, hat sich die Großstadtfamilie schon lange entfernt. … 37,8% der Erwerbstätigen sind Frauen. … Allerdings verbirgt sich hinter dem überraschend hohen Anteil der Frauenarbeit eine weittragende soziale Umschichtung…Bei der letzten Zählung im Herbst 1946 waren im Angestellten- und Beamtenverhältnis schon mehr Frauen tätig als in Lohnarbeit.
ERZÄHLERIN
Für die Frauen brachte also die Nachkriegszeit den Aufstieg in Berufe, die gerade nichts mit schwerer Handarbeit zu tun hatten. Doch schon seit den Fünfzigerjahren wurden „Trümmerfrauen“-Denkmäler errichtet, zunächst 1952 in Dresden und in Berlin. Noch ehrte man auch die Männer. So stehen vor dem Roten Rathaus in Berlin seit 1958 zwei Bronzestatuen, die „Aufbauhelferin“ und der „Aufbauhelfer“. Doch bald verengte sich der Fokus auf die Frauen: Ehrungen für die unbekannten Trümmerräumerinnen, die angeblich allein den Wiederaufbau bewältigt hatten, fanden immer wieder engagierte Streiterinnen und Streiter. In vielen deutschen Städten entstanden „Trümmerfrauen“-Denkmäler.
ERZÄHLER
Zum Mythos der Trümmerfrau trug auch die neue Frauenbewegung der Siebzigerjahre bei, die auf die Suche nach den Frauen in der Geschichte ging und den eigenen Müttern ein Denkmal setzte – den starken Müttern der Nachkriegszeit, die in einer vaterlosen Gesellschaft die Kinder alleine großgezogen, für Essen und das alltägliche Überleben gesorgt hatten. Da diese Alltagsarbeit, tatsächlich das millionenfache Schicksal der Nachkriegsfrauen, nicht spektakulär genug schien, trat die „Trümmerfrau“ im engeren Sinne in den Mittelpunkt, die „wie ein Mann“ anpackte und mit schwerer Arbeit den Karren aus dem Dreck zog.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Ihr Mythos überlagert und verstellt in der Rückschau den Blick auf die Frauen der Trümmerzeit und damit auch auf das spezifisch weibliche Nachkriegsschicksal.