Alles Geschichte - Der History-Podcast

ARD
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Aug 22, 2025 • 22min

WIE MENSCHEN FRÜHER REISTEN - Die "Grand Tour" der Eliten

Lange war das Reisen ein Privileg des Adels und der wohlhabenden Patrizier; die ihre Söhne nach der Schulausbildung auf die so genannte Grand Tour schickten. Eine strapaziöse Reise; mitunter auch gefährlich. Von Ulrike Beck (BR 2018)
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Aug 22, 2025 • 22min

WIE MENSCHEN FRÜHER REISTEN – Die Transsibirische Eisenbahn

Sie ist die längste Eisenbahnstrecke der Welt - die Transsibirische Eisenbahn. Ende des 19. Jahrhunderts will das Zarenreich mit ihr einen Traum wahrmachen: den Raum besiegen und Russland in die Moderne katapultieren. Von Elsbeth Bräuer (BR 2018)Credits Autorin: Elsbeth Bräuer Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Rainer Buck, Herbert Schäfer Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz   Im Interview: Prof. Dr. Benjamin Schenk Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: MDR (2025): Weltgeschichte vor der Haustür Hans Christian Andersen liebte das Reisen – vor allem mit dem Zug. Er lernte das Osmanische Reich kennen, Portugal oder Großbritannien. Eine seiner ersten Reisen führte ihn 1831 nach Deutschland - der Anlass war eine unglückliche Liebe. Das Reiseziel Deutschland hatte mit seiner Vorliebe für Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Ludwig Tieck oder Heinrich Heine zu tun. In die Sächsische Schweiz zog es ihn wegen seiner Schwäche für Berge, Felsen, Täler und Höhlen. Und die Stadt Dresden faszinierte ihn so sehr, dass er danach immer wieder zurückkehrte. ZUR FOLGE Linktipps BR (2025): Glacierexpress Neben der Transsibirischen Eisenbahn ist die Fahrt mit dem Glacierexpress eine der berühmtesten Eisenbahnreisen der Welt. In acht Stunden erlebt man zwischen St. Moritz und Zermatt knapp 300 Kilometer Schweizer Alpenlandschaft in ihrer schönsten Form. Seit 88 Jahren gehört die Reise mit dem "langsamsten Schnellzug der Welt" zu einer der aufregendsten und bequemsten Möglichkeiten, die Alpen zu entdecken. Die dreiteilige Dokumentation gibt es in der ARD Mediathek. JETZT ANSEHEN BR (2024): Die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland – Vom Adler zum ICE Neun Minuten dauert die Jungfernfahrt der Lokomotive "Adler". Sie läutet 1835 auf den frisch verlegten Schienen zwischen Nürnberg und Fürth das Eisenbahnzeitalter ein. Seitdem hat sich viel getan in der Geschichte der Eisenbahn... Von Inga Pflug (BR 2020) JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte gibt es auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:MUSIK ZITATORSo versank gewissermaßen die europäische Welt hinter uns, und es gab keine Mittel und Wege, die Verbindung mit ihr wieder herzustellen. Aber eine ganz neue und kaum geahnte Welt stieg dafür vor uns auf und sprach in beredter Weise, mit lebhaften Bildern zu unseren Sinnen. Die Eisenbahn brachte durch den unendlich langen Einschnitt, den sie in den asiatischen Kontinent macht, überall neues Leben hervor. SPRECHERSie ist eine Bahn wie keine andere. Die Transsibirische Eisenbahn, von der der deutsche Journalist Eugen Zabel schwärmt, ist längst ein Mythos. Über 100 Jahre später fasziniert sie immer noch Reisende und Russlandfans. Nicht nur für Eisenbahnromantiker ist es ein Traum: Einmal die große Reise von Moskau nach Wladiwostok antreten, über 9.000 Kilometer Schienen, während am Fenster eine endlose Schneelandschaft vorbeizieht, die Eisenbahn sanft rattert und es in den Gängen nach russischem Tee riecht. MUSIK SPRECHERDas Zarenreich im 19. Jahrhundert. Alexander III. herrscht über ein riesiges Imperium – von St. Petersburg im Westen bis zur Pazifikküste im Osten. Doch der Zar hat ein Problem. In den entfernten Gebieten kann er seine Herrschaft schlecht durchsetzen, der Handel mit Sibirien wird erschwert durch schlammige Straßen und unpassierbare Gebiete. Daher geistert jahrzehntelang eine Idee durch die russischen Ministerien. Ein „stählernes Band“ soll Russland wie einen Gürtel zusammenhalten – die Transsibirische Eisenbahn. Es wird die längste Eisenbahnstrecke der Welt werden, ein Viertel des gesamten Erdumfangs. Der Historiker Prof. Benjamin Schenk hat ein Buch darüber geschrieben: „Russlands Fahrt in die Moderne“. 1 O-TONDas war ein Zeitalter, wo man weltweit daran dachte, große Distanzen mithilfe dieser modernen Infrastruktur zu erschließen. Es war auch die Zeit der großen Verkehrsprojekte auf dem amerikanischen Kontinent, es war die Zeit, wo man den Suezkanal baute und Jules Verne sein Buch schrieb "In 80 Tagen um die Welt", und wo man davon träumte, dass man mithilfe dieses modernen Verkehrsmittels nun Raum und Zeit besiegen könne. SPRECHERDer Mann, der für diesen Traum kämpft, heißt Sergei Witte. Sein Herz schlägt für die Schienen. Der Manager berät den Zaren zu Eisenbahnprojekten, wird Verkehrs- und später Finanzminister – er will das Zarenreich moderner machen. In seinem Buch „Die Memoiren des Grafen Witte“ von 1921 beschreibt er, welch großen Stellenwert die Eisenbahn für ihn und den Zaren hat: ZITATOR Die Idee, das europäische Russland mit Wladiwostok zu verbinden, war einer der größten Träume von Alexander III. [...] In meiner Funktion [...] setzte ich mich hartnäckig für die Notwendigkeit ein, die große Sibirische Bahn zu bauen. So sehr die früheren Minister den Plan abwendeten, so wollte ich ihn durchführen, erinnere ich mich an mein Versprechen an den Kaiser. Als Finanzminister war ich in einer besonders guten Position dafür, denn was man für den Bau der Bahn am meisten brauchte, war Geld. SPRECHERWas die Eisenbahn angeht, hinkt Russland hinterher. Mit Neid blicken viele in die USA und nach Kanada: Dort schnaufen und rattern schon Züge quer über den Kontinent. Nun soll auch Russland mit einem großen Kraftakt in der Moderne ankommen. Doch wie jedes Großprojekt hat die Transsibirische Eisenbahn ihre Feinde. Bevor sie gebaut wird, wird um sie gestritten – über 30 Jahre lang. Zu teuer, sagen die Kritiker, größenwahnsinnig, ein Projekt, das sich nie lohnen wird. Und dann ausgerechnet Sibirien – das „Reich der Kälte“, groß, wild und unwegsam. 2 O-TONSibirien war für Russen, aber auch für Menschen in Westeuropa ein Land, das sehr, sehr weit weg war und ein nicht sehr gut ausgebildetes System von Wegen und Straßen hatte und das wirklich schwer zugänglich war. Und ein Grund, warum man zum Beispiel Sibirien als einen Ort der Verbannung und des Gefängniswesens genutzt hatte, war, dass man nicht nur schlecht hinkam, sondern auch schlecht wegkam. Also es war ein Ort, der im Volksmund als das „größte Gefängnis der Welt“ galt. SPRECHERIn diesem Gefängnis gibt es Land im Überfluss. Manche versprechen sich davon reiche Gewinne - im Ackerbau und der Viehwirtschaft. Doch die Produkte zu transportieren ist schwierig. Man fährt die Ware mit Schlitten über zugefrorene Wege, unbefestigte Straßen werden schnell mal zu gefährlichen Schlammlöchern. Besonders schlimm ist es im Frühjahr und Herbst. Im Russischen gibt es sogar ein eigenes Wort für diese „Zeit der Wegelosigkeit“: Rasputiza. Die Transsib soll ein kleines Wirtschaftswunder in Gang setzen - und die Regierung hofft, sich damit auch militärisch besser aufzustellen. Schließlich spricht Alexander III. im Jahr 1890 ein Machtwort für die Transsib: ZITATOR Es ist Zeit, allerhöchste Zeit. SPRECHERIm Mai 1891 tut Alexanders Sohn, der spätere Zar Nikolaus II., den ersten Spatenstich – und zwar im Pazifikhafen Wladiwostok, das heißt übersetzt „Beherrsche den Osten“. An gleich fünf Stellen gleichzeitig beginnen die Bauarbeiten. Doch die Verantwortlichen haben sich bei der Planung verschätzt. Die Eisenbahn kostet weit mehr als erwartet. Der russische Staat soll das Projekt finanzieren – doch der sitzt auf dem Trockenen. Also müssen Kredite aus dem Ausland her, und zwar schnell. Wie begeistert man Investoren und Touristen? Die Verantwortlichen setzen auf die Pariser Weltausstellung. Während in Sibirien die Schienen verlegt werden, läuft die Werbetrommel in der französischen Hauptstadt heiß. Die Weltöffentlichkeit soll Sibirien als Zukunftsprojekt kennenlernen.  3 O-TON Man kooperierte mit der internationalen Schlafwagengesellschaft und stellte in einen dieser Pavillons auf der Pariser Weltausstellung Waggons der Luxusklasse und die Besucher der Weltausstellung konnten nun diesen Waggon besuchen, sie konnten dort Platz nehmen und Tee trinken, und während sie dort saßen, ungefähr eine Stunde, wurde an den Fenstern dieses Zuges ein gewaltiges Landschaftspanorama vorbeigezogen, und dieses Landschaftspanorama sollte den Menschen, die in diesem Zug saßen, die Illusion erwecken, dass sie sich im Zug befinden und gerade durch Sibirien fuhren. Und als sie dann nach einer Stunde diesen Zug wieder verließen, wurden sie empfangen von Personal auf dem Bahnsteig, was nun chinesische Trachten trug, um diese Illusion perfekt zu machen, als hätte man in dieser Stunde im Kopf diese Distanz zwischen Moskau und Peking in diesem Zug der Luxusklasse zurückgelegt. SPRECHEREs ist ein genialer Marketing-Coup. Sibirien – das ist auf einmal nicht mehr dieses verschnarchte Hinterland mit seinen öden Landschaften und gefährlichen Sträflingen. Sibirien, das ist die Zukunft! Im Westen überschlägt man sich vor Begeisterung. In Paris werden Luxus-Reiseführer unter den Journalisten verteilt – auf Englisch, auf Französisch, auf Deutsch. Schon bald kaufen sich Reisende die ersten Zugtickets. Denn auch wenn sich der Bau noch bis 1916 hinzieht: Ab 1903 können die Touristen schon lange Teilstrecken zurücklegen. 4 O-TONWenn man sich die westlichen Berichte anschaut, und wir haben vor allem westliche Berichte, weil in Russland wurde viel weniger darüber geschrieben und diskutiert, dann ist es tatsächlich dieser Traum, den wir auch bei Jules Verne finden. Diese Technik, die uns eben hilft, Raum und Zeit zu erobern und auch diese Faszination, dass dieses Russland, was lange Zeit als unterentwickeltes Land galt, dass Russland die Ressourcen und das Knowhow aufbringt, um dieses gewaltige Verkehrsprojekt zu realisieren. SPRECHERAuf der Strecke sind auch Luxuszüge einer belgischen Firma, der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, unterwegs – sie bieten alle Annehmlichkeiten eines Vier-Sterne-Hotels. An Bord gibt es ein Klavier, eine kleine Bibliothek, in manchen Wägen sogar einen Raum mit Fitnessgeräten für die müde gesessenen Beinen. Im Speisewagen bringt einem das Personal im Frack und weißen Handschuhen ein mehrgängiges Menü. Auf der langen Reise haben die Touristen genug Zeit, um ihre Gedanken festzuhalten. Der Engländer Harry de Windt beschreibt 1901 seine Fahrt mit der Transsib in „From Paris to New York by Land“. Er ist erstaunt darüber, dass Sibirien ganz anders ist als angenommen: ZITATOR Klimatisch ist die Reise wunderbar in der Winterzeit, dann zeigt sich Sibirien von seiner besten Seite. Nicht das Sibirien des englischen Dramatikers, mit heulenden Schneestürmen, angeketteten Verurteilten, Wölfen und Peitschen, sondern ein lächelndes Land voller Versprechen und Fülle, sogar unter den endlosen Schneedecken. Die Landschaft ist natürlich öde, aber an den meisten Tagen ist der Himmel blau und wolkenlos und es scheint eine strahlende Sonne, die man so oft vergeblich an der Riviera sucht. SPRECHERDie Transsibirische Eisenbahn beschreibt De Windt als „fahrenden Luxuspalast“. Abends versammelt man sich ums Klavier, und die Stunden vergehen schnell, wenn man den russischen Frauen beim Singen und Spielen zuhört, Glinka und Tschaikowsky. In „From Paris to New York by Land“ beschreibt de Windt aber auch, dass es in der Transsib oft langweilig ist - und wie das auf die Stimmung drücken kann. ZITATOR Alles ist sehr traurig und deprimierend, vor allem, wenn man gerade frisch aus Europa kommt. Der Zug hat einen Vorteil, er rattert und knattert nicht, während er sich wie ein stilles Gespenst durch die desolaten Steppen stiehlt. Als Heilmittel gegen Schlaflosigkeit wäre er unschätzbar, und wir schlafen viel. 6 O-TONDas war natürlich kein ICE und auch kein TGV, das waren sehr langsame Geschwindigkeiten, die die Passagiere dort erlebten. Es ist auch sehr abhängig von den Zügen. Die Züge der höheren Klasse fuhren vielleicht maximal 80 Stundenkilometer, aber die meisten Züge waren noch viel langsamer unterwegs, weil auch die Gleise und das Gleisbett keine höhere Geschwindigkeit zugelassen haben, also man zuckelte relativ gemütlich durch die Landschaft. SPRECHERMit den Reisenden ändert sich auch das Sibirienbild. 7 O-TONIn Russland hat sich langsam dieses Bild von Sibirien als das Reich der Kälte und das größte Gefängnis der Welt verändert und wurde ersetzt durch ein Bild, das vergleichbar ist mit dem Wilden Westen in Amerika, also das war dann Russlands wilder Osten. Das heißt: Man träumte davon, dass dieses Sibirien, das ja so dünn besiedelt ist und wie ein weißes Blatt Papier daliegt, dass das ein Raum ist, wo ganz neue große Projekte zu realisieren sind und man darauf hoffte, dass Sibirien wirklich so dieses russische Zukunftsland wird. SPRECHERDoch für diesen Traum vom Zukunftsland müssen viele hart anpacken. Zum Höhepunkt des Baus 1895/96 arbeiten 80.000 Männer gleichzeitig an der Transsib. Beim Bau der Eisenbahn seien so viele Arbeiter gestorben, schreiben sowjetische Historiker, dass die Schienen geradezu auf Knochen verlegt seien. Das ist wohl übertrieben und sollte vor allem das Zarenreich in ein schlechtes Licht rücken. Doch ein raues Leben war es allemal. Die Arbeiter leben in Erdhütten, viele sterben an Krankheiten und Erschöpfung. 8 O-TONDie Arbeiter spielten kaum eine Rolle, das ist aber auch relativ typisch für diese großen Infrastrukturprojekte, dass man oft die Ingenieure der Eisenbahnbrücken feierte und die Administratoren, die verantwortlich waren, diese Entscheidungen zu treffen, aber über die Menschen, die wirklich die Arbeit gemacht haben, diese Bahn zu bauen, über die hat man sehr wenig gesprochen. SPRECHERAuf den Baustellen trifft man auf italienische Steinmetze, russische Bauern, Chinesen und Mongolen – und Sträflinge. 20.000 Gefangene arbeiten auf den Baustellen. Der Reisende Sir Henry Norman behauptet, zivilisierte Menschen trügen in der Gegend einen Revolver und Vorsichtige sogar zwei. Doch das ist nicht die einzige Gefahr. 9 O-TONEs gab Unfälle, das hatte auch damit zu tun, weil die Devise war: so schnell und so billig wie möglich diese Bahn zu bauen. Das heißt, man baute einspurig, das war eine einspurige Bahnlinie an vielen Strecken, und man baute mit sehr leichtem Material, und das führte natürlich zwangsläufig dazu, dass die Bahn nicht so sicher war wie Bahnlinien, die solider konstruiert waren.SPRECHERFür eine Baustelle hätte man sich kaum schwierigere Bedingungen aussuchen können: Tauende Permafrostböden, meterhohe Hochwasser, Erdrutsche und Temperaturen bis -50 Grad. Der Baikalsee ist eine besondere Herausforderung. Bis die Schienen entlang des Ufers so weit sind, transportiert man die Passagiere im Winter mit Pferdeschlitten übers Eis. Weil man beim Bau an Material spart, ereignen sich häufig Unfälle. Wenn die Züge wegen der Unfallgefahr langsamer fahren, dauert die Fahrt von Moskau nach Wladiwostok statt einer Woche schon mal einen Monat. MUSIK SPRECHERNicht alle Reisenden fahren mit den Luxuszügen der Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Die meisten Passagiere nutzen die einfachen Züge der Russischen Staatsbahn. So auch die etwa drei Millionen Menschen, die mithilfe der Transsibirischen Eisenbahn umgesiedelt werden. Es sind bäuerliche Kolonisten aus der Ukraine, Weißrussland oder dem Westen der russischen Gouvernements. Der Reisende Richard Penrose beschreibt 1901 in „The Last Stand of the Old Siberia“ die Ausmaße dieser Migration: ZITATORDie Zahl der Auswanderer steigt rapide, alle Züge und Boote sind überfüllt, und entlang der Flüsse sieht man viele Emigranten, die auf Flößen ihrem neuen Heim entgegentreiben, mit Familien, Pferden, Schweinen und ihrem ganzen Hausrat. SPRECHERDie Armut treibt die Auswanderer nach Sibirien. Sie erhoffen sich eine bessere Zukunft und eine neue Heimat. Nur gehört diese Heimat schon jemandem: der angestammten, nomadischen Bevölkerung, die oft vertrieben wird. 10 O-TONEs ging natürlich darum, diesen Raum, der als wild, als barbarisch und unzivilisiert beschrieben wurde, den zu erschließen, mit bäuerlichen Kolonisten aus dem Westen des Zarenreiches, und diese Kolonisten stellte man sich vor als Kulturbringer, die also die europäische Zivilisation in diese asiatischen Gebiete brachten, aber man nahm natürlich auch die Urbevölkerung dort wahr. Und die waren im russischen Diskurs ähnlich wie die „Indianer“ in Amerika, die galten als Wilde, galten als unzivilisiert, und die hoffte man mithilfe dieser modernen Technik und dieser ganzen Infrastruktur, die diese Technik auch bringt, auf ein höheres Zivilisationsniveau zu bringen im Duktus der damaligen Zeit. SPRECHERDer ganz große Handelsboom, den man sich von der Transsib verspricht, tritt nicht ein. Doch viele profitieren vom Handel. Besonders landwirtschaftliche Produkte laufen gut. Die Butter aus Sibirien ist legendär, sie wird mit speziellen Kühlwaggons auf die europäischen Großmärkte gebracht, darunter London. Mit der Eisenbahn kommt für viele Städte der Aufschwung. Einige werden ganz neu gegründet – zum Beispiel das heutige Nowosibirsk, das an der Kreuzung der Bahnlinie mit dem Fluss Ob liegt. 11 O-TONDas war erst mal eine Eisenbahnsiedlung, die aus wenigen Barracken bestand. 1891 begann man ja mit dem Bau und diese Stadt hatte 1900 bereits 18.000 Einwohner. Das heißt, wir sprechen hier von einem Städteboom in Sibirien, das zog sich entlang der Bahnlinie bis nach Wladiwostok fort, der vergleichbar ist mit der Urbanisierung und mit dem Explodieren der Städte auf dem nordamerikanischen Kontinent in der gleichen Zeit. Da erleben wir ähnliche Prozesse, wie Städte aus dem Bode schießen wie Pilze und das ist natürlich im Wesentlichen der Transsibirischen Eisenbahn zu verdanken. SPRECHERAus halbvergessenen Orten werden über Nacht blühende Handelszentren. In vielen sibirischen Städten gibt es Zeitungen, Büchereien, Kinos, Schulen, Hospitäler und Museen. Doch die Transsib schafft nicht nur Gewinner. Manche bekommen von der Eisenbahn wenig mit. Die Verlierer, weit weg von den Bahnlinien, versinken langsam in der Bedeutungslosigkeit. 12 O-TONDas schönste Bild hat eigentlich Tschechow geschaffen mit seinem „Kirschgarten“, wo man dieses Bild hat von dieser Datscha des alten Russlands, die weit weg liegt von einer Eisenbahnlinie und man hört nur in der Ferne den Klang der Lokomotive und damit hat Tschechow eben deutlich gemacht, dass dort, wo die Zukunft und das Leben und die Dynamik ist, das ist da, wo die Eisenbahn ist, und in der russischen Provinz hat die Eisenbahn nicht hingefunden und das ist der Ort, wo das Leben langsam stillsteht. SPRECHER Die Transsibirische Eisenbahn soll nicht nur die Wirtschaft ankurbeln. Sie soll sich auch militärisch lohnen und Gebiete im Fernen Osten sichern. Doch der Plan geht nicht auf. Ein Teil der Eisenbahn führt über chinesisches Territorium, bis zum Gelben Meer – ein Gebiet, auf das die Japaner ein Auge geworfen haben.  13 O-TONDie Japaner haben das mit großem Argwohn gesehen, dass sich die Russen dort ausbreiten in der Region, und ein wesentlicher Anlass auch dieses Kriegs, der dann ausbrach – Japan überfiel ja dann Russland – ein wesentlicher Anlass war eben der Bau dieser Bahnlinie. Das heißt, man hatte eigentlich die Bahn gebaut, um diese Gebiete sicherer zu machen und letztendlich war der Bau dieser Bahn der Anlass für den Krieg, der für Russland fatale Folgen hatte. SPRECHER1905 verliert Russland den Krieg mit Japan. Und noch ein Kalkül geht nicht auf: Die Eisenbahn soll die Herrschaft des Zaren stärken. Doch mit der Transsib transportiert man auch umstürzlerische Flugblätter, viele Eisenbahnarbeiter werden Revolutionäre: Sie rufen 1905 an vielen Orten in Sibirien unabhängige „Republiken“ aus. 1917 bricht die Revolution aus. Der letzte Zar, Nikolaus II., wird ein Jahr später von den Bolschewiki erschossen. Die Revolutionswirren wirken sich auch auf die Bahn aus. 14 O-TONZunächst brach der Einstrom von westlichen Touristen auf der Bahnlinie komplett ein und die Bahn diente anderen Zielen, sie diente zum Beispiel auch dem Ziel, dass die Menschen, die aus Russland flohen, die alte Elite, dass die zum Teil auf der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Wladiwostok fuhren oder weiter nach Schanghai, um dann ins Ausland zu kommen und sich vor den Bolschewiki zu retten, und es dauerte dann doch einige Zeit, bis man die Transsibirische Eisenbahn wieder in einen zivilen Zustand versetzte.
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Aug 22, 2025 • 23min

