Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Jul 25, 2025 • 23min

ACHTUNG BAURISIKO! Das Olympiastadion, Wunder von München

Es gilt als ein statisches Wunder und als triumphales Bauwerk, selbst ein halbes Jahrhundert nach seiner Erbauung: visionär, radikal modern, offen - das Münchner Olympiastadion. Organisch eingefügt in eine künstlich geschaffene, natürlich anmutende Landschaft. Von Susanne Hofmann (BR 2022)Credits Autorin: Susanne Hofmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Thomas Birnstiel, Ruth Geiersberger, Peter Veit   Technik: Susanne Harasim   Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Stefan Behnisch, Prof. Fritz Auer   Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: Tatort Geschichte – True Crime meets History   Bei Tatort Geschichte verlassen Niklas Fischer und Hannes Liebrandt, zwei Historiker von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, den Hörsaal und reisen zurück zu spannenden Verbrechen aus der Vergangenheit: eine mysteriöse Wasserleiche im Berliner Landwehrkanal, der junge Stalin als Anführer eines blutigen Raubüberfalls oder die Jagd nach einem Kriegsverbrecher um die halbe Welt. True Crime aus der Geschichte unterhaltsam besprochen. Im Fokus steht die Frage, was das eigentlich mit uns heute zu tun hat. "Tatort Geschichte" ist ein Podcast von Bayern 2 in Zusammenarbeit mit der Georg-von-Vollmar-Akademie. ZUM PODCAST Linktipps SWR (2024): Die Olympischen Spiele 1972 – Münchens Sommertragödie    München wollte 27 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein neues Deutschland präsentieren - heiter und offen. Doch die Terroranschläge machten aus dem Sportfest eine Tragödie. Von Michael Kuhlmann (SWR 2022) JETZT ANHÖREN ARD alpha (2024): Das Münchener Olympiastadion    Nach dem Hofbräuhaus ist das Olympiastadion von 1972 Münchens berühmtestes Gebäude - und kunsthistorisch das wohl bedeutendste. Warum eigentlich? Was hat das spektakuläre Netz aus Stahl und Glas mit Seifenblasen zu tun? Was mit Demokratie? Und wie kam Architekt Frei Otto auf diese Verbindung von Baukunst und Ingenieurstechnik? Ein junger Kunsthistoriker geht diesen Fragen auf den Grund. Er entdeckt das Bauwerk für uns neu und zeigt so, was das Stadion zu einem Meilenstein gemacht hat. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIKERZÄHLERINEs ist Ende Oktober 1965 – aus dem Radio singen die Rolling Stones ihren Nummer Eins-Hit „I can’t get no satisfaction“, in Bonn ist Ludwig Erhard gerade zum zweiten Mal zum Bundeskanzler gewählt worden, und im Münchner Rathaus bekommt der Oberbürgermeister der Stadt München, Hans-Jochen Vogel, Besuch: Besuch von Willi Daume, einer Schlüsselfigur im Sport und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. Er stellt dem Oberbürgermeister eine große Frage: 1a. ZUSPIELUNG Fritz Auer 00.50„Sitzen Sie fest auf ihrem Stuhl? Und Vogel hat ihn gefragt, ja, wie meinen Sie das – politisch oder komfortabelmäßig? Und hat gesagt, Herr Vogel, wie wär’s, wenn Sie sich bewerben würden für die Austragung der Olympischen Spiele in München 1972!? Puh - Vogel hat einmal durchgeschnauft, da sagt er, da brauch ich ein bisschen Zeit … Vier Tage nur hat er gebraucht … und dann hat er gesagt okay, wir bewerben uns.“ ERZÄHLERSo ging damals die Erzählung, erinnert sich der Architekt Fritz Auer. Die Zeit drängt, die Bewerbungsfrist läuft in nur zwei Monaten ab. Innerhalb weniger Tage bringt Hans-Jochen Vogel den Münchner Stadtrat hinter seine Entscheidung, München bewirbt sich offiziell für die Olympischen Spiele und – erhält den Zuschlag. Die Ausschreibung zum Bau des Olympiageländes mitsamt dem Stadion gewinnt ein Architekturbüro aus Stuttgart: Behnisch und Partner. Sie haben bis dahin eher überschaubare Projekte geleitet – Landratsämter, Schulen und Kindergärten gebaut. Mitbegründer des Büros ist der Architekt Fritz Auer. MUSIK ERZÄHLERINWas in den Jahren darauf folgt, ist die Realisierung eines kühnen architektonischen Entwurfs, ein gewaltiger gemeinsamer Kraftakt und längst prägender Teil der Geschichte der Stadt München und der jungen Bundesrepublik. In München sieht man dem Bau mit Selbstbewusstsein und Zuversicht entgegen. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel: 1b. ZUSPIELUNG Vogel„Es handelt sich sowohl der Funktion als auch dem Bauvolumen nach um eines der größten Bauvorhaben, das in unserer Stadt in diesem Jahrhundert abgewickelt wird. (…) Wenn wir es vernünftig machen, wenn wir uns von Übertreibungen freihalten, wenn wir, wie der Bundeskanzler es sagte, all unseren Gästen, die zu uns kommen, menschlich und freundlich begegnen, dann glaube ich in der Tat, dass die Bundesrepublik einen großen ideellen Nutzen davon haben kann.“ ERZÄHLERDabei ist die Ausgangslage auf den ersten Blick eher bescheiden. Zunächst einmal: München hat keine einzige olympiataugliche Sportstätte. Auch die Infrastruktur steckt noch in den Kinderschuhen - der Mittlere Ring, heute eine Hauptverkehrs-Ringstraße, ist noch lange nicht fertig, der Bau der ersten U-Bahn hat erst begonnen. Und als der Olympia-Architekt Fritz Auer, damals Mitte 30, sich ein Bild von München macht, ist er zunächst nicht besonders begeistert: 2. ZUSPIELUNG Fritz Auer „Ich fand die Stadt schrecklich - gegenüber Stuttgart erst mal eben und grau, kein Baum, gar nichts. So war mein erster Eindruck.“ MUSIK ERZÄHLERINDoch München ist eine aufstrebende, junge Stadt, regiert vom einst jüngsten Oberbürgermeister Europas, Hans-Jochen Vogel. Fast die Hälfte der Stadtbevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Siemens hatte sich nach dem Krieg hier angesiedelt, genauso wie das Messe- und Verlagswesen und die Filmindustrie. Die Stadt wächst rasant und die Aussicht auf die Olympiade beflügelt den Aufschwung. Die Stimmung der Zeit ist geprägt von Fortschrittsglaube und Optimismus, der parteiübergreifend wirkt. Daran erinnert sich auch der Architekt Stefan Behnisch, der Sohn des Architekten Günther Behnisch, der den Olympia-Bau plante und leitete. 3. ZUSPIELUNG Stefan Behnisch SB 22.35„Politisch gab es eine Allianz zwischen Vogel, Strauß und Brandt - die Figuren kann ich mir heute überhaupt nicht in einem Raum vorstellen. Ja, aber die haben das gemeinsam getragen. Und das hat dem Projekt den Rücken gestärkt. Auch die Stimmung damals, die Aufbruchsstimmung, mehr Demokratie wagen… und man war auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die eben dieses Bittere überwinden konnte. Und die 50er und 60er-Jahre waren ja bitter. Teilweise ungeheuer spießig. Und ich glaube, diese Stimmung hat viel getragen, … In Rekordzeit hat München damals Ungeheures geleistet, ihre Stadt für die Zukunft fit gemacht. Und heute zehrt die Stadt noch davon.“ MUSIK ERZÄHLERDie Austragung der Spiele gab München und ganz Deutschland die Chance, sich der Welt nach dem verheerenden, von Deutschland angezettelten Weltkrieg neu zu präsentieren. Es galt, das preußisch-militärische Image Deutschlands zu überwinden. Das Olympiagelände mit seinen Sportstätten sollte für die junge Demokratie stehen, eine klare Abkehr von den Berliner Olympischen Spielen von 1936 mit ihrem auftrumpfenden Nationalismus und ihren Bauten, die Macht und Größe des Deutschen Reiches demonstrierten. Das neu zu errichtende Münchner Stadion sollte die Visitenkarte des gewandelten Deutschlands werden – ebenfalls ein Gegenentwurf zum monumentalen Berliner Stadion. Es herrschte, so der Olympia-Architekt Fritz Auer… 4. ZUSPIELUNG Fritz Auer FA2 30.25„…einfach der absolute Wille der Politiker und des Olympischen Komitees: Wir wollen dieses Zeitdokument für eine junge Demokratie - fast egal, was es kostet.“ ERZÄHLERINHeiter sollten die Spiele und ihre Bauten sein, leicht, dynamisch, unpolitisch, unpathetisch und frei von Ideologie. 5. ZUSPIELUNG Auer 3:58   „Es gab Leitlinien für die sogenannte Ausschreibung des Wettbewerbs, also die Aufgabenstellung. Und da waren drei Begriffe genannt: Spiele der kurzen Wege, Spiele im Grünen also, sprich Landschaft und Verbindung von Sport und Kunst.“ ERZÄHLERAll das verkörperte der Entwurf der Architekten Behnisch und Partner aus Stuttgart. Er sah eine Art Voralpenlandschaft vor, hügelig mit einem See, künstlich geschaffen auf dem drei Quadratkilometer großen Areal Oberwiesenfeld, Brachfläche und früherer Flugplatz, nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt. Und, durchaus symbolträchtig: Der Trümmerberg aus dem Zweiten Weltkrieg sollte begrünt und zum Olympiaberg transformiert werden. Die Sportstätten sollten in das Gelände eingebettet werden und ihre Dimension so bescheidener wirken. Oder, in den Worten von Willi Daume, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees:  5b. ZUSPIELUNG Daume„Die Lösung ist trotz der gebotenen Größenordnung so, dass immer ein menschliches Maß gewahrt ist. … Ich möchte es mal ganz kühn sagen: Die Landschaft, so wie sie dort entsteht, entspricht fast der von Olympia. Es wird eine großartige Bereicherung nicht nur der Stadt München, nicht nur der deutschen Architektur sein, sondern alle Ausländer, die nach hier kommen, werden sich hier wohl fühlen, es ist eine ideale Stätte der Begegnung, auch mit der Münchner Bevölkerung – wir sind hochzufrieden.“ MUSIK ERZÄHLERINDie Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit allerding beherrschte schon bald das geplante Olympiastadion, genauer: sein Dach. Eine Zeltdachkonstruktion, wie man sie noch nie gesehen hatte. Leicht und transparent, wie ein riesiges, freischwebendes Spinnennetz. Davon waren Politik und Öffentlichkeit fasziniert. Fritz Auer: 6. ZUSPIELUNG Auer FA1 20:21„Weil diese Konstruktion, diese sogenannten leichten Flächentragwerke … sehr immateriell wirken, also eigentlich wie ne Wolke über einer statischen Landschaft - wenn man‘s in Musik ausdrücken würde, wär die Landschaft der Kontrabass und das Dach wär die Oberstimme dazu - und die Oberstimme ist was Leichtes. Die schwingt und tut und bindet alles zusammen.“ MUSIK ERZÄHLERVorbild und Inspiration für das Zeltdach war der deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967 – ein Werk des Architekten Frei Otto. Eine Weltneuheit, die Staunen erregte: Den Pavillon überwölbte ein Dach von rund 8.000 Quadratmetern, bestehend aus einem Seilnetz mit einer darunter gespannten weißen Folie. So leicht und luftig war bisher kein Gebäude überdacht worden. ERZÄHLERINIn München aber war die Fläche fast zehn Mal so groß. 75.000 Quadratmeter sollte das Zeltdach hier überspannen, in etwa die Fläche von acht Fußballfeldern. Denn die Schwimmhalle und die Sporthalle mussten überdacht werden, im Stadion mindestens die Hälfte der Zuschauerplätze, zudem die dazwischenliegenden Wege im Olympiapark. Niemals zuvor war so eine Konstruktion realisiert worden. ERZÄHLERSchon das Modell des Stadions war unkonventionell. Die Architekten hatten sich dafür einfacher Materialien bedient – Sägemehl zum Modellieren der Landschaft, Zahnstocher als Dachstützen und für das Zeltdach: Nylonstrümpfe von Fritz Auers Frau. 7. ZUSPIELUNG Auer 24:34„Der Damenstrumpf hat Ähnlichkeit zum späteren Seilnetz in seiner Verformungsart. … und der Damenstrumpf von meiner Frau, der war so fleischfarben, fürchterlich sah das aus, das spätere Modell, … da haben wir dann Strumpfrohlinge von Firma Hözen, … die haben damals uns Rohlinge, also weiße, geliefert für das Wettbewerbsmodell, so sah’s dann besser aus später.“ ERZÄHLERINDie Pläne zeichneten die Architekten von Hand und mit einfachen Hilfsmitteln, erinnert sich Fritz Auer. 8. ZUSPIELUNG Auer FA1 18:40„Es gab den Rechenschieber, es gab noch keinen Taschenrechner, also noch keinen elektronischen Rechner, … die Riesenanlagen, das musste alles gezeichnet werden - die Grundrisse, Schnitte, alles im Maßstab eins zu 200, das muss man sich mal vorstellen. Da ist ein Stadion - Umgriff ist dann immerhin also etwa einen halben Meter breit und ein Meter über die Länge gemessen. Das musste man alles mit Stangenzirkeln zeichnen, jede Sitzreihe -  alles wurde per Hand noch gemacht.“ ERZÄHLERMonatelang rangen Architekten und Ingenieure darum, ob und wie man diesen kühnen Entwurf der Zeltdach-Landschaft überhaupt umsetzen könnte. Das Dach würde sich ständig mit dem Wind bewegen, quasi atmen – wie konnte man trotzdem seine Standfestigkeit gewährleisten? Wie sollte das Dach den Schneemassen trotzen und seine Form behalten? MUSIK ERZÄHLERINDer Leichtbau-Experte Frei Otto hatte dann die Idee, das Stadiondach in mehrere Segmente zu unterteilen und so den Bau zu ermöglichen. Für die Stadionüberdachung kam erstmals ein Computer zum Einsatz. Zur Berechnung der Kräfteverhältnisse schrieb ein Informatiker extra ein Programm – Neuland auch hier. Stefan Behnisch: 9. ZUSPIELUNG SB 00:15„Es war eine Gleichung - nach der Erzählung meines Vaters - mit über einer Million Unbekannten. Weil jeder Knoten ja vorberechnet sein musste… da wir hier über ein sphärisches Netz sprechen, nicht über ein glattes, elastisches Netz, sondern ein starres, sphärisches Netz, mussten die es genau so vorberechnen. Wenn das am Boden liegt, lag es ja wie ein Leintuch in Falten, und da mussten die aber jeden Knoten im Prinzip auf einen Millimeter genau richtig verankern und schrauben. Denn wenn das dann hochgezogen wird, durfte ja nicht eine Überbelastung an einer Stelle sein, das musste ja alles stimmen.“ ERZÄHLER Die Berechnungen stimmten, das Seilnetz wurde erfolgreich aufgerichtet, die knapp 80 Meter hohen Pylonen im Boden verankert. Zunächst hoffte man, dass das Dach 15 Jahre halten würde. Doch es erweist sich als beständiger als vermutet – bis heute sind nur kleinere Reparaturen angefallen. Erst nach einem Vierteljahrhundert mussten die Dachplatten ausgetauscht werden, sie waren milchig geworden. Die scheinbare Leichtigkeit des Daches war allerdings schwer erkauft, erklärt der Architekt Fritz Auer. 10. ZUSPIELUNG FA2 34.20„Diese sogenannte leichten Flächentragwerke sind gar nicht so leicht. Denn die Abspann-Kräfte müssen ja irgendwo hingehen, und die gehen in riesige Fundamente, das Randseil vom Stadion hat Fundamente von einer Größe von dreigeschossigen Häusern an beiden Enden. 4.000 Tonnen sind da drin an Vorspannung, und die mussten in die Erde, und man sollte das möglichst wenig sehen, damit diese leichte, luftige Wolke entsteht.“ MUSIK ERZÄHLERIN Ausgeklügelte Ingenieurskunst, eine Pionierleistung – und doch war es dem Olympia-Architekten Günther Behnisch ein Dorn im Auge, dass das Dach so viel Aufmerksamkeit auf sich zog, wie er in einem Radio-Interview 1972 darlegte. 11. ZUSPIELUNG Günther Behnisch „Es ist nicht das Wesentlichste unseres Entwurfes. Wir haben hier eine olympische Landschaft geschaffen, in dieser Landschaft treffen sich und verknoten sich die markantesten Punkte und Aktivitäten dieser Gegend – Fernsehturm, Wasser, Berg Hügel, Fußgängerwege – … und ein Teil dieser Anlage muss überdeckt werden.“ ERZÄHLER Günther Behnischs Sohn Stefan ergänzt 50 Jahre später: Für seinen Vater sei das Dach notwendiges Übel gewesen, hatte lediglich dienende Funktion: Nämlich die Menschen zu schützen, die sich in der olympischen Landschaft aufhalten. 12. ZUSPIELUNG SB 17:37„Er hätte sich ein Klima in Deutschland gewünscht, das erlaubt, Olympische Spiele ohne Dächer zu machen, aber es geht halt nicht… Er hätte gut ohne das Dach leben können. Aber wenn ein Dach, dann war das schon das richtige Dach, weil es sich in die Landschaft miteingefügt hat und die Landschaft vielleicht bis zum gewissen Grad ergänzt hat.“ MUSIK ERZÄHLERINFür die Weltöffentlichkeit war das geschwungene, quasi schwebende Dach freilich eine Sensation und half, das neue Image Deutschlands in der Welt zu prägen – weltoffen, modern, bunt. Die Fernsehübertragung der Spiele fand in Farbe statt. Dies stellte zusätzliche Anforderungen an die Architektur – wie die Spiele vier Jahre zuvor in Mexiko gezeigt hatten. Fritz Auer: 13. ZUSPIELUNG Fritz Auer 21:33„Da hatten die Farbfernsehleute große Probleme bei ihren Aufnahmen, weil in Mexiko das Stadion, das hatte ein schattenspendendes Dach für sich in so einem heißen Land gehört. Und das schattenspendende Dach hat natürlich auch große Schatten geworfen, auf das Spielfeld und auf die Laufbahn. Und dann haben die natürlich immer die Mühe gehabt, wenn die Spieler oder die Läufer in der Sonne sind, Blende zu, wenn es in Schatten sind, Blende auf. Das kann doch nicht wahr sein, das muss doch die  junge deutsche Bundesrepublik und ihre technologischen Experten müssen doch in der Lage sein, ein lichtdurchlässiges Dach für München zu kreieren.“ ERZÄHLERGelungen ist das mit transparenten Acrylglasplatten, die in das Stahlseilgewebe eingefügt wurden. Sie wurden vorher mehreren Härtetests unterzogen, sie mussten sich unter Schneelast und im Falle eines Brandes bewähren. Das Dach durfte schließlich weder brennen, noch schmelzen und abtropfen. Außerdem mussten die Dachplatten für Reparaturarbeiten begehbar und leicht zu reinigen sein. ERZÄHLERINAls man endlich ein Material gefunden hatte, das all diesen Anforderungen genügte, stellte sich das nächste Problem: Wie sollten die Platten in der Seilkonstruktion verankert werden? Zwar war das Netz relativ starr, gab aber doch im Wind nach und verschob sich an den Knotenpunkten des Netzes um mehrere Zentimeter. 13b. ZUSPIELUNG Fritz Auer 23.40„Also musste man Lösungen finden, dass die Platten sich nicht berühren …und dann brechen. Also das musste vermieden werden. Und dadurch wurde das gelöst, dass wir Neopren-Fugen einfügten, die zugleich auch der Wasserleitungen einigermaßen dienen und vor allem auch gegen Schneerutsche hilfreich waren. Gegen diese schweren, befürchteten Lawinen, die da runterkommen könnten vom Dach und … die Platten mussten auf dem Seilnetz, auf diesen Knoten dieses Netzes mussten die schwimmend quasi verlegt werden. Deshalb war da als Verbindungselement Gummipuffer aus der Automobilindustrie eingesetzt.“ ERZÄHLERZusammen mit den Platten wurden diese speziell für das Olympiadach entwickelten Puffer schließlich montiert, mithilfe ebenfalls nur für diesen Einsatz hergestellter Geräte.   14. ZUSPIELUNG Collage von der Eröffnung der Spiele ERZÄHLERINFür München, die Erbauer des Olympia-Ensembles und die beteiligten Politiker war es ein Triumph, als am 26. August 1972 die Nationen ins Stadion einzogen. Das Stadion war in frühlingshafte Pastelltöne getaucht– lindgrün, himmelblau, gelb, orange und weiß. Farben, die der für das Design der Spiele zuständige Grafiker Otl Aicher ausgesucht hatte. Nichts sollte an die Nationalfarben Schwarz, Rot, Gold erinnern, alles sollte frisch, leicht und unbeschwert wirken. Deshalb trugen die Polizisten auch statt Uniformen hellblaue Anzüge und weiße Schiebermützen eines französischen Designers. Fritz Auer erinnert sich an die Eröffnung der Olympischen Spiele: 14b. ZUSPIELUNG Auer 38.44  „Also, es war ein Traum. Dieser Zirkus aus bunten Menschen, der Berg, die Kontur des Bergs bestand aus Menschen, weil da waren viele Bürger, die hatten keine Eintrittskarten oder kam einfach nicht mehr ins Stadion rein. Die haben sich auf den Berg gesetzt, und der Berg war voller bunter Menschen - so etwas Tolles!“ERZÄHLERDie Bilder des bis auf den letzten Platz gefüllten Stadions und des Olympiaberges gingen um die Welt. 15. ZUSPIELUNG Auer 39:54„Wir hatten es geschafft, aber nicht wir allein. Da standen so viele dahinter, bis zu den Handwerkern, die auf dem Dach waren, die bergsteigerische Leistung vollbracht haben an den steilen Stellen. Das waren bergsteigerische Leistungen, die mussten sich anseilen - aber das war ein Geist durchweg. Da gab‘s nicht die so genannten Bedenkenträger, die alles klein geredet haben, das hätte nicht geklappt.“ ERZÄHLERINIn der New York Times lobte man das Dach als Zitator:„das auffallende strukturelle Symbol der Spiele, das durch „kühne Kurven die aufregendsten Perspektiven des Olympiaparks biete“. ERZÄHLERIN:Und resümierte: Zitator:„Diese Spiele können die Wunden der Vergangenheit heilen.“ ERZÄHLERIN:Der britische Observer schrieb: Zitator:„Keine Spur von Militarismus. Das haben die Bayern gut gemacht.“ ERZÄHLERIN:Und der italienische „Corriere della Sera“ kommentierte: ZITATOR„Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass sich die Deutschen geändert haben, das Stadion in München hat ihn geliefert.“ MUSIK ERZÄHLERDie Spiele von 1972 waren ein Einschnitt. Sie ließen Deutschland in einem anderen Licht erscheinen. Zugleich legte sich mit dem Olympia-Attentat ein dunkler Schatten über die Spiele – er wird immer mit dem Olympiastadion verbunden sein: Die Geiselnahme von Sportlern der israelischen Nationalmannschaft durch eine palästinensische Terrorgruppe mit 17 Toten am Ende – 11 Sportlern, einem deutschen Polizisten und 5 Terroristen. ERZÄHLERINSeit 1995 erinnert ein schwerer Granit-Quader direkt unter einem der Tragseile des Zeltdaches an das Attentat und deren Opfer. Täglich ziehen an dem Klagebalken Hunderte, Tausende Menschen vorbei, beim Joggen, beim Gassi-Gehen mit dem Hund, auf dem Weg zum Picknick auf dem Olympiaberg. ERZÄHLERDenn mittlerweile sind der Park und das Stadion zum lebendigen Teil der Stadt München geworden – so wie es seine Erbauer geplant und sich erhofft hatten. Aus dem olympischen Dorf der Männer wurde eine Wohnanlage, aus dem olympischen Dorf der Frauen eine Studentensiedlung. München profitiert davon, dass man beim Entwurf des Olympiageländes die Nachnutzung schon mitgeplant hatte, wie Franz Josef Strauß 1972 betont. 16. ZUSPIELUNG Strauß:„Das ist nicht nur gedacht für eine einmalige Sportveranstaltung von 14 Tagen Dauer, das wird von nachhaltiger und dauernder Wirkung für das gesamte Bild der Stadt München sein.“ MUSIK ERZÄHLERINDie olympische Landschaft, in die man 1972 Schilder gestellt hatte mit der Aufforderung: „Rasen betreten erwünscht!“, ist seitdem eine grüne Lunge der Stadt, Ort des Spiels und der Begegnung.
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Jul 25, 2025 • 25min