WIE MENSCHEN FRÜHER REISTEN - Unterwegs sein im Mittelalter

Ob Pilger, Kreuzritter oder Handelsreisende: Die Menschen im Mittelalter waren - anders als landläufig bekannt - sehr mobil. Sich seinerzeit auf den Weg zu machen war indes meist kaum bequem - und nicht selten ein lebensgefährliches Unterfangen. Von Lukas GrasbergerCredits Autor: Lukas Grasberger Regie: Martin Trauner Es sprachen: Susanne Schroeder, Jerzy, May, Peter Weiß Redaktion: Nicole Ruchlak   Im Interview: Prof. Rainer Leng, Florian Wagner, Prof. Anthony Bale Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: SWR (2025): Der römische Traum – Eine Anno-Story Ein packender Hörspiel-Podcast im Anno-Universum: Zwei junge Männer verkaufen sich selbst in die Sklaverei – im Glauben, dass sie im Römischen Reich aufsteigen können. Was als verzweifelter Traum beginnt, wird zur abenteuerlichen Odyssee durch Kolonien, Intrigen und Machtzentren eines Imperiums. "Der römische Traum" erzählt die offizielle Vorgeschichte zu "Anno 117: Pax Romana" – als epische Audio-Serie mit deutschen Top-SchauspielerInnen, exklusivem Soundtrack von den Anno-Komponisten und live aufgenommen vom SWR-Symphonieorchester. ZUM PODCAST Linktipps BR (2007): Kalenderblatt 29.08.1887 Die ersten bayerischen Pilger reisen organisiert nach Santiago de Compostela: Im Mittelalter sind Hunderttausende von Menschen quer durch Europa bis nach Santiago de Compostela gepilgert - an das Grab des Heiligen Jakobus. Ein besonderer Jakobs-Pilger in der Neuzeit war der Münchner Prälat Monsignore Hermann Geiger. Er brach als erster mit einer bayerischen Reisegruppe nach Santiago auf; und erschloss den Jakobsweg so für Pilgerströme aus Bayern. JETZT ANHÖREN BR (2024): Marco Polo – Der Abenteurer und sein Mythos   Sagenhafte Reichtümer, weise Herrscher, seltsame Bräuche. Marco Polos Bericht von seiner Asienreise macht ihn zum bis heute berühmten Abenteurer. Doch was davon ist wahr, und wer war der Mann hinter dem Mythos? Autor: Niklas Nau (BR 2018) JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte gibt es auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:ATMO STURM & PFERD SPRECHERINEin kalter, dunkler Januartag im Jahr 1484. Der Regen peitscht der einsamen Gestalt ins Gesicht, die sich zu Pferd der freien Reichsstadt Ulm nähert. ZITATOR „Nie auf meiner ganzen Reise geriet ich so außer mir wie hier, denn Nässe macht den Menschen von Natur aus trist und völlig unordentlich“ SPRECHERIN...so wird sich der Mönch Felix Fabri an die letzte Etappe, die Rückkehr von seiner Pilgerreise nach Jerusalem erinnern. Doch dann, als die Häuser Ulms am Horizont auftauchen, hellt sich Felix Fabris Stimmung auf. Als er sich endlich dem heimatlichen Kloster nähert, weicht letzte Beklommenheit purer Willkommensfreude. Der Ankömmling wird überschwänglich empfangen, Felix Fabris Prior begrüßt ihn... ZITATOR„…ohne auf seine Würde und sein hohes Alter zu achten, und rannte wie ein Jüngling, als wolle er ein Feuer löschen.“ SPRECHERINDenn seine Ordensbrüder hatten Felix Fabri eigentlich für tot gehalten. Fabris Briefe aus dem Heiligen Land - sie waren nie angekommen. SPRECHERINEine Szene, die die Gefahren und Unwägbarkeiten einer typischen Reise im Mittelalter lebendig werden lässt – einer Pilgerreise. Felix Fabri war seinerzeit einer von Vielen: In Massen strömten die Menschen damals gen Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela. Doch nicht nur Geistliche oder Adelige gingen auf religiös motivierte Reise. Dies taten im Mittelalter auch einfache Stadt-Bürger oder Bauern – wenn deren Ziel auch nur der nächstgelegene Wallfahrtsort gewesen sein mag, wo man für die Linderung körperlicher Leiden betete oder – in einem Ablass - um die Vergebung von Sünden. Die Vorstellung jedenfalls, dass die Gesellschaft im Mittelalter statisch war, dass kaum einer je sein Dorf oder seine Stadt verließ – diese Vorstellung sei grundfalsch, sagt der Historiker Rainer Leng. O-Ton 1 LengAlso auch der einfache Bauer, von dem man früher immer dachte, der kommt nie über sein Dorf hinaus, war regelmäßig unterwegs. Die Forschung spricht hier von einer hohen horizontalen Mobilität, was letztlich bedeutet, dass auch die einfachen Leute gereist sind. Regelmäßig die Verwandtenbesuche oder auch der Bauer auf einem kleinen Dorf reiste natürlich regelmäßig auf die Märkte in den nächsten größeren Städten, um seine Waren zu verkaufen oder um Geräte einzukaufen, die der Dorfschmied nicht machen konnte. Und das übliche: Verwandtschaften, religiöse Reisen….“ SPRECHERINVor allem der Adel war im Mittelalter viel auf Achse: Rainer Leng, der an der Uni Würzburg zum Thema Mittelalterliche Geschichte lehrt und forscht, spricht von „Reisekönigtum“ und „Herrschaft aus dem Sattel“. Denn im Mittelalter hatten Kaiser und Könige keinen festen Herrschaftssitz. Sie waren dauernd im Reich unterwegs. Auch Fürsten pendelten zwischen ihren jeweiligen Teilresidenzen. Oft schickten die Fürsten und Könige ihre Vertreter, um mit anderen Herrschern zu verhandeln. Diplomaten, Gesandte und Adelige reisten, um politische Allianzen zu schmieden oder Verträge zu unterzeichnen. Die professionellen Briefboten – sie waren wohl am meisten unterwegs, damals, im Mittelalter. Bis zu 80 Kilometer legten sie pro Tag zu Fuß zurück, um Nachrichten zu überbringen. Schließlich zogen per Pferd viele Ritter und Soldaten umher: Zu verschiedenen Schlachtfeldern innerhalb Europas - oder zu Kreuzzügen, etwa ins Heilige Land. O-Ton 2 LengDas mittelhochdeutsche Wort für Krieg ist Reise. Also ursprünglich kommt unser Wort Reisen von unterwegs sein, um Krieg zu führen. SPRECHERIN...sagt Rainer Leng. O-Ton 3 LengWenn wir beim Reiseanlass „Krieg“ sind, man hat im Mittelalter den Krieg im Winter eigentlich immer zu vermeiden versucht. Und nur im Sommer Krieg geführt. Selbst früher war es gefährlich, wenn man mit einer ganzen Armee hochgerüsteter Fußkämpfer und Pferde in ein Regenwetter kam und alles im Matsch stecken blieb. (…) Das Wetter konnte insbesondere bei Alpenüberquerungen hochgefährlich werden. Und es konnte Reisen auch prinzipiell verhindern. O-Ton 4 WagnerWeil da ging es ja um Leben und Tod, und die Ausbildung des Pferdes für Ritter war höchst aufwendig und es war ein absoluter Luxus, es war im Prinzip der Ferrari des Mittelalters. Also die Ausbildung hat zwölf Jahre lang gedauert.  SPRECHERIN...weiß der Münchner Fotograf Florian Wagner. Er hat sich wie die alten Ritter auf den Weg gemacht, ist mit Pferden und Zelten durchs österreichische Mühlviertel gezogen. O-Ton 5 WagnerWas wichtig ist, ist erst einmal, wenn ich jetzt diese Strecken mache: Es kann ja mal passieren, dass du dein Ziel nicht erreichst. Dann brauchst du eine Möglichkeit, dein Pferd so anzubinden, dass es am nächsten Tag noch da ist, als Erstes. (...) Das zweite Thema ist, der Mensch will ja auch versorgt sein. Entweder du nimmst Proviant mit, dazu gab es entweder Wagen oder Packpferde. Es waren genügsame Pferde, es waren stabile Pferde, die viel kleiner waren, als man das glaubt. Und es gab auch ein Gesetz, dass ein Ritter, wenn er vorbei reitet an deinem Land, dann darf er so viel Nahrung für sein Pferd mitnehmen, wie er braucht und tragen kann für ein Pferd. Das heißt, das Thema war erledigt, aber wenn der Ritter selber und seine Gefolge, der hatte ja auch Knappen und so weiter, wenn die nichts zu essen hatten, dann durften sie jagen. SPRECHERINLeicht war das Gepäck damit keineswegs. O-Ton 6 Wagner Du musst ja auch die Waffen mitführen, du musst ja auch die Ausrüstung mitführen, du musst ja auch eventuell ein Zelt mitführen, du musst ja auch Feuer machen können. SPRECHERINDie Zelte der Reisenden des niederen oder hohen Adels waren meist aus strapazierfähigem Leinen, das man mit Wachs oder Leinöl gegen Wind und Wetter imprägnierte. Die Zelte der einfachen Ritter oder Soldaten waren mit Stroh, die der Fürsten und Könige jedoch mit Teppichen ausgelegt: Mobile Paläste, die innen zudem mit kostbaren Stoffen ausgeschlagen waren. Luxusherbergen auf Zeit, die zuweilen gar mit transportablen Kaminen geheizt wurden. Der Adel musste im Mittelalter auch unterwegs kaum auf eine Annehmlichkeit verzichten, sagt Anthony Bale, Autor des Buchs „Reisen im Mittelalter: Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern.“  O-Ton 7 Bale Sprecher OV„Ich beginne mein Buch mit zwei sehr wohlhabenden Reisenden: Lady Lutrell und Henry von Derby, der spätere König von England Henry IV. Dieser reiste nach Preußen, dann ins Heilige Land, und nach Venedig. Stets mit einer unglaublichen Menge an Gepäck. Kutsche für Kutsche, Wagen für Wagen beladen mit Unmengen an Essen: Gemüse wie Gewürze; Knoblauch, Zwiebeln, Erbsen, Lauch, alles Mögliche. Dazu zahlreiche Tiere, die man schlachtete, einmal aber auch einen Leoparden. Als er sich auf den Weg machte, nahm er einfach alles aus seinem Haushalt mit. Und das war eine Zurschaustellung von Wohlstand, Macht und Patronage. Die adeligen Reisenden konnten sich ziemlich frei bewegen.“   SPRECHERINEinen überall gültigen und anerkannten Personalausweis, Reisepass oder Reisefreiheit – das alles gab es im Mittelalter nicht. Aber das heißt nicht, dass Reisende keine Dokumente brauchten. Ganz im Gegenteil. Sie mussten etliche Schriftstücke dabeihaben, welche die Ausreise aus dem eigenen Herrschaftsgebiet oder das Durchreisen durch andere Königreiche oder Fürstentümer genehmigten. Anthony Bale: O-Ton 8 BaleSprecher OVDafür war ein formaler Geleitbrief erforderlich. Einfache Menschen auf dem Land mussten, wenn sie Leibeigene waren, die Erlaubnis ihrer Herren einholen, um zu reisen. Zudem musste der örtliche Geistliche seine Zustimmung geben.“  SPRECHERINAuch Priester oder Mönche konnten nicht auf eigene Faust aufbrechen – etwa zu einer Pilgerreise, sagt der Würzburger Historiker Rainer Leng. O-Ton 9 Leng„Kleriker durften auf gar keinen Fall reisen ohne Erlaubnis ihrer jeweiligen geistlichen Oberen, also etwa des Abtes, wenn es ein Mönch war. Bürger allerdings dürften sehr wohl reisen, wann immer sie wollten, wohin auch immer sie wollten.“ SPRECHERINHatte man einmal die Erlaubnis, sich auf den Weg zu machen, blieb da noch immer die Frage der Finanzierung. Einfache Reisende führten Empfehlungsschreiben an Verwandte und Bekannte mit sich, mit deren Hilfe man kostenlos an Essen und Trinken oder eine Schlafgelegenheit kam. O-Ton 10 LengNatürlich konnte man es, wenn man nicht genug Geld hatte, auch auf die billige Art und Weise versuchen. Also dann halt eben hinter einer Hecke schlafen und sich irgendwie durchzubetteln. (...) Die große Masse ging natürlich zu Fuß, das war das einfachste Verkehrsmittel und im Übrigen auch das billigste und das schnellste. SPRECHERINSich durch den Flickenteppich deutscher Königreiche und Fürstentümer zu bewegen – dies war kein kostengünstiges Unterfangen. Für die Benutzung von Straßen war Wegezoll zu entrichten. An Landesgrenzen, strategisch wichtigen Stellen wie Stadttoren – oder an Flüssen, die zum Gütertransport genutzt wurden, kassierten Mautstationen die Reisenden ab. ATMO PFERDEGESPANN AUF PFLASTERSTRASSE Der mittelalterliche Straßenzwang besagte, dass Kaufleute und Händler bestimmte Waren nur auf bestimmten Straßen transportieren durften: Je nach Fuhrwerk und Größe des Pferdegespanns waren Gebühren zu entrichten. Dafür garantierten die von den Landesherren eingesetzten Dienstmänner und bewaffnete Geleitreiter dafür, dass die Wege verkehrstauglich und vor Überfällen sicher sind. Die Bediensteten der Landesherren wachten darüber, dass Reiter und Fuhrwerke keine Schleichwege nahmen, um Mautzahlungen zu entgehen. Betreiber der Mautstationen notierten akribisch Art und Wert der transportierten Waren, Herkunft und Ziel der Reisenden. Eine Bescheinigung darüber war an der nächsten Zollstation vorzulegen – wo sich das bürokratische Procedere wiederholte. O-Ton 11 Bale Sprecher OVÄhnlich wie heute gab es auch damals schon ein recht etabliertes System, seine Identität nachzuweisen. Eine Verwaltungskultur mit Pass- und Zollwesen, das ziemlich modern anmutet. Dem Zahlungswesen der Zollstationen entgehen konnten Reisende nur, wenn sie – etwa als Pater oder Bruder eines Ordens - einen Geleitbrief vorlegen konnten. SPRECHERINEntrichtet wurden Gebühren jeweils in der lokalen Währung. Vor Reiseantritt galt es, die entsprechenden Geldstücke in ausreichender Menge zu besorgen, etwa bei Geldwechslern, die auf Märkten zu finden waren. Denn auch die Herberge oder der ortskundige Führer mussten in bar bezahlt werden. O-Ton 12 LengDas liebe Geld musste man natürlich physisch mit sich tragen, in einem Geldbeutel, den musste man sichern. Man musste schauen, dass man vielleicht noch ein paar Reserven in die Kleidung einnäht, Vorsorge gegen Überfälle treffen. SPRECHERINWer nicht über üppige Bargeldreserven verfügte, schloss sich besser einer Gruppe an. O-Ton 13 BaleSprecher OVFür Reisende im Mittelalter gab es zwei Hauptgefahren: Krank zu werden –oder ausgeraubt und betrogen zu werden. Gegen Zweiteres half, sich in Reisegruppen zusammenzutun. Die Gesellschaft anderer Reisender oder eines Führers, die die Sprache des jeweiligen Gastlandes beherrschten, erleichterte das Fortkommen. Entlang der Reiserouten etablierten sich Herbergen und Hotels unterschiedlicher communities. In Venedig oder Jerusalem etwa kamen Reisende aus dem gleichen Land gemeinsam unter. Reisegefährten gleicher Herkunft halfen sich mit praktischen Tipps, und kümmerten sich umeinander. Vor allem für allein reisende Frauen war es ratsam, auf Schutz und Expertise vertrauter Mitreisender zu verlassen. SPRECHERINDer Geschichts-Professor Rainer Leng spricht von prototouristischen Strukturen - also einem Netz an Reisewegen und Herbergen, das sich im Laufe des Mittelalters entwickelte. O-Ton 14 LengMan weiß also, wo man lang zu gehen hat, man weiß, welche Wirtshäuser man aufzusuchen hat. Es ist in der Szene sogar bekannt, welcher Wirt welche Fremdsprachen spricht und wo die Pilger oder Reisenden eines bestimmten Landes ihre typischen Anlaufstellen finden. Die Kommunikationsnetzwerke sind gut ausgebaut. Alleine durch die vielen Reisenden, die zwischen den vielen Orten und Stationen hin- und herreisen, verbreiten sich Nachrichten wahnsinnig schnell. So kann man dann auch sein Kommen ankündigen, also die richtigen Leute muss man fragen, an die richtigen Leute die Informationen einspeisen und häufig sind diese Knoten im Kommunikationsnetzwerk. SPRECHERIN Als Reiserouten nutzte man bis tief ins Mittelalter hinein die Straßen des ehemaligen römischen Imperiums. Wege führten bevorzugt oberhalb von Tälern oder am Fuß von Bergen entlang. Die Talsohle war oft sumpfig, Pfade an Flussläufen zuweilen überschwemmt. Schließlich fürchtete man die „schlechte Luft“ an Gewässern, von der man dachte, sie könnte Krankheiten übertragen. Die Sorge vor Seuchen -  sie war generell ein ständiger Begleiter, sagt Florian Wagner, der sich in Theorie wie Praxis intensiv mit dem „Reisen im Mittelalter“ beschäftigt hat.  O-Ton 15 WagnerDu bist durch ein Dorf gegangen, die haben das oft nicht zugegeben, dass sie irgendeine Krankheit im Ort haben... und du hast das als Reisender dann ins nächste Dorf getragen, und bist halt unter Umständen auch dran gestorben. SPRECHERINDamit Durchreisende ihrerseits keine Krankheiten einschleppten, lagen deren Herbergen oft abseits der Stadtzentren. Geschlafen wurde meist zu mehreren in einem Bett, nackt. Waschen konnte man sich am Brunnen im Hof, zur Verrichtung der Notdurft ging es in den Stall. Hygienische Verhältnisse, die die Verbreitung von Infektionskrankheiten begünstigten, sagt der Mittelalter-Experte Rainer Leng. Doch nicht nur Pensionen und Hotels waren Seuchenherde. Gesundheitsgefahren lauerten nicht nur zu Lande, sondern auch auf dem Wasser - etwa bei der Fahrt übers Mittelmeer gen das Heilige Land. O-Ton 16 LengDas enge Zusammenleben auf dem Schiff förderte natürlich auch Krankheiten und Seuchen. Man geht heute davon aus, dass bei den Reisen von Venedig nach Jerusalem zehn Prozent aller Reisenden nicht überlebten. SPRECHERINNeben Krankheiten machten auch Angriffe von Piraten oder das Kentern von Schiffen in Stürmen das Reisen zu einem lebensgefährlichen Unterfangen. Da gerade längere Fahrten von Pilgern oder Händlern zu einer „Reise ohne Wiederkehr“ werden konnten, regelte man zu Hause seine Angelegenheiten: Der Reisende verfasste sein Testament, um die Hinterbliebenen zu versorgen und um einen geregelten Übergang seiner Güter zu gewährleisten. Zur Vorsorge kam die Vorbereitung der Reise, die im Laufe des Mittelalters einfacher wurde. Nach und nach erschienen Reiseführer, die sich mit Erfindung des Buchdrucks rasant verbreiteten. Ein Vorläufer war der Codex Calixtius, eine reich illustrierte Handschrift. O-Ton 17 BaleSprecher OVDer Codex Calixtus ist eines der frühesten Werke, die man einen Reiseführer nennen könnte. SPRECHERIN...betont der Professor für Literatur des Mittelalters und der Renaissance an der University of Cambridge, Anthony Bale. O-Ton 18 BaleSprecher OVDer Codex Calixtus beschreibt die Strecke nach Santiago de Compostela im Norden Spaniens. Aber nicht nur das: Diese Sammelhandschrift schildert Gefahren und Unannehmlichkeiten, vor denen Reisende sich hüten sollten. Von Moskitos über Pferdefliegen bis hin zu Naturgefahren. Der Codex Calixtus gibt auch konkrete Tipps, um das Beste aus einer Reise zu machen – etwa, wie man Geld wechselt, was man unterwegs am besten isst, die Entfernung bis zum nächsten Ort, ja sogar, wie man bestimmte Worte übersetzt. Ab 1300 etwa erlebte dieses Genre des Reiseführers einen regelrechten Boom. Zum einen, weil Pilgerfahrten so populär wurden. Andererseits, weil die Reisen von Händlern immer weiter führten und abenteuerlicher wurden. Die Beschreibungen wurden nach und nach angereichert mit naturwissenschaftlichen Betrachtungen und anthropologischen Beschreibungen, zur Wesensart bestimmter Völker und ihrer Religionen.  ZITATOR„In Äthiopien findet man auch Menschen, deren Füße sieben Fuß Breite besitzen. Wenn sie sich hinlegen, bedecken sie sich mir ihren Füßen, die ihnen Schatten spenden. Wie sie laufen, ist ein Wunder.“ SPRECHERINEine Textpassage aus Jean de Mandevilles „Von seltsamen Ländern und wunderlichen Völkern“ aus dem 14. Jahrhundert. Darin schildert der Autor Begegnungen und Erlebnisse einer Reise, die ihn angeblich ins „Heilige Land“, den Fernen Osten und nach Afrika führte. Es war eines der meistverbreiteten Reisebücher des Mittelalters, nur die Reiseabenteuer des Marco Polo in Asien wurden mehr gelesen. Mandeville beschreibt darin im wahrsten Sinne unglaubliche Begebenheiten, wie etwa von Schnecken mit großen Schneckenhäusern, die von Menschen bewohnt werden können, nachdem sie das Schneckenfleisch verzehrten, oder von menschenartigen, aber hundsköpfigen Wesen. O-Ton 19 LengIm Mittelalter selbst genoss die Schrift eine hohe Autorität. Also was im Mittelalter geschrieben war, das hat man in der Regel geglaubt. (…) Und jeder Reisende, der einen Reisebericht schrieb, in dem er behauptete, auf diese Völker auch getroffen zu sein, der wurde geglaubt. So hat man etwa im Mittelalter den Reisebericht des Jean de Mandeville ernst genommen und geglaubt. Umgekehrt, ein Marco Polo, der tatsächlich sehr weit nach Osten kam, bis nach China, der aber von all diesen Völkern nichts berichtet, den hat man im Mittelalter für einen Lügner und Aufschneider gehalten. SPRECHERINAus heutiger Perspektive sind viele Geschichten Mandevilles offensichtlich Fantastereien. Mittlerweile haben Wissenschaftler durch Quellenkritik aufgedeckt, dass Jean de Mandeville viele der von ihm beschriebenen Länder noch nicht mal selber bereist hat. Und doch übe – jenseits der Frage von Echtheit und Wahrheitsgehalt – der Bericht Mandevilles über seine Reisen bis heute eine Faszination auf ihn aus, sagt der britische Historiker Anthony Bale.     O-Ton 20 BaleSprecher OVDenn die eigentliche Frage ist: Erzählt uns das Reisen etwas über die Welt – oder etwas über uns selbst? Blicken wir über uns selbst hinaus, wenn wir reisen, oder nehmen wir nur uns selbst mit, wohin auch immer wir gehen? Man kann dies speziell bei den Berichten von Pilgerreisen im Mittelalter beobachten. Die Menschen damals wollten nicht das Jerusalem des 14. Jahrhunderts kennenlernen. Das war ihnen lästig. Sie wollten das Jerusalem der Bibel sehen. Und sie wollten nicht, dass banale Alltagsbeschreibungen diese Wahrnehmung stören. SPRECHERIN Die Erzählungen Mandevilles, sagt Anthony Bale, stünden an der Schwelle zwischen einer mittelalterlichen – und einer modernen Wahrnehmung der Welt. Sie weisen in eine neue Zeit, in der die Reisen, anders als im Mittelalter, bald dem reinen Vergnügen, der Unterhaltung und Entspannung dienen sollten. Doch dies wiederum ist eine andere Geschichte…
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Aug 8, 2025 • 38min

VIER TÖNE GEGEN STALIN - Der Fall Schostakowitsch (4/4)

Nach dem Krieg wird Schostakowitschs Musik verboten und er muss eine schwere Entscheidung treffen. Dann stirbt Stalin. Ist Schostakowitsch jetzt frei? Vier Noten erzählen von einem zwiespältigen Sieg über das System. Host & Autor Malte Hemmerich (SWR/WDR 2025) *** CREDITS Host & Autor: Malte Hemmerich Regie: Felicitas Ott & Malte Hemmerich Es sprachen: Nadine Kettler, Stefan Roschy, Boris Konecny & Oliver Jacobs Technik: Andreas Völzing Redaktion: Tuula Simon & Greta Hey Technische Leitung: Katrin Tiefenthaler Sounddesign: Tuula Simon Grafik: Chris Veit Distribution: Alexandra Klockau, Celine Frohnapfel & Lena Hofbauer Eine Produktion von SWR Kultur und WDR3. *** BESONDERER LINKTIPP DER REDAKTION: BR: Klassik für Klugscheisser Mit ihrem Musikwissen prahlen - das können Laury und Uli ganz hervorragend: Welche Drogen werden im Orchestergraben eingeschmissen? Was verbindet Pokémon und Tschaikowsky? Welche Strukturen verhindern Diversität in der Branche? Und warum hatte Wagner einen Fetisch für Samt-Unterhosen? Bei uns bekommt ihr längst vergessenen Gossip und überraschende Fakten zur Musik. ZUM PODCAST: https://1.ard.de/kfk_podcast *** LINKTIPPS Am 9. August 1975 starb Dmitri Schostakowitsch, einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik ist ein akustisches Tagebuch der sowjetischen Geschichte - voller Codes, Klüfte und Kontraste. Ausschnitte aus seinem Leben zeigen, wie dicht sein Leben mit dem Weltgeschehen verwoben war: Dmitri Schostakowitsch 50. Todestag: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/dmitri-schostakowitsch-komponist-50-todestag-100.html Auf dem Laufenden bleiben mit den beiden Newslettern von BR-KLASSIK: Regelmäßige Infos über Programmhighlights, Neues und Hintergründe aus der Klassikszene sowie über die aktuellen Veranstaltungen der Klangkörper des BR: https://www.br-klassik.de/footernavi/newsletter/index.html Die ganze Welt der Klassischen Musik, Neuigkeiten, Kritiken, Veranstaltungstipps und Sendungen gibt es bei BR-Klassik unter: http://www.br-klassik.de/ Ihr liebt Podcasts? Dann registriert euch für den Newsletter "Die Podcast-Entdecker": Er liefert euch Podcast-Tipps von Bayern 2 direkt in euer Postfach: Bayern 2-Newsletter: https://www.br.de/radio/bayern2/service/newsletter/newsletter-podcast-entdecker-anmeldung-100.html *** Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Aug 8, 2025 • 31min

VIER TÖNE GEGEN STALIN - Der Fall Schostakowitsch (3/4)

Schostakowitsch hat einen Weg gefunden, zwischen Regimetreue und Widerstand zu balancieren - doch dann kommt der Krieg. Seine 7. Sinfonie wird zum Propagandawerkzeug. Schafft Schostakowitsch es, sich treu zu bleiben? Host Malte Hemmerich, Autor Felix Kriewald (SWR/WDR 2025) *** CREDITS Host: Malte Hemmerich Autor: Felix Kriewald Regie: Felicitas Ott & Malte Hemmerich Es sprachen: Nadine Kettler, Stefan Roschy, Boris Konecny & Oliver Jacobs Technik: Andreas Völzing Redaktion: Tuula Simon & Greta Hey Eine Produktion von SWR Kultur und WDR3. *** BESONDERER LINKTIPP DER REDAKTION: NDR: Urban Pop - Musiktalk mit Peter Urban Peter Urban ist ein absoluter Musik-Insider, der mit seiner unvergleichlichen Art Geschichten erzählen kann. Er war schon auf über 5.000 Konzerten, trifft bis heute die Großen des Musikgeschäfts und ist selbst Musiker. Im Podcast Urban Pop trifft er auf den NDR-Musikjournalisten Ocke Bandixen. Sie reden über Weltstars von Bowie bis Springsteen, von Johnny Cash bis Taylor Swift, über Bands von den Beatles bis U2, über Insider-Stories und Musik-Historie. Ein Muss für alle Fans von guten Gesprächen über gute Musik. ZUM PODCAST: https://1.ard.de/urban-pop *** LINKTIPPS Am 9. August 1975 starb Dmitri Schostakowitsch, einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik ist ein akustisches Tagebuch der sowjetischen Geschichte - voller Codes, Klüfte und Kontraste. Ausschnitte aus seinem Leben zeigen, wie dicht sein Leben mit dem Weltgeschehen verwoben war: Dmitri Schostakowitsch 50. Todestag: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/dmitri-schostakowitsch-komponist-50-todestag-100.html Auf dem Laufenden bleiben mit den beiden Newslettern von BR-KLASSIK: Regelmäßige Infos über Programmhighlights, Neues und Hintergründe aus der Klassikszene sowie über die aktuellen Veranstaltungen der Klangkörper des BR: https://www.br-klassik.de/footernavi/newsletter/index.html Die ganze Welt der Klassischen Musik, Neuigkeiten, Kritiken, Veranstaltungstipps und Sendungen gibt es bei BR-Klassik unter: http://www.br-klassik.de/ Ihr liebt Podcasts? Dann registriert euch für den Newsletter "Die Podcast-Entdecker": Er liefert euch Podcast-Tipps von Bayern 2 direkt in euer Postfach: Bayern 2-Newsletter: https://www.br.de/radio/bayern2/service/newsletter/newsletter-podcast-entdecker-anmeldung-100.html *** Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Aug 8, 2025 • 34min