ACHTUNG BAURISIKO! Großbaustelle der Renaissance, der Florentiner Dom

Es ist ein Bauwerk, das die Grenzen des Vorstellbaren sprengte - und das ohne moderne Technik: der Florentiner Dom mit seiner gewaltigen Kuppel. Ein Blick hinter eines der größten Bauprojekte der Renaissance und auf das Genie dahinter: Filippo Brunelleschi. Von Susanne Hofmann (BR 2025)Credits Autorin: Susanne Hofmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Friedrich Schloffer Technik: Andreas Caramelle Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Dr. Bernd Kulawik, Ross King Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: W. M. Thackeray: Vanity Fair - Jahrmarkt der Eitelkeit Diese Frau will nach oben, dazu gehören zur Londoner High Society, mitspielen auf dem "Jahrmarkt der Eitelkeit": die smarte Becky Sharp mit den unvergesslich grünen Augen - und eine Waise von zweifelhafter Herkunft - stürzt sich mit brillant manipulativer Schauspielkunst auf den Hochzeitsmarkt. In einem typisch viktorianischen Roman wäre sie, die stets freundliche, tugendhafte Amelia, die Heldin gewesen, doch der Satiriker William Makepeace Thackeray sprengte mit "Vanity Fair" 1847/48, untertitelt mit "Roman ohne Held", einfach mal eben das Konzept des bis heute so populären viktorianischen Sittenromans. "Jahrmarkt der Eitelkeit" zählt bis heute zu den bedeutendsten englischen Romanen, Charlotte Brontës widmete ihm begeistert "Jane Eyre". Mit Becky Sharp erschuf Thackeray eine der gerissensten Anti-Heldinnen der Literatur, die alle Figuren der "Bridgerton"-Erfolgsserie blass aussehen lässt. Percy Adlon liest den mehrfach verfilmten Klassiker der Regency-Ära in einer gekürzten Fassung in acht Folgen. ZUM PODCAST Linktipps BR (2021): Die Gärten von Florenz  Filmautorin Eva Severini entdeckt die großen und kleinen Gärten von Florenz - den privaten Park der Grafen Torriggiani, den Renaissancegarten der Villa Medici in Castello oder den Garten der Villa Gamberaia. JETZT ANSEHEN SR (2025): UNESCO Weltkulturerbe – Schätze für die Ewigkeit in Florenz   Florenz beherbergt die größte Ansammlung von Kunstwerken, die auf der ganzen Welt bekannt sind. Den David von Michelangelo, die Venus von Botticelli, den Glockenturm von Giotto, die Domkuppel von Brunelleschi. Dies war 1982 für die UNESCO ein Grund, um die Stadt zum Weltkulturerbe zu erklären. Eine große Verantwortung für eine relativ kleine Stadt. Wie soll man all diese Schätze erhalten? Der Film schaut den Meisterinnen und Meistern der Restaurierungskunst bei ihrer Arbeit zu und zeigt so die Renaissancestadt Florenz aus der Werkstattperspektive. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO Glocken, Menschenmenge ERZÄHLERINEs ist ein Festtag, wie ihn selbst die Stadt Florenz in ihrer glanzvollen Geschichte selten erlebt hat. Der 25. März 1436. Das Geläut von Kirchenglocken und der Duft von Weihrauch ziehen durch die Gassen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die betuchten Herrschaften tragen ihre Festgewänder – bodenlange Kleider aus purpurrotem oder königsblauem Samt und golddurchwirktem Brokat für die Damen, enganliegende Beinkleider und Säbel für die Herren. Man feiert nicht nur den Beginn des Neuen Jahres. Der fällt damals in Florenz traditionell auf den Festtag Mariä Verkündigung. Die stolze Stadt Florenz – Heimat der Medici und aufstrebende Kunst-Metropole – legt Wert auf kulturelle Eigenständigkeit, dazu gehört auch ein eigener Kalender. Am Neujahrstag von 1436 kommt jedoch noch ein besonderer Anlass dazu: Die Weihe des Doms zu Florenz, der Kathedrale Santa Maria del Fiore. Papst Eugen IV. persönlich weilt in der Stadt, er leitet die Zeremonie. Von seiner Residenz, der Kirche Santa Maria Novella, zieht er in einer feierlichen Prozession zum Dom, flankiert von Kardinälen, mehreren Dutzend Bischöfen sowie Mitgliedern der Florentiner Regierung. Um die schaulustige Menschenmenge auf Abstand zu halten, hat man eigens eine Art Laufsteg für den Papst und seine Entourage gezimmert. Auf der hölzernen Plattform schreiten sie über den Köpfen des Volkes einher und ziehen in den Dom ein. MUSIK  ERZÄHLERINEs erklingt die eigens komponierte Motette eines damaligen Weltstars, des franko-flämischen Komponisten Guillaume Dufay: Nuper rosarum flores. Ein gregorianischer Choral über die biblischen Zeilen „Terribilis est locus iste” bildet die Grundlage – “Ehrfurchtgebietend ist dieser Ort”. Noch heute gilt die Komposition als herausragendes Werk der frühen Renaissance. Und ist damit eine angemessene Würdigung des Bauwerks, das hier besungen und von den Florentinern gefeiert wird, so der Musikwissenschaftler und Architekturhistoriker Dr. Bernd Kulawik. Er lehrt an der Technischen Universität Wien: 1. ZUSPIELUNG Bernd Kulawik Dass das das mit Abstand größte architektonische Wunderwerk seit der Antike sein würde, das war klar. … der größte imposanteste Kirchenraum, den man überhaupt haben konnte. Und das ist ganz klar: Wer den baut, ist der Star. Das ist ein Könner ohnegleichen. MUSIK ERZÄHLERINDieser Könner ist der gelernte Goldschmied Filippo Brunelleschi. Er kommt ein halbes Jahrhundert zuvor, 1377, in Florenz zur Welt. Damals ist der Dombau schon seit mehreren Generationen im Gange. Ein überaus ehrgeiziges Unterfangen, allein schon in seinen Ausmaßen. Das Gebäude soll 150 Meter lang werden und mit seiner Kuppel mehr als 100 Meter in den Himmel ragen. Schließlich wollte man der Welt zeigen, wer man war und insbesondere den ewigen Konkurrenten, den Stadtstaat Siena im Süden der Toskana, ausstechen. Um Platz für das Gotteshaus zu schaffen, ließ man ein ganzes Stadtviertel abreißen, auch zwei alte Kirchen mussten weichen, so der kanadisch-britische Kunsthistoriker Ross King. Er ist für sein Buch „Das Wunder von Florenz“ in die Geschichte des Florentiner Doms eingetaucht. 2. ZUSPIELUNG King8.16 Making a cathedral was a work of centuries. In those days, the work of many decades at least. And after a century of building the Florentines still had not reached the east end of the cathedral where they were going to have this massive dome. OVERVOICEEinen Dom zu bauen, war zu dieser Zeit das Werk von Jahrhunderten, zumindest aber vieler Jahrzehnte. Und nach einem Jahrhundert Bauzeit hatten die Florentiner noch immer nicht das östliche Ende des Doms erreicht, wo sie diese gewaltige Kuppel errichten wollten. MUSIK ERZÄHLERINMenschen wurden neben der Dauerbaustelle geboren und starben, ohne, dass sie darauf hoffen durften, die Vollendung des Bauwerks zu erleben. Fassade und Wände des Längsschiffs wuchsen nur langsam aus dem Boden. Als auch noch die Pest wütete und einen Großteil der Bevölkerung dahinraffte, verzögerte sich der Dombau weiter. Doch auch diese Krise überwanden die Florentiner. Nur für ein strukturelles Problem hatten sie keine Lösung. Und dieses Problem war gewaltig und für alle sichtbar, die hier lebten – wie der Goldschmied Brunelleschi. Im entstehenden Dom klaffte ein riesiges Loch über dem Altarraum. Hier, über einem achteckigen Grundriss, sollte sich eine mächtige Kuppel erheben – nur, wie sollte man die erbauen? Darüber rätselte die gesamte Stadt, so der Architekturhistoriker Bernd Kulawik. 3. ZUSPIELUNG KulawikAls Brunelleschi geboren wurde, das kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, gab es … auf der ganzen großen weiten Welt niemanden, der gewusst hätte, wie man das technische Problem löst, diese Kuppel zu errichten. ERZÄHLERINWie um Himmels Willen sollte man eine Spannweite von rund 45 Metern überwölben? Das entspricht der Länge eines halben Fußballfeldes. Und damit nicht genug: Die Kuppel sollte erst in einer schwindelerregenden Höhe von rund 40 Metern beginnen, also ungefähr in der Höhe eines 12-stöckigen Wohnhauses. Nie zuvor war ein derart ehrgeiziger Bau realisiert worden. Der Kunsthistoriker Ross King. 4. ZUSPIELUNG King And what they planned for, was something that was absolutely gargantuan and it was unprecedented in size. And so, what they were hoping is that in future – they knew in 1367 when the townspeople voted for this audacious plan they knew, when the time came for them to build this, they would all be dead. And so, it was still a generation or two away. But they believed sincerely that someone would come into their midst and show them how it could be built. And that’s of course going to become Filippo Brunelleschi, he is going to become this architectural messiah who arrives with the beautiful plan of how exactly he is going to do it. OVERVOICESie planten etwas Gigantisches, in seiner Größe nie Dagewesenes. Als die Florentiner 1367 für diesen kühnen Plan stimmten, war ihnen klar, dass sie alle bereits tot sein würden, ehe es zu dem Bau kommen würde. Aber sie glaubten fest daran, dass ein, zwei Generationen nach ihnen jemand kommen würde, der wissen würde, wie man die Kuppel bauen könnte. Und dieser Jemand sollte Filippo Brunelleschi sein, eine Art architektonischer Messias. Er sollte erscheinen, mit einem wunderbaren Plan zur Umsetzung. ERZÄHLERINFür den Architekturhistoriker Bernd Kulawik ist dies eines der spannendsten Kapitel der Architekturgeschichte überhaupt: 5. ZUSPIELUNG Bernd Kulawik Das Irre ist eben: Brunelleschi wurde dann erst geboren. Dass er so genial ist als Ingenieur und Techniker, dass er das Problem lösen kann, das haben die dem Moment, wo die die Größe beschlossen haben, noch gar nicht gewusst, nicht ahnen können. MUSIK ERZÄHLERINDie Florentiner planten in ihrem Stadtzentrum also quasi die Errichtung eines Luftschlosses. Ein Bauwerk zu entwerfen und zu beschließen, ohne zu sagen, wie man es bautechnisch ausführen, ja, ob es überhaupt halten würde – für heutige Architekten ist das völlig unvorstellbar. Ross King: 6. ZUSPIELUNG King So … really what they took both in 1367 and then in 1420, when Brunelleschi was given the task of building it, what they took in each case was a huge leap of faith. They believed that they were going to somehow be able to do this against the odds. Because B for example did not have a single mathematical equation he could have worked with, he didn’t have any sort of knowledge of how the structure was going to behave when it was built to that size. And so, it was a leap into the dark, because they simply did not know what problems they were going to encounter. To quote the late Donald Rumsfeld, the American politician, there were all sorts of unknown unknowns that they were going to be faced with as they started building the dome. OVERVOICESie unternahmen also einen riesigen Sprung ins Ungewisse, sowohl 1367 als auch 1420, als man dann Brunelleschi mit dem Bau der Kuppel beauftragte. Sie glaubten daran, dass sie es allen Widrigkeiten zum Trotz irgendwie schaffen könnten. Brunelleschi hatte keine einzige mathematische Gleichung zur Verfügung, mit der er hätte arbeiten können. Es war also ein Sprung ins Ungewisse, sie hatten keine Ahnung, welche Probleme beim Bau auf sie zukommen würden. ERZÄHLERINObwohl die Kathedrale der Sitz des Bischofs ist, handelte es sich nicht um ein Bauvorhaben der katholischen Kirche. Bauherrin war die Wollweberzunft, die Arte della Lana, die reichste Gilde der Stadt Florenz. Bernd Kulawik: 7. ZUSPIELUNG Kulawik Die aber eben vor allen Dingen deswegen so reich war, nicht, weil die alle so fleißig gewebt haben, sondern weil die ganz groß im Tuchhandel aktiv war, über Florenz lief auch der Großteil des Seidenimportes aus China - also sprich, die Tuchhändler waren das eigentlich. MUSIK ERZÄHLERINDie Vertreter der Wollweberzunft waren selbstbewusst. Sie hatten Florenz zum europäischen Zentrum der Textilverarbeitung sowie des Handels mit Stoffen gemacht. Auch politisch hatten die Wollweber was zu sagen. Etliche Mitglieder der Stadtregierung gehörten ihrer Zunft an. Florenz war zudem die Heimatstadt der Medici. Die einflussreiche Bankiers-Familie prägte die Entwicklung der Stadt entscheidend – finanziell, wirtschaftlich, politisch und kulturell als wichtigste Mäzene der Florentiner Geschichte. Die Medici hatten im frühen 14. Jahrhundert ihre eigene Bank gegründet, die schnell zur wichtigsten Bank Europas avancierte. Unter anderem verwaltete sie das Vermögen des Vatikans. Das gab den Medici Einfluss auf die Kirchenpolitik, sie stellten später sogar selbst zwei Päpste. Außerdem finanzierten sie diverse Königshäuser in Europa und mischten bei Handelsgeschäften mit. Diese wickelten sie zum Teil in Goldflorin ab, der Währung der Stadt Florenz. Ross King: 8. ZUSPIELUNG King The Florin was the most reliable currency in Europe at that time because the Florentines very zealously guarded the gold content in the coin and made sure they weren’t counterfit. … Things like that made the Florentines incredibly wealthy. And the next part of the story is, that this wealth is going to be put into the service of art and architecture. OVERVOICEDer Goldflorin war die verlässlichste Währung im damaligen Europa, weil die Florentiner über den Goldgehalt ihrer Münzen mit großer Aufmerksamkeit wachten und sicherstellten, dass sie nicht gefälscht wurden. … Das machte die Florentiner unglaublich reich. Und dieser Reichtum würde in den Dienst von Kunst und Architektur gestellt werden. ERZÄHLERINFlorenz hatte um 1400 nur noch rund 40.000 Einwohner, denn der schwarze Tod hatte einen Großteil von ihnen das Leben gekostet. Florenz war eine Stadtrepublik, ihre Bürger lebten nach ihren eigenen Gesetzen. 