VIER TÖNE GEGEN STALIN - Der Fall Schostakowitsch (2/4)

Um sein Leben und seine Kunst zu retten, schreibt Schostakowitsch eine Sinfonie ganz nach Stalins Geschmack. Es scheint, als würde er sich damit vom Volksfeind zum Volkshelden komponieren. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Host & Autor Malte Hemmerich (SWR/WDR 2025) *** CREDITS Autor & Host: Malte Hemmerich Regie: Felicitas Ott & Malte Hemmerich Es sprachen: Tuula Simon, Nadine Kettler & Stefan Roschy Technik: Andreas Völzing Redaktion: Tuula Simon & Greta Hey Eine Produktion von SWR Kultur und WDR3. *** BESONDERER LINKTIPP DER REDAKTION: WDR: Zeitzeichen - Der Geschichtspodcast Der tägliche Podcast über Geschichte von der Antike bis heute, über Europa und die Welt, über die Geschichte der Menschheit: 15 Minuten zu historischen Persönlichkeiten und Erfindungen. Von George Washington bis Rosa Luxemburg, vom Büstenhalter bis Breaking Bad. ZUM PODCAST: https://1.ard.de/alles-geschichte-zeitzeichen *** LINKTIPPS Am 9. August 1975 starb Dmitri Schostakowitsch, einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik ist ein akustisches Tagebuch der sowjetischen Geschichte - voller Codes, Klüfte und Kontraste. Ausschnitte aus seinem Leben zeigen, wie dicht sein Leben mit dem Weltgeschehen verwoben war: Dmitri Schostakowitsch 50. Todestag: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/dmitri-schostakowitsch-komponist-50-todestag-100.html Auf dem Laufenden bleiben mit den beiden Newslettern von BR-KLASSIK: Regelmäßige Infos über Programmhighlights, Neues und Hintergründe aus der Klassikszene sowie über die aktuellen Veranstaltungen der Klangkörper des BR: https://www.br-klassik.de/footernavi/newsletter/index.html Die ganze Welt der Klassischen Musik, Neuigkeiten, Kritiken, Veranstaltungstipps und Sendungen gibt es bei BR-Klassik unter: http://www.br-klassik.de/ Ihr liebt Podcasts? Dann registriert euch für den Newsletter "Die Podcast-Entdecker": Er liefert euch Podcast-Tipps von Bayern 2 direkt in euer Postfach: Bayern 2-Newsletter: https://www.br.de/radio/bayern2/service/newsletter/newsletter-podcast-entdecker-anmeldung-100.html *** Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Aug 8, 2025 • 32min

VIER TÖNE GEGEN STALIN - Der Fall Schostakowitsch (1/4)

Schostakowitsch lebt in Todesangst - weil er die falschen Töne komponiert hat. Töne, die den Diktator Stalin höchstpersönlich verärgern. Wieso hat ein Diktator Angst vor Musik und warum muss ein Komponist um sein Leben fürchten? Host & Autor Malte Hemmerich (SWR/WDR 2025) *** CREDITS Autor & Host: Malte Hemmerich Regie: Felicitas Ott & Malte Hemmerich Es sprachen: Tuula Simon & Nadine Kettler Technik: Andreas Völzing Redaktion: Tuula Simon & Greta Hey Eine Produktion von SWR Kultur und WDR3. *** BESONDERER LINKTIPP DER REDAKTION: SR: Interpretationssache Was macht Über-Songs wie Let it Be, Nothing Else Matters, Skyfall oder Beethovens Mondscheinsonate so "über"? Das findet Roland Kunz in "Interpretationssache" raus. Er hört genau hin: Warum klingen diese Stücke, wie sie klingen, und was genau macht sie unsterblich? Er erzählt die Geschichten dahinter: wie Leonard Cohens Hallelujah vom Flop zum Megahit wurde, oder warum Marni Nixon sich jahrelang nicht als Sängerin der West Side Story zu erkennen geben durfte. Und vor allem durchforstet er Archive, CD-Schränke und Streaming-Portale, um die schönsten, spannendsten und schrägsten Cover-Versionen zu finden. ZUM PODCAST: https://www.ardaudiothek.de/sendung/interpretationssache-der-musikpodcast/urn:ard:show:f126cdef7014cac1/ *** LINKTIPPS Am 9. August 1975 starb Dmitri Schostakowitsch, einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik ist ein akustisches Tagebuch der sowjetischen Geschichte - voller Codes, Klüfte und Kontraste. Ausschnitte aus seinem Leben zeigen, wie dicht sein Leben mit dem Weltgeschehen verwoben war: Dmitri Schostakowitsch 50. Todestag: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/dmitri-schostakowitsch-komponist-50-todestag-100.html Auf dem Laufenden bleiben mit den beiden Newslettern von BR-KLASSIK: Regelmäßige Infos über Programmhighlights, Neues und Hintergründe aus der Klassikszene sowie über die aktuellen Veranstaltungen der Klangkörper des BR: https://www.br-klassik.de/footernavi/newsletter/index.html Die ganze Welt der Klassischen Musik, Neuigkeiten, Kritiken, Veranstaltungstipps und Sendungen gibt es bei BR-Klassik unter: http://www.br-klassik.de/ Ihr liebt Podcasts? Dann registriert euch für den Newsletter "Die Podcast-Entdecker": Er liefert euch Podcast-Tipps von Bayern 2 direkt in euer Postfach: Bayern 2-Newsletter: https://www.br.de/radio/bayern2/service/newsletter/newsletter-podcast-entdecker-anmeldung-100.html *** Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Jul 25, 2025 • 23min

ACHTUNG BAURISIKO! Das Olympiastadion, Wunder von München

Es gilt als ein statisches Wunder und als triumphales Bauwerk, selbst ein halbes Jahrhundert nach seiner Erbauung: visionär, radikal modern, offen - das Münchner Olympiastadion. Organisch eingefügt in eine künstlich geschaffene, natürlich anmutende Landschaft. Von Susanne Hofmann (BR 2022)Credits Autorin: Susanne Hofmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Thomas Birnstiel, Ruth Geiersberger, Peter Veit   Technik: Susanne Harasim   Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Stefan Behnisch, Prof. Fritz Auer   Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: Tatort Geschichte – True Crime meets History   Bei Tatort Geschichte verlassen Niklas Fischer und Hannes Liebrandt, zwei Historiker von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, den Hörsaal und reisen zurück zu spannenden Verbrechen aus der Vergangenheit: eine mysteriöse Wasserleiche im Berliner Landwehrkanal, der junge Stalin als Anführer eines blutigen Raubüberfalls oder die Jagd nach einem Kriegsverbrecher um die halbe Welt. True Crime aus der Geschichte unterhaltsam besprochen. Im Fokus steht die Frage, was das eigentlich mit uns heute zu tun hat. "Tatort Geschichte" ist ein Podcast von Bayern 2 in Zusammenarbeit mit der Georg-von-Vollmar-Akademie. ZUM PODCAST Linktipps SWR (2024): Die Olympischen Spiele 1972 – Münchens Sommertragödie    München wollte 27 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein neues Deutschland präsentieren - heiter und offen. Doch die Terroranschläge machten aus dem Sportfest eine Tragödie. Von Michael Kuhlmann (SWR 2022) JETZT ANHÖREN ARD alpha (2024): Das Münchener Olympiastadion    Nach dem Hofbräuhaus ist das Olympiastadion von 1972 Münchens berühmtestes Gebäude - und kunsthistorisch das wohl bedeutendste. Warum eigentlich? Was hat das spektakuläre Netz aus Stahl und Glas mit Seifenblasen zu tun? Was mit Demokratie? Und wie kam Architekt Frei Otto auf diese Verbindung von Baukunst und Ingenieurstechnik? Ein junger Kunsthistoriker geht diesen Fragen auf den Grund. Er entdeckt das Bauwerk für uns neu und zeigt so, was das Stadion zu einem Meilenstein gemacht hat. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIKERZÄHLERINEs ist Ende Oktober 1965 – aus dem Radio singen die Rolling Stones ihren Nummer Eins-Hit „I can’t get no satisfaction“, in Bonn ist Ludwig Erhard gerade zum zweiten Mal zum Bundeskanzler gewählt worden, und im Münchner Rathaus bekommt der Oberbürgermeister der Stadt München, Hans-Jochen Vogel, Besuch: Besuch von Willi Daume, einer Schlüsselfigur im Sport und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. Er stellt dem Oberbürgermeister eine große Frage: 1a. ZUSPIELUNG Fritz Auer 00.50„Sitzen Sie fest auf ihrem Stuhl? Und Vogel hat ihn gefragt, ja, wie meinen Sie das – politisch oder komfortabelmäßig? Und hat gesagt, Herr Vogel, wie wär’s, wenn Sie sich bewerben würden für die Austragung der Olympischen Spiele in München 1972!? Puh - Vogel hat einmal durchgeschnauft, da sagt er, da brauch ich ein bisschen Zeit … Vier Tage nur hat er gebraucht … und dann hat er gesagt okay, wir bewerben uns.“ ERZÄHLERSo ging damals die Erzählung, erinnert sich der Architekt Fritz Auer. Die Zeit drängt, die Bewerbungsfrist läuft in nur zwei Monaten ab. Innerhalb weniger Tage bringt Hans-Jochen Vogel den Münchner Stadtrat hinter seine Entscheidung, München bewirbt sich offiziell für die Olympischen Spiele und – erhält den Zuschlag. Die Ausschreibung zum Bau des Olympiageländes mitsamt dem Stadion gewinnt ein Architekturbüro aus Stuttgart: Behnisch und Partner. Sie haben bis dahin eher überschaubare Projekte geleitet – Landratsämter, Schulen und Kindergärten gebaut. Mitbegründer des Büros ist der Architekt Fritz Auer. MUSIK ERZÄHLERINWas in den Jahren darauf folgt, ist die Realisierung eines kühnen architektonischen Entwurfs, ein gewaltiger gemeinsamer Kraftakt und längst prägender Teil der Geschichte der Stadt München und der jungen Bundesrepublik. In München sieht man dem Bau mit Selbstbewusstsein und Zuversicht entgegen. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel: 1b. ZUSPIELUNG Vogel„Es handelt sich sowohl der Funktion als auch dem Bauvolumen nach um eines der größten Bauvorhaben, das in unserer Stadt in diesem Jahrhundert abgewickelt wird. (…) Wenn wir es vernünftig machen, wenn wir uns von Übertreibungen freihalten, wenn wir, wie der Bundeskanzler es sagte, all unseren Gästen, die zu uns kommen, menschlich und freundlich begegnen, dann glaube ich in der Tat, dass die Bundesrepublik einen großen ideellen Nutzen davon haben kann.“ ERZÄHLERDabei ist die Ausgangslage auf den ersten Blick eher bescheiden. Zunächst einmal: München hat keine einzige olympiataugliche Sportstätte. Auch die Infrastruktur steckt noch in den Kinderschuhen - der Mittlere Ring, heute eine Hauptverkehrs-Ringstraße, ist noch lange nicht fertig, der Bau der ersten U-Bahn hat erst begonnen. Und als der Olympia-Architekt Fritz Auer, damals Mitte 30, sich ein Bild von München macht, ist er zunächst nicht besonders begeistert: 2. ZUSPIELUNG Fritz Auer „Ich fand die Stadt schrecklich - gegenüber Stuttgart erst mal eben und grau, kein Baum, gar nichts. So war mein erster Eindruck.“ MUSIK ERZÄHLERINDoch München ist eine aufstrebende, junge Stadt, regiert vom einst jüngsten Oberbürgermeister Europas, Hans-Jochen Vogel. Fast die Hälfte der Stadtbevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Siemens hatte sich nach dem Krieg hier angesiedelt, genauso wie das Messe- und Verlagswesen und die Filmindustrie. Die Stadt wächst rasant und die Aussicht auf die Olympiade beflügelt den Aufschwung. Die Stimmung der Zeit ist geprägt von Fortschrittsglaube und Optimismus, der parteiübergreifend wirkt. Daran erinnert sich auch der Architekt Stefan Behnisch, der Sohn des Architekten Günther Behnisch, der den Olympia-Bau plante und leitete. 3. ZUSPIELUNG Stefan Behnisch SB 22.35„Politisch gab es eine Allianz zwischen Vogel, Strauß und Brandt - die Figuren kann ich mir heute überhaupt nicht in einem Raum vorstellen. Ja, aber die haben das gemeinsam getragen. Und das hat dem Projekt den Rücken gestärkt. Auch die Stimmung damals, die Aufbruchsstimmung, mehr Demokratie wagen… und man war auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die eben dieses Bittere überwinden konnte. Und die 50er und 60er-Jahre waren ja bitter. Teilweise ungeheuer spießig. Und ich glaube, diese Stimmung hat viel getragen, … In Rekordzeit hat München damals Ungeheures geleistet, ihre Stadt für die Zukunft fit gemacht. Und heute zehrt die Stadt noch davon.“ MUSIK ERZÄHLERDie Austragung der Spiele gab München und ganz Deutschland die Chance, sich der Welt nach dem verheerenden, von Deutschland angezettelten Weltkrieg neu zu präsentieren. Es galt, das preußisch-militärische Image Deutschlands zu überwinden. Das Olympiagelände mit seinen Sportstätten sollte für die junge Demokratie stehen, eine klare Abkehr von den Berliner Olympischen Spielen von 1936 mit ihrem auftrumpfenden Nationalismus und ihren Bauten, die Macht und Größe des Deutschen Reiches demonstrierten. Das neu zu errichtende Münchner Stadion sollte die Visitenkarte des gewandelten Deutschlands werden – ebenfalls ein Gegenentwurf zum monumentalen Berliner Stadion. Es herrschte, so der Olympia-Architekt Fritz Auer… 4. ZUSPIELUNG Fritz Auer FA2 30.25„…einfach der absolute Wille der Politiker und des Olympischen Komitees: Wir wollen dieses Zeitdokument für eine junge Demokratie - fast egal, was es kostet.“ ERZÄHLERINHeiter sollten die Spiele und ihre Bauten sein, leicht, dynamisch, unpolitisch, unpathetisch und frei von Ideologie. 5. ZUSPIELUNG Auer 3:58   „Es gab Leitlinien für die sogenannte Ausschreibung des Wettbewerbs, also die Aufgabenstellung. Und da waren drei Begriffe genannt: Spiele der kurzen Wege, Spiele im Grünen also, sprich Landschaft und Verbindung von Sport und Kunst.“ ERZÄHLERAll das verkörperte der Entwurf der Architekten Behnisch und Partner aus Stuttgart. Er sah eine Art Voralpenlandschaft vor, hügelig mit einem See, künstlich geschaffen auf dem drei Quadratkilometer großen Areal Oberwiesenfeld, Brachfläche und früherer Flugplatz, nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt. Und, durchaus symbolträchtig: Der Trümmerberg aus dem Zweiten Weltkrieg sollte begrünt und zum Olympiaberg transformiert werden. Die Sportstätten sollten in das Gelände eingebettet werden und ihre Dimension so bescheidener wirken. Oder, in den Worten von Willi Daume, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees:  5b. ZUSPIELUNG Daume„Die Lösung ist trotz der gebotenen Größenordnung so, dass immer ein menschliches Maß gewahrt ist. … Ich möchte es mal ganz kühn sagen: Die Landschaft, so wie sie dort entsteht, entspricht fast der von Olympia. Es wird eine großartige Bereicherung nicht nur der Stadt München, nicht nur der deutschen Architektur sein, sondern alle Ausländer, die nach hier kommen, werden sich hier wohl fühlen, es ist eine ideale Stätte der Begegnung, auch mit der Münchner Bevölkerung – wir sind hochzufrieden.“ MUSIK ERZÄHLERINDie Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit allerding beherrschte schon bald das geplante Olympiastadion, genauer: sein Dach. Eine Zeltdachkonstruktion, wie man sie noch nie gesehen hatte. Leicht und transparent, wie ein riesiges, freischwebendes Spinnennetz. Davon waren Politik und Öffentlichkeit fasziniert. Fritz Auer: 6. ZUSPIELUNG Auer FA1 20:21„Weil diese Konstruktion, diese sogenannten leichten Flächentragwerke … sehr immateriell wirken, also eigentlich wie ne Wolke über einer statischen Landschaft - wenn man‘s in Musik ausdrücken würde, wär die Landschaft der Kontrabass und das Dach wär die Oberstimme dazu - und die Oberstimme ist was Leichtes. Die schwingt und tut und bindet alles zusammen.“ MUSIK ERZÄHLERVorbild und Inspiration für das Zeltdach war der deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967 – ein Werk des Architekten Frei Otto. Eine Weltneuheit, die Staunen erregte: Den Pavillon überwölbte ein Dach von rund 8.000 Quadratmetern, bestehend aus einem Seilnetz mit einer darunter gespannten weißen Folie. So leicht und luftig war bisher kein Gebäude überdacht worden. ERZÄHLERINIn München aber war die Fläche fast zehn Mal so groß. 75.000 Quadratmeter sollte das Zeltdach hier überspannen, in etwa die Fläche von acht Fußballfeldern. Denn die Schwimmhalle und die Sporthalle mussten überdacht werden, im Stadion mindestens die Hälfte der Zuschauerplätze, zudem die dazwischenliegenden Wege im Olympiapark. Niemals zuvor war so eine Konstruktion realisiert worden. ERZÄHLERSchon das Modell des Stadions war unkonventionell. Die Architekten hatten sich dafür einfacher Materialien bedient – Sägemehl zum Modellieren der Landschaft, Zahnstocher als Dachstützen und für das Zeltdach: Nylonstrümpfe von Fritz Auers Frau. 7. ZUSPIELUNG Auer 24:34„Der Damenstrumpf hat Ähnlichkeit zum späteren Seilnetz in seiner Verformungsart. … und der Damenstrumpf von meiner Frau, der war so fleischfarben, fürchterlich sah das aus, das spätere Modell, … da haben wir dann Strumpfrohlinge von Firma Hözen, … die haben damals uns Rohlinge, also weiße, geliefert für das Wettbewerbsmodell, so sah’s dann besser aus später.“ ERZÄHLERINDie Pläne zeichneten die Architekten von Hand und mit einfachen Hilfsmitteln, erinnert sich Fritz Auer. 8. ZUSPIELUNG Auer FA1 18:40„Es gab den Rechenschieber, es gab noch keinen Taschenrechner, also noch keinen elektronischen Rechner, … die Riesenanlagen, das musste alles gezeichnet werden - die Grundrisse, Schnitte, alles im Maßstab eins zu 200, das muss man sich mal vorstellen. Da ist ein Stadion - Umgriff ist dann immerhin also etwa einen halben Meter breit und ein Meter über die Länge gemessen. Das musste man alles mit Stangenzirkeln zeichnen, jede Sitzreihe -  alles wurde per Hand noch gemacht.“ ERZÄHLERMonatelang rangen Architekten und Ingenieure darum, ob und wie man diesen kühnen Entwurf der Zeltdach-Landschaft überhaupt umsetzen könnte. Das Dach würde sich ständig mit dem Wind bewegen, quasi atmen – wie konnte man trotzdem seine Standfestigkeit gewährleisten? Wie sollte das Dach den Schneemassen trotzen und seine Form behalten? MUSIK ERZÄHLERINDer Leichtbau-Experte Frei Otto hatte dann die Idee, das Stadiondach in mehrere Segmente zu unterteilen und so den Bau zu ermöglichen. Für die Stadionüberdachung kam erstmals ein Computer zum Einsatz. Zur Berechnung der Kräfteverhältnisse schrieb ein Informatiker extra ein Programm – Neuland auch hier. Stefan Behnisch: 9. ZUSPIELUNG SB 00:15„Es war eine Gleichung - nach der Erzählung meines Vaters - mit über einer Million Unbekannten. Weil jeder Knoten ja vorberechnet sein musste… da wir hier über ein sphärisches Netz sprechen, nicht über ein glattes, elastisches Netz, sondern ein starres, sphärisches Netz, mussten die es genau so vorberechnen. Wenn das am Boden liegt, lag es ja wie ein Leintuch in Falten, und da mussten die aber jeden Knoten im Prinzip auf einen Millimeter genau richtig verankern und schrauben. Denn wenn das dann hochgezogen wird, durfte ja nicht eine Überbelastung an einer Stelle sein, das musste ja alles stimmen.“ ERZÄHLER Die Berechnungen stimmten, das Seilnetz wurde erfolgreich aufgerichtet, die knapp 80 Meter hohen Pylonen im Boden verankert. Zunächst hoffte man, dass das Dach 15 Jahre halten würde. Doch es erweist sich als beständiger als vermutet – bis heute sind nur kleinere Reparaturen angefallen. Erst nach einem Vierteljahrhundert mussten die Dachplatten ausgetauscht werden, sie waren milchig geworden. Die scheinbare Leichtigkeit des Daches war allerdings schwer erkauft, erklärt der Architekt Fritz Auer. 10. ZUSPIELUNG FA2 34.20„Diese sogenannte leichten Flächentragwerke sind gar nicht so leicht. Denn die Abspann-Kräfte müssen ja irgendwo hingehen, und die gehen in riesige Fundamente, das Randseil vom Stadion hat Fundamente von einer Größe von dreigeschossigen Häusern an beiden Enden. 4.000 Tonnen sind da drin an Vorspannung, und die mussten in die Erde, und man sollte das möglichst wenig sehen, damit diese leichte, luftige Wolke entsteht.“ MUSIK ERZÄHLERIN Ausgeklügelte Ingenieurskunst, eine Pionierleistung – und doch war es dem Olympia-Architekten Günther Behnisch ein Dorn im Auge, dass das Dach so viel Aufmerksamkeit auf sich zog, wie er in einem Radio-Interview 1972 darlegte. 11. ZUSPIELUNG Günther Behnisch „Es ist nicht das Wesentlichste unseres Entwurfes. Wir haben hier eine olympische Landschaft geschaffen, in dieser Landschaft treffen sich und verknoten sich die markantesten Punkte und Aktivitäten dieser Gegend – Fernsehturm, Wasser, Berg Hügel, Fußgängerwege – … und ein Teil dieser Anlage muss überdeckt werden.“ ERZÄHLER Günther Behnischs Sohn Stefan ergänzt 50 Jahre später: Für seinen Vater sei das Dach notwendiges Übel gewesen, hatte lediglich dienende Funktion: Nämlich die Menschen zu schützen, die sich in der olympischen Landschaft aufhalten. 12. ZUSPIELUNG SB 17:37„Er hätte sich ein Klima in Deutschland gewünscht, das erlaubt, Olympische Spiele ohne Dächer zu machen, aber es geht halt nicht… Er hätte gut ohne das Dach leben können. Aber wenn ein Dach, dann war das schon das richtige Dach, weil es sich in die Landschaft miteingefügt hat und die Landschaft vielleicht bis zum gewissen Grad ergänzt hat.“ MUSIK ERZÄHLERINFür die Weltöffentlichkeit war das geschwungene, quasi schwebende Dach freilich eine Sensation und half, das neue Image Deutschlands in der Welt zu prägen – weltoffen, modern, bunt. Die Fernsehübertragung der Spiele fand in Farbe statt. Dies stellte zusätzliche Anforderungen an die Architektur – wie die Spiele vier Jahre zuvor in Mexiko gezeigt hatten. Fritz Auer: 13. ZUSPIELUNG Fritz Auer 21:33„Da hatten die Farbfernsehleute große Probleme bei ihren Aufnahmen, weil in Mexiko das Stadion, das hatte ein schattenspendendes Dach für sich in so einem heißen Land gehört. Und das schattenspendende Dach hat natürlich auch große Schatten geworfen, auf das Spielfeld und auf die Laufbahn. Und dann haben die natürlich immer die Mühe gehabt, wenn die Spieler oder die Läufer in der Sonne sind, Blende zu, wenn es in Schatten sind, Blende auf. Das kann doch nicht wahr sein, das muss doch die  junge deutsche Bundesrepublik und ihre technologischen Experten müssen doch in der Lage sein, ein lichtdurchlässiges Dach für München zu kreieren.“ ERZÄHLERGelungen ist das mit transparenten Acrylglasplatten, die in das Stahlseilgewebe eingefügt wurden. Sie wurden vorher mehreren Härtetests unterzogen, sie mussten sich unter Schneelast und im Falle eines Brandes bewähren. Das Dach durfte schließlich weder brennen, noch schmelzen und abtropfen. Außerdem mussten die Dachplatten für Reparaturarbeiten begehbar und leicht zu reinigen sein. ERZÄHLERINAls man endlich ein Material gefunden hatte, das all diesen Anforderungen genügte, stellte sich das nächste Problem: Wie sollten die Platten in der Seilkonstruktion verankert werden? Zwar war das Netz relativ starr, gab aber doch im Wind nach und verschob sich an den Knotenpunkten des Netzes um mehrere Zentimeter. 13b. ZUSPIELUNG Fritz Auer 23.40„Also musste man Lösungen finden, dass die Platten sich nicht berühren …und dann brechen. Also das musste vermieden werden. Und dadurch wurde das gelöst, dass wir Neopren-Fugen einfügten, die zugleich auch der Wasserleitungen einigermaßen dienen und vor allem auch gegen Schneerutsche hilfreich waren. Gegen diese schweren, befürchteten Lawinen, die da runterkommen könnten vom Dach und … die Platten mussten auf dem Seilnetz, auf diesen Knoten dieses Netzes mussten die schwimmend quasi verlegt werden. Deshalb war da als Verbindungselement Gummipuffer aus der Automobilindustrie eingesetzt.“ ERZÄHLERZusammen mit den Platten wurden diese speziell für das Olympiadach entwickelten Puffer schließlich montiert, mithilfe ebenfalls nur für diesen Einsatz hergestellter Geräte.   14. ZUSPIELUNG Collage von der Eröffnung der Spiele ERZÄHLERINFür München, die Erbauer des Olympia-Ensembles und die beteiligten Politiker war es ein Triumph, als am 26. August 1972 die Nationen ins Stadion einzogen. Das Stadion war in frühlingshafte Pastelltöne getaucht– lindgrün, himmelblau, gelb, orange und weiß. Farben, die der für das Design der Spiele zuständige Grafiker Otl Aicher ausgesucht hatte. Nichts sollte an die Nationalfarben Schwarz, Rot, Gold erinnern, alles sollte frisch, leicht und unbeschwert wirken. Deshalb trugen die Polizisten auch statt Uniformen hellblaue Anzüge und weiße Schiebermützen eines französischen Designers. Fritz Auer erinnert sich an die Eröffnung der Olympischen Spiele: 14b. ZUSPIELUNG Auer 38.44  „Also, es war ein Traum. Dieser Zirkus aus bunten Menschen, der Berg, die Kontur des Bergs bestand aus Menschen, weil da waren viele Bürger, die hatten keine Eintrittskarten oder kam einfach nicht mehr ins Stadion rein. Die haben sich auf den Berg gesetzt, und der Berg war voller bunter Menschen - so etwas Tolles!“ERZÄHLERDie Bilder des bis auf den letzten Platz gefüllten Stadions und des Olympiaberges gingen um die Welt. 15. ZUSPIELUNG Auer 39:54„Wir hatten es geschafft, aber nicht wir allein. Da standen so viele dahinter, bis zu den Handwerkern, die auf dem Dach waren, die bergsteigerische Leistung vollbracht haben an den steilen Stellen. Das waren bergsteigerische Leistungen, die mussten sich anseilen - aber das war ein Geist durchweg. Da gab‘s nicht die so genannten Bedenkenträger, die alles klein geredet haben, das hätte nicht geklappt.“ ERZÄHLERINIn der New York Times lobte man das Dach als Zitator:„das auffallende strukturelle Symbol der Spiele, das durch „kühne Kurven die aufregendsten Perspektiven des Olympiaparks biete“. ERZÄHLERIN:Und resümierte: Zitator:„Diese Spiele können die Wunden der Vergangenheit heilen.“ ERZÄHLERIN:Der britische Observer schrieb: Zitator:„Keine Spur von Militarismus. Das haben die Bayern gut gemacht.“ ERZÄHLERIN:Und der italienische „Corriere della Sera“ kommentierte: ZITATOR„Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass sich die Deutschen geändert haben, das Stadion in München hat ihn geliefert.“ MUSIK ERZÄHLERDie Spiele von 1972 waren ein Einschnitt. Sie ließen Deutschland in einem anderen Licht erscheinen. Zugleich legte sich mit dem Olympia-Attentat ein dunkler Schatten über die Spiele – er wird immer mit dem Olympiastadion verbunden sein: Die Geiselnahme von Sportlern der israelischen Nationalmannschaft durch eine palästinensische Terrorgruppe mit 17 Toten am Ende – 11 Sportlern, einem deutschen Polizisten und 5 Terroristen. ERZÄHLERINSeit 1995 erinnert ein schwerer Granit-Quader direkt unter einem der Tragseile des Zeltdaches an das Attentat und deren Opfer. Täglich ziehen an dem Klagebalken Hunderte, Tausende Menschen vorbei, beim Joggen, beim Gassi-Gehen mit dem Hund, auf dem Weg zum Picknick auf dem Olympiaberg. ERZÄHLERDenn mittlerweile sind der Park und das Stadion zum lebendigen Teil der Stadt München geworden – so wie es seine Erbauer geplant und sich erhofft hatten. Aus dem olympischen Dorf der Männer wurde eine Wohnanlage, aus dem olympischen Dorf der Frauen eine Studentensiedlung. München profitiert davon, dass man beim Entwurf des Olympiageländes die Nachnutzung schon mitgeplant hatte, wie Franz Josef Strauß 1972 betont. 16. ZUSPIELUNG Strauß:„Das ist nicht nur gedacht für eine einmalige Sportveranstaltung von 14 Tagen Dauer, das wird von nachhaltiger und dauernder Wirkung für das gesamte Bild der Stadt München sein.“ MUSIK ERZÄHLERINDie olympische Landschaft, in die man 1972 Schilder gestellt hatte mit der Aufforderung: „Rasen betreten erwünscht!“, ist seitdem eine grüne Lunge der Stadt, Ort des Spiels und der Begegnung.
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Jul 25, 2025 • 25min

ACHTUNG BAURISIKO! Großbaustelle der Renaissance, der Florentiner Dom

Es ist ein Bauwerk, das die Grenzen des Vorstellbaren sprengte - und das ohne moderne Technik: der Florentiner Dom mit seiner gewaltigen Kuppel. Ein Blick hinter eines der größten Bauprojekte der Renaissance und auf das Genie dahinter: Filippo Brunelleschi. Von Susanne Hofmann (BR 2025)Credits Autorin: Susanne Hofmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Friedrich Schloffer Technik: Andreas Caramelle Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Dr. Bernd Kulawik, Ross King Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: W. M. Thackeray: Vanity Fair - Jahrmarkt der Eitelkeit Diese Frau will nach oben, dazu gehören zur Londoner High Society, mitspielen auf dem "Jahrmarkt der Eitelkeit": die smarte Becky Sharp mit den unvergesslich grünen Augen - und eine Waise von zweifelhafter Herkunft - stürzt sich mit brillant manipulativer Schauspielkunst auf den Hochzeitsmarkt. In einem typisch viktorianischen Roman wäre sie, die stets freundliche, tugendhafte Amelia, die Heldin gewesen, doch der Satiriker William Makepeace Thackeray sprengte mit "Vanity Fair" 1847/48, untertitelt mit "Roman ohne Held", einfach mal eben das Konzept des bis heute so populären viktorianischen Sittenromans. "Jahrmarkt der Eitelkeit" zählt bis heute zu den bedeutendsten englischen Romanen, Charlotte Brontës widmete ihm begeistert "Jane Eyre". Mit Becky Sharp erschuf Thackeray eine der gerissensten Anti-Heldinnen der Literatur, die alle Figuren der "Bridgerton"-Erfolgsserie blass aussehen lässt. Percy Adlon liest den mehrfach verfilmten Klassiker der Regency-Ära in einer gekürzten Fassung in acht Folgen. ZUM PODCAST Linktipps BR (2021): Die Gärten von Florenz  Filmautorin Eva Severini entdeckt die großen und kleinen Gärten von Florenz - den privaten Park der Grafen Torriggiani, den Renaissancegarten der Villa Medici in Castello oder den Garten der Villa Gamberaia. JETZT ANSEHEN SR (2025): UNESCO Weltkulturerbe – Schätze für die Ewigkeit in Florenz   Florenz beherbergt die größte Ansammlung von Kunstwerken, die auf der ganzen Welt bekannt sind. Den David von Michelangelo, die Venus von Botticelli, den Glockenturm von Giotto, die Domkuppel von Brunelleschi. Dies war 1982 für die UNESCO ein Grund, um die Stadt zum Weltkulturerbe zu erklären. Eine große Verantwortung für eine relativ kleine Stadt. Wie soll man all diese Schätze erhalten? Der Film schaut den Meisterinnen und Meistern der Restaurierungskunst bei ihrer Arbeit zu und zeigt so die Renaissancestadt Florenz aus der Werkstattperspektive. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO Glocken, Menschenmenge ERZÄHLERINEs ist ein Festtag, wie ihn selbst die Stadt Florenz in ihrer glanzvollen Geschichte selten erlebt hat. Der 25. März 1436. Das Geläut von Kirchenglocken und der Duft von Weihrauch ziehen durch die Gassen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die betuchten Herrschaften tragen ihre Festgewänder – bodenlange Kleider aus purpurrotem oder königsblauem Samt und golddurchwirktem Brokat für die Damen, enganliegende Beinkleider und Säbel für die Herren. Man feiert nicht nur den Beginn des Neuen Jahres. Der fällt damals in Florenz traditionell auf den Festtag Mariä Verkündigung. Die stolze Stadt Florenz – Heimat der Medici und aufstrebende Kunst-Metropole – legt Wert auf kulturelle Eigenständigkeit, dazu gehört auch ein eigener Kalender. Am Neujahrstag von 1436 kommt jedoch noch ein besonderer Anlass dazu: Die Weihe des Doms zu Florenz, der Kathedrale Santa Maria del Fiore. Papst Eugen IV. persönlich weilt in der Stadt, er leitet die Zeremonie. Von seiner Residenz, der Kirche Santa Maria Novella, zieht er in einer feierlichen Prozession zum Dom, flankiert von Kardinälen, mehreren Dutzend Bischöfen sowie Mitgliedern der Florentiner Regierung. Um die schaulustige Menschenmenge auf Abstand zu halten, hat man eigens eine Art Laufsteg für den Papst und seine Entourage gezimmert. Auf der hölzernen Plattform schreiten sie über den Köpfen des Volkes einher und ziehen in den Dom ein. MUSIK  ERZÄHLERINEs erklingt die eigens komponierte Motette eines damaligen Weltstars, des franko-flämischen Komponisten Guillaume Dufay: Nuper rosarum flores. Ein gregorianischer Choral über die biblischen Zeilen „Terribilis est locus iste” bildet die Grundlage – “Ehrfurchtgebietend ist dieser Ort”. Noch heute gilt die Komposition als herausragendes Werk der frühen Renaissance. Und ist damit eine angemessene Würdigung des Bauwerks, das hier besungen und von den Florentinern gefeiert wird, so der Musikwissenschaftler und Architekturhistoriker Dr. Bernd Kulawik. Er lehrt an der Technischen Universität Wien: 1. ZUSPIELUNG Bernd Kulawik Dass das das mit Abstand größte architektonische Wunderwerk seit der Antike sein würde, das war klar. … der größte imposanteste Kirchenraum, den man überhaupt haben konnte. Und das ist ganz klar: Wer den baut, ist der Star. Das ist ein Könner ohnegleichen. MUSIK ERZÄHLERINDieser Könner ist der gelernte Goldschmied Filippo Brunelleschi. Er kommt ein halbes Jahrhundert zuvor, 1377, in Florenz zur Welt. Damals ist der Dombau schon seit mehreren Generationen im Gange. Ein überaus ehrgeiziges Unterfangen, allein schon in seinen Ausmaßen. Das Gebäude soll 150 Meter lang werden und mit seiner Kuppel mehr als 100 Meter in den Himmel ragen. Schließlich wollte man der Welt zeigen, wer man war und insbesondere den ewigen Konkurrenten, den Stadtstaat Siena im Süden der Toskana, ausstechen. Um Platz für das Gotteshaus zu schaffen, ließ man ein ganzes Stadtviertel abreißen, auch zwei alte Kirchen mussten weichen, so der kanadisch-britische Kunsthistoriker Ross King. Er ist für sein Buch „Das Wunder von Florenz“ in die Geschichte des Florentiner Doms eingetaucht. 2. ZUSPIELUNG King8.16 Making a cathedral was a work of centuries. In those days, the work of many decades at least. And after a century of building the Florentines still had not reached the east end of the cathedral where they were going to have this massive dome. OVERVOICEEinen Dom zu bauen, war zu dieser Zeit das Werk von Jahrhunderten, zumindest aber vieler Jahrzehnte. Und nach einem Jahrhundert Bauzeit hatten die Florentiner noch immer nicht das östliche Ende des Doms erreicht, wo sie diese gewaltige Kuppel errichten wollten. MUSIK ERZÄHLERINMenschen wurden neben der Dauerbaustelle geboren und starben, ohne, dass sie darauf hoffen durften, die Vollendung des Bauwerks zu erleben. Fassade und Wände des Längsschiffs wuchsen nur langsam aus dem Boden. Als auch noch die Pest wütete und einen Großteil der Bevölkerung dahinraffte, verzögerte sich der Dombau weiter. Doch auch diese Krise überwanden die Florentiner. Nur für ein strukturelles Problem hatten sie keine Lösung. Und dieses Problem war gewaltig und für alle sichtbar, die hier lebten – wie der Goldschmied Brunelleschi. Im entstehenden Dom klaffte ein riesiges Loch über dem Altarraum. Hier, über einem achteckigen Grundriss, sollte sich eine mächtige Kuppel erheben – nur, wie sollte man die erbauen? Darüber rätselte die gesamte Stadt, so der Architekturhistoriker Bernd Kulawik. 3. ZUSPIELUNG KulawikAls Brunelleschi geboren wurde, das kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, gab es … auf der ganzen großen weiten Welt niemanden, der gewusst hätte, wie man das technische Problem löst, diese Kuppel zu errichten. ERZÄHLERINWie um Himmels Willen sollte man eine Spannweite von rund 45 Metern überwölben? Das entspricht der Länge eines halben Fußballfeldes. Und damit nicht genug: Die Kuppel sollte erst in einer schwindelerregenden Höhe von rund 40 Metern beginnen, also ungefähr in der Höhe eines 12-stöckigen Wohnhauses. Nie zuvor war ein derart ehrgeiziger Bau realisiert worden. Der Kunsthistoriker Ross King. 4. ZUSPIELUNG King And what they planned for, was something that was absolutely gargantuan and it was unprecedented in size. And so, what they were hoping is that in future – they knew in 1367 when the townspeople voted for this audacious plan they knew, when the time came for them to build this, they would all be dead. And so, it was still a generation or two away. But they believed sincerely that someone would come into their midst and show them how it could be built. And that’s of course going to become Filippo Brunelleschi, he is going to become this architectural messiah who arrives with the beautiful plan of how exactly he is going to do it. OVERVOICESie planten etwas Gigantisches, in seiner Größe nie Dagewesenes. Als die Florentiner 1367 für diesen kühnen Plan stimmten, war ihnen klar, dass sie alle bereits tot sein würden, ehe es zu dem Bau kommen würde. Aber sie glaubten fest daran, dass ein, zwei Generationen nach ihnen jemand kommen würde, der wissen würde, wie man die Kuppel bauen könnte. Und dieser Jemand sollte Filippo Brunelleschi sein, eine Art architektonischer Messias. Er sollte erscheinen, mit einem wunderbaren Plan zur Umsetzung. ERZÄHLERINFür den Architekturhistoriker Bernd Kulawik ist dies eines der spannendsten Kapitel der Architekturgeschichte überhaupt: 5. ZUSPIELUNG Bernd Kulawik Das Irre ist eben: Brunelleschi wurde dann erst geboren. Dass er so genial ist als Ingenieur und Techniker, dass er das Problem lösen kann, das haben die dem Moment, wo die die Größe beschlossen haben, noch gar nicht gewusst, nicht ahnen können. MUSIK ERZÄHLERINDie Florentiner planten in ihrem Stadtzentrum also quasi die Errichtung eines Luftschlosses. Ein Bauwerk zu entwerfen und zu beschließen, ohne zu sagen, wie man es bautechnisch ausführen, ja, ob es überhaupt halten würde – für heutige Architekten ist das völlig unvorstellbar. Ross King: 6. ZUSPIELUNG King So … really what they took both in 1367 and then in 1420, when Brunelleschi was given the task of building it, what they took in each case was a huge leap of faith. They believed that they were going to somehow be able to do this against the odds. Because B for example did not have a single mathematical equation he could have worked with, he didn’t have any sort of knowledge of how the structure was going to behave when it was built to that size. And so, it was a leap into the dark, because they simply did not know what problems they were going to encounter. To quote the late Donald Rumsfeld, the American politician, there were all sorts of unknown unknowns that they were going to be faced with as they started building the dome. OVERVOICESie unternahmen also einen riesigen Sprung ins Ungewisse, sowohl 1367 als auch 1420, als man dann Brunelleschi mit dem Bau der Kuppel beauftragte. Sie glaubten daran, dass sie es allen Widrigkeiten zum Trotz irgendwie schaffen könnten. Brunelleschi hatte keine einzige mathematische Gleichung zur Verfügung, mit der er hätte arbeiten können. Es war also ein Sprung ins Ungewisse, sie hatten keine Ahnung, welche Probleme beim Bau auf sie zukommen würden. ERZÄHLERINObwohl die Kathedrale der Sitz des Bischofs ist, handelte es sich nicht um ein Bauvorhaben der katholischen Kirche. Bauherrin war die Wollweberzunft, die Arte della Lana, die reichste Gilde der Stadt Florenz. Bernd Kulawik: 7. ZUSPIELUNG Kulawik Die aber eben vor allen Dingen deswegen so reich war, nicht, weil die alle so fleißig gewebt haben, sondern weil die ganz groß im Tuchhandel aktiv war, über Florenz lief auch der Großteil des Seidenimportes aus China - also sprich, die Tuchhändler waren das eigentlich. MUSIK ERZÄHLERINDie Vertreter der Wollweberzunft waren selbstbewusst. Sie hatten Florenz zum europäischen Zentrum der Textilverarbeitung sowie des Handels mit Stoffen gemacht. Auch politisch hatten die Wollweber was zu sagen. Etliche Mitglieder der Stadtregierung gehörten ihrer Zunft an. Florenz war zudem die Heimatstadt der Medici. Die einflussreiche Bankiers-Familie prägte die Entwicklung der Stadt entscheidend – finanziell, wirtschaftlich, politisch und kulturell als wichtigste Mäzene der Florentiner Geschichte. Die Medici hatten im frühen 14. Jahrhundert ihre eigene Bank gegründet, die schnell zur wichtigsten Bank Europas avancierte. Unter anderem verwaltete sie das Vermögen des Vatikans. Das gab den Medici Einfluss auf die Kirchenpolitik, sie stellten später sogar selbst zwei Päpste. Außerdem finanzierten sie diverse Königshäuser in Europa und mischten bei Handelsgeschäften mit. Diese wickelten sie zum Teil in Goldflorin ab, der Währung der Stadt Florenz. Ross King: 8. ZUSPIELUNG King The Florin was the most reliable currency in Europe at that time because the Florentines very zealously guarded the gold content in the coin and made sure they weren’t counterfit. … Things like that made the Florentines incredibly wealthy. And the next part of the story is, that this wealth is going to be put into the service of art and architecture. OVERVOICEDer Goldflorin war die verlässlichste Währung im damaligen Europa, weil die Florentiner über den Goldgehalt ihrer Münzen mit großer Aufmerksamkeit wachten und sicherstellten, dass sie nicht gefälscht wurden. … Das machte die Florentiner unglaublich reich. Und dieser Reichtum würde in den Dienst von Kunst und Architektur gestellt werden. ERZÄHLERINFlorenz hatte um 1400 nur noch rund 40.000 Einwohner, denn der schwarze Tod hatte einen Großteil von ihnen das Leben gekostet. Florenz war eine Stadtrepublik, ihre Bürger lebten nach ihren eigenen Gesetzen. 