9. ZUSPIELUNG KingAbout 5.000, all of them men above the age of 29, had the right to vote and hold political office. By our standard that’s not very democratic, but by the standard of most of the rest of Europe that’s not bad. And so, the Florentines were quite proud of their political system, and they thought they represented a kind of beacon of liberty, at least in Italy. There was a kind of civic pride that they had about themselves and their city. And why not? It was a very prosperous city and a city in which a lot of people did hold a political stake because of the voting rights and office holding rights. OVERVOICEEtwa 5.000, allesamt Männer über 29 Jahre, hatten das Wahlrecht und konnten politische Ämter bekleiden. Nach unseren Maßstäben ist das nicht sehr demokratisch, aber nach den Maßstäben des Großteils des restlichen damaligen Europas ist es nicht schlecht. Die Florentiner waren daher ziemlich stolz auf ihr politisches System und hielten sich für eine Art Leuchtturm der Freiheit, zumindest in Italien. Sie empfanden eine Art Bürgerstolz auf sich und ihre Stadt. Und warum auch nicht? Florenz war eine sehr wohlhabende Stadt, in der viele Menschen aufgrund ihres Wahl- und Ämterrechts politisch aktiv waren. ERZÄHLERINUnd die majestätische Kuppel des Doms sollte Ausdruck des Florentiner Selbst- und Machtbewusstseins werden. Um den besten Entwurf für die noch fehlende Kuppel zu ermitteln, richteten die Florentiner 1418 einen Wettbewerb aus. MUSIK ZITATOR1Wer ein Modell oder eine Zeichnung für die Errichtung der Hauptkuppel des Domes anzufertigen wünscht und für Standgerüste, Baugerüste und andere Dinge oder für Hebemaschinen aller Art zum Zwecke der Errichtung und Vollendung besagter Kuppel – soll seinen Entwurf vor Ende September einreichen. Derjenige, dessen Modell ausgewählt wird, erhält 200 Goldflorine. ERZÄHLERIN200 Goldflorine, für einen Handwerker der Zeit entsprach das dem Verdienst von mehr als zwei Jahren. Die Ausschreibung erregte unter den Steinmetzen, Zimmerleuten und Maurern - Architekten als Berufsstand mit eigener Ausbildung gab es damals noch nicht – in der gesamten Region Aufsehen. Das Rennen machte schließlich ein Außenseiter: der Florentiner Goldschmied Filippo Brunelleschi. Er war bis dahin nur als Baumeister kleinerer Kapellen in Erscheinung getreten. Seine Vision sah im Unterschied zu den anderen Entwürfen vor, die Kuppel ohne das bislang übliche hölzerne Stützgerüst zu bauen. Aus gutem Grund, so Bernd Kulawik: 10. ZUSPIELUNG Kulawik Ein Gerüst, das so hoch reicht und das dann erst das eigentliche Kuppel-Gerüst trägt, das hätte wahrscheinlich alle Wälder der Toskana gekostet und hätte trotzdem nicht funktioniert. ERZÄHLERINEin Gerüst bis hinauf zur Spitze der Kuppel, also auf eine Höhe von mehr als 100 Metern, wäre wohl schon unter dem eigenen Gewicht in sich zusammengefallen – wenn man überhaupt imstande gewesen wäre, ausreichend lange und starke Baumstämme zu beschaffen. Und trotzdem stößt Brunelleschi mit seiner Idee, die Kuppel mithilfe eines freischwebenden Gerüsts zu mauern, auf immense Skepsis. Den Bauherren fehlte offensichtlich die Phantasie, sich vorzustellen, wie das funktionieren sollte. 11. ZUSPIELUNG Kulawik Das war eine heftige Diskussion damals … in der Dombau-Behörde, da wurde Brunelleschi dann rausgetragen, wie ein Verrückter, weil man ihn weghaben wollte und der Meinung war, was der da erzählt, ist sowieso alles Unsinn. Und dann hat er ein Modell aus Stein und aus Ziegeln gebaut, um zu zeigen, dass man die Kuppel, so wie er sich das denkt, ohne solche Gerüste, bauen kann. Und dann hat man ihn erst gelassen. 12. ZUSPIELUNG King The key thing for him was to get the job to build it, I think he was supremely self-confident, he believed that if you give me the chance to do it, I will be able to solve these problems. Under his breath he might have admitted – I do not know what all of these problems are going to be, but I do think I can solve them, when the time comes. OVERVOICEDas Wichtigste für ihn war, den Auftrag für den Bau zu bekommen. Ich glaube, er war äußerst selbstbewusst und glaubte: Wenn man mir die Chance gibt, werde ich diese Probleme lösen können. Unter vorgehaltener Hand gab er vielleicht zu: Ich weiß zwar nicht, welche Probleme das sein werden, aber ich glaube, ich kann sie lösen, wenn es so weit ist. ERZÄHLERINJetzt endlich kann Brunelleschi loslegen. Er hat eine Mammutaufgabe zu bewältigen, die ihn auf den unterschiedlichsten Gebieten fordert. Er ist Bauleiter, Tüftler, Statiker, Baumaschinen-Erfinder und Logistiker in einer Person. Es gilt, tonnenweise Material zu organisieren und heranzuschaffen – feinsten weißen Marmor aus den Steinbrüchen von Carrara, rund 100 Kilometer von Florenz entfernt, dazu große Sandsteinblöcke und Millionen von Ziegelsteinen aus den Brennereien rund um Florenz. All diese Materialien sucht er eigenhändig aus, verhandelt mit den verschiedenen Gewerken, organisiert die Transporte und ihr rechtzeitiges Eintreffen auf der Baustelle und ist Chef einer wechselnden Belegschaft von gut 100 Handwerkern und Bauarbeitern. MUSIK Schritt für Schritt setzt er seinen Entwurf um, und er weiht niemanden in seine Pläne ein. Keine einzige Zeile, keine Berechnung, keine Skizze in seiner Handschrift ist erhalten. Vielleicht hat er bewusst alle Spuren verwischt, weil er Ideenklau befürchtet. Die Kuppel, die in den nächsten 16 Jahren vor den Augen seiner zunächst skeptischen, schließlich vor allem staunenden Zeitgenossen in den Himmel wächst, besteht aus zwei Schalen. Die innere, unten rund drei Meter starke, trägt die dünnere äußere. Dazwischen liegt ein Gang, in dem sich die Bauleute bewegen und heute die Touristen bis zur Spitze hinaufsteigen können. Die Ziegel, aus denen die Kuppel gemauert wird, lässt Brunelleschi im sogenannten Fischgrätenmuster legen. So verkeilen sie sich ineinander und geben sich gegenseitig Halt. Außerdem verlegt er im Gemäuer dicke horizontale Balken, die vermutlich eine Art inneren Gürtel bilden und die Wände zusammenhalten. Ganz genau weiß man das selbst heute noch nicht, obwohl man die Domkuppel mit allem durchleuchtet hat, was die moderne Technik zu bieten hat: Laserstrahlen, Metalldetektoren, Georadar und so weiter. Um die insgesamt knapp 30.000 Tonnen Material, die für die Kuppel gebraucht werden, in luftige Höhen zu befördern, erfindet Brunelleschi, quasi en passant, diverse Gerätschaften und Maschinen. 13. ZUSPIELUNG King Probably, Brunelleschi’s greatest invention was his ox hoist, a very powerful hoist with 3 gears, it was a three gears hoist … so he could send small loads up very quickly and very heavy loads with great security and power. … One of the greatest innovation of the 1400 comes from Brunelleschi and that is a clutch mechanism, it’s the first clutch mechanism in history, so every time you shift gears in your car … you can thank Brunelleschi because of the fact that he is the one who figured out the reversable clutch. OVERVOICEBrunelleschis größte Erfindung war wahrscheinlich sein Ochsen-Aufzug, ein sehr leistungsstarker Flaschenzug mit drei Gängen, damit konnte er kleine Lasten sehr schnell und große Lasten sicher und kraftvoll in die Höhe befördern. Eine der größten Innovationen des 15. Jahrhunderts stammt damit von Brunelleschi, nämlich ein Kupplungsmechanismus, der erste Kupplungsmechanismus der Geschichte. Jedes Mal, wenn Sie in Ihrem Auto den Gang wechseln, können Sie Brunelleschi danken, denn er hat die Kupplung für den Vor- und Rückwärtsgang erfunden. ATMO Pferde ERZÄHLER Angetrieben wurde der Lastenaufzug von einem Ochsengespann, das unter dem Gewölbe im Kreis lief. Kraft dieser Bewegung wurde die Last mittels eines Gewindes nach oben befördert. Dank der Gangschaltung konnte man den leeren Aufzug mit wenigen Handgriffen wieder nach unten schicken, um ihn dort neu zu beladen, ohne dass die Ochsen anhalten und umdrehen mussten.  14. ZUSPIELUNG King He was unquestionably a genius, he was a mechanical genius, but he was also a great manager. I mean, he ran a huge work force with great efficiency, and he also could deal with the politicians and the wardens of the wool guild in Florence, so he did have quite a few people skills. But he was an eccentric character to say the least. … He was very secretive and that was because of the fact that he did not want anyone else to get the credit for his inventions. He wanted the dome to be known as Brunelleschi’s dome. OVERVOICEEr war zweifellos ein Genie, ein Genie der Mechanik, aber auch ein großartiger Manager. Er leitete eine riesige Belegschaft mit großer Effizienz und konnte auch mit den Politikern und den Vorstehern der Wollzunft in Florenz umgehen. Er besaß also einiges an zwischenmenschlichem Geschick. Aber er war, gelinde gesagt, ein exzentrischer Charakter. … Er war geheimniskrämerisch, weil er nicht wollte, dass jemand anderes die Anerkennung für seine Erfindungen bekam. Er wollte, dass die Kuppel als Brunelleschis Kuppel bekannt wurde. MUSIK ERZÄHLERINUm das zu erreichen, musste er die Kuppel zu seinen Lebzeiten fertigstellen, durfte also keine Zeit verlieren. Und es galt, zunächst noch einen Rivalen aus dem Feld zu schlagen: Den berühmten Bildhauer Lorenzo Ghiberti, der ihm als gleichberechtigten Bauleiter und eine Art Controller zur Seite gestellt worden war. 15. Kulawik 18.00 Und da hat Brunelleschi sich krankgemeldet. Und dann stand die Baustelle still, weil Ghiberti technisch das gar nicht durchdrungen und verstanden hat, wie das gehen soll. Und da hat man eingesehen: Okay, wir brauchen den Ghiberti nicht, aber wir brauchen unbedingt Brunelleschi. ERZÄHLERINSeine Bauleute stammten zum großen Teil aus armen Familien und bekamen nur einen geringen Lohn, so Ross King. Für einen Knochenjob, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dauerte. Ihr Arbeitswerkzeug, wie Hammer, Meißel oder Maurerkelle, mussten sie selbst mitbringen. Wenn es regnete oder stürmte, ruhte die Baustelle und die Belegschaft blieb ohne Lohn. Dann veranstaltete man eine Art Lotterie unter den Arbeitern. Zog man das große Los, wurde man während der arbeitsfreien Tage bezahlt. 16. ZUSPIELUNG King 28.50 And its very dangerous work, because by about 1426 they had reached a point were the dome was curving inward and they were working many of them on the inward curving surface without any sort of wood beneath them to catch them if they fell. So one of the things B did to keep them safe he appears to have invented some sort of safety harness for them, so if you were working on the hight on an inward curving surface with the abyss beneath you would be clipped/tethered essentially to the wall itself, rather like a mountaineer or a window cleaner today on a high rise OVERVOICEUnd es war eine sehr gefährliche Arbeit, denn um 1426 hatten sie einen Punkt erreicht, an dem sich die Kuppel nach innen wölbte, und viele von ihnen arbeiteten auf der nach innen gewölbten Fläche, ohne dass sie Holz unter sich hatten, das sie im Falle eines Sturzes hätte auffangen können. Zu ihrer Sicherheit erfand Brunelleschi offenbar unter anderem eine Art Sicherheitsgurt für sie. Wenn man also in der Höhe auf einer nach innen gewölbten Fläche arbeitete und sich darunter ein Abgrund befand, war man praktisch an der Wand festgeschnallt bzw. angebunden, ähnlich wie ein Bergsteiger oder Fensterputzer heute in einem Hochhaus. ERZÄHLERINIm Laufe der 16 Jahre, die Brunelleschi auf der Baustelle arbeitete, ereigneten sich dort nur zwei tödliche Unfälle. Auch das eine beachtliche Leistung des Bauleiters. Die Arbeiter mussten nicht nur Wind und Wetter trotzen, sie mussten auch schwindelfrei sein und körperlich fit: 17. ZUSPIELUNG They did not have to go jogging or go to the gym before they started work because they got their exercise on the site because of course the first thing they had to do was to climb the stairs to get up into their place of work. …most of them, before the dome was completed, were doing I suppose 400 plus steps up. Many of them would go down for lunch… anyone who’s climbed the dome knows that it takes you a certain amount of time, even someone who is in relatively good shape … and so what B ultimately decided he would do by 1426, some 6 years into the construction of it, is: serve them lunch on the platform. … he watered the wine down, he didn’t want them getting drunk on the job, … Some of them would use the hoist to go up and down, they would climb into the bucket, that brought the bricks up and they would go down for their lunch in that bucket. Obviously, it would have been very dangerous, probably a lot of fun … so he put a stop to that. OVERVOICESie mussten vor Arbeitsbeginn nicht joggen oder ins Fitnessstudio gehen, sondern konnten direkt auf der Baustelle trainieren. Denn natürlich mussten sie zuerst die Treppe zu ihrem Arbeitsplatz hinaufsteigen. … Die meisten von ihnen haben vor Fertigstellung der Kuppel vermutlich über 400 Stufen erklommen. Viele von ihnen gingen zum Mittagessen hinunter und … jeder, der schon einmal auf die Kuppel gestiegen ist, weiß, dass man dafür eine gewisse Zeit braucht, selbst wenn man relativ fit ist … und so beschloss Brunelleschi im Jahr 1426, also etwa sechs Jahre nach Baubeginn, ihnen das Mittagessen oben auf der Plattform zu servieren. … den Wein verdünnte er, damit sie sich bei der Arbeit nicht betranken… Einige der Arbeiter benutzten den Lastenaufzug, um rauf und runter zu kommen, sie kletterten in den Eimer, der die Ziegel nach oben brachte, und ließen sich in diesem Eimer zum Mittagessen hinunterbefördern. Natürlich war das sehr gefährlich, wenngleich wahrscheinlich auch sehr lustig… Aber Brunelleschi hat ihnen das verboten. MUSIK ERZÄHLERINUnd so wächst die Kuppel langsam, aber stetig in den Florentiner Himmel, rund 30 Zentimeter im Monat. Für ihre Schalung werden Ziegel verschiedenen Zuschnitts und in hundert verschiedenen Größen verbaut. Je nach Position und Neigungswinkel kommen andere Ziegelsteine zum Einsatz. Wie bei einem gigantischen dreidimensionalen Puzzle. Während der 16-jährigen Bauzeit liegt Florenz im Krieg mit den Städten Lucca und Mailand. Die militärische Auseinandersetzung kostet die Florentiner viel Geld. Und Brunelleschi selbst wird von seiner Baustelle wegbeordert und zum Kriegsdienst einberufen. Doch schließlich ist es vollbracht, das Wunder von Florenz. Der große Kunstmäzen Lorenzo de Medici schwärmt: ZITATOR1Niemals zuvor gab es etwas Großartigeres und Genialeres MUSIK ERZÄHLERINMajestätisch thront die Kuppel über der Stadt, weithin sichtbar. Rot leuchten ihre Dachziegel, weiß die Marmorrippen dazwischen. Geleitet von einer Mischung aus Größenwahn, Gottvertrauen und grenzenlosem Optimismus, hatten die Florentiner ihrer Stadt ein Monument errichtet. An diesem Meilenstein der Baugeschichte sollten sich alle künftigen Bauwerke messen.
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Jul 25, 2025 • 22min

ACHTUNG BAURISIKO! Das Rätsel der Pyramiden

Ein Besuch von Außerirdischen! Auch das war ein ernst gemeinter Vorschlag, um das Wunder der steinernen Giganten zu deuten. Inzwischen hat die Ägyptologie die Zusammenhänge rekonstruieren können, die den Bau der Pyramiden erklären. Ein Wunder bleiben sie trotzdem. Von Thomas Morawetz (BR 2009)Credits Autor: Thomas Morawetz Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Christian Schuler Technik: Marcus Huber Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Dr. Mélanie Flossmann, Schütze (inzwischen Direktorin & Konservatorin am Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München) Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR: Philipps Playlist Mit Musik lässt es sich wunderbar aus dem Alltag herausträumen! NDR Kultur-Moderator Philipp Schmid stellt jede Woche neue handverlesene Playlists zusammen. Von Pop bis Klassik – die Musik ist für ihn ein Anlass, sich gemeinsam mit seinen Hörerinnen und Hörern auf fantasievolle Gedankenreisen zu begeben. Zum Beispiel auf einen Roadtrip, ans Meer oder in den Weltraum. Das Entspannende an diesen Ausflügen: Ihr könnt euch dabei bequem auf der eigenen Couch zurücklehnen, bügeln, kochen, spazieren gehen oder euch im Bett einkuscheln. Der Radiopreisträger Philipp Schmid kennt die richtige Musik für jede Stimmung und für jede Lebenslage. Zu den einzelnen Stücken jeder Folge improvisiert er am Klavier. ZUM PODCAST Linktipps BR (2023): Cheops-Pyramide – Auf den Spuren verborgener Kammern  Die Cheops-Pyramide ist die größte und älteste Pyramide von Gizeh. Sie ist eines der sieben Weltwunder der Antike und eines der am besten untersuchten Bauwerke der Welt. Trotzdem birgt sie noch Geheimnisse. Nun präsentieren Forscher erstmals Aufnahmen aus einem dieser Räume. JETZT ANHÖREN ZDF (2021): Der Nil – Lebensader für die alten Ägypter: Geheimnisse des Pyramidenbaus   Im alten Ägypten sorgt der Nil mit seinen Überschwemmungen für gute Ernten. Er ist auch die wichtigste Wasserstraße, die den Bauboom der Pharaonen überhaupt erst möglich macht. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:SPRECHERGleich am Wüstenrand beginnt das Wunder, das Weltwunder. Dicht hinter dem Grünstreifen des Niltals im Südwesten vom heutigen Kairo erhebt sich das Plateau von Giseh. Gelbe Steinmassen ragen aus gelbem Sand hervor, gigantische Quadrate, die sich zur Spitze hin verjüngen. In der flachen windigen Gegend haben sie die Größe von Bergen, aber sie sind von Menschen erschaffen – die Pyramiden von Gizeh, Triumphe der Perfektion. Die ägyptischen Könige Cheops, Chefren und Mykerinos haben an diesem Ort drei Ausrufezeichen in die Menschheitsgeschichte gesetzt. ZITATOR:„Das sind Bauten, die sogar die Zeit fürchtet, und es fürchtet doch alles in der sichtbaren Welt die Zeit... SPRECHERIN…schreibt der arabische Schriftsteller Umara el-Jamani im Mittelalter… ZITATOR:… Mein Auge erquickt sich an diesen einzigartigen Bauten, aber meine Gedanken quälen sich mit der Frage, was sie bedeuten sollen!“ SPRECHERINNicht nur el-Jamani hat diese Frage gequält. Denn schon in der Antike war wesentliches Wissen über die Pyramiden verloren. Der erste Gelehrte, der eine Beschreibung des versunkenen Ägypten der Pyramidenzeit versucht, ist der Grieche Herodot [sprich: Herodót]. Als er im 5.Jh.v.Chr. das Land bereist, stehen die großen Pyramiden bereits seit 2000 Jahren. Herodot erfährt Ungeheueres: 100.000 Sklaven soll Cheops für den Bau zur Fronarbeit gepresst haben. Und noch schockierender: Um an Geld zu kommen, habe Cheops die eigene Tochter in ein Bordell gesteckt. Dafür wollte sie dann auch ein Denkmal von sich selbst hinterlassen: ZITATORSo hat sie jeden, der sie besucht hat, gebeten, ihr dazu wenigstens einen einzigen Stein zu schenken. Von diesen Steinen, heißt es, sei die Mittlere der drei Pyramiden gebaut, die vor der großen steht. SPRECHERTypische Geschichten, wie sie die Pyramiden im Lauf der Zeit inspirieren, Geschichten, die bereits Herodot sammelt und interpretiert. Herodot ist ein Kind seiner Zeit, er erlebt in Athen die erste Demokratie der Geschichte, und Tyrannenhass gehört zum Lebensgefühl. Für Herodot kann ein Werk wie die Pyramiden nur das Ergebnis brutalen Zwangs sein. Er findet in Ägypten genau die Geschichten, die in seinem Weltbild schon angelegt sind. SPRECHERINUnd so wird in den nächsten Jahrhunderten weiter gestaunt und spekuliert. Am Ende der Antike hat man sogar vergessen, dass in den Pyramiden einst Könige bestattet wurden. Und überhaupt – wo steht von ihnen eigentlich etwas in der Bibel? SPRECHERSind die Pyramiden also nicht die Kornkammern, die Josef für den Pharao erbauen ließ? Und die unglücklichen Sklaven – waren sie nicht das Volk Israel in ägyptischer Gefangenschaft? SPRECHERINIm späten Mittelalter erzählt der arabische Historiker Al-Makrizi, der Herrscher Saurid habe den Bau der Pyramiden befohlen, weil er von einer bevorstehenden Sintflut geträumt hatte. ZITATORDa befahl Saurid, die Pyramiden zu bauen, … füllte sie an mit Talismanen, Wundern, Schätzen, Götzenbildern, außerdem wurden an die Pyramiden und an ihren Decken, Wänden und Säulen alle Geheimwissenschaften … aufgezeichnet, … und überhaupt ihre sämtlichen Wissenschaften, deutbar für den, der ihre Schrift und ihre Sprache kennt. SPRECHERBis in die Neuzeit denken die Menschen bei den Pyramiden an grausame Despotien, an steinerne Tresore für gewaltige Schätze und verschlüsselte Weisheiten. Als Anfang des 19.Jh. die wissenschaftliche Erkundung der Bauwerke beginnt, wird zwar schnell wieder klar – die Pyramiden sind alte Königsgräber! Aber die Lust an Mutmaßungen bleibt ungebrochen: Sollten sie wirklich nur Gräber gewesen sein? SPRECHERINOder nicht vielmehr ein monumentales Urmodell der Mathematik und Astronomie? Oder ganz modern: Waren die Pyramiden Windbrecher gegen Wüstensandstürme? Oder – Verdunstungsanlagen? Sie hätten an ihren großen Außenflächen herauf gepumptes Grundwasser verdunstet – und somit das Wetter in der Wüste verändert. SPRECHERNicht zu vergessen natürlich die Pyramiden als Werke außerirdischer Intelligenzen. Alle diese Deutungsversuche sind zwar typisch für die Zeit, aus der sie stammen, aber nicht für die alte ägyptische, in der die Pyramiden erbaut wurden. MUSIK SPRECHERINCheops, Chefren, Mykerinos – Vater, Sohn und Enkel – leben um die Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus. Sie sind Könige der 4. Dynastie im Alten Reich. Die Geschichte Ägyptens ist also noch relativ jung. Es ist die Kupferzeit, seit etwa 500 Jahren gibt es bereits die Hieroglyphen, aber Aufzeichnungen über den Pyramidenbau existieren aus dieser Zeit nicht. Die Ägyptologen müssen das Rätsel der Pyramiden also anders lösen. SPRECHERAm besten nähert man sich ihm zunächst über die Person, die drin liegt – dem König. SPRECHERINWährend in Europa noch späte Steinzeit herrscht, hat sich in Ägypten der König bereits ein einzigartiges Machtpotential geschaffen. Er gebietet über einen riesigen Beamtenapparat und kontrolliert alle Ressourcen des Landes. Doch nicht nur das materielle Leben hat er fest im Griff. SPRECHERDem König ist es gelungen, die alten Hoffnungen im Volk auf eine Wiedergeburt im Jenseits in seiner Person zu bündeln. Er ist der, der für sein Land wiedergeboren werden muss. Schon früh betreiben die Ägypter deshalb viel Aufwand, um den Körper des verstorbenen Königs zu mumifizieren und zu erhalten … Zusp Floßmann (4:02)… und natürlich mit dem Aspekt, dass die ägyptische Welt gespiegelt ist im Jenseits, dass oben auch jemand herrschen muss, der das Ganze eben dann überwacht und regiert. SPRECHERINMélanie-Catherine Floßmann, Ägyptologin am Münchner Institut für Ägyptologie. Und der König wird für sein Volk sogar als Gott neu geboren. Im Jenseits identifiziert er sich mit Re, dem Sonnengott. Zusp. Floßmann (9:25)Das heißt, wir haben zwei Könige parallel. Den verstorbenen König im Jenseits oben als Herrscher des Jenseits und den jetzigen, diesseitigen König, der eben die aktuellen Regierungstätigkeiten auf Erden vollzieht. SPRECHERDer neue König garantiert also die Kontinuität der Regierung auf Erden, der tote, göttlich wiedergeborene König garantiert den Fortbestand der Weltordnung. Und diese Garantie bekommt Gestalt im Königsgrab und Königskult. SPRECHERINDie Ägypter glauben, dass ihr König nach seinem Tod zum Nordhimmel aufsteigt und sich dort unter die Zirkumpolarsterne mischt. Diese Sterne geraten nie unter den Horizont, sie sind wie ewige Lichter. Der Eingang zu den Königsgräbern liegt deshalb schon immer im Norden. Die vielfältigen Kultanlagen aber, die später zur Pyramide gehören, sind nach Osten hin ausgerichtet, zum Sonnenaufgang. So wird der König wie Re, der Sonnengott, jeden Tag im Osten wiedergeboren. SPRECHERNordung und Ostausrichtung. Das sind die astronomischen Vorgaben, nach denen Pyramiden-Bauplätze eingemessen werden. Messtechnisch mit enormer Präzision, aber unerklärbar nicht. Den Babyloniern etwa haben die Ägypter zur selben Zeit nichts voraus, weder an astronomischen noch an mathematischen Kenntnissen. MUSIK SPRECHERINSo weit, so gut, aber für welche Idee steht dann gerade die spezielle Form der Pyramide als Grabbau? Mélanie-Catherine Floßmann: Zusp. Floßmann (13:36)Wir haben die Pyramide zum Teil als Urhügel, … aus dem dann bei der Weltentstehung das ganze Leben, die Welt sozusagen, emporgekommen ist. Eine weitere Möglichkeit, ebenfalls recht umstritten in der Ägyptologie: Die Pyramide hat die Form von Sonnenstrahlen, die sich eben durch die Wolken brechen … (14:07) Und natürlich nicht zu vergessen, sie soll eben ne Himmelstreppe für den König sein für den Jenseitsaufstieg. SPRECHERDie Ägyptologen wissen also gar nicht so genau, was es mit der Bedeutung der Pyramidenform auf sich hat. Immerhin verrät aber die Baugeschichte, wie es zur Erfindung der klassischen Pyramide kommt. Der Quantensprung von der flachen Grabanlage zur Pyramide gelingt König Djoser [sprich: Dschóser], dem Begründer der 3. Dynastie um 2650v.Chr. Seine Pyramide ist gut 62 Meter hoch und steht in Sakkara [sprich: Sakkára]. Sie sieht aus wie eine riesige sechsstufige Treppe, die von vier Seiten nach oben begehbar ist. SPRECHERINDjoser türmt als erster auf einen flachen Grabbau eine Pyramide auf. Allerdings hat sein Bau noch keine horizontal umlaufenden Steinschichten, sondern vier schräg nach oben gelehnte Mauerwände um einen Steinkern herum.  Sozusagen die erste Zwiebelschale. Die nächste außen angelehnte Mauerschicht, die zweite Schale, ist kürzer, so entsteht von oben weg die erste Stufe – und so weiter. Das ist gerade noch nicht das Patent, auf das die Pyramiden hinauslaufen werden – aber immerhin: Djoser ist der erste König, der mit seinem Grab eindeutig hoch hinaus will. SPRECHERDen nächsten großen Schritt zur Pyramide mit umlaufenden Steinreihen schafft König Snofru, der Vater von Cheops. Snofru experimentiert mit neuen, riskanten Bautechniken. Er müht sich während seiner Regierungszeit sogar mit mehreren Pyramiden ab. Allein an verbautem Material gemessen, ist er der größte Baumeister der ägyptischen Geschichte. Er verbaut 3.750.000 Kubikmeter Stein. Sein Sohn Cheops eine Million Kubikmeter weniger. SPRECHERINBerüchtigt ist Snofrus sogenannte Knickpyramide in Dahschur. Hinter dem harmlosen Namen müssen entsetzliche Nervenzusammenbrüche stecken. Monumental soll der Bau werden, an die 125 Meter Höhe sind geplant, aber der Boden gibt nach, erste Risse ziehen sich durch die Kammern. Dann ein verzweifelter Rettungsversuch: Auf halber Höhe wird der Neigungswinkel der Pyramide abgeflacht. Hilft alles nichts. Die Knickpyramide wird die größte Bauruine Ägyptens. SPRECHEREin Albtraum. Snofru ist nicht mehr der Jüngste und braucht endlich ein Grab: Und tatsächlich beginnt er nun mit einer dritten, der „Roten Pyramide“. Sie wird als erste im neuen Stil erbaut, mit waagrecht umlaufenden Steinschichten, was den Druck auf die Kammern im Inneren verringert. Sie scheint gerade noch zu seinen Lebzeiten fertig zu werden. Gewaltig, die dritthöchste ägyptische Pyramide. Das Patent ist gefunden. SPRECHERINSoviel verrät die Baugeschichte der Riesen also doch: Bis zum Weltwunder von Gizeh hat es kühne Versuche und riesige Pleiten gegeben. Vom Himmel gefallen ist das Wissen der Ägypter, wie man eine Pyramide baut, sicher nicht. MUSIK SPRECHERFrank Müller-Römer ist gelernter Ingenieur. Nach seiner Pensionierung hat er 1996 zum ersten Mal vor der Cheops-Pyramide gestanden und wusste, dass er herausfinden wollte, wie sie gebaut werden konnte. Nach sechs Jahren Ägyptologiestudium legte er tatsächlich eine Doktorarbeit vor, in der er eine schlüssige Theorie aufstellt, wie die Riesen gebaut werden konnten. Soviel ist auf jeden Fall klar: Aus allen Pleiten seines Vaters, hat König Cheops viel gelernt. Zusp. Müller Römer (9:37)Also hat man einen Baugrund gesucht, der sehr fest ist, der sehr stabil ist. Man muss sich ja vorstellen, die Cheops-Pyramide mit etwa 2,5 Mio Kubikmetern, d.h. also über 3 Mio Tonnen Gewicht, die übte auf den Untergrund eine enorme Bodenpressung aus. Die ist viel, viel stärker als das, was wir heute mit unseren Hochhäusern auf die Erde setzen, eine ganz gewaltige Last auf den Boden, der muss sehr fest sein. Und der Untergrund in Giseh ist ganz fester Kalkstein … wie ne Art natürlicher Beton, der hält dieses eben aus. SPRECHERINZwischen 7 und 9% der Baumasse der Cheopspyramide geht auf das Konto eines natürlichen Felskerns, der vor Ort aufsteht. Das Wunder der Cheopspyramide ist nun die Messgenauigkeit, mit der der Koloss in den Sand gesetzt wird. Die 230 Meter langen Seiten differieren voneinander im Durchschnitt nur um ganze 2,3 cm. Und das Fundament ist so exakt waagrecht angelegt, dass sich zwischen Nord und Süd gerade einmal ein Gefälle von 22 Millimetern ergibt. Zusp. Müller-Römer (11:02-11:32)(11:02) Man vermutet, dass man diese Waagrechte hergestellt hat, indem man eben Kanäle gebaut hat, … also mit Ton ausgekleidet, mit Wasser gefüllt hat, und Wasser bietet ja dann wie die Wasserwaage einen sehr exakten waagrechten Horizont. SPRECHERDie Ägyptologie hat sich heftig den Kopf zerbrochen, wie die Menschen es damals fertig bringen konnten, in überschaubarer Zeit derartige Bauwerke zu errichten. Im Zentrum aller Überlegungen stehen Rampen. SPRECHERINNur welche? Man weiß, dass die Arbeiter die Steine auf Rollschlitten ziehen. Wenn sie über eine Rampe hinauf müssen, darf die Steigung nicht zu hoch sein. Und die Rampe wird immer länger, je höher die Pyramide wird. Unter diesen Voraussetzungen ist die Hochrechnung ernüchternd: Die Cheops-Pyramide ist 146 Meter hoch. Soll die Steigung bei mäßigen 5% bleiben, wird die Rampe nach und nach so lang, dass sie am Ende die zehnfache Masse der Pyramide selbst hat. Außerdem wäre sie drei Kilometer lang – aussichtslos. SPRECHEREin anderer Vorschlag: Die Rampe schlängelt sich um die Pyramide herum. Doch dann müsste die Rampe den Bau mehrfach umrunden und wäre am Ende ebenfalls mehrere Kilometer lang. SPRECHERINFrank Müller-Römer ist bei seinem eigenen Lösungsvorschlag zunächst nach dem Ausschlussverfahren vorgegangen. Er hat die bislang vorgelegten Bauvarianten durchgerechnet und ist zur Ansicht gelangt, dass keine funktioniert. Zusp. Müller-Römer (13:20; 14:08)Man muss von Grundvoraussetzungen ausgehen, dass sicherlich der König mit Blick auf seine Lebensdauer und die Bauzeit für einen große Pyramide nicht gesagt hat, ihr habt ja ewig Zeit, sondern die Forderung war, mit Sicherheit, in kurzer Zeit eine Pyramide zu bauen. D.h., es muss ein Bauverfahren geben, das auf allen 4 Seiten zeitgleich Baumaßnahmen ermöglicht. … (14:08) Mein Vorschlag ist nun, dass parallel zu diesen Stufenabsätzen des kernförmigen Mauerwerks steile Rampen gebaut sind und dort mit Seilzug, mit einer Art Seilwinde, die auch archäologisch belegt ist im Alten Reich, dann steil über diese steile Winde Steine nach oben gezogen werden, so dass man auf diese Weise auf allen vier Seiten mit verschiedenen Rampen, mit verschiedenen Winden, die Pyramide relativ schnell, relativ zügig bauen kann. SPRECHEREs geht also nicht darum, Rampen mit möglichst geringer Steigung zu bauen. Frank Müller-Römers Ansatz rechnet sogar mit relativ steilen Rampen. Das funktioniert, weil zusätzlich Seilwinden von oben ziehen. Außerdem sind steilere Rampen kürzer, und so können an einer Seite mindestens zwei Rampen gebaut werden. Das heißt, mindestens doppele so viele Blöcken können gleichzeitig nach oben gezogen werden. Unten jedenfalls, weiter oben werden die Rampen dann weniger, aber im unteren Drittel sind dann schon 70% der gesamten Baumasse verbaut. Zusp. Müller-Römer (15:25)Man weiß, Cheops hat etwa 23 Jahre geherrscht. Die Pyramide ist gerade noch zu seinen Lebzeiten fertig geworden. Meine Berechnungen waren etwa so bei 22 Jahren. Also eine Größenordnung hin oder her, man kann natürlich jetzt streiten über Kleinigkeiten, aber zumindest die Größenordnung stimmt. MUSIK SPRECHERINWie steht es nun mit den 100.000 Sklaven, von denen Herodot später gehört hat? Hier sind sich die Ägyptologen einig: Die Zahl ist eine Phantasiezahl. Inzwischen kommt man für den Bau der Cheops-Pyramide auf eine hochgerechnete Zahl von 12 bis 15.000 Arbeitern, das wäre etwa 1 bis 2% der geschätzten Gesamtbevölkerung. Und höchstens ein Viertel aller Arbeiter dürfte direkt an der Pyramide beschäftigt gewesen sein. SPRECHERUnd waren die Arbeiter wirklich Sklaven, die Vermesser, Steinmetzen, Maurer, Architekten und Ingenieure? Auch hier weiß man inzwischen mehr. Mélanie-Catherine Floßmann: Zusp. Floßmann (16:15)Das sind natürlich alles Facharbeiter, die eine jahrelange Ausbildung genossen haben, bzw. in einen größeren Betrieb mit eingearbeitet waren und dieses Wissen immer wieder weiter tradiert haben. SPRECHERINEs gibt auch keine Hinweise darauf, dass diese wertvollen Fachleute später – wie aus Hollywood-Filmen bekannt – mit dem König lebendig in die Pyramide eingemauert würden. Sobald die eine Pyramide fertig ist, ziehen die Arbeiter weiter zur nächsten. Der nächste König kann schließlich mit seiner eigenen gar nicht früh genug beginnen. SPRECHERWährend dessen beginnt aber vor allem der Kult des verstorbenen Königs an seiner nagelneuen Pyramide. Denn in einer Pyramidenanlage ist die Pyramide selbst sozusagen „nur“ das Grab. Der eigentliche hochaufwendige Königskult wird in dem großen Bezirk um die Pyramide herum zelebriert. Dieses Areal beginnt schon unten im Niltal. Zusp Floßmann (6:37)Wir haben einen Taltempel. Von dem Taltempel gibt es einen Aufweg bis zum Pyramiden-Tempel. Hinter dem Pyramiden-Tempel haben wir die Pyramiden-Anlage. … Und ganz wichtig, … wir haben richtige Stadtanlagen. SPRECHERINDen Bewohnern dort geht es gut. Der Totenkult ist ein wunderbares Einkommen für die lebenden Beschäftigten. Denn zu Lebzeiten hat der König im ganzen Land Domänen eingerichtet, extra für die täglichen Güter, die sein Kult später erfordert. Täglich kriegt nun seine Jenseitsexistenz Nahrungsmittel als Opfer. Aber nur symbolisch, nach dem Opferritus teilen sich die Beschäftigten die Gaben untereinander auf. MUSIK SPRECHERWie geht es weiter mit den Pyramiden nach Cheops? Sein Sohn Chefren will noch höher hinaus. Das schafft er aber nur mit Tricks. Er baut höher im Gelände, auf kleinerer Grundfläche und mit einem steileren Winkel. Ganz klar: Cheops bleibt Platzhirsch. Wiederum der Nachfolger Mykerinos baut die kleine Pyramide in Gizeh – dafür aber eine umso aufwendigere Pyramidenanlage. SPRECHERINDas wird der Trend für die nächsten Dynastien – kleinere Pyramiden bei großartigeren Kultanlagen. Tausend Jahre später, im Neuen Reich, hat die Pyramidenform ihre Exklusivität als Königsgrab verloren. Nun sind es tatsächlich die Facharbeiter, die selbstbewusst für sich kleine Pyramiden bauen, während sie für die Könige die Felsengräber im Tal der Könige anlegen. Diese Könige heißen übrigens erstmals Pharaonen. SPRECHERUnd auch das noch: Wie steht es mit den Labyrinthen, die in den Pyramiden Grabräuber tödlich in die Irre führen sollen? Noch einmal zum griechischen Historiker Herodot und seiner Ägyptenreise. Eine Etappe hatte ihn zur Pyramidenanlage von Amenemhet III. geführt. Mélanie-Catherine Floßmann: Zusp. Floßmann (23:28-24:11)Es gab wohl über 120 verschiedene Kulträume und Kapellen und Säulenumgänge und die verschiedensten Raumeinheiten. Jetzt stellen wir uns Herodot vor, der im 5.Jh. da anreist, … und er wird jetzt … von einem Raum in den nächsten hinein geführt und hat für sich dann auch einfach diese Assoziation – ja, das ist ein labyrinthartiges Gangsystem, … aber Labyrinthe hat es in Ägypten bei Pyramiden niemals gegeben. SPRECHERINNa ja. Noch so ein typisches Missverständnis. Sie waren einfach unbegreiflich früh unfassbar gut, die alten Ägypter. Eines wird man ihnen einfach lassen müssen: Die Pyramiden sind schlicht ein Wunder.
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Jul 14, 2025 • 24min