9. ZUSPIELUNG KingAbout 5.000, all of them men above the age of 29, had the right to vote and hold political office. By our standard that’s not very democratic, but by the standard of most of the rest of Europe that’s not bad. And so, the Florentines were quite proud of their political system, and they thought they represented a kind of beacon of liberty, at least in Italy. There was a kind of civic pride that they had about themselves and their city. And why not? It was a very prosperous city and a city in which a lot of people did hold a political stake because of the voting rights and office holding rights. OVERVOICEEtwa 5.000, allesamt Männer über 29 Jahre, hatten das Wahlrecht und konnten politische Ämter bekleiden. Nach unseren Maßstäben ist das nicht sehr demokratisch, aber nach den Maßstäben des Großteils des restlichen damaligen Europas ist es nicht schlecht. Die Florentiner waren daher ziemlich stolz auf ihr politisches System und hielten sich für eine Art Leuchtturm der Freiheit, zumindest in Italien. Sie empfanden eine Art Bürgerstolz auf sich und ihre Stadt. Und warum auch nicht? Florenz war eine sehr wohlhabende Stadt, in der viele Menschen aufgrund ihres Wahl- und Ämterrechts politisch aktiv waren. ERZÄHLERINUnd die majestätische Kuppel des Doms sollte Ausdruck des Florentiner Selbst- und Machtbewusstseins werden. Um den besten Entwurf für die noch fehlende Kuppel zu ermitteln, richteten die Florentiner 1418 einen Wettbewerb aus. MUSIK ZITATOR1Wer ein Modell oder eine Zeichnung für die Errichtung der Hauptkuppel des Domes anzufertigen wünscht und für Standgerüste, Baugerüste und andere Dinge oder für Hebemaschinen aller Art zum Zwecke der Errichtung und Vollendung besagter Kuppel – soll seinen Entwurf vor Ende September einreichen. Derjenige, dessen Modell ausgewählt wird, erhält 200 Goldflorine. ERZÄHLERIN200 Goldflorine, für einen Handwerker der Zeit entsprach das dem Verdienst von mehr als zwei Jahren. Die Ausschreibung erregte unter den Steinmetzen, Zimmerleuten und Maurern - Architekten als Berufsstand mit eigener Ausbildung gab es damals noch nicht – in der gesamten Region Aufsehen. Das Rennen machte schließlich ein Außenseiter: der Florentiner Goldschmied Filippo Brunelleschi. Er war bis dahin nur als Baumeister kleinerer Kapellen in Erscheinung getreten. Seine Vision sah im Unterschied zu den anderen Entwürfen vor, die Kuppel ohne das bislang übliche hölzerne Stützgerüst zu bauen. Aus gutem Grund, so Bernd Kulawik: 10. ZUSPIELUNG Kulawik Ein Gerüst, das so hoch reicht und das dann erst das eigentliche Kuppel-Gerüst trägt, das hätte wahrscheinlich alle Wälder der Toskana gekostet und hätte trotzdem nicht funktioniert. ERZÄHLERINEin Gerüst bis hinauf zur Spitze der Kuppel, also auf eine Höhe von mehr als 100 Metern, wäre wohl schon unter dem eigenen Gewicht in sich zusammengefallen – wenn man überhaupt imstande gewesen wäre, ausreichend lange und starke Baumstämme zu beschaffen. Und trotzdem stößt Brunelleschi mit seiner Idee, die Kuppel mithilfe eines freischwebenden Gerüsts zu mauern, auf immense Skepsis. Den Bauherren fehlte offensichtlich die Phantasie, sich vorzustellen, wie das funktionieren sollte. 11. ZUSPIELUNG Kulawik Das war eine heftige Diskussion damals … in der Dombau-Behörde, da wurde Brunelleschi dann rausgetragen, wie ein Verrückter, weil man ihn weghaben wollte und der Meinung war, was der da erzählt, ist sowieso alles Unsinn. Und dann hat er ein Modell aus Stein und aus Ziegeln gebaut, um zu zeigen, dass man die Kuppel, so wie er sich das denkt, ohne solche Gerüste, bauen kann. Und dann hat man ihn erst gelassen. 12. ZUSPIELUNG King The key thing for him was to get the job to build it, I think he was supremely self-confident, he believed that if you give me the chance to do it, I will be able to solve these problems. Under his breath he might have admitted – I do not know what all of these problems are going to be, but I do think I can solve them, when the time comes. OVERVOICEDas Wichtigste für ihn war, den Auftrag für den Bau zu bekommen. Ich glaube, er war äußerst selbstbewusst und glaubte: Wenn man mir die Chance gibt, werde ich diese Probleme lösen können. Unter vorgehaltener Hand gab er vielleicht zu: Ich weiß zwar nicht, welche Probleme das sein werden, aber ich glaube, ich kann sie lösen, wenn es so weit ist. ERZÄHLERINJetzt endlich kann Brunelleschi loslegen. Er hat eine Mammutaufgabe zu bewältigen, die ihn auf den unterschiedlichsten Gebieten fordert. Er ist Bauleiter, Tüftler, Statiker, Baumaschinen-Erfinder und Logistiker in einer Person. Es gilt, tonnenweise Material zu organisieren und heranzuschaffen – feinsten weißen Marmor aus den Steinbrüchen von Carrara, rund 100 Kilometer von Florenz entfernt, dazu große Sandsteinblöcke und Millionen von Ziegelsteinen aus den Brennereien rund um Florenz. All diese Materialien sucht er eigenhändig aus, verhandelt mit den verschiedenen Gewerken, organisiert die Transporte und ihr rechtzeitiges Eintreffen auf der Baustelle und ist Chef einer wechselnden Belegschaft von gut 100 Handwerkern und Bauarbeitern. MUSIK Schritt für Schritt setzt er seinen Entwurf um, und er weiht niemanden in seine Pläne ein. Keine einzige Zeile, keine Berechnung, keine Skizze in seiner Handschrift ist erhalten. Vielleicht hat er bewusst alle Spuren verwischt, weil er Ideenklau befürchtet. Die Kuppel, die in den nächsten 16 Jahren vor den Augen seiner zunächst skeptischen, schließlich vor allem staunenden Zeitgenossen in den Himmel wächst, besteht aus zwei Schalen. Die innere, unten rund drei Meter starke, trägt die dünnere äußere. Dazwischen liegt ein Gang, in dem sich die Bauleute bewegen und heute die Touristen bis zur Spitze hinaufsteigen können. Die Ziegel, aus denen die Kuppel gemauert wird, lässt Brunelleschi im sogenannten Fischgrätenmuster legen. So verkeilen sie sich ineinander und geben sich gegenseitig Halt. Außerdem verlegt er im Gemäuer dicke horizontale Balken, die vermutlich eine Art inneren Gürtel bilden und die Wände zusammenhalten. Ganz genau weiß man das selbst heute noch nicht, obwohl man die Domkuppel mit allem durchleuchtet hat, was die moderne Technik zu bieten hat: Laserstrahlen, Metalldetektoren, Georadar und so weiter. Um die insgesamt knapp 30.000 Tonnen Material, die für die Kuppel gebraucht werden, in luftige Höhen zu befördern, erfindet Brunelleschi, quasi en passant, diverse Gerätschaften und Maschinen. 13. ZUSPIELUNG King Probably, Brunelleschi’s greatest invention was his ox hoist, a very powerful hoist with 3 gears, it was a three gears hoist … so he could send small loads up very quickly and very heavy loads with great security and power. … One of the greatest innovation of the 1400 comes from Brunelleschi and that is a clutch mechanism, it’s the first clutch mechanism in history, so every time you shift gears in your car … you can thank Brunelleschi because of the fact that he is the one who figured out the reversable clutch. OVERVOICEBrunelleschis größte Erfindung war wahrscheinlich sein Ochsen-Aufzug, ein sehr leistungsstarker Flaschenzug mit drei Gängen, damit konnte er kleine Lasten sehr schnell und große Lasten sicher und kraftvoll in die Höhe befördern. Eine der größten Innovationen des 15. Jahrhunderts stammt damit von Brunelleschi, nämlich ein Kupplungsmechanismus, der erste Kupplungsmechanismus der Geschichte. Jedes Mal, wenn Sie in Ihrem Auto den Gang wechseln, können Sie Brunelleschi danken, denn er hat die Kupplung für den Vor- und Rückwärtsgang erfunden. ATMO Pferde ERZÄHLER Angetrieben wurde der Lastenaufzug von einem Ochsengespann, das unter dem Gewölbe im Kreis lief. Kraft dieser Bewegung wurde die Last mittels eines Gewindes nach oben befördert. Dank der Gangschaltung konnte man den leeren Aufzug mit wenigen Handgriffen wieder nach unten schicken, um ihn dort neu zu beladen, ohne dass die Ochsen anhalten und umdrehen mussten.  14. ZUSPIELUNG King He was unquestionably a genius, he was a mechanical genius, but he was also a great manager. I mean, he ran a huge work force with great efficiency, and he also could deal with the politicians and the wardens of the wool guild in Florence, so he did have quite a few people skills. But he was an eccentric character to say the least. … He was very secretive and that was because of the fact that he did not want anyone else to get the credit for his inventions. He wanted the dome to be known as Brunelleschi’s dome. OVERVOICEEr war zweifellos ein Genie, ein Genie der Mechanik, aber auch ein großartiger Manager. Er leitete eine riesige Belegschaft mit großer Effizienz und konnte auch mit den Politikern und den Vorstehern der Wollzunft in Florenz umgehen. Er besaß also einiges an zwischenmenschlichem Geschick. Aber er war, gelinde gesagt, ein exzentrischer Charakter. … Er war geheimniskrämerisch, weil er nicht wollte, dass jemand anderes die Anerkennung für seine Erfindungen bekam. Er wollte, dass die Kuppel als Brunelleschis Kuppel bekannt wurde. MUSIK ERZÄHLERINUm das zu erreichen, musste er die Kuppel zu seinen Lebzeiten fertigstellen, durfte also keine Zeit verlieren. Und es galt, zunächst noch einen Rivalen aus dem Feld zu schlagen: Den berühmten Bildhauer Lorenzo Ghiberti, der ihm als gleichberechtigten Bauleiter und eine Art Controller zur Seite gestellt worden war. 15. Kulawik 18.00 Und da hat Brunelleschi sich krankgemeldet. Und dann stand die Baustelle still, weil Ghiberti technisch das gar nicht durchdrungen und verstanden hat, wie das gehen soll. Und da hat man eingesehen: Okay, wir brauchen den Ghiberti nicht, aber wir brauchen unbedingt Brunelleschi. ERZÄHLERINSeine Bauleute stammten zum großen Teil aus armen Familien und bekamen nur einen geringen Lohn, so Ross King. Für einen Knochenjob, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dauerte. Ihr Arbeitswerkzeug, wie Hammer, Meißel oder Maurerkelle, mussten sie selbst mitbringen. Wenn es regnete oder stürmte, ruhte die Baustelle und die Belegschaft blieb ohne Lohn. Dann veranstaltete man eine Art Lotterie unter den Arbeitern. Zog man das große Los, wurde man während der arbeitsfreien Tage bezahlt. 16. ZUSPIELUNG King 28.50 And its very dangerous work, because by about 1426 they had reached a point were the dome was curving inward and they were working many of them on the inward curving surface without any sort of wood beneath them to catch them if they fell. So one of the things B did to keep them safe he appears to have invented some sort of safety harness for them, so if you were working on the hight on an inward curving surface with the abyss beneath you would be clipped/tethered essentially to the wall itself, rather like a mountaineer or a window cleaner today on a high rise OVERVOICEUnd es war eine sehr gefährliche Arbeit, denn um 1426 hatten sie einen Punkt erreicht, an dem sich die Kuppel nach innen wölbte, und viele von ihnen arbeiteten auf der nach innen gewölbten Fläche, ohne dass sie Holz unter sich hatten, das sie im Falle eines Sturzes hätte auffangen können. Zu ihrer Sicherheit erfand Brunelleschi offenbar unter anderem eine Art Sicherheitsgurt für sie. Wenn man also in der Höhe auf einer nach innen gewölbten Fläche arbeitete und sich darunter ein Abgrund befand, war man praktisch an der Wand festgeschnallt bzw. angebunden, ähnlich wie ein Bergsteiger oder Fensterputzer heute in einem Hochhaus. ERZÄHLERINIm Laufe der 16 Jahre, die Brunelleschi auf der Baustelle arbeitete, ereigneten sich dort nur zwei tödliche Unfälle. Auch das eine beachtliche Leistung des Bauleiters. Die Arbeiter mussten nicht nur Wind und Wetter trotzen, sie mussten auch schwindelfrei sein und körperlich fit: 17. ZUSPIELUNG They did not have to go jogging or go to the gym before they started work because they got their exercise on the site because of course the first thing they had to do was to climb the stairs to get up into their place of work. …most of them, before the dome was completed, were doing I suppose 400 plus steps up. Many of them would go down for lunch… anyone who’s climbed the dome knows that it takes you a certain amount of time, even someone who is in relatively good shape … and so what B ultimately decided he would do by 1426, some 6 years into the construction of it, is: serve them lunch on the platform. … he watered the wine down, he didn’t want them getting drunk on the job, … Some of them would use the hoist to go up and down, they would climb into the bucket, that brought the bricks up and they would go down for their lunch in that bucket. Obviously, it would have been very dangerous, probably a lot of fun … so he put a stop to that. OVERVOICESie mussten vor Arbeitsbeginn nicht joggen oder ins Fitnessstudio gehen, sondern konnten direkt auf der Baustelle trainieren. Denn natürlich mussten sie zuerst die Treppe zu ihrem Arbeitsplatz hinaufsteigen. … Die meisten von ihnen haben vor Fertigstellung der Kuppel vermutlich über 400 Stufen erklommen. Viele von ihnen gingen zum Mittagessen hinunter und … jeder, der schon einmal auf die Kuppel gestiegen ist, weiß, dass man dafür eine gewisse Zeit braucht, selbst wenn man relativ fit ist … und so beschloss Brunelleschi im Jahr 1426, also etwa sechs Jahre nach Baubeginn, ihnen das Mittagessen oben auf der Plattform zu servieren. … den Wein verdünnte er, damit sie sich bei der Arbeit nicht betranken… Einige der Arbeiter benutzten den Lastenaufzug, um rauf und runter zu kommen, sie kletterten in den Eimer, der die Ziegel nach oben brachte, und ließen sich in diesem Eimer zum Mittagessen hinunterbefördern. Natürlich war das sehr gefährlich, wenngleich wahrscheinlich auch sehr lustig… Aber Brunelleschi hat ihnen das verboten. MUSIK ERZÄHLERINUnd so wächst die Kuppel langsam, aber stetig in den Florentiner Himmel, rund 30 Zentimeter im Monat. Für ihre Schalung werden Ziegel verschiedenen Zuschnitts und in hundert verschiedenen Größen verbaut. Je nach Position und Neigungswinkel kommen andere Ziegelsteine zum Einsatz. Wie bei einem gigantischen dreidimensionalen Puzzle. Während der 16-jährigen Bauzeit liegt Florenz im Krieg mit den Städten Lucca und Mailand. Die militärische Auseinandersetzung kostet die Florentiner viel Geld. Und Brunelleschi selbst wird von seiner Baustelle wegbeordert und zum Kriegsdienst einberufen. Doch schließlich ist es vollbracht, das Wunder von Florenz. Der große Kunstmäzen Lorenzo de Medici schwärmt: ZITATOR1Niemals zuvor gab es etwas Großartigeres und Genialeres MUSIK ERZÄHLERINMajestätisch thront die Kuppel über der Stadt, weithin sichtbar. Rot leuchten ihre Dachziegel, weiß die Marmorrippen dazwischen. Geleitet von einer Mischung aus Größenwahn, Gottvertrauen und grenzenlosem Optimismus, hatten die Florentiner ihrer Stadt ein Monument errichtet. An diesem Meilenstein der Baugeschichte sollten sich alle künftigen Bauwerke messen.
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Jul 25, 2025 • 22min

ACHTUNG BAURISIKO! Das Rätsel der Pyramiden

Ein Besuch von Außerirdischen! Auch das war ein ernst gemeinter Vorschlag, um das Wunder der steinernen Giganten zu deuten. Inzwischen hat die Ägyptologie die Zusammenhänge rekonstruieren können, die den Bau der Pyramiden erklären. Ein Wunder bleiben sie trotzdem. Von Thomas Morawetz (BR 2009)Credits Autor: Thomas Morawetz Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Christian Schuler Technik: Marcus Huber Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Dr. Mélanie Flossmann, Schütze (inzwischen Direktorin & Konservatorin am Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München) Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR: Philipps Playlist Mit Musik lässt es sich wunderbar aus dem Alltag herausträumen! NDR Kultur-Moderator Philipp Schmid stellt jede Woche neue handverlesene Playlists zusammen. Von Pop bis Klassik – die Musik ist für ihn ein Anlass, sich gemeinsam mit seinen Hörerinnen und Hörern auf fantasievolle Gedankenreisen zu begeben. Zum Beispiel auf einen Roadtrip, ans Meer oder in den Weltraum. Das Entspannende an diesen Ausflügen: Ihr könnt euch dabei bequem auf der eigenen Couch zurücklehnen, bügeln, kochen, spazieren gehen oder euch im Bett einkuscheln. Der Radiopreisträger Philipp Schmid kennt die richtige Musik für jede Stimmung und für jede Lebenslage. Zu den einzelnen Stücken jeder Folge improvisiert er am Klavier. ZUM PODCAST Linktipps BR (2023): Cheops-Pyramide – Auf den Spuren verborgener Kammern  Die Cheops-Pyramide ist die größte und älteste Pyramide von Gizeh. Sie ist eines der sieben Weltwunder der Antike und eines der am besten untersuchten Bauwerke der Welt. Trotzdem birgt sie noch Geheimnisse. Nun präsentieren Forscher erstmals Aufnahmen aus einem dieser Räume. JETZT ANHÖREN ZDF (2021): Der Nil – Lebensader für die alten Ägypter: Geheimnisse des Pyramidenbaus   Im alten Ägypten sorgt der Nil mit seinen Überschwemmungen für gute Ernten. Er ist auch die wichtigste Wasserstraße, die den Bauboom der Pharaonen überhaupt erst möglich macht. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:SPRECHERGleich am Wüstenrand beginnt das Wunder, das Weltwunder. Dicht hinter dem Grünstreifen des Niltals im Südwesten vom heutigen Kairo erhebt sich das Plateau von Giseh. Gelbe Steinmassen ragen aus gelbem Sand hervor, gigantische Quadrate, die sich zur Spitze hin verjüngen. In der flachen windigen Gegend haben sie die Größe von Bergen, aber sie sind von Menschen erschaffen – die Pyramiden von Gizeh, Triumphe der Perfektion. Die ägyptischen Könige Cheops, Chefren und Mykerinos haben an diesem Ort drei Ausrufezeichen in die Menschheitsgeschichte gesetzt. ZITATOR:„Das sind Bauten, die sogar die Zeit fürchtet, und es fürchtet doch alles in der sichtbaren Welt die Zeit... SPRECHERIN…schreibt der arabische Schriftsteller Umara el-Jamani im Mittelalter… ZITATOR:… Mein Auge erquickt sich an diesen einzigartigen Bauten, aber meine Gedanken quälen sich mit der Frage, was sie bedeuten sollen!“ SPRECHERINNicht nur el-Jamani hat diese Frage gequält. Denn schon in der Antike war wesentliches Wissen über die Pyramiden verloren. Der erste Gelehrte, der eine Beschreibung des versunkenen Ägypten der Pyramidenzeit versucht, ist der Grieche Herodot [sprich: Herodót]. Als er im 5.Jh.v.Chr. das Land bereist, stehen die großen Pyramiden bereits seit 2000 Jahren. Herodot erfährt Ungeheueres: 100.000 Sklaven soll Cheops für den Bau zur Fronarbeit gepresst haben. Und noch schockierender: Um an Geld zu kommen, habe Cheops die eigene Tochter in ein Bordell gesteckt. Dafür wollte sie dann auch ein Denkmal von sich selbst hinterlassen: ZITATORSo hat sie jeden, der sie besucht hat, gebeten, ihr dazu wenigstens einen einzigen Stein zu schenken. Von diesen Steinen, heißt es, sei die Mittlere der drei Pyramiden gebaut, die vor der großen steht. SPRECHERTypische Geschichten, wie sie die Pyramiden im Lauf der Zeit inspirieren, Geschichten, die bereits Herodot sammelt und interpretiert. Herodot ist ein Kind seiner Zeit, er erlebt in Athen die erste Demokratie der Geschichte, und Tyrannenhass gehört zum Lebensgefühl. Für Herodot kann ein Werk wie die Pyramiden nur das Ergebnis brutalen Zwangs sein. Er findet in Ägypten genau die Geschichten, die in seinem Weltbild schon angelegt sind. SPRECHERINUnd so wird in den nächsten Jahrhunderten weiter gestaunt und spekuliert. Am Ende der Antike hat man sogar vergessen, dass in den Pyramiden einst Könige bestattet wurden. Und überhaupt – wo steht von ihnen eigentlich etwas in der Bibel? SPRECHERSind die Pyramiden also nicht die Kornkammern, die Josef für den Pharao erbauen ließ? Und die unglücklichen Sklaven – waren sie nicht das Volk Israel in ägyptischer Gefangenschaft? SPRECHERINIm späten Mittelalter erzählt der arabische Historiker Al-Makrizi, der Herrscher Saurid habe den Bau der Pyramiden befohlen, weil er von einer bevorstehenden Sintflut geträumt hatte. ZITATORDa befahl Saurid, die Pyramiden zu bauen, … füllte sie an mit Talismanen, Wundern, Schätzen, Götzenbildern, außerdem wurden an die Pyramiden und an ihren Decken, Wänden und Säulen alle Geheimwissenschaften … aufgezeichnet, … und überhaupt ihre sämtlichen Wissenschaften, deutbar für den, der ihre Schrift und ihre Sprache kennt. SPRECHERBis in die Neuzeit denken die Menschen bei den Pyramiden an grausame Despotien, an steinerne Tresore für gewaltige Schätze und verschlüsselte Weisheiten. Als Anfang des 19.Jh. die wissenschaftliche Erkundung der Bauwerke beginnt, wird zwar schnell wieder klar – die Pyramiden sind alte Königsgräber! Aber die Lust an Mutmaßungen bleibt ungebrochen: Sollten sie wirklich nur Gräber gewesen sein? SPRECHERINOder nicht vielmehr ein monumentales Urmodell der Mathematik und Astronomie? Oder ganz modern: Waren die Pyramiden Windbrecher gegen Wüstensandstürme? Oder – Verdunstungsanlagen? Sie hätten an ihren großen Außenflächen herauf gepumptes Grundwasser verdunstet – und somit das Wetter in der Wüste verändert. SPRECHERNicht zu vergessen natürlich die Pyramiden als Werke außerirdischer Intelligenzen. Alle diese Deutungsversuche sind zwar typisch für die Zeit, aus der sie stammen, aber nicht für die alte ägyptische, in der die Pyramiden erbaut wurden. MUSIK SPRECHERINCheops, Chefren, Mykerinos – Vater, Sohn und Enkel – leben um die Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus. Sie sind Könige der 4. Dynastie im Alten Reich. Die Geschichte Ägyptens ist also noch relativ jung. Es ist die Kupferzeit, seit etwa 500 Jahren gibt es bereits die Hieroglyphen, aber Aufzeichnungen über den Pyramidenbau existieren aus dieser Zeit nicht. Die Ägyptologen müssen das Rätsel der Pyramiden also anders lösen. SPRECHERAm besten nähert man sich ihm zunächst über die Person, die drin liegt – dem König. SPRECHERINWährend in Europa noch späte Steinzeit herrscht, hat sich in Ägypten der König bereits ein einzigartiges Machtpotential geschaffen. Er gebietet über einen riesigen Beamtenapparat und kontrolliert alle Ressourcen des Landes. Doch nicht nur das materielle Leben hat er fest im Griff. SPRECHERDem König ist es gelungen, die alten Hoffnungen im Volk auf eine Wiedergeburt im Jenseits in seiner Person zu bündeln. Er ist der, der für sein Land wiedergeboren werden muss. Schon früh betreiben die Ägypter deshalb viel Aufwand, um den Körper des verstorbenen Königs zu mumifizieren und zu erhalten … Zusp Floßmann (4:02)… und natürlich mit dem Aspekt, dass die ägyptische Welt gespiegelt ist im Jenseits, dass oben auch jemand herrschen muss, der das Ganze eben dann überwacht und regiert. SPRECHERINMélanie-Catherine Floßmann, Ägyptologin am Münchner Institut für Ägyptologie. Und der König wird für sein Volk sogar als Gott neu geboren. Im Jenseits identifiziert er sich mit Re, dem Sonnengott. Zusp. Floßmann (9:25)Das heißt, wir haben zwei Könige parallel. Den verstorbenen König im Jenseits oben als Herrscher des Jenseits und den jetzigen, diesseitigen König, der eben die aktuellen Regierungstätigkeiten auf Erden vollzieht. SPRECHERDer neue König garantiert also die Kontinuität der Regierung auf Erden, der tote, göttlich wiedergeborene König garantiert den Fortbestand der Weltordnung. Und diese Garantie bekommt Gestalt im Königsgrab und Königskult. SPRECHERINDie Ägypter glauben, dass ihr König nach seinem Tod zum Nordhimmel aufsteigt und sich dort unter die Zirkumpolarsterne mischt. Diese Sterne geraten nie unter den Horizont, sie sind wie ewige Lichter. Der Eingang zu den Königsgräbern liegt deshalb schon immer im Norden. Die vielfältigen Kultanlagen aber, die später zur Pyramide gehören, sind nach Osten hin ausgerichtet, zum Sonnenaufgang. So wird der König wie Re, der Sonnengott, jeden Tag im Osten wiedergeboren. SPRECHERNordung und Ostausrichtung. Das sind die astronomischen Vorgaben, nach denen Pyramiden-Bauplätze eingemessen werden. Messtechnisch mit enormer Präzision, aber unerklärbar nicht. Den Babyloniern etwa haben die Ägypter zur selben Zeit nichts voraus, weder an astronomischen noch an mathematischen Kenntnissen. MUSIK SPRECHERINSo weit, so gut, aber für welche Idee steht dann gerade die spezielle Form der Pyramide als Grabbau? Mélanie-Catherine Floßmann: Zusp. Floßmann (13:36)Wir haben die Pyramide zum Teil als Urhügel, … aus dem dann bei der Weltentstehung das ganze Leben, die Welt sozusagen, emporgekommen ist. Eine weitere Möglichkeit, ebenfalls recht umstritten in der Ägyptologie: Die Pyramide hat die Form von Sonnenstrahlen, die sich eben durch die Wolken brechen … (14:07) Und natürlich nicht zu vergessen, sie soll eben ne Himmelstreppe für den König sein für den Jenseitsaufstieg. SPRECHERDie Ägyptologen wissen also gar nicht so genau, was es mit der Bedeutung der Pyramidenform auf sich hat. Immerhin verrät aber die Baugeschichte, wie es zur Erfindung der klassischen Pyramide kommt. Der Quantensprung von der flachen Grabanlage zur Pyramide gelingt König Djoser [sprich: Dschóser], dem Begründer der 3. Dynastie um 2650v.Chr. Seine Pyramide ist gut 62 Meter hoch und steht in Sakkara [sprich: Sakkára]. Sie sieht aus wie eine riesige sechsstufige Treppe, die von vier Seiten nach oben begehbar ist. SPRECHERINDjoser türmt als erster auf einen flachen Grabbau eine Pyramide auf. Allerdings hat sein Bau noch keine horizontal umlaufenden Steinschichten, sondern vier schräg nach oben gelehnte Mauerwände um einen Steinkern herum.  Sozusagen die erste Zwiebelschale. Die nächste außen angelehnte Mauerschicht, die zweite Schale, ist kürzer, so entsteht von oben weg die erste Stufe – und so weiter. Das ist gerade noch nicht das Patent, auf das die Pyramiden hinauslaufen werden – aber immerhin: Djoser ist der erste König, der mit seinem Grab eindeutig hoch hinaus will. SPRECHERDen nächsten großen Schritt zur Pyramide mit umlaufenden Steinreihen schafft König Snofru, der Vater von Cheops. Snofru experimentiert mit neuen, riskanten Bautechniken. Er müht sich während seiner Regierungszeit sogar mit mehreren Pyramiden ab. Allein an verbautem Material gemessen, ist er der größte Baumeister der ägyptischen Geschichte. Er verbaut 3.750.000 Kubikmeter Stein. Sein Sohn Cheops eine Million Kubikmeter weniger. SPRECHERINBerüchtigt ist Snofrus sogenannte Knickpyramide in Dahschur. Hinter dem harmlosen Namen müssen entsetzliche Nervenzusammenbrüche stecken. Monumental soll der Bau werden, an die 125 Meter Höhe sind geplant, aber der Boden gibt nach, erste Risse ziehen sich durch die Kammern. Dann ein verzweifelter Rettungsversuch: Auf halber Höhe wird der Neigungswinkel der Pyramide abgeflacht. Hilft alles nichts. Die Knickpyramide wird die größte Bauruine Ägyptens. SPRECHEREin Albtraum. Snofru ist nicht mehr der Jüngste und braucht endlich ein Grab: Und tatsächlich beginnt er nun mit einer dritten, der „Roten Pyramide“. Sie wird als erste im neuen Stil erbaut, mit waagrecht umlaufenden Steinschichten, was den Druck auf die Kammern im Inneren verringert. Sie scheint gerade noch zu seinen Lebzeiten fertig zu werden. Gewaltig, die dritthöchste ägyptische Pyramide. Das Patent ist gefunden. SPRECHERINSoviel verrät die Baugeschichte der Riesen also doch: Bis zum Weltwunder von Gizeh hat es kühne Versuche und riesige Pleiten gegeben. Vom Himmel gefallen ist das Wissen der Ägypter, wie man eine Pyramide baut, sicher nicht. MUSIK SPRECHERFrank Müller-Römer ist gelernter Ingenieur. Nach seiner Pensionierung hat er 1996 zum ersten Mal vor der Cheops-Pyramide gestanden und wusste, dass er herausfinden wollte, wie sie gebaut werden konnte. Nach sechs Jahren Ägyptologiestudium legte er tatsächlich eine Doktorarbeit vor, in der er eine schlüssige Theorie aufstellt, wie die Riesen gebaut werden konnten. Soviel ist auf jeden Fall klar: Aus allen Pleiten seines Vaters, hat König Cheops viel gelernt. Zusp. Müller Römer (9:37)Also hat man einen Baugrund gesucht, der sehr fest ist, der sehr stabil ist. Man muss sich ja vorstellen, die Cheops-Pyramide mit etwa 2,5 Mio Kubikmetern, d.h. also über 3 Mio Tonnen Gewicht, die übte auf den Untergrund eine enorme Bodenpressung aus. Die ist viel, viel stärker als das, was wir heute mit unseren Hochhäusern auf die Erde setzen, eine ganz gewaltige Last auf den Boden, der muss sehr fest sein. Und der Untergrund in Giseh ist ganz fester Kalkstein … wie ne Art natürlicher Beton, der hält dieses eben aus. SPRECHERINZwischen 7 und 9% der Baumasse der Cheopspyramide geht auf das Konto eines natürlichen Felskerns, der vor Ort aufsteht. Das Wunder der Cheopspyramide ist nun die Messgenauigkeit, mit der der Koloss in den Sand gesetzt wird. Die 230 Meter langen Seiten differieren voneinander im Durchschnitt nur um ganze 2,3 cm. Und das Fundament ist so exakt waagrecht angelegt, dass sich zwischen Nord und Süd gerade einmal ein Gefälle von 22 Millimetern ergibt. Zusp. Müller-Römer (11:02-11:32)(11:02) Man vermutet, dass man diese Waagrechte hergestellt hat, indem man eben Kanäle gebaut hat, … also mit Ton ausgekleidet, mit Wasser gefüllt hat, und Wasser bietet ja dann wie die Wasserwaage einen sehr exakten waagrechten Horizont. SPRECHERDie Ägyptologie hat sich heftig den Kopf zerbrochen, wie die Menschen es damals fertig bringen konnten, in überschaubarer Zeit derartige Bauwerke zu errichten. Im Zentrum aller Überlegungen stehen Rampen. SPRECHERINNur welche? Man weiß, dass die Arbeiter die Steine auf Rollschlitten ziehen. Wenn sie über eine Rampe hinauf müssen, darf die Steigung nicht zu hoch sein. Und die Rampe wird immer länger, je höher die Pyramide wird. Unter diesen Voraussetzungen ist die Hochrechnung ernüchternd: Die Cheops-Pyramide ist 146 Meter hoch. Soll die Steigung bei mäßigen 5% bleiben, wird die Rampe nach und nach so lang, dass sie am Ende die zehnfache Masse der Pyramide selbst hat. Außerdem wäre sie drei Kilometer lang – aussichtslos. SPRECHEREin anderer Vorschlag: Die Rampe schlängelt sich um die Pyramide herum. Doch dann müsste die Rampe den Bau mehrfach umrunden und wäre am Ende ebenfalls mehrere Kilometer lang. SPRECHERINFrank Müller-Römer ist bei seinem eigenen Lösungsvorschlag zunächst nach dem Ausschlussverfahren vorgegangen. Er hat die bislang vorgelegten Bauvarianten durchgerechnet und ist zur Ansicht gelangt, dass keine funktioniert. Zusp. Müller-Römer (13:20; 14:08)Man muss von Grundvoraussetzungen ausgehen, dass sicherlich der König mit Blick auf seine Lebensdauer und die Bauzeit für einen große Pyramide nicht gesagt hat, ihr habt ja ewig Zeit, sondern die Forderung war, mit Sicherheit, in kurzer Zeit eine Pyramide zu bauen. D.h., es muss ein Bauverfahren geben, das auf allen 4 Seiten zeitgleich Baumaßnahmen ermöglicht. … (14:08) Mein Vorschlag ist nun, dass parallel zu diesen Stufenabsätzen des kernförmigen Mauerwerks steile Rampen gebaut sind und dort mit Seilzug, mit einer Art Seilwinde, die auch archäologisch belegt ist im Alten Reich, dann steil über diese steile Winde Steine nach oben gezogen werden, so dass man auf diese Weise auf allen vier Seiten mit verschiedenen Rampen, mit verschiedenen Winden, die Pyramide relativ schnell, relativ zügig bauen kann. SPRECHEREs geht also nicht darum, Rampen mit möglichst geringer Steigung zu bauen. Frank Müller-Römers Ansatz rechnet sogar mit relativ steilen Rampen. Das funktioniert, weil zusätzlich Seilwinden von oben ziehen. Außerdem sind steilere Rampen kürzer, und so können an einer Seite mindestens zwei Rampen gebaut werden. Das heißt, mindestens doppele so viele Blöcken können gleichzeitig nach oben gezogen werden. Unten jedenfalls, weiter oben werden die Rampen dann weniger, aber im unteren Drittel sind dann schon 70% der gesamten Baumasse verbaut. Zusp. Müller-Römer (15:25)Man weiß, Cheops hat etwa 23 Jahre geherrscht. Die Pyramide ist gerade noch zu seinen Lebzeiten fertig geworden. Meine Berechnungen waren etwa so bei 22 Jahren. Also eine Größenordnung hin oder her, man kann natürlich jetzt streiten über Kleinigkeiten, aber zumindest die Größenordnung stimmt. MUSIK SPRECHERINWie steht es nun mit den 100.000 Sklaven, von denen Herodot später gehört hat? Hier sind sich die Ägyptologen einig: Die Zahl ist eine Phantasiezahl. Inzwischen kommt man für den Bau der Cheops-Pyramide auf eine hochgerechnete Zahl von 12 bis 15.000 Arbeitern, das wäre etwa 1 bis 2% der geschätzten Gesamtbevölkerung. Und höchstens ein Viertel aller Arbeiter dürfte direkt an der Pyramide beschäftigt gewesen sein. SPRECHERUnd waren die Arbeiter wirklich Sklaven, die Vermesser, Steinmetzen, Maurer, Architekten und Ingenieure? Auch hier weiß man inzwischen mehr. Mélanie-Catherine Floßmann: Zusp. Floßmann (16:15)Das sind natürlich alles Facharbeiter, die eine jahrelange Ausbildung genossen haben, bzw. in einen größeren Betrieb mit eingearbeitet waren und dieses Wissen immer wieder weiter tradiert haben. SPRECHERINEs gibt auch keine Hinweise darauf, dass diese wertvollen Fachleute später – wie aus Hollywood-Filmen bekannt – mit dem König lebendig in die Pyramide eingemauert würden. Sobald die eine Pyramide fertig ist, ziehen die Arbeiter weiter zur nächsten. Der nächste König kann schließlich mit seiner eigenen gar nicht früh genug beginnen. SPRECHERWährend dessen beginnt aber vor allem der Kult des verstorbenen Königs an seiner nagelneuen Pyramide. Denn in einer Pyramidenanlage ist die Pyramide selbst sozusagen „nur“ das Grab. Der eigentliche hochaufwendige Königskult wird in dem großen Bezirk um die Pyramide herum zelebriert. Dieses Areal beginnt schon unten im Niltal. Zusp Floßmann (6:37)Wir haben einen Taltempel. Von dem Taltempel gibt es einen Aufweg bis zum Pyramiden-Tempel. Hinter dem Pyramiden-Tempel haben wir die Pyramiden-Anlage. … Und ganz wichtig, … wir haben richtige Stadtanlagen. SPRECHERINDen Bewohnern dort geht es gut. Der Totenkult ist ein wunderbares Einkommen für die lebenden Beschäftigten. Denn zu Lebzeiten hat der König im ganzen Land Domänen eingerichtet, extra für die täglichen Güter, die sein Kult später erfordert. Täglich kriegt nun seine Jenseitsexistenz Nahrungsmittel als Opfer. Aber nur symbolisch, nach dem Opferritus teilen sich die Beschäftigten die Gaben untereinander auf. MUSIK SPRECHERWie geht es weiter mit den Pyramiden nach Cheops? Sein Sohn Chefren will noch höher hinaus. Das schafft er aber nur mit Tricks. Er baut höher im Gelände, auf kleinerer Grundfläche und mit einem steileren Winkel. Ganz klar: Cheops bleibt Platzhirsch. Wiederum der Nachfolger Mykerinos baut die kleine Pyramide in Gizeh – dafür aber eine umso aufwendigere Pyramidenanlage. SPRECHERINDas wird der Trend für die nächsten Dynastien – kleinere Pyramiden bei großartigeren Kultanlagen. Tausend Jahre später, im Neuen Reich, hat die Pyramidenform ihre Exklusivität als Königsgrab verloren. Nun sind es tatsächlich die Facharbeiter, die selbstbewusst für sich kleine Pyramiden bauen, während sie für die Könige die Felsengräber im Tal der Könige anlegen. Diese Könige heißen übrigens erstmals Pharaonen. SPRECHERUnd auch das noch: Wie steht es mit den Labyrinthen, die in den Pyramiden Grabräuber tödlich in die Irre führen sollen? Noch einmal zum griechischen Historiker Herodot und seiner Ägyptenreise. Eine Etappe hatte ihn zur Pyramidenanlage von Amenemhet III. geführt. Mélanie-Catherine Floßmann: Zusp. Floßmann (23:28-24:11)Es gab wohl über 120 verschiedene Kulträume und Kapellen und Säulenumgänge und die verschiedensten Raumeinheiten. Jetzt stellen wir uns Herodot vor, der im 5.Jh. da anreist, … und er wird jetzt … von einem Raum in den nächsten hinein geführt und hat für sich dann auch einfach diese Assoziation – ja, das ist ein labyrinthartiges Gangsystem, … aber Labyrinthe hat es in Ägypten bei Pyramiden niemals gegeben. SPRECHERINNa ja. Noch so ein typisches Missverständnis. Sie waren einfach unbegreiflich früh unfassbar gut, die alten Ägypter. Eines wird man ihnen einfach lassen müssen: Die Pyramiden sind schlicht ein Wunder.

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