ATOMBOMBE - Bauen mit der Vernichtungswaffe

Atombomben zünden im eigenen Land? Speicherseen aus der Erde sprengen mit nuklearen Sprengköpfen, ganze Bergketten pulverisieren für eine Autobahn? Oder gleich einen Durchbruch vom Atlantik zum Pazifischen Ozean mit einigen Nuklearexplosionen graben - und dafür Millionen Menschen umsiedeln? Klingt absurd. Und doch gab es in der Zeit des Kalten Krieges in den USA und der Sowjetunion ernstzunehmende Projekte dazu. Von Markus Mähner (BR 2025)Credits Autor: Markus Mähner Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Burchard Dabinnus, Hemma Michel, Friedrich Schloffer, Peter Veit Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas MorawetzEine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Linktipps Deutschlandfunk (2024): Die Atombombe – Wie die schlimmste Waffe aller Zeiten Frieden schaffen soll Russlands Präsident Wladimir Putin droht offen mit seinen Atombomben. Seither diskutiert der Westen wieder über nukleare Abschreckung. Können Atomwaffen tatsächlich Kriege verhindern? Die Geschichte liefert Antworten. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk Kultur (2020): Atomwaffen in Deutschland – Leben mit der Bombe Seit über sechs Jahrzehnten lagern US-amerikanische Atombomben in Deutschland. Im Kalten Krieg waren es tausende, heute sind es knapp zwei Dutzend. Sie schützen uns im Rahmen der Nato, sagen die einen. Sie machen uns zum Angriffsziel, sagen die anderen. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:SPRECHEREin Werbefilm der Amerikanischen Atomenergiebehörde, der AEC… AEC 2:"The 100kT Nuclear Explosion excavated more than 6 Million cubic Yards of Earth in a Matter of Seconds. SPRECHEREr beschreibt begeistert, wie in nur wenigen Sekunden gut viereinhalb Millionen Kubikmeter Erde weggesprengt wurden. AEC 2: The result was a crater more than 12000 Feet in Diameter, the length of 4 Football-Fields and 325 Feet Deep - the height of a 32-storey Building. Created in less time than it takes to describe it." SPRECHEREin Krater blieb, der so tief war wie ein 32-stöckiges Hochhaus! Wie war das zu schaffen? – Die AEC schwärmt in dem Film von den Folgen eines Kernwaffentests im Testgelände Nevada vom 6. Juli 1962, dem sogenannten Project Sedan. Und diese hocheffiziente Sprengung war angeblich ohne gravierende Nebenwirkungen zu haben. Denn: 95 Prozent der freigesetzten Radioaktivität verblieben im Krater, hieß es. Die restlichen 5 Prozent seien gleich daneben niedergegangen, so die AEC. MUSIK SPRECHERINDie Wirklichkeit jedoch sah ein wenig anders aus: Tatsächlich war der radioaktive Niederschlag ungefähr fünfmal so hoch wie erwartet. Ein Wissenschaftler mit Studenten von der Universität Utah war zufällig genau an diesem Tag mit Geigerzählern unterwegs. Auch wenn sie über 600 Kilometer von der Sprengung entfernt waren, so war die radioaktive Belastung doch so hoch, dass sie unverzüglich in die Universität zurückkehrten. Noch Monate später wurde – wenn auch nur geringer - radioaktiver Fallout bis in die Nähe von Chicago nachgewiesen. Über 2000 Kilometer entfernt! Heute geht man davon aus, dass durch Sedan etwa 7 Prozent der Bevölkerung der USA, also ungefähr 13 Millionen Menschen radioaktiv belastet wurden. SPRECHERSedan war nur einer von vielen Kernwaffentests, die die USA im Namen der „friedlichen“ Erforschung dieser unglaublichen Kraft durchführten. Das sogenannte „Plowshare“-Programm sollte zeigen, dass man damit Häfen, Kanäle, Straßen oder Speicherseen bauen könnte. AEC 1:This is the peaceful potential of nuclear explosives that the US is developing for all mankind in a program it calls PLOWSHARE." - Musik SPRECHER„Friedliche Nukleare Sprengungen für den Nutzen der ganzen Menschheit“. Nichts weniger versprach der Werbefilm der AEC. Kaufman 21 Well, I was fascinated by it because I happened to come across it while working on a different project, and I thought: This cannot be true! But it was! It's it's another example of the idea that science has all the answers, when sometimes science doesn't. VO:Ich bin zufällig darüber gestolpert und dachte mir: Das kann nicht wahr sein! Aber es war Wirklichkeit! Ein weiteres Beispiel für die Vorstellung, die Wissenschaft hätte Antworten auf alle Fragen. Aber so ist es einfach nicht! SPRECHERINScott Kaufmann, Historiker an der Francis Marion Universität in South Carolina, hat sich ausführlich mit dem Projekt Plowshare beschäftigt und letztlich ein ganzes Buch darüber geschrieben. Darin setzt er sich unter anderem mit seiner eigenen Verwunderung auseinander. Seiner Verwunderung darüber, wie Menschen in den 1950er und 1960er Jahren der Idee verfallen konnten, Kernwaffen im eigenen Land einzusetzen, lediglich, um Gräben – wenn auch recht große – zu graben. Eine Verwunderung, die er heute wohl mit den meisten Menschen teilt. SPRECHERIn den Nachkriegsjahren war das anders. Damals galt die Kernenergie als verheißungsvolle Energiequelle für ein paradiesisches Zeitalter: Kaufman 19[...] We have to keep in mind that there was and I think still is enormous faith in science. [...] And if we look back at the 1950s, which is when Plowshare began, there was this idea that everybody would have their own private plane, that they would fly around. That we [...] would get to the moon by the end of the century and even have bases on the moon. This faith in science and what it could do for us, what it could achieve. And that's a part of Project Ploughshare: This faith in science. You tie into that Dwight Eisenhower's idea that he gave 1953 called „Atoms For Peace“: VO:Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt einen starken Glauben an die Kraft der Wissenschaft. Besonders in den 1950er Jahren, als das Projekt Plowshare anfing. Man dachte: Jeder würde bald seinen Privatjet haben, man würde Mondbasen bauen. Dieser ungebremste Glaube an die Fähigkeiten der Wissenschaft spiegelt sich auch in Dwight D. Eisenhowers berühmter Rede vor den Vereinten Nationen wider, der „Atoms for Peace“-Rede von 1953: Eisenhower:"It is not enough to take this weapon out of the Hands of the soldiers. It must be put in the Hands of those who have the Know-how to strip its military casing and adapt it to the Acts of Peace. The United States knows that if the fearful trend of atomic military build-up can be reversed, this greatest of destructive forces can be developed into a great boon, for the benefit of all mankind. ZITATOR„Wir müssen diese Waffe nicht nur dem Militär wegnehmen, wir müssen ihre zerstörerische Kraft in die Hände derer legen, die sie so weiterentwickeln können, damit sie ein Segen für die gesamte Menschheit wird,…“ Kaufmann 19b[...] So you have that in mind. And add to that the idea that this would be cheaper. It would be faster. You put it all together and you end up with this idea: yes, we can control the atom! Yes, we can make the atom do our bidding! And by doing that, we can use the atom to lead us down the path of progress, the path of modernity and do it far faster and far cheaper than by using conventional means! VO:Und wenn man zu diesen Gedanken auch noch die Vorstellung hinzufügt, es würde alles viel billiger und schneller machbar sein, dann kommt man schnell zu dem Schluss: Ja, wir können die Kraft des Atoms kontrollieren und ihm befehlen was es für uns zu tun hat! MUSIK SPRECHERINDer Glaube an die Kontrollierbarkeit einer nuklearen Kettenreaktion spiegelt sich nicht nur in Werbefilmen wie „Unser Freund, das Atom“ von Walt Disney aus dem Jahr 1956 wider: SPRECHER1957 nehmen die USA das erste Kernkraftwerk in Betrieb. Ein Jahr später stellt Ford Pläne für das Nucleon vor, ein mit Atomkraft betriebenes Auto. Gleichzeitig läuft die Nautilus, das erste US-Atom-U-Boot, vom Stapel. MUSIK SPRECHERINDass das Atom nicht immer nur unser Freund ist, zeigt wiederum ein Vorfall im März 1958: Ein US-Kampfjet verliert versehentlich eine Atombombe über einer kleinen Farm in South Carolina. Zwar war die Bombe nicht mit spaltbarem Material versehen; der Auslöser explodierte dennoch und hinterließ dort, wo sich einmal die Farm befand, ein 10 Meter tiefes und 25 Meter breites Loch – und einen Zweifel an den Glauben der Beherrschbarkeit des Atoms: Denn was wäre passiert, wenn die verlorene „Atombombe“ tatsächlich spaltbares Material an Bord gehabt hätte? SPRECHERAls der ein wenig aus dem Ruder gelaufene Kernwaffentest „Projekt Sedan“ im Juli 1962 stattfindet, ist das Projekt Plowshare schon viele Jahre alt und bereits in der Krise. Einen Monat später, im August, wird das erste Vorhaben des Plowshare-Programms offiziell als beendet erklärt: das Projekt Chariot, dessen Anfänge schon fast zehn Jahre zurückreichen. Scott Kaufman: Kaufman 1What they wanted to do was to build a port using nuclear explosives. And the idea was that the port would be located near coal and oil reserves, so that way the people could use the port to ship out the coal and oil. VO:Sie wollten einen Hafen mit Hilfe von Kernwaffen bauen. Ganz in der Nähe von Kohle- und Ölvorkommen, die dann verschifft werden sollten. MUSIK SPRECHERINDamit wollte man zeigen, welche Möglichkeiten solche Bomben für friedliche Projekte hatten. Dennoch war man sich der Gefahr der radioaktiven Strahlung wohl bewusst. Es musste also in einem wenig besiedeltem Gebiet stattfinden. Arthur Larson, stellvertretender Arbeitsminister in der Regierung Eisenhowers, hatte damals die Idee: ZITATOR „Warum nicht einen einigermaßen abgelegenen Ort – wie zum Beispiel Alaska – finden, der einen Hafen braucht, und die ganze Arbeit mit einer einzigen Explosion erledigen?“ SPRECHERINFrei nach dem Motto des damaligen US-Verteidigungsministers „Far more bang for the buck!“ - „Mehr Wums für Piepen!" SPRECHEREdward Teller, der „Vater der Wasserstoffbombe“ und glühendster Befürworter des Plowshare-Programms ist begeistert! Und sogleich ist auch ein Ort gefunden: Cape Thompson an der Westküste Alaskas. Einziges Problem: Die Nähe zu Russland. Kaufman 5bIf you can't guarantee which way the wind is going to be blowing that day - what if the wind not blows from the west, but blows from the east: You're then going to have radioactivity falling over the Soviet Union, which is not that far away, and the Soviets are not going to be happy about that. VO:Was ist, wenn der Wind an dem Tag nicht aus Westen, sondern aus Osten weht? Dann wird Radioaktivität über der Sowjetunion niedergehen. Die ist nicht weit entfernt. Und die Sowjets werden darüber nicht erfreut sein. SPRECHERINDass in dem Gebiet auch eine indigene Bevölkerung wohnt, scheint erst einmal niemanden zu stören. Besonders nicht Edward Teller, der Zweifel darüber, ob diese weiter jagen und fischen könnten, ein für allemal aus dem Weg räumt: MUSIK ZITATOR„Wir interessieren uns nicht dafür, den Eskimo als Jäger zu erhalten. Wir wollen ihm die Gelegenheit verschaffen, in einer Kohlenmine zu arbeiten.“ SPRECHERINUm die Bevölkerung in der 30 Meilen von Cape Thompson entfernten Stadt Point Hope zu beschwichtigen, reist im August 1958 Gary Higgins dorthin, leitender Wissenschaftler des Plowshare-Programms. Er versichert den Bewohnern, die freigesetzte Radioaktivität sei ungefährlich. Es könnten lediglich einige Scheiben in ihren Häusern kaputt gehen. Und ja, die müssten sie ohnehin für so ungefähr ein Jahr verlassen – nur um sicher zu gehen. Falls irgendetwas schieflaufen würde - was eigentlich unvorstellbar sei – dürften sie selber entscheiden, ob sie zurückkehrten oder nicht. SPRECHERDoch Higgins spricht lediglich mit den aus den USA zugezogenen Bürgern, nicht mit den Ureinwohnern, den Inupiat – die von der AEC stark unterschätzt werden: Nicht nur schreiben sie Briefe mit Bitte um Aufklärung an die Atomenergiebehörde, sie unterrichten auch andere Indigene aus ganz Alaska, was die US-Regierung mit ihrem Land vorhat. Daraus entsteht die erste landesweite Zeitung für Indigene. Kaufman 4You had indigenous people, Eskimos, living in the area who said: We're very well aware of what happened to Hiroshima. We're very well aware of other accidents that have taken place with nuclear explosives, such as one near Bikini Atoll that ended up killing a Japanese sailor and injuring others because of the fallout. And they said: we have no evidence that you can do this safely. And there is no way that we are going to support this if you can't do this safely. And the opposition of those individuals in Alaska expanded to include scientists, politicians and others throughout the country. It became nationally known what the Atomic Energy Commission wanted to do and generated intense opposition. VO:Die Indigenen aus der Gegend sagten: Wir wissen genau, was in Hiroshima passiert ist. Wir kennen auch andere Unfälle mit nuklearen Sprengstoffen, wie zum Beispiel dem nahe des Bikini-Atolls, bei dem ein japanischer Matrose starb und andere durch den radioaktiven Niederschlag verseucht wurden. Es gibt keine Belege dafür, dass dies hier nicht passiert. Und solang dies der Fall ist, werden wir das auf keinen Fall unterstützen. Und der Widerstand dieser Indigenen in Alaska wurde landesweit bekannt und löste heftigen Widerstand in den ganzen Vereinigten Staaten aus. SPRECHERINDas Problem war also größer als gedacht. Da half es auch nicht, dass die AEC bereits im Jahr 1959 – Alaska war soeben 49. Bundesstaat der USA geworden - Wissenschaftler in das Gebiet sandte, um Umweltverträglichkeitsuntersuchungen anzustellen. Kaufman 5The Atomic Energy Commission, the AEC, did hire scientists, local scientists, who conducted what were called bioenvironmental surveys to try to learn more about the geology, the geography, the plants, the animals, the people living in the area. And what they were discovering was if you test something like this, if you conduct this experiment it increasingly became clear you're going to have an enormous amount of fallout that is going to cause radioactive that can have enormous amount of fallout that's going to affect the plants on which the reindeer eat - the reindeer which the locals eat. It's going to get in their systems. It is going to cause immense harm to the local ecology, is going to cause immense harm to the human population. And this would be an absolute disaster. VO:Man wollte mehr über die Geologie, Geographie, Pflanzen, Tiere und Menschen in der Region erfahren. Dabei wurde immer deutlicher: Wenn man solche Tests durchführt, kommt es zu enormen Mengen radioaktiven Niederschlags, der von den Pflanzen aufgenommen wird. Und die werden von den Rentieren gegessen. Und die Rentiere werden von der lokalen Bevölkerung gegessen. Es wird also sowohl der lokalen Ökologie als auch der Bevölkerung enormen Schaden zufügen. Das wäre eine absolute Katastrophe. SPRECHERDenn die nukleare Sprengkraft, um die es hier ging, war um einiges höher als man das bisher kannte. Kaufman 2It started out around 500 kilotons and they reduced it to about 260 kilotons. So they kept changing the amount, but we're still talking about a huge amount of explosives. Just to give you an idea what I'm talking, what I'm explaining here: The bomb that was used in Hiroshima, Japan, that killed 100,000 people was 17 kilotons, so 17,000 tons of TNT. At Chariot we're talking about at a minimum. 260 to 280 kilotons, so many times more powerful than what was used on Japan.VO:Sie begannen mit einer Sprengkraft von etwa 500 Kilotonnen. Die wurde später auf etwa 260 Kilotonnen reduziert. Es handelt sich aber dennoch um eine riesige Menge Sprengstoff: Die Bombe, die in Hiroshima eingesetzt wurde und 100.000 Menschen tötete, hatte 17 Kilotonnen, also 17.000 Tonnen TNT. Bei Chariot sprechen wir von mindestens 260 bis 280 Kilotonnen, also um ein Vielfaches stärker als die Atombombe von Hiroshima. MUSIK SPRECHERINAls dann auch noch die Forscher, die man nach Kap Thompson entsandt hatte, zu vehementen Gegnern des Projekts werden und öffentlich dagegen Stimmung machen – allen voran der Geograph Don Foote und die Biologen Leslie Viereck und William Pruitt – gerät das Projekt Chariot immer mehr ins Stocken. Im August 1962 wird Chariot endgültig offiziell als beendet erklärt. Da hat es bereits nahezu 4 Millionen Dollar aufgefressen. Ein Hafen entstand zwar nicht, aber etwas vielleicht viel Wichtigeres: Kaufman 7Yes, we learned a lot about the people, about the animals, about the plants, the geography of that region. So certainly in that respect, Chariot provided us with an enormous amount of information. But luckily the blast itself did not take place. VO:Ja, wir haben eine Menge über die Menschen, die Tiere, die Pflanzen und die Geographie dieser Region gelernt. Ein Glück, dass die Sprengung nicht stattgefunden hat. MUSIK SPRECHEREin Grund, warum man sich Anfang der 1960er Jahre immer weniger für den Hafen am Cape Thomson interessiert, ist wohl auch, dass ein anderes, viel größeres Projekt immer mehr Form annimmt. Ein Projekt, das als zentrales Vorhaben des Plowshare-Programms gilt, und für das wohl auch der Hafen in Alaska nur als Testlauf geplant war: AEC 5: "The most dramatic example so far is in central america… SPRECHER… der Bau eines neuen Mittelamerika-Kanals - als Alternative zum engen Panama-Kanal. SPRECHERINDer bereits 1904 gebaute Panamakanal war mit dem Wirtschaftsboom der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zu klein geworden. Und so entstand in den 1950er Jahren die Idee, einen neuen Kanal zu bauen. Kaufman 9There's two things to keep in mind about the Panama Canal: It is not a Sealevel Canal it uses a set of locks to raise and lower ships between the Atlantic and Pacific Oceans and vice versa. And the locks are only about 1100 feet long. And they're about 110 feet wide. That restricts the size of ships that can use the Panama Canal. [...]The other issue is what if somebody, whether it be a government, a terrorist organization, decided to make life as difficult as possible for the United States by launching an attack internally or externally against the locks? If you damage those locks, the canal becomes unusable. And for the United States, which relied very heavily on those locks, not only descend commercial ships through the canal, but also military ships. That was very worrisome. VO:Beim Panamakanal gibt es zwei Dinge zu beachten: Er ist kein Meeresspiegelkanal, sondern nutzt Schleusen zum Heben und Senken von Schiffen zwischen Atlantik und Pazifik und umgekehrt. Die Schleusen sind nur etwa 330 Meter lang und etwa 33 Meter breit. Das schränkt die Größe der Schiffe ein, die den Panamakanal nutzen können. [...] Und: Was wäre, wenn jemand - sei es eine Regierung oder eine Terrororganisation - einen Angriff auf die Schleusen startet? Werden diese Schleusen beschädigt, wird der Kanal unbrauchbar. Und für die Vereinigten Staaten, die stark auf diese Schleusen angewiesen waren, war es sehr beunruhigend, da nicht nur Handelsschiffe, sondern auch Militärschiffe den Kanal passierten. MUSIK SPRECHERINDeswegen wollte man einen neuen Kanal bauen, der keine Schleusen benutzte. Doch ohne eine „saubere Bombe“, also eine nukleare Sprengung, die praktisch keinen radioaktiven Fallout verursacht, konnte man dieses Projekt nicht umsetzen. Kaufman 3People who were involved in Project Plowshare, both scientists and non scientists, such as members of Congress, believed that it was possible to control the atom, to control the amount of radioactive fallout. So what they want to do was to create what they called „a clean explosive“, one that would have very little radioactive fallout, cause very little radioactivity and not pose a danger to plants, animals or humans in the area. VO:Alle, die am Projekt Plowshare beteiligt waren, glaubten, dass es möglich sei, das Atom und die Menge des radioaktiven Niederschlags zu kontrollieren. Sie wollten daher einen sogenannten „sauberen Sprengstoff“ entwickeln, der nur wenig radioaktiven Niederschlag und Radioaktivität verursacht und keine Gefahr für Pflanzen, Tiere oder Menschen in der Umgebung darstellt. MUSIK SPRECHERINEine Entwicklung die nur mit dem uneingeschränkten Glauben an die grenzenlosen Fähigkeiten der Wissenschaft möglich ist. SPRECHEREin Glaube, den die Atomenergiebehörde zweifellos hatte: AEC 4:Safety and Technology - the two inseperatable Parts of the Plowshare program" SPRECHERSicherheit und Technologie – zwei untrennbare Teile des Plowshare Programms. SPRECHERINDie Wirklichkeit sah anders aus. Scott Kaufman: Kaufman 3b:The problem was: Trying to develop a clean explosive proved very, very difficult and ultimately was one of the reasons why Plowshare failed. VO:Plowshare scheiterte schließlich daran, dass sie es nicht schafften, eine „saubere Bombe“ zu entwickeln. SPRECHERUnd somit scheiterte auch der Plan eines zweiten Mittelamerika-Kanals. Denn hierfür wäre eine unvorstellbare Sprengkraft nötig gewesen – selbst für die kürzeste geplante Route. Kaufman 10[...] But we're talking about now, not kilotons of explosives, but megatons - many, many megatons of explosives! We´re talking about hundreds of megatons to build either one of those waterways. To give you an example: what I'm talking about: to build the Sasarti-Morti one of the explosives would have to be 35 megatons. Now that would make it over 2000 times as powerful as the bomb used on Hiroshima, Japan. [...] Now that's just we're talking about one explosives of hundreds of various sizes that would have to be used. [...] And by the end of 1963 you have something called a limited test ban treaty, which banned any above ground or atmospheric nuclear test that could lead to fallout over another nation's borders. Well, if you're exploding a bomb of 35 megatons, you're going to have fallout over another nations borders. Especially we're talking about countries as small as Costa Rica, Nicaragua and Panama. Unless you can build a truly clean explosive which the Atomic Energy Commission never achieved, you're not going to be able to build a canal as they were. VO:Wir sprechen hier nicht nur von Kilotonnen Sprengstoff, sondern von Megatonnen – vielen, vielen Megatonnen Sprengstoff! Wir sprechen von Hunderten von Megatonnen für den Bau einer dieser Wasserstraßen. Für den Bau müsste eine Bombe 35 Megatonnen stark sein. Das wäre über 2000-mal stärker als die Hiroschima-Bombe. Das wäre aber nur eine Bombe von Hunderten, die eingesetzt werden müssten. Ende 1963 wurde ein Atomteststoppvertrag geschlossen, der alle oberirdischen oder atmosphärischen Atomtests verbot, die zu radioaktivem Niederschlag über den Grenzen anderer Länder führen könnten. Wenn man eine solche Bombe zündet, wird der radioaktive Niederschlag sicherlich über den Grenzen anderer Länder niedergehen. Besonders über so kleine Länder wie Costa Rica, Nicaragua und Panama. Solange man aber keinen wirklich sauberen Sprengstoff herstellen kann - was der AEC auch nie gelungen ist - wird man keinen solchen Kanal jemals bauen können.MUSIK SPRECHERINZusätzlich zu dem radioaktiven Niederschlag wären wohl auch durch solche Sprengungen unterirdische Erschütterungen entstanden, die Erdbeben-ähnliche Ausmaße angenommen hätten. Etliche Gebäude wären beschädigt oder sogar komplett zerstört worden. Der Bau eines Kanals entlang der Grenze von Costa Rica und Nicaragua hätte wohl auch die beiden Hauptstädte der Länder, San José und Managua, betroffen. Man ging davon aus, dass man weit über eine Millionen Menschen hätte umsiedeln müssen. Kaufman 12...and for how long? I mean, are we talking about moving them for a few months? For a year? Permanently? Nobody seemed to know! SPRECHERUnd für wie lange, auch das schien keinem klar zu sein, sagt Scott Kaufman. MUSIK SPRECHERINEin weiteres gescheitertes Projekt des Plowshare-Programs war das sogenannte Rulison-Projekt. Hier sollte durch eine Explosion ein unterirdisches Gas- und Ölfeld in Colorado erschlossen werden – im Grunde eine Art Fracking mit Nuklearsprengköpfen. Kaufman 16:Now did it work? Well, yes, Rulison did cause a chimney. Yes, natural gas did flow into the chimney created by the blast. But there were [...] big problems with it: [...]: The gas was radioactive and even though the AEC argued the level of radioactivity was safe, and when you're asking customers to buy irradiated natural gas to use in their homes, they're not going to do it. VO:Hat es funktioniert? Nun ja, Rulison hat tatsächlich einen Schornstein verursacht, in den Erdgas strömte. Aber es gab große Probleme damit: Denn das Gas war radioaktiv, und obwohl die AEC argumentierte, der Radioaktivitätsgrad sei unbedenklich, fand man keine Kunden, die radioaktives Gas zuhause benutzen wollten. MUSIK SPRECHERAnders als in den USA wurden in der Sowjetunion etliche Gasvorkommen so erschlossen. Und nicht nur das: Dämme und Speicherseen wurden mittels Kernwaffen-Explosionen gebaut. Das Programm „Atomexplosionen für die Volkswirtschaft“ lief auch viel länger als das US-Pendant „Plowshare“, das 1978 eingestellt wurde; nämlich bis zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1989. SPRECHERINDoch war die Sowjetunion wirklich erfolgreicher mit der praktischen Anwendung von Nuklearsprengköpfen? Schafften sie es im Gegensatz zur AEC eine „saubere Bombe“ zu entwickeln? Kaufman 23Well we have to keep in mind that the Soviet Union, the communist system has seen the environment as something to be exploited for the benefit of the state. Plus: you have a very secretive system, one where the Communist Party controls the media, controls information, and so you put those two things together and it makes it easier for the Soviets to conduct these kinds of experiments and not have the people know. And again: the idea is: You were doing this for the benefit of the state? So who cares? The end result though is you have some areas of the Soviet Union that are in terrible shape. Of course we have Chernobyl. We have Lake Chagan, we've got rivers in the Soviet Union that are still radioactive. Yes, it has had some successes. But in many respects has caused so much damage to the Soviet Union to harm so many people. VO:Wir müssen bedenken, dass die Sowjetunion die Umwelt als etwas betrachtete, das zum Vorteil des Staates ausgebeutet werden konnte. Hinzu kommt, dass die Kommunistische Partei die Medien und die Informationen kontrollierte. Diese Kombination erleichterte es den Sowjets, solche Experimente durchzuführen, ohne dass die Bevölkerung davon erfuhr. Das Endergebnis sind jedoch einige Gebiete der Sowjetunion, die in einem schrecklichen Zustand sind. Es gibt den Tschagan-See und Flüsse in der Sowjetunion, die immer noch radioaktiv sind. Ja, es gab einige Erfolge. Aber in vielerlei Hinsicht hat es der Sowjetunion großen Schaden zugefügt. MUSIK SPRECHERIN Auch wenn die Vorstellung Kernwaffen im eigenen Land für Bauvorhaben einzusetzen, heutzutage abschreckend und unglaublich erscheint: Ganz vom Tisch sind solche Gedankengänge nicht. Kaufman 15 + 22 Well, I think whatever you're talking about, any kind of a nuclear explosion - clean or not - it's going to raise serious concerns. But the idea is still out there. In 2010, the Deepwater Horizon Oil rig caught on fire, exploded in the Gulf of Mexico. 10s of thousands, if not millions of gallons of oil coming to the surface, and so one reporter for CNN said: Why don't put a nucleus close of down in the well and seal it. That never happened, but the idea was out there.  And then President Trump, in his first term, talked about using nuclear explosives to try to divert hurricanes or even stop them entirely. Now that idea, I would argue, was as crazy as his proposal to inject bleach to deal with COVID. It would have released enormous amounts of radioactivity. But again, the idea was out. I argue that the idea died back in the 1970s, but given you have people talking about it like Donald Trump as recently as about 2017/2018, who knows....? VO:Ich denke, jede Art von Atomexplosion – ob sauber oder nicht - wird ernsthafte Bedenken hervorrufen. Aber die Idee ist immer noch da. 2010 explodierte im Golf von Mexiko die Ölplattform Deepwater Horizon. Millionen Liter Öl strömten ins Meer. Und da sagte ein CNN-Reporter: Warum platzieren wir nicht einen Atomsprengkopf in der Bohrung und versiegeln sie? Das geschah nie, aber die Idee war da. Und dann sprach Präsident Trump in seiner ersten Amtszeit davon, mit Atomsprengstoffen Hurrikans abzulenken oder sogar ganz zu stoppen. Diese Idee, würde ich behaupten, war genauso verrückt wie sein Vorschlag, Bleichmittel gegen Covid zu injizieren. Aber trotzdem war sie da. Eigentlich starb ja die Plowshare-Idee in den 1970er Jahren. Wenn man allerdings solche Reden von Donald Trump hört... wer weiß?
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Jul 14, 2025 • 23min

ATOMBOMBE – Robert Oppenheimer und die Verantwortung

Robert Oppenheimer hat mit der Atombombe eine Massenvernichtungswaffe entwickelt, die die gesamte Menschheit bedroht. In seiner Person verdichtet sich die Frage nach den Grenzen der technischen Machbarkeit und der Verantwortung des Wissenschaftlers. Von Brigitte KohnCredits Autorin: Brigitte Kohn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Peter Weiß, Christian Baumann Technik: Susanne Herzig Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Dr. Alexander BlumEine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025  Linktipps Deutschlandfunk Kultur (2021): Nukleare Bedrohung – Atomwaffen kontrollieren – oder verbieten? Atomwaffen verbieten - einen entsprechenden Vertrag haben 122 Staaten unterzeichnet. Nicht dabei: die Nuklearmächte. Und für die Bundesregierung ist Rüstungskontrolle realistischer als ein Verbot. Über die reden die USA und Russland immerhin wieder. Moderation: Monika van Bebber. JETZT ANHÖREN NDR (2021): Nichtverbreitungsvertrag zu Atomwaffen auf der Kippe? Nichtverbreitungsvertrag zu Atomwaffen auf der Kippe? Der mehr als 50 Jahre alte sogenannte Atomwaffensperrvertrag soll die nukleare Abrüstung voranbringen. Doch die Atommächte modernisieren ihre Arsenale. Hat der Nichtverbreitungsvertrag noch eine Zukunft? JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:MUSIK ERZÄHLERIN:Aus dem Protokoll der Anhörung des Physikers Julius Robert Oppenheimer durch die US-amerikanischen Atomenergiekommission im Jahr 1954:  FRAGESTELLER – Zitator 1Mr. Oppenheimer. Sie hatten schreckliche moralische Skrupel? OPPENHEIMER – Zitator 2Ich kenne niemanden, der nach dem Abwurf der Atombombe nicht schreckliche moralische Skrupel gehabt hätte. FRAGESTELLER: Zitator 1Ist das nicht ein bisschen schizophren? OPPENHEIMER: Zitator 2Was? Moralische Skrupel zu haben? MUSIK ERZÄHLERIN50 Jahre zuvor. Robert Oppenheimer wird am 22. April 1904 in New York geboren. Beide Eltern, ein Textilingenieur und eine Malerin, sind Juden und haben deutsche Wurzeln. Der Vater ist mit 17 Jahren nach New York gekommen und hat es hier zu Reichtum gebracht. Robert ist der ältere von zwei Söhnen, ein sensibles und ungeheuer aufgewecktes Kind mit dichten schwarzen Locken und ausdrucksvollen wasserhellen Augen. Beide Eltern vergöttern ihn und fördern ihn nach Kräften. Ihre Ansprüche an Roberts Leistungsbereitschaft und auch an die innerfamiliäre Harmonie sind hoch, und das erzeugt manchmal Druck. ERZÄHLER:Er sei ein gehorsamer und grässlich guter Junge gewesen, sagt Oppenheimer später von sich selbst. Was ihm gefehlt habe, sei die gesunde Möglichkeit gewesen, sich auch mal danebenzubenehmen. ERZÄHLERIN:Die Eltern sind fortschrittlich eingestellt und nicht religiös. Sie schicken ihren Sohn auf die Schule der Society for Ethical Culture, Gesellschaft für ethische Kultur, die sich einem weltlichen jüdischen Humanismus verpflichtet fühlt, sagt Alexander Blum, Physikhistoriker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. 01 O-TON DR. BLUMSeine Eltern wollten sich assimilieren in der amerikanischen Haute Volee. Die religiösen Traditionen waren nicht wichtig, aber gewisse kulturelle Elemente des Judentums kann man durchaus wiedererkennen. Es ist ein sehr optimistisches Weltbild, ein Weltbild, wo auch der Verstand und die Wissenschaft als positive Kräfte gesehen werden, die, wenn der Mensch sie zu gebrauchen weiß, die Welt zu einem besseren Ort machen können. MUSIK ERZÄHLERIN:Die Schule betont die Handlungsfähigkeit und die moralische Verantwortung des Einzelnen. Vom Menschen hänge alles ab, der Mensch dürfe sich viel zutrauen, er müsse sich aber auch stark in die Pflicht nehmen. Die Erwartungen sind also auch hier sehr hoch. Der Glaube an eine übergeordnete, göttliche Instanz, die lenkt oder schützt, spielt kaum mehr eine Rolle. ERZÄHLER:Oppenheimers enger Freund, der Physiker Isidor Isaac Rabi, überliefert in späteren Jahren, Oppenheimer habe skeptisch auf seine Schulzeit zurückgeblickt. Die übermittelten Moralvorstellungen hätten seine Fragen nach der Stellung und Aufgabe des Menschen im Universum nicht zufriedenstellend lösen können. ERZÄHLERIN:Aber es gibt viele engagierte Lehrer an dieser Schule, die Robert vor allem für die Naturwissenschaften begeistern, aber auch für alles andere: moderne Literatur, Sprachen, Philosophie, Psychologie. Seine vielseitigen Begabungen verführen ihn oft dazu, sich zu zerfleddern, sich zu viel zuzumuten und sich von Gleichaltrigen, die ihn manchmal hart schikanieren, zu isolieren. ERZÄHLER:Auch an der Universität Harvard bedeuten ihm Bücher mehr als Freunde, und sein ruheloser Geist probiert sich ohne festen Plan in zahlreichen Fächern aus. Aber die Physik fesselt ihn auf Dauer am meisten, denn sie bietet mehr Neuland als jede andere Wissenschaft. 02 O-TON DR. BLUMDa hat sich wahnsinnig viel getan um die Jahrhundertwende. Paul Dirac, einer der Pioniere der Quantenmechanik, beschreibt die Zeit als das Goldene Zeitalter der Physik, in der jeder mittelmäßige Physiker erstklassige Entdeckungen machen konnte, weil mit der Quantenmechanik ein ganz neuer mathematischer Rahmen gegeben war, mit der man die Welt in einem ganz neuen Blickwinkel betrachten konnte. ERZÄHLERIN:Nach seinem Abschluss in Harvard geht Oppenheimer nach Europa, denn dort lehren die führenden Kapazitäten. 03 O-TON BLUM:Anders als bei der Relativitätstheorie, die man auf einen Menschen, letztlich auf Einstein, zurückführen kann, war die Quantenmechanik wirklich ein kollaboratives Projekt, zu dem Wissenschaftler in verschiedenen Zentren, die über Europa verstreut waren, beigetragen haben. Und Oppenheimer hat die eigentlich alle abgehakt. Er ist von Cambridge nach Leiden zu Ehrenfest, war dann in Göttingen bei Max Born, in Zürich bei Wolfgang Pauli. Diese Generation, etwas älter als er, die die Quantenmechanik begründet haben, da hat er wirklich bei allen vorbeigeschaut. ERZÄHLERIN:Oppenheimers Lehrer finden ihn begabt und kreativ, aber auch sprunghaft und arrogant. Und ungeschickt. Beim Experimentieren im Labor gehen ihm oft die Instrumente zu Bruch. Von Einsamkeit und Versagensängsten gequält, gerät er in eine tiefe seelische Krise. MUSIK ERZÄHLER:Manchmal fühlt er sich wie versteinert, dann wieder kochen die Aggressionen hoch. Dem Laborleiter will er mal einen vergifteten Apfel aufs Pult gelegt haben, so kolportiert er es selbst – doch sicher belegt ist das nicht, manche führen die Geschichte auf seine überhitzte Phantasie zurück. ERZÄHLERIN:Langsam findet Oppenheimer wieder in die Spur, dank seiner wachsenden Liebe zur theoretischen Physik. Quantentheoretisch und mathematisch, bisweilen auch philosophisch orientiert, bietet sie ihm den Zufluchtsraum des abstrakten Denkens und bringt ihm die Geheimnisse des Universums näher. Wenige Jahre später wird sie ihm die Grundlagen für den Atombombenbau liefern – mit verheerenden Folgen. 04 O-TON Dr. BLUM:Alles, was Oppenheimer gemacht hat, von seinen ersten Arbeiten zu Molekülen bis hin zur Atombombe, das war alles Quantenphysik, letztlich. ERZÄHLERIN:1929 tritt er eine Stelle an der Universität von Berkeley in Kalifornien an und macht die Quantenphysik auch in Amerika bekannt. Seine Studenten verehren ihren jungen exzentrischen Lehrer, der immer mit seinem geliebten breitkrempigen Hut und einer Zigarette im Mundwinkel vor der Tafel steht und gern auch mal privat ein paar Drinks ausgibt. Neben seiner Lehrtätigkeit schreibt Oppenheimer viel beachtete Aufsätze, unter anderem zur Zusammenführung von Quantentheorie und Relativitätstheorie. MUSIK ERZÄHLER:Allerdings ist er oft zu ungeduldig und sprunghaft, um alle Probleme im Detail zu durchdenken. Eigenschaften, die er wohl auch ab dem Jahr 1942, als er für das so genannten „Manhattan-Projekt“, die Entwicklung der Atombombe arbeitet, auch nicht ganz ablegen kann. Der Physiker Oppenheimer hätte im Laufe seines Lebens eigentlich gerne, wie so einige seiner damaligen Kollegen, einen Nobelpreis gewonnen, doch die zeitaufwändige Leitung des „Manhattan-Projekts“ hat ihm das möglicherweise auch vermasselt. Dazu der Physikhistoriker Alexander Blum: 05 O-TON DR. BLUM:Wenn man das Manhattan-Projekt rausschneidet und sich nur die Arbeiten anguckt, die er letztendlich geschrieben hat, dann ist er ein solider, aber nicht herausragender Physiker im 20. Jahrhundert. Er hat sich mit Fragen beschäftigt, die dann sehr wichtig wurden, und die Frage ist immer: Wenn er nicht der Leiter des Manhattan-Projekts gewesen wäre, sondern sich der reinen Wissenschaft hätte widmen können, ob er dann nicht gewisse Entdeckungen gemacht hätte, die andere dann stattdessen gemacht haben. MUSIK ERZÄHLERIN:Entspannung findet der ehrgeizige junge Dozent in der Wüste von New Mexico, eine Landschaft, in die er sich verliebt hat und die er oft besucht, um sie auf langen Ausflügen auf dem Pferderücken zu erkunden. Reiten ist seine Passion, außerdem die Literatur und das Studium des Sanskrit. Die Bhagavad Gita, eine jahrtausendealte heilige Schrift des Hinduismus, zieht ihn sein Leben lang in ihren Bann. ERZÄHLER:Die Bhagavad Gita lehrt die Menschen unter anderem, die Pflichten ihres Standes zu erfüllen und die Pflichten anderer Stände zu respektieren, ohne sich einzumischen. Die Konsequenzen von Handlungen seien abhängig vom Zusammenwirken der Stände und vom Wirken einer höheren Macht, aber nicht vom Willen und den ethischen Maßstäben eines Einzelnen. ERZÄHLERIN:Der Gedanke der Pflichterfüllung gibt Oppenheimer innere Ruhe. Er kann nun die Fragen nach Gut und Böse und individueller Verantwortung, die seine Jugend geprägt haben, zugunsten der Frage zurückstellen, was er selbst zum Gesamtzusammenhang beitragen kann. Und da liegt für ihn die Antwort auf der Hand: Es sind seine wissenschaftlichen Fähigkeiten, die die Gesellschaft braucht; für andere Bereiche gibt es andere Experten. MUSIK Doch die Weltwirtschaftskrise verursacht seit Anfang der Dreißigerjahre viel Not und stört den Gesamtzusammenhang erheblich. 1933 ergreift Hitler in Deutschland die Macht. ERZÄHLER:Das erfüllt Oppenheimer mit Wut und Sorge um das Schicksal der deutschen Juden. Aber es gibt für ihn eine andere Lehre, die verspricht, Gerechtigkeit herzustellen und die verstörte Welt zu heilen: Das ist der Kommunismus. Oppenheimer interessiert sich dafür wie viele andere junge Intellektuelle auch. Zwar tritt er nie in die Kommunistische Partei der USA ein, aber er beteiligt sich an vielen Aktivitäten und knüpft viele Freundschaften, auch zu Frauen. Er ist selbstsicherer und geselliger geworden und gilt sogar als sehr charmant. MUSIK ERZÄHLERIN:Die Medizinerin Jean Tatlock, ist Oppenheimers erste große Liebe. Sie ist oft schwermütig, melancholisch. Sie setzt ebenfalls Hoffnungen auf den Kommunismus. Die beiden fühlen sich eng verbunden, aber es ist kompliziert, und Jean schreckt vor einer Ehe zurück. ERZÄHLER:1940 heiratet Oppenheimer eine andere, die Botanikerin Katherine Puening Harrison, genannt Kitty. Sie bekommen einen Sohn und eine Tochter. Seit 1942 lebt die Familie in Los Alamos, New Mexico, denn der inzwischen 38jährige Oppenheimer hat die Stelle des wissenschaftlichen Leiters des Manhattan-Projekts bekommen, das die erste Atombombe der Welt entwickeln soll. Man will schneller sein als Hitlerdeutschland, wo man ähnliche Aktivitäten vermutet. 07 O-TON BLUM:Die sehr reelle Möglichkeit einer Nazibombe war für die meisten das Hauptargument, da mitzumachen, und ich würde auch sagen, ein völlig legitimes Argument. ERZÄHLERIN:Mehrere Hundert Menschen arbeiten in Los Alamos, darunter exzellente Physiker aus verschiedenen Ländern. Oppenheimer ist ein guter Leiter, der die Leute motivieren, Ergebnisse zusammenführen und die Arbeit zügig vorantreiben kann. ERZÄHLER:Wenn man ein Wissenschaftler sei, so glaube man, dass es gut sei, herausfinden, wie die Welt funktioniert, sagt er später. Wenn man auf reizvolle technische Herausforderungen stoße, dann packe man sie an und arbeite so lange an ihnen, bis man Erfolg habe. Und so sei es auch bei der Atombombe gewesen. 08 O-TON DR. BLUM:Man sitzt da in der Wüste, während draußen die Welt brennt und man weiß, man ist dabei, das alles zu entscheiden, und das würde die Welt dann auch grundlegend verändern, das ist schon alles sehr aufregend. MUSIK ERZÄHLERIN:Kitty Oppenheimer ist mit ihrem isolierten Hausfrauendasein im Schatten einer bedrohlichen Zukunft unzufrieden und trinkt viel zu viel. Robert magert ab und raucht ununterbrochen. Als er sich einmal eine Stippvisite nach Berkeley mit Übernachtung bei seiner Ex-Geliebten Jean Tatlock gestattet, beschatten Agenten der US-Armee ihr Treffen. Es wird das letzte sein, denn Jean geht es schlecht. 1944 bringt sie sich um.  ERZÄHLER:Sie sei froh, einer kämpfenden Welt die Last ihrer gelähmten Seele abnehmen zu können, schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief. ERZÄHLERIN:Auch im Labor gibt es Konflikte. Hitlerdeutschland steuert seinem Untergang entgegen, auf die Existenz einer Nazibombe deutet nichts hin, und immer mehr Physiker von Los Alamos zweifeln an Sinn und Zweck ihres Tuns. Aber Oppenheimer ist ziemlich gut darin, ihnen die Skrupel auszureden. Im Mai 1945 kapituliert Deutschland, und Präsident Harry Truman beschließt, die Bombe über Japan abwerfen zu lassen, einem Mitglied der feindlichen Achsenmächte, das sich gegen die Kapitulation sinnloserweise noch sträubt. ERZÄHLER:Truman wird den Abwurf der Atombombe sein Leben lang mit dem Argument verteidigen, sie habe den Krieg abgekürzt und „das Leben Abertausender junger Amerikaner“ gerettet. Viele Projekt-Mitarbeiter damals und Historiker heute vermuten eher, die Bombe sei eingesetzt worden, um den Anteil der Sowjetunion am Sieg und damit auch den Einfluss der kommunistischen Großmacht in der Nachkriegszeit zu schmälern. ERZÄHLERIN:In Los Alamos finden damals jedoch viele, das sei kein ausreichender Grund, um eine Massenvernichtungswaffe mit unkalkulierbarer Zerstörungskraft gegen die japanische Zivilbevölkerung zu richten, noch dazu ohne Vorwarnung und ohne letztes Ultimatum. Sie wollen Präsident Truman dazu bewegen, sich auf einen demonstrativen Test zu beschränken. ERZÄHLER:Oppenheimer wehrt das Ansinnen heftig ab. Leute, die nichts von der japanischen Mentalität verstünden, sollten die Entscheidung besser militärischen Experten überlassen, hält er dagegen und setzt sich durch. MUSIK ERZÄHLERIN:Und so berät er das Militär bei der Auswahl der zu bombardierenden Städte und versorgt die Piloten mit genauen Anweisungen zu Wetterlage und Flughöhe, damit der zu erwartende Schaden möglichst groß ausfällt. Die Welt soll sehen, welche Risiken das nukleare Zeitalter bereithält, und das Kriegsführen im Zukunft einstellen. Alexander Blum geht davon aus … 09 O-TON BLUM:… dass er mehr wollte, als einfach nur der Vater der Atombombe zu sein, sondern er wollte der Vater des durch die Atombombe entstandenen Weltfriedens sein. Da hat er sich wohl auch zurechtgelegt, dass, wenn die Atombombe wirklich das Ende aller Kriege darstellen sollte, dann werde sie wohl auch einmal im Krieg eingesetzt werden müssen. ATMO Atombombe ERZÄHLERIN:Am 6. August 1945 legt die Atombombe Hiroshima in Schutt und Asche, drei Tage später fällt eine weitere auf Nagasaki. Zehntausende Menschen sterben in Sekunden, Zehntausende Monate und Jahre später an den Folgen ihrer Verletzungen oder der Strahlung. Das Trauma dieser ungeheuren Zerstörung wirkt in Japan und in der Welt bis heute nach. ERZÄHLER:Nun bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten. So heißt es, frei übersetzt, in der Bhagavad Gita. ERZÄHLERIN:Die amerikanische Öffentlichkeit feiert ihn als den neuen Prometheus, der den Menschen das atomare Feuer gebracht und den Krieg beendet habe. MUSIK Doch Oppenheimer selbst fällt in eine Depression. Die zahllosen Toten belasten ihn unendlich, und dass die Atombombe nötig gewesen sei, um den Frieden herbeizuführen, daran zweifelt er irgendwann auch. ERZÄHLER:Sein Zustand sei schrecklich gewesen, überliefert seine Frau Kitty. Sie habe nicht gewusst, wie es weitergehen solle.  ERZÄHLERIN:Doch eine Hoffnung bleibt Oppenheimer: dass die Menschheit des nuklearen Zeitalters die Gefahr ihrer atomaren Vernichtung ernst nehmen und lernen könne, in Frieden zu leben. 1947 wird er Direktor des Institute for Advanced Study in Princeton und setzt sich als Berater der Regierung und der amerikanischen Atomenergiebehörde für internationale Waffenkontrollabkommen ein. Die Wissenschaftsgemeinde unterstützt ihn, doch viele Kollegen finden ihn zu nachgiebig und schwach im Umgang mit Politikern. ERZÄHLER:Im Gespräch mit dem US-Präsidenten legt er seine Schuldgefühle offen: Er habe Blut an seinen Händen, sagt er. Peinlich berührt befiehlt Truman seiner Sekretärin, ihm Oppenheimer, das Cry-Baby, künftig vom Hals zu halten. MUSIK ERZÄHLERIN:Seit 1949 verfügt auch die Sowjetunion über eine Atombombe. Das Wettrüsten des Kalten Krieges beginnt, die Atomwaffenarsenale wachsen. Die US-Regierung beschließt die Entwicklung einer Wasserstoffbombe mit noch sehr viel höherem Vernichtungspotential. Oppenheimer steuert ein paar wissenschaftliche Ratschläge bei, aber das Sofortprogramm geht ihm zu schnell, er plädiert für Verhandlungen mit den Sowjets. Damit macht er sich die Atomenergiebehörde zum Feind – die zudem von der antikommunistischen Hysterie der McCarthy-Ära befeuert wird. ERZÄHLER:Man wirft Oppenheimer Folgendes vor: erstens, dem Kommunismus zugeneigt zu sein, was die Möglichkeit einschließt, Spionage zugunsten der Sowjets in Los Alamos zumindest nicht verhindert zu haben. Zweitens, und das wiegt noch schwerer: durch seinen Widerstand gegen die Wasserstoffbombe nationale Interessen zu beschädigen. ERZÄHLERIN:Man will Oppenheimer politisch kaltstellen. Dazu muss man ihm seine Sicherheitsfreigabe streitig machen, also die Berechtigung, Zugang zu geheimen Regierungsinformationen zu haben. 1954 wird der Sicherheitsausschuss der Atomenergiebehörde einberufen, der Oppenheimer auf den Zahn fühlen soll. ERZÄHLER:Es ist nur eine interne Überprüfung, keineswegs ein juristisches Verfahren. Aber sie gerät zum öffentlichen Tribunal, weil die Presse Zugriff auf die Protokolle der Anhörung bekommt. Der Mann, der nur wenige Jahre zuvor als „Amerikas Prometheus“ gefeiert wurde, steht nun unter extremem Druck. 10 O-TON DR. BLUM:So wird das Ganze eben wirklich zu einer Bewertung seines ganzen Lebens und seiner gesamten Karriere. So was, und dann noch in einer feindseligen Atmosphäre, das ist für jeden anstrengend, wenn man sich für alles, was man je gemacht hat, rechtfertigen muss. Sowohl auf politischer als auch auf persönlicher Ebene, weil diese Sachen bei ihm sehr verquickt sind dadurch, dass seine Frauengeschichten sehr eng mit der kommunistischen Partei verbunden waren.  MUSIK FRAGESTELLER – Zitator 1Sie hatten schreckliche moralische Skrupel? OPPENHEIMER – Zitator 2Ich kenne niemanden, der nach dem Abwurf der Atombombe nicht schreckliche moralische Skrupel gehabt hätte. FRAGESTELLER: Zitator 1Ist da nicht ein bisschen schizophren?Das Ding zu machen, die Ziele auszusuchen, die Zündhöhe zu bestimmen und dann über den Folgen in moralische Skrupel zu fallen? Ist das nicht ein bisschen schizophren, Doktor? OPPENHEIMER: Zitator 2Ja. Es ist die Art von Schizophrenie, in der wir Physiker seit einigen Jahren leben. ERZÄHLERIN:Der deutsche Dramatiker Heinar Kipphardt hat aus den Protokollen der Sicherheitsanhörung ein Theaterstück verfertigt. Für ihn ist Oppenheimer keine rundweg positive Figur, sondern jemand, der sich oft herauswindet und sich in Allgemeinplätze flüchtet. MUSIK OPPENHEIMER: Zitator 2Die Welt ist auf die neuen Entdeckungen nicht eingerichtet. Sie ist aus den Fugen. FRAGESTELLER: Zitator 1Und Sie sind ein bisschen gekommen, sie einzurenken, wie Hamlet sagt? OPPENHEIMER: Zitator 2Ich kann es nicht. Sie muss das selber tun. ERZÄHLERIN:Oppenheimer ist mit Kipphardts Theaterstück übrigens nicht einverstanden, denn der Autor legt dem Hauptdarsteller eine fiktive Schlussrede in den Mund, die seine Reue zum Ausdruck bringt. Aber der wirkliche Oppenheimer bereut seine Rolle im Manhattan-Projekt durchaus nicht – allen Skrupeln zum Trotz. ERZÄHLER:Er sei als Physiker dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtet und habe seine Aufgabe erfüllt. Die Gesellschaft müsse lernen, mit den Ergebnissen umzugehen, das ist sein Standpunkt. Alexander Blum findet ihn nicht sehr überzeugend. 11 O-TON ALEXANDER BLUM:Er ist berühmt, weil er sich als erster diesem Dilemma hat stellen müssen, der Verantwortung des Wissenschaftlers, aber er ist nicht dafür berühmt, dass er es besonders elegant gelöst hat. Letztlich war die Lösung, die er versucht hat anzubieten, eben dieses Fortschrittsnarrativ. Dass letztlich Wissen nicht verhindert werden kann und auch nicht schlecht sein kann und letztlich nur dazu dienen kann, die Menschheit voranzubringen und einer rosigen Zukunft zuzuführen. Diese Fortschrittsnarrativ war schon damals am Kippen und ist heute unpopulärer denn je. MUSIK ERZÄHLERIN:Zum Schluss wird ihm die Sicherheitsfreigabe aberkannt, und das ist das Ende seiner Laufbahn als Politikberater. Oppenheimer nimmt die Entscheidung fast demütig an. Zwar freut er sich, als man ihm später in der Kennedy-Ära hohe Preise zukommen lässt. Aber inzwischen ist er schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt. Dem Tod sieht er mit Ruhe und Würde entgegen. Robert Oppenheimer stirbt am 18. Februar 1967 im Alter von 62 Jahren.
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Jul 11, 2025 • 29min

WIE WAR DAS DAMALS? Als die Atombombe in die Welt kam

Vor 80 Jahren, am 16. Juli 1945, beginnt mit dem Trinity-Test in der Wüste New Mexikos das Atomzeitalter. Mit der ersten nuklearen Explosion erlangt die Menschheit an diesem Tag die Fähigkeit, sich selbst zu vernichten. Die grausamen Einsätze der Atombombe im August 1945 über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki haben die Nukleartechnik mit dem gewaltsamen Tod von hunderttausenden Menschen in Verbindung gebracht. Seither wurde keine Atomwaffe mehr in einem Konflikt eingesetzt, obwohl seit dem Ende der 40er Jahre ein atomares Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion einsetzte. Die technische Entwicklung von thermonuklearen Bomben hat dazu die Fähigkeit gebracht, die Menschheit gleich mehrere Male zu vernichten. Credits Autoren: Christian Schaaf & Michael Zametzer Redaktion: Eva Kötting & Heike Simon Linktipps Alles Geschichte (2021): ATOMWAFFEN – Overkill und Abrüstung Mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki brach ein neues Zeitalter an. Nun war es möglich, Kriege mit einer nie dagewesenen Zerstörungskraft zu entscheiden. Gleichzeitig wuchs die Erkenntnis, dass Atomwaffen die Menschheit an den Rand ihrer Auslöschung bringen konnten. Die Welt stand zwischen Overkill oder Abrüstung. (BR 2015) JETZT ANHÖREN BR (2024): Der Weg der Hiroshima-Bombe   Es war am 18. September 1942 als Belgien und die USA einen Vertrag über den Verkauf von 4200 Kilo Uran schlossen. Auf der einen Seite des Tisches saß damals der US-General Nichols - führend beteiligt am Bau der ersten Atombombe. Auf der anderen Seite: Edgar Sengier, Chef der Uranminen im damaligen Belgisch-Kongo. JETZT ANHÖREN BR (2023): Wo Oppenheimer die Atombombe gebaut hat – Leben in Los Alamos Robert Oppenheimer hat die Atombombe in Los Alamos in New Mexico entwickelt. In dieser Doku von 1990 geht es um das seltsame Leben in dem abgeschirmten Ort und um die Gewissensbisse der Forscher. Ein Porträt eines geheimnisvollen Ortes, lange bevor der Kinofilm "Oppenheimer" gedreht wurde und mit Zeitzeugen, die heute nicht mehr leben. Der Kinofilm "Oppenheimer" zeigt, wie der Forscher fast an seiner Entwicklung, der Atombombe, zerbricht. In der Doku von 1990 geht es um das wirkliche Leben in dem abgeschirmten Forschungsort Los Alamos. Auch ohne Dramatisierung durch Hollywood zugleich faszinierend und erschreckend. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Jul 4, 2025 • 23min

WESTDEUTSCHLAND NACH 1945 - Aufschwung durch den Korea-Krieg

Der erste heiße Konflikt im Kalten Krieg erschütterte die Welt - auch die Bonner Republik. Im Juni 1950 überschritten Soldaten des kommunistischen Machthabers Kim Il-sung den 38. Breitengrad, die Trennlinie zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Einflussbereich in Korea. Doch der Konflikt sollte Bonn und Westalliierte zu Bündnispartnern verschweißen. Für Westdeutschland begann ein unverhofftes Wirtschaftswachstum. Von Volker Eklkofer und Simon Demmelhuber (BR 2020)Credits Autoren: Volker Eklkofer & Simon Demmelhuber Regie: Martin Trauner Technik: Helge Schwarz Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel & Peter Veit Redaktion: Thomas Morawetz    Im Interview: Dr. Thomas Schlemmer Linktipps Alles Geschichte (2024): Der Koreakrieg – Wie aus Brüdern Feinde wurden Der Koreakrieg, ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg zwischen 1950 und `53, forderte mehrere Millionen Menschenleben. Wirklich beendet ist er bis heute nicht. Im Juli 1953 wurde nur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Von Isabella Arcucci (BR 2013). JETZT ANHÖREN ZDF (2020): Pulverfass Korea – Konflikt ohne Ende Manche Experten sehen im Koreakrieg das wichtigste weltpolitische Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg. Niemals wirklich beendet, beeinflusst er weiter internationale Beziehungen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ErzählerSonntag, 25. Juni 1950. In Korea beginnt der Sommermonsun. Es gießt in Strömen. In den frühen Morgenstunden entladen sich heftige Gewitter entlang des 38. Breitengrads. Im Tosen des Sturms nehmen die südkoreanischen Soldaten an der Grenze zu Nordkorea den anschwellenden Geschützdonner ebenso wenig wahr wie ihre amerikanischen Militärberater. Der Angriff des kommunistischen Diktators Kim Il-sung, eines engen Verbündeten der UdSSR, überrollt den unvorbereiteten Gegner. In Blitzkriegsmanier stoßen Kims Truppen vor, besetzen die Hauptstadt Seoul und kontrollieren bereits im August weite Teile Südkoreas. ErzählerinDie Welt ist geschockt, der Kalte Krieg ist plötzlich heiß geworden. Die erst fünf Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen greifen militärisch ein. Weil bei der entscheidenden Sitzung des Sicherheitsrats der Vertreter der Sowjetunion fehlt, fällt der Beschluss für eine Kampftruppe, die mit Gewalt Frieden schaffen soll. Mehrere Nationen stellen Kontingente, Anfang Juli übernehmen die USA das Kommando. ErzählerWährend die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zum Gegenschlag rüsten, flackern in Westdeutschland Kriegsängste auf. MUSIK ErzählerinNach den aufwühlenden Ereignissen der letzten beiden Jahre – Währungsreform, Berlin-Blockade, Gründung von Bundesrepublik und DDR, erste Bundestagswahl, Regierungsbildung – ist die Sehnsucht nach einer Verschnaufpause groß. Doch mit einem Schlag ist alles anders. Am anderen Ende der Welt tobt Krieg. In einem Land, das wie Deutschland seit 1945 in eine sowjetische und eine amerikanische Einflusszone geteilt ist. In einem Land, in dem die Gegensätze zwischen Ost und West ebenso heftig aufeinanderprallen. Ist das ein Omen? Droht ein deutsches Korea? ZitatorDer Überfall der nordkoreanischen Kommunisten auf Südkorea und die Kampfhandlungen dort erfüllten die deutsche Bevölkerung mit großer Unruhe. Erzähler…schreibt Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, in seinen „Erinnerungen“. Mit der grassierenden Furcht der Menschen hat sich auch der Historiker Dr. Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte beschäftigt. Zuspielung Schlemmer 1Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Leute massenhaft auf die Straße gegangen wären, um zu demonstrieren. Die Unruhe spielt sich hauptsächlich im privaten Umfeld ab. Ja, man merkt es zuhause in den Familien. Der Zweite Weltkrieg ist grad‘ fünf Jahre zu Ende, der doch fast in jeder deutschen Familie tote Familienangehörige gefordert hat. Das ist noch sehr präsent gewesen, entsprechend auch die Angst. Und dazu kommt etwas, was man heute auch vergessen hat, und das ist die Realität der deutschen Teilung. Wenn es denn zu einem deutschen Korea gekommen wäre, hätten hier erstmals Deutsche auf Deutsche geschossen - und das zu einer Zeit, wo die deutsche Teilung ja auch erst seit einem Jahr harte Realität war. ATMO Aufgeregtes Gemurmel MUSIK ErzählerinIm Bundeskanzleramt herrscht Nervosität. Augenzeugen berichten von der panischen Angst Adenauers in den Tagen nach dem Kriegsausbruch. Was, wenn die DDR mit dem Segen Moskaus die junge Republik angreift? Die Gefahr scheint Adenauer durchaus real. Der Kanzler weiß, dass Ostdeutschland seit 1948 eine paramilitärische Truppe aufstellt. Die kasernierte Volkspolizei zählt mittlerweile 60.000 Mann unter Waffen. Ihr stehen in Westdeutschland nur schwache Polizeikräfte gegenüber, die zudem auf Länderebene organisiert sind. Diese Ordnungshüter, bemerkt Adenauer sarkastisch, wären nicht einmal in der Lage, demonstrierenden Kommunisten die Plakate abzunehmen. ErzählerErst als im Juli 1950 klar wird, dass die USA tatsächlich bereit sind, Südkorea mit einem massiven Militäreinsatz zu verteidigen, legen sich die ärgsten Befürchtungen in Bonn. Und der Politfuchs Adenauer erkennt die Chancen, die sich im Windschatten des Koreakriegs für seinen halbsouveränen Staat bieten. ErzählerinDie Bundesrepublik ist nach wie vor ein besetztes Land. Neben dem Grundgesetz gilt ein Besatzungsstatut, das den Westmächten, vertreten durch einen amerikanischen, englischen und französischen Hochkommissar, Kontrollrechte einräumt. ErzählerAdenauer fürchtet Stalin und die Sowjetunion. Für ihn liegt das Heil im Westen, hier möchte er eine souveräne Bundesrepublik als gleichberechtigten Partner fest verankert sehen. Um diesem Ziel näherzukommen, will er Westdeutschland fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederbewaffnen. Durch einen eigenen Verteidigungsbeitrag soll die Bundesrepublik Vertrauen schaffen, sich aus der Pariarolle des Kriegsverlierers befreien und zum Verbündeten der westlichen Welt aufsteigen. ErzählerinEin riskantes Vorhaben. Denn die Menschen in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Italien haben den totalen Krieg des Dritten Reichs und die Verbrechen von Wehrmacht und SS längst nicht vergessen. ErzählerAber Adenauer macht Druck. Mitte August 1950 fordert er in der „New York Times“ eine „starke deutsche Verteidigungsmacht“. Rückendeckung bekommt er unter anderem von Englands Kriegspremier Winston Churchill, der auf die Schaffung einer Europaarmee drängt. In den USA findet der Kanzler vor allem im Pentagon viel Zustimmung. Auch bislang unerbittliche französische Regierungsmitglieder äußern angesichts des Koreakriegs Verständnis. Sogar der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher lässt sich im September zu einer Erklärung hinreißen: ZitatorWir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffs übernehmen und sich mit größtmöglicher Macht an der Elbe etablieren. ErzählerinDamit ist Adenauer ein echter Coup geglückt. Von nun an steht die Frage der deutschen Wiederbewaffnung auf der Tagesordnung aller internationalen Treffen. Noch im September 1950 stimmen die Westalliierten der Bildung einer 30.000 Mann starken Polizeitruppe zu. So entsteht der halbmilitärische Bundesgrenzschutz, aus dem später die Bundespolizei hervorgeht. Das Projekt Europaarmee scheitert zwar am Widerstand der französischen Nationalversammlung, doch das schadet der westdeutschen Integration keineswegs. Für westliche Sicherheitsinteressen wird die Bundesrepublik bald unverzichtbar. Während sich der Kalte Krieg verschärft, wächst sie immer stärker in die westliche Welt hinein und wird zum Verbündeten aufgewertet. MUSIK ATMO Kriegslärm & Schreie ErzählerZurück nach Korea. Hier rollt seit September 1950 die Gegenoffensive der UNO-Truppen. Das Kommando hat der legendäre amerikanische Fünf-Sterne-General Douglas McArthur, ein egozentrischer Militär mit Hang zu goldbetressten Mützen. Beide Seiten führen den Krieg mit äußerster Brutalität. Massaker sind an der Tagesordnung, Flächenbombardements der US-Luftwaffe radieren ganze Landstriche aus. Rücksicht auf die Zivilbevölkerung gibt es nicht. ErzählerinAls die UN-Streitkräfte den Nordkoreanern heftige Niederlagen zufügen und zur chinesischen Grenze vorrücken, schickt Mao tse-tung im November 1950 hunderttausende Zwangs-Freiwillige zur Unterstützung Nordkoreas an die Front. Im Frühjahr 1951 droht die Lage vollends zu eskalieren. Der in den USA äußerst einflussreiche General McArthur fordert die Ausweitung des Koreakriegs auf China und den Einsatz von Atombomben. US-Präsident Truman zieht die Notbremse und entlässt McArthur. Die Entscheidung Trumans wird in den USA scharf kritisiert, New York empfängt den gefeuerten Rückkehrer McArthur demonstrativ mit einer Konfettiparade. Im Mai frisst sich die Front zwischen Nord- und Südkorea fest – genau dort, wo der Krieg begann, am 38. Breitengrad. Auf Initiative der Sowjetunion beginnen im Juli Waffenstillstandsverhandlungen, doch erst zwei Jahre später wird die Waffenruhe im Grenzort Panmunjon besiegelt. Das Land bleibt geteilt, bis heute gibt es keinen Friedensvertrag. MUSIK ErzählerIn Westdeutschland ebbt der Koreaschock in der zweiten Jahreshälfte 1950 allmählich ab. Das robuste Vorgehen der Amerikaner stärkt das Vertrauen in die westliche Führungsmacht. Die Menschen widmen sich wieder ihren Alltagsproblemen. ErzählerUnd davon gibt es nicht wenige, denn der junge Staat steckt tief in einer Gründungskrise. Trotz Währungsreform kränkelt die Wirtschaft. Zwar ist der Schwarzmarkt kollabiert, die Läden sind voller Waren, doch die Löhne stagnieren und die Arbeitslosenzahl klettert auf über zwei Millionen. Zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene leben in Armut, sozialer Sprengstoff sammelt sich an. ErzählerinNoch im Sommer 1950 stellen die USA auf Kriegswirtschaft um. Die westliche Führungsmacht fährt die Rüstungsproduktion hoch und ist zur Versorgung der Koreatruppen sogar gezwungen, im Ausland einzukaufen. Das ist die Stunde der westdeutschen Nachkriegswirtschaft. Bislang humpelte sie mehr schlecht als recht auf einem Bein, der Binnenkonjunktur. Jetzt darf sie in die Bresche springen und den Weltmarkt versorgen. Auf amerikanischen Druck heben die Siegermächte sogar die nach 1945 erlassenen Produktionsbeschränkungen für die Schwerindustrie auf. ErzählerZwar verursachte der Bombenkrieg immense Schäden in zahlreichen deutschen Städten, doch nur ein Viertel der Industriekapazität ist zerstört. Trotz einiger Demontagen sind ausreichend Produktionsstätten vorhanden, es gibt qualifiziertes Personal und mit mehr als zehn Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen ein riesiges Arbeitskräftereservoir. Milde als „Mitläufer“ entnazifiziert oder gar als „entlastet“ eingestuft, besetzen viele alte Manager erneut die Chefetagen. Thomas Schlemmer: Zuspielung Schlemmer 2Und was haben sie anzubieten? Stahl haben sie anzubieten, Maschinen haben sie anzubieten und Kraftfahrzeuge haben sie anzubieten. Vor allem zivile Kraftfahrzeuge haben sie anzubieten, die dann stärker nachgefragt werden, nachdem eben amerikanische Kraftfahrzeugfirmen jetzt Militärfahrzeuge herstellen. Und chemische Industrieprodukte, Kohlechemie, Petrochemie. Und diese vier Warengruppen – Stahl, Kraftfahrzeuge, Maschinen und Produkte der chemischen Industrie, die stützen die erste Phase des deutschen Exportwunders. MUSIK ErzählerinMehr und mehr kommt die Außenwirtschaft in Schwung. Was immer die Welt benötigt, Made in Germany liefert. Während Korea in Gewalt und Blut versinkt, verdoppeln sich im Zeitraum Juni 1950 bis Juni 1951 die Ausfuhren. Der Koreaboom übertrifft die kühnsten Erwartungen. Es sind nicht nur altbekannte Konzerne wie BASF, Siemens oder AEG, die die Hochkonjunktur beflügeln. Auch Mittelständler fassen international Fuß. Diese Industrieunternehmen ziehen andere Branchen mit nach oben. Zehn Jahre lang glänzt die Wirtschaft mit einem Wachstum von rund 8 Prozent jährlich. Bereits 1952 wird die Bundesrepublik Mitglied beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Sie spielt nun in der ersten Liga, ist kreditwürdig. ErzählerDie 50er Jahre sind die Zeit der Traumkarrieren. Adolf Dassler, schon im „Dritten Reich“ Sportschuhersteller, packt wieder an. Die deutsche Fußballnationalmannschaft, die 1954 das „Wunder von Bern“ vollbringt, trägt seine Schuhe mit den drei Streifen. Heute ist Adidas eine Weltmarke. Max Grundig, der 1930 sein erstes Radiogeschäft eröffnet, wird führender Rundfunkgeräteproduzent Europas, 1953 produziert er fast 40.000 Radios. Gustav Schickedanz baut eines der größten Versandhäuser der Welt auf, sein berühmter Quellekatalog erscheint erstmals 1954. Heinz-Horst Deichmann, als junger Soldat an der Ostfront schwer verwundet, studiert von 1946 bis 1952 Theologie und Medizin. Ab1956 leitet er das Familienunternehmen und macht sich einen Namen als größter Schuheinzelhändler Europas. Reinhold Würth übernimmt 1954 im Alter von 19 Jahren den Schraubenladen seines verstorbenen Vaters und zeigt, dass er den Dreh raus hat. Er schafft ein Schrauben- und Dübelimperium, betreibt Hotels und Spitzenrestaurants und baut eine Kunstsammlung mit 18.000 Werken zusammen. MUSIK ErzählerinDer Aufschwung macht die Westdeutschen wohlhabend, die Nachfrage nach Konsumgütern wächst. Bald fehlen den Betrieben Arbeitskräfte, DDR-Flüchtlinge, Übersiedler und ab 1955 erste Gastarbeiter füllen die Lücke. Das individuelle Realeinkommen verdoppelt sich bis 1960, bis 1973 verdreifacht es sich. Man kann sich wieder etwas leisten: Radio, Kühlschrank, Fernseher, VW-Käfer, Italienurlaub. ErzählerVor allem aber kann die Regierung Adenauer eine großzügige Sozialpolitik betreiben. Sie verschafft Flüchtlingen und Vertriebenen Grund und Boden, entschädigt sie für ihre Verluste, versorgt Kriegswitwen und -waisen, bringt eine Rentenreform auf den Weg und vergisst auch Opfer des Nationalsozialismus nicht. Die sozialpolitischen Maßnahmen sorgen für Ausgleich und tragen dazu bei, dass sich die Masse der Deutschen von Hitlers Führerstaat abkoppelt und die Demokratie annimmt. Die nationalsozialistische Tätergemeinde geht währenddessen spurlos in der Nachkriegsgesellschaft auf. Zuspielung Schlemmer 3Diese Verteilungsspielräume, die werden eben durch des geschaffen, was man gemeinhin das Wirtschaftswunder nennt, und ein Katalysator dieses Wirtschaftswunders ist eben der Koreakrieg, weil er der westdeutschen Industrie neue Expansionsmöglichkeiten eröffnet. Die Gießkanne war sehr gut gefüllt und es werden schon spezifische Gruppen besonders bedacht: Das sind eben die Alten und das sind die Opfer des Krieges. Und da entsteht auch eine Art von Zusammengehörigkeit und von Gemeinschaft, die bestimmte politische Gräben hinwegreicht. MUSIK ErzählerinIm Oktober 1954 gehen Konrad Adenauers Bewaffnungswünsche endlich in Erfüllung: Westdeutschland wird Gründungsmitglied des Verteidigungspaktes Westeuropäische Union und tritt der NATO bei. Die Pariser Verträge beenden auch die Besatzungszeit und geben der Bundesrepublik die staatliche Souveränität zurück. Pazifistische Gruppen wie die „Ohne-mich-Bewegung“ protestieren vergeblich gegen die Militarisierung. Der Bundestag stimmt dem Vertragswerk gegen alle Bedenken im Februar 1955 zu. ErzählerNun gilt es, die Bundeswehr aufzubauen und für Bewaffnung und Ausstattung zu sorgen. Ein Bundesland steht dabei buchstäblich Gewehr bei Fuß: Bayern. ErzählerinBayern steckt zu Beginn der 1950er Jahre mitten im Wiederaufbau. Viele Städte sind noch von verheerenden Kriegsschäden gezeichnet. Würzburg und Donauwörth haben besonders unter den Bombenangriffen gelitten: Drei Viertel der Gebäude liegen in Schutt und Asche. Nürnberg ist zur Hälfte, München zu einem Drittel zerstört. Zwei Millionen Vertriebene müssen versorgt werden. Noch immer lebt ein Drittel der Bewohner Bayerns von der Landwirtschaft. Die Gewerbe- und Industriebetriebe, die schon vor dem Krieg hier ansässig waren, kommen aber langsam wieder in Fahrt. ErzählerDoch in Bayern schlummert noch ungenutztes ökonomisches Potential. Brachliegende Relikte der NS-Kriegswirtschaft, ihre Produktionsanlagen und Experten warten auf ein Comeback. Zuspielung Schlemmer 4Bayern ist lange der so genannte Luftschutzkeller des Reiches, das heißt, der strategische Bombenkrieg reicht über eine bestimmte Linie nicht hinaus. Und deswegen ist Bayern lange Zeit vergleichsweise sicher vor Bombenangriffen. Viele Industriebetriebe werden entweder nach Bayern verlagert oder in Bayern neu aufgebaut. Und des trifft vor allem zukunftsfähige Industrien im Bereich des Kraftfahrzeugbaus und im Bereich der optischen Industrie, im Bereich der chemischen Industrie und im Bereich des Flugzeugbaus. Und aller Demontagen und Zerstörungen zum Trotz sind da viele Kerne nach wie vor vorhanden und lassen sich aktivieren. ErzählerinZudem verlassen bedeutende Unternehmen wegen des Kalten Kriegs die „Frontstadt“ Berlin, andere wandern im Streit mit dem SED-Regime aus Mitteldeutschland in den Süden ab. Siemens verlegt seine Konzernzentrale nach München, BMW gibt den Standort Eisenach auf und produziert Autos in Bayern. Die sächsische Auto Union schlägt in Ingolstadt Wurzeln. ErzählerDer Umbau der bayerischen Wirtschaft braucht Zeit, das „Wirtschaftswunder“ setzt daher erst mit Verspätung ein. Aber eine andere Folge des Koreakriegs, die Wiederbewaffnung, ist purer Kraftdünger für eine ökonomische Sondersparte: Rüstung und Wehrtechnik. Schon der Bundesgrenzschutz braucht Standorte, Dienststellen, Fahrzeuge und Bekleidung, dann in weit größerem Ausmaß die Bundeswehr. Das bringt großen Unternehmen und kleinen Betrieben Aufträge und schafft Arbeitsplätze. ErzählerinIn Teilen des Freistaats, vor allem im Süden, ist die Rüstungsinfrastruktur aus der NS-Zeit noch intakt. Alles was sie braucht, ist eine kleine Aufbauspritze. Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte: Zuspielung Schlemmer 5Des is eine Mischung aus dem, was schon da ist, beispielsweise Oberpfaffenhofen, das ist ein Luftfahrterprobungszentrum von Hitlers Luftwaffe schon, Messerschmitt in Augsburg und in Regensburg, BMW in München, BMW kennt man heute hauptsächlich eben aufgrund seiner Kraftfahrzeuge, is aber der führende mit Daimler Benz zusammen Flugzeugmotorenhersteller der Luftwaffe; aus dem dann MTU auch hervorgeht, die ja bis heute in dieser Sparte aktiv sind. Hat a so a bissel verkehrsstrategische Gründe auch – die Autobahn nach Berlin, die Donau als Wasserstraße, das spielt für Ingolstadt ne gewisse Rolle, Nürnberg immer schon ein Standort der elektrotechnischen Industrie gewesen, die ja auch wehrmäßig wichtig ist, optische Industrie in München – Rodenstock – spielt da eine ganz große Rolle. Also das sind ja keine neuen Firmen, die man dann hier hochzieht, sondern das ist die Entwicklung des Bestandes, der sich hier tatsächlich vor 1945 auch schon hier im südbayerischen Raum konzentriert hat mit einigen Ablegern eben auch in Nürnberg und Fürth. ErzählerinVor allem ein Politiker treibt die Entwicklung unermüdlich voran: Franz Josef Strauß, zunächst Atomminister, dann von 1956 bis 1962 Bundesverteidigungsminister. Zuspielung Schlemmer 6Franz Josef Strauß setzt bewusst auf die Förderung der heimischen Rüstungsindustrie, weil er sich davon struktur- und rüstungspolitische Effekte erhofft. ErzählerinStrauß will sich nicht nur auf die Schutzmacht USA verlassen. Er setzt auf eine eigenständige europäische Rüstungs- und Verteidigungspolitik, von der deutsche Unternehmen profitieren sollen. In erster Linie aber will Strauß, dass seine bayerische Heimat ein großes Stück vom Kuchen abbekommt. Seine Standortpolitik reicht vom Kasernenbau in strukturschwachen Gebieten bis zum Flugzeugkauf bei bayerischen Firmen. Mit lukrativen Aufträgen greift das Bonner Verteidigungsministerium auch kriselnden Unternehmen unter die Arme. Zuspielung Schlemmer 7Einen erhält beispielsweise die Auto Union, später Audi. Der erste Kübelwagen, der Munga, stammt aus Ingolstädter Produktion. Es ist ein ganz wichtiges Zwischenprodukt, der die Firma in einer schwierigen Zeit am Leben hält. ZitatorFranz Josef Strauß, heißt es anerkennend in Bonn und München, kümmert sich um alles – vom Atomsprengkopf bis zum Uniformknopf. MUSIK ErzählerDer Koreakrieg endet 1953. Er fordert drei bis vier Millionen Tote, darunter knapp 40.000 Amerikaner und 400.000 Chinesen. Bei uns ist er heute fast vergessen, doch er hat wichtige wirtschaftliche und politische Entwicklungen angeschoben. Er hat den Westdeutschen ein unerwartet rasches „Wirtschaftswunder“ beschert und der Bundesrepublik geholfen, nach der totalen Niederlage 1945 als souveräner Staat in den Kreis der Völkerfamilie zurückzukehren. Aber er hat auch die Gräben zwischen Ost und West vertieft und die deutsche Teilung verfestigt – bis hin zum Mauerbau 1961, dessen Folgen wir heute noch spüren. Zuspielung Schlemmer 8Ich würd sagen, der Koreakrieg ist ein wichtiger Katalysator. Er beschleunigt etwas. Und er beschleunigt vor allem die drei großen W, die diese 50er Jahre ausmachen: Er beschleunigt den Wiederaufbau, er beschleunigt das Wirtschaftswunder und er beschleunigt die Westintegration. Und ein viertes W könnte man noch nennen, subsummierend unter die Westintegration, die Wiederbewaffnung. Diese vier Punkte werden alle schneller durch den Koreakrieg.
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Jul 4, 2025 • 23min

WESTDEUTSCHLAND NACH 1945 - Mythos Trümmerfrauen

Nach dem Zweiten Weltkrieg kümmerten sich vor allem professionelle Baufirmen um die Beseitigung der Trümmer, mit Hilfe tüchtiger Frauen. Aber nicht sie, sondern die "Trümmerfrauen" wurden zum Mythos. Von Marita Krauss (BR 2021)Credits Autorin: Marita Krauss Regie: Martin Trauner Technik: Siglinde Hermann Es sprachen: Katja Amberger, Detlef Kügow, Christiane Blumhoff, Jerzy May Redaktion: Nicole Ruchlak    Im Interview: Else Rau Linktipps ARD Archivradio (2025): Reportage über Trümmerfrauen in Berlin vDas Bild der fröhlich anpackenden Trümmerfau prägt bis heute unsere Wahrnehmung vom Wiederaufbau der zerbombten deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon während des Krieges hatte Goebbels Propagandaministerium Schauspielerinnen in den Trümmern fotografieren lassen, um nach alliierten Luftangriffen Zuversicht in der Bevölkerung zu verbreiten. Nach dem Krieg prägen wieder Frauen die Aufräumarbeiten, vor allem auch, weil viele Männer umgekommen oder in Kriegsgefangenschaft sind. Sie machen aber im Gegensatz zur Nazi-Propaganda keinen Hehl daraus, wie hart diese Arbeit ist. Gut zu hören hier im Beitrag aus Berlin vom 21. Juni 1947. JETZT ANHÖREN ZDF (2022): Ein Tag in Dresden 1946 Elli Göbel ist eine von über 500 Trümmerfrauen, die helfen, die zerbombte Stadt wieder aufzubauen. Die fiktive Biografie zeigt Schicksal und Lebenswirklichkeit. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ERZÄHLERINSie holen mit bloßen Händen Steine aus den Trümmern, klopfen Mörtel von Ziegelsteinen, schichten Ziegelhaufen auf, schieben schwere, mit Trümmerschutt gefüllte Loren – Frauen, und zwar nur Frauen erscheinen auf Fotos der unmittelbaren Nachkriegszeit als die Heldinnen des Neuanfangs. MUSIK ERZÄHLERSolche Fotos der Jahre 1945 und 46 sprechen Bände. Die deutschen Frauen, so suggerieren sie, packen an, sie beseitigen den Schutt, den der Krieg der Männer hinterlassen hat, sie ziehen den Karren aus dem Dreck. Die Frauen waren diejenigen, heißt es, die ganz allein und ohne professionelle Hilfe den Schutt wegräumten. ZITATORINDie Trümmerfrauen sind zum Symbol für den Aufbauwillen und die Überlebenskraft der Deutschen in der Nachkriegszeit geworden. Ohne ihre Schwerstarbeit wären die deutschen Städte lange Zeit Schutthalden geblieben, ohne ihre unermüdliche Tätigkeit das Überleben der Familien nicht gesichert gewesen. ERZÄHLERSo steht es auf der Internetplattform des Deutschen Historischen Museum Berlin. Über die Trümmerfrauen, so scheint es, gibt es wenig Dissens, sie gehören mittlerweile zum offiziellen Geschichtsbild. Von „Trümmermännern“ wird selten gesprochen. Es ist auch nicht von den Baufirmen die Rede, die Abriss und Wiederaufbau mit Hilfe professioneller, meist männlicher Bauarbeiter bewältigten. Unerwähnt bleiben ebenso die alliierten Besatzer, die mit schwerem Gerät, logistischer Unterstützung, Manpower und Unmengen von Material halfen. Nein, es waren die deutschen Frauen. ERZÄHLERINAber wer die Bilder der Ruinenstädte kennt, weiß, dass das nicht ausgereicht haben kann: Mehrstöckige Häuser mussten eingerissen werden, meterhohe Mauern waren zu stützen oder zu sprengen, enorme Schuttberge von Straßen und Plätzen zu räumen. Alles durch die deutschen Hausfrauen mit bloßen Händen? ERZÄHLERGrund genug also zu fragen: Gab es denn diese Trümmerfrauen überhaupt, die – zur Arbeit für geringen Stundenlohn dienstverpflichtet – öffentliche Straßen und Plätze von Trümmern und Schutt befreiten, diesen auf Loren luden und abtransportierten, alles im Dienste der Gemeinschaft? Eine Bestandaufnahme. MUSIK ERZÄHLERINBei Kriegsende 1945 bestand die Bevölkerung in Deutschland überwiegend aus Frauen, Kindern und alten Menschen. Die Männer, die den Krieg überlebt hatten, kamen oft erst nach Jahren zurück. Die Frauen wurden daher notgedrungen zu Heldinnen des Alltags: Mit Improvisation, Hamstern, Geschick und Schwarzmarktkäufen hielten sie ihre Familien über Wasser. ERZÄHLERDer Zeitzeuge Christian Hallig beschreibt den Alltag dieser Frauen der Trümmerzeit in den letzten Kriegsjahren und nach Kriegsende: ZITATORHetzen nach Lebensmitteln auf Karten, stundenlanges Anstehen, um die mageren Rationen zu ergattern. Die Kinder versorgen. Tätig als Krankenschwester, als Wehrmachtshelferinnen, an den Flakbatterien oder in den Fabriken beim Granatendrehen. Und als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen. Zu Hause immer die Feuerpatsche und den Eimer mit Wasser bereit, wenn die Bomben wieder einmal die Wohnung durchgeblasen haben. Krieg aus. Nun erst recht ran. Denn die Männer sind gefallen, vermisst oder noch in Gefangenschaft. … Stets ist der Tag zu kurz, er müsste zehn Stunden mehr haben, um das zu schaffen und zu organisieren, was das Überleben ermöglicht. ERZÄHLERINAus Hunger wurde bei Kriegsende auch geplündert. Die Münchnerin Else Rau, Jahrgang 1910, berichtete im Gespräch mit der Autorin Carlamaria Heim von der großen Plünderung der Wehrmachtsbestände im Münchner Bürgerbräukeller unmittelbar vor dem Einmarsch der Amerikaner am 30. April 1945. Die hungrigen Frauen und Männer schleppten heim, was sie tragen konnten. Else Rau war mit ihrer Mutter zusammen aufgebrochen, um auch etwas zu erwischen und kam mit einer schweren Kiste wieder aus dem Lagerkeller nach oben: O-TON Else RauKomm i rauf – Nacht. Na war neba mir a Frau, na hat’s g‘sagt: ‚Hab‘m Sie wos dawischt?‘ ‚Ja‘, hob i gsagt, ‚aber glaub’n‘s, i glaub i muas lieg‘n lass‘n, i kann‘s nimmer hoamtrag’n. Und mei Mama had ma an der Stimm erkannt. ‚Els, Els,‘ hat’s g’sagt, ‚kumm her!‘ Na hamma de Kistn aufn Schlittn nauf und hamma’s hoamg’fahr’n. Na samma hoam. Na hamma de Kistn aufg‘stemmt. Dann war‘n da Fleischdos‘n drina. I konn Eahna sag’n: Also mei Mamma hat direkt zerst a Gsetzl g‘woant vor lauta Freid, glaub‘m‘s des? Also i hab‘s gar net fass‘n kenna. Und mir hab‘m an Kater doch g‘habt, gell, der hat doch a so an Kohldampf g‘habt. De erste Dos‘n de ma aufgmacht hab‘m, den ersten Bissen hat d’Katz kriagt. ERZÄHLERINEinen Tag später ergatterten die Münchenerinnen und Münchner auch noch Wein. Else Rau: O-TON Else RauMir san nüber. Dawei san die Leut bis zu de Wadl im Wein gewatet. Wissen‘s, des war die – i versteh’s vielleicht scho – die Gier, und an Hahn, an Zapfhahn ham‘s net g’habt, da ham’s de Spund eintret’n, da ist der Wein rausg’laufa. Na hat d‘Mama zwoa Putzkiebi voll Wein und an Suppenhafa a voll a no hoamg‘schleppt, gell, oiso na hamma a no an Wein g‘habt, Da drin san lauter so kloane Garterln gwesen. Und de oiden Leit – mei, de jungan, de warn ja meistens gar net da - und de hab‘m nachat a eanan Wein g‘habt und hab‘m dann g‘sunga und war‘n fröhlich, gell – wissen S‘, des war – de hab‘m so richtig an, i mecht fast sag‘n, ned as Kriegsende, sondern mehr oder wenicher an Sieg g’feiert – mecht i fast sag‘n. Des war für uns boid a Sieg. Weil ma was z‘Essn g‘habt ham. MUSIK ERZÄHLERDer Krieg war zu Ende, doch nun standen die Deutschen vor der gigantischen Aufgabe, die Trümmer zu beseitigen. Antonie Rasch aus Haunstetten bei Augsburg in einem Interview: ZITATORIN Ein schauerliches Bild bot sich uns, als wir wieder in unsere Straße kamen. Unser Haus war schwer von Brandbomben getroffen. Nur noch die Grundmauern standen, außerdem noch die beiden Kamine und die fielen nach einem schweren Gewitter in sich zusammen. Das Haus war völlig unbewohnbar. … Dem Wiederaufbau des Elternhauses galt unser ganzer Ehrgeiz. Als mein Bruder am 22. Juli 1945 aus der amerikanischen Gefangenschaft nach Augsburg kam, haben wir beide sofort beschlossen: „So, jetzt bauen wir das Haus wieder auf.“… Zuerst mussten wir Unmassen von Schutt aus dem Trümmerhaufen räumen…. Meine Aufgabe war es, die noch brauchbaren Ziegelsteine mit einem Hammer vom Mörtel zu befreien. Die Steine mussten picobello sauber sein, sonst hielt der neue Mörtel nicht an den Ziegeln und die ganze Arbeit war umsonst. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich Steine klopfte, in meiner Erinnerung kommt mir die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Es war eine Sträflingsarbeit. Ich weiß noch gut, einmal habe ich mit einem Helfer um die Wette gehämmert. Wir schafften 300 Steine an einem Tag, das war unser absoluter Rekord. Die harte Arbeit machte mir damals nichts aus, ich hatte mein Pflichtjahr auf dem Land in Waal bei Buchloe absolviert und konnte zupacken wie ein Mann. ERZÄHLERElisabeth Widmann, 1945 Mutter einer dreijährigen Tochter, ebenfalls aus Haunstetten: ZITATORINMit dem Aufbau ging es nur zögerlich voran. Mein Mann hatte gleich eine Stelle als Maurer wieder angenommen. Wir brauchten ja Geld. Und Arbeit für Maurer gab es in jener Zeit genug. Er konnte also nur in seiner knappen Freizeit an dem Haus arbeiten. Ich kümmerte mich damals in erster Linie um unsere Tochter und die Versorgung der Familie. Die schwere Arbeit auf dem Bau konnte ich ja nicht verrichten. Steine klopfen und Nägel gerade biegen gehörte jedoch zu meinen Aufgaben. Auch rührte ich schon mal den Mörtel an, bis mein Mann von der Arbeit heim kam, so dass er gleich loslegen konnte. MUSIK ERZÄHLERINFrauen, die in den Trümmern arbeiteten, die für den privaten Wiederaufbau Steine klopften, die als „Trümmerspechte“ aus den Trümmern Brennholz zogen, solche Frauen gab es also viele. Doch immer arbeiteten Frauen und Männer gemeinsam in den Ruinen der Städte. Was aber war mit der "deutschen Trümmerfrau", die ganz allein die Städte von den Trümmern beseitigte? Wie ist dieser Mythos entstanden? ERZÄHLERBereits in der NS-Zeit wurden Trümmerfrauen-Fotos inszeniert. Es sind NS-Propagandabilder des Fotografen Hugo Schmidt-Luchs überliefert, der 1944 in Hamburg Schauspielerinnen zu einem „Trümmerfrauen-Fotoshooting“ zusammengeholt hatte. Sie stehen bei strahlendem Sonnenschein hübsch, jung und lachend, mit Röcken, ungeeignetem Schuhwerk und natürlich ohne Handschuhe auf Ziegelhaufen und geben sich in der Kette Ziegelsteine weiter. „Gemeinsam sind die Schwachen stark“, signalisieren diese Bilder. Ob die Fotos noch im Rahmen der NS-Propaganda Verwendung fanden, ist nicht bekannt. Sie sind jedenfalls der Prototyp der Trümmerfrauen-Fotos, wie sie noch heute in Schulbüchern zu finden sind. MUSIK ERZÄHLERINTrümmerfrauen – oder vielmehr das, was man dafür hielt – blieben auch nach Kriegsende ein Motiv für Fotografen. Doch die fotografierten Frauen waren oft nicht, was man sich heute vorstellt. Dies beweist ein Foto, dessen Geschichte sich nachverfolgen lässt: Lachende junge Frauen mit den charakteristischen Kopftüchern stehen auf einem schmalen Sims, von dem aus es scheinbar tief nach unten geht. Sie reichen sich Steine weiter. Dieses Bild findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen im Internet, unter anderem als „Trümmerfrauen in Würzburg, 1945“. Auch in einem bayerischen Schulbuch ist es abgebildet, zusammen mit Fotos zu deutschen Soldaten auf dem Weg in die Kriegsgefangenschaft, Kindern, die in Ruinen spielen, und einem Bild mit Menschen, die auf dem Trittbrett eines überfüllten Zuges mitfahren. Dort wird es bezeichnet als „Trümmerfrauen in München“. ERZÄHLERWas zeigt das Bild nun wirklich? In der Originalbeschriftung der Kontaktabzüge steht: „Pg-Frauen arbeiten am Färbergraben“. Es handelt sich also um einen Schutträum-Einsatz ehemaliger NS-Parteigenossinnen, die wegen ihrer Mitgliedschaft in der Partei nach Kriegsende zu gemeinnütziger Arbeit beim Schutträumen verurteilt worden waren. Auch diese Frauen arbeiteten übrigens zusammen mit Männern, wie sich an einem weiteren Foto dieser Räumaktion zeigen lässt. Doch der Fotograf hatte für das Foto alle Frauen zusammengeholt und das Bild später dann auch noch so beschnitten, dass ein Loch in der Straße wie ein dramatischer Abgrund wirkte. „Trümmerfrauen“ bei der Arbeit erschienen ihm attraktiv. ERZÄHLERINVerpflichtende Räumaktionen waren nichts Neues. Bereits während der NS Zeit wurden Frauen, Schülerinnen und Schüler oder Angestellte von Betrieben im Rahmen des so genannten „Ehrendienstes“ am Wochenende zur freiwilligen Trümmerräumung aufgerufen. Dieser typische NS-Begriff „Ehrendienst“ taucht wieder Anfang 1946 in Würzburg auf: ERZÄHLERFrauen und Männer wurden unter dieser Bezeichnung dazu verpflichtet, eine bestimmte Zahl von Tagen Trümmer zu räumen. Auch in anderen Städten, so in Kassel, musste jede Frau acht Tage im Jahr Trümmer räumen. In West-Berlin wurden ab Juni 1945 Frauen wie Männer als „Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen im Baugewerbe“ dienstverpflichtet. Sie verdienten 60 oder 70 Pfennige pro Stunde und erhielten bei der Lebensmittelzuteilung Schwerarbeiterzulagen. In Berlin arbeiteten im Juli 1946 rund 41.000 weibliche und etwa 37.000 männliche Hilfskräfte bei der Trümmerräumung mit. Solche Dienstverpflichtungen sind der historische Boden, auf dem die Erzählung von den Trümmerfrauen entstand. ERZÄHLERINDoch ebenso real sind die amerikanischen Besatzer, die in allen zerstörten Städten von Anfang an mit schwerem Gerät, mit Lastwagen und Personal halfen: Denn es bestand ein hohes Risiko, dass Menschen ums Leben kamen, wenn Fassaden einstürzten. Mit Trümmerfrauenarbeit allein hätte man nirgends die öffentliche Sicherheit garantieren können. Schwerarbeiten leisteten dann auch deutsche und ungarische Kriegsgefangene oder internierte NS-Profiteure. In einem amerikanischen Wochenbericht für den Regierungsbezirk Schwaben vom November 1945 heißt es: ZITATORDie Reparaturarbeiten an der Reichsautobahn schreiten voran, wir beschäftigen dafür SS-Männer. Für den Bau von Lechbrücken wurden 60 Gefangene herangezogen. ERZÄHLERINEhemaligen Nationalsozialistinnen wurde mit dem Entzug der Lebensmittelzuteilung gedroht, sollten sie sich weigern, ein gewisses Pensum an Trümmerräumarbeiten zu leisten. MUSIK ERZÄHLERDas Bild der heldenhaften Trümmerfrau, die Deutschland mit bloßen Händen aufräumte, setzt sich also aus vielen Mosaiksteinen zusammen, zu denen die Dienstverpflichtung ebenso gehört wie die Inszenierung durch die Fotografen. Gespeist wurde es damals sicher auch von dem Wunsch nach einem Vorbild, nach Menschen, die anpacken, um einen Weg aus den Trümmern zu finden. ERZÄHLERDer Alltag der Frauen in den Jahren nach 1945 war auch ohne zusätzliche Schwerstarbeit anstrengend und zermürbend. Die eigentlichen Hungerjahre standen der Bevölkerung noch bevor: Die offiziellen täglichen Rationen sanken auf 1.500 bis 1.000 Kalorien. Ohne markenfreie Zusatzernährung ging es den Menschen schlecht. Es brach die Zeit der Ersatzprodukte an: Trockenmilch, Trockenei, als Ersatzkaffee den „Muckefuck“ aus Zichorien. Statt Essig nahm man Rhabarber- oder Berberitzensaft. Fleischpflanzerl wurden mit püriertem Salat von roten Rüben gestreckt. Und die Kochbücher des Jahres 1946 enthielten jede Menge Kartoffelrezepte. Eine Zeitzeugin: ZITATORINJeden Tag ging ich aus dem Haus, um irgendetwas Essbares für meine Familie zu suchen. Da stand plötzlich einmal ein Wagen mit Spinat, ein anderes Mal einer mit Blattsalat. Oder eine Bäckerei verkaufte etwas, das wie schwarzer Kuchen aussah und ein klein wenig süß schmeckte… Was Kartoffeln anbelangte, hatte ich mit dem Himmel einen Vertrag abgeschlossen: ‚Lieber Gott, wenn Du mir nicht hilfst, immer wieder Kartoffeln zu organisieren, lege ich mich ins Bett und rühre keinen Finger mehr!‘ Ich brauchte mich nicht ins Bett zu legen. Es geschahen Dinge, die Wunder ersetzten. ERZÄHLERDa es auch an allem anderen fehlte, musste die Hausfrau nicht nur beim Kochen improvisieren. Dunkle Sachen wusch man mit dem Sud von Efeublättern oder mit Ochsengalle, für helle Wäsche nahm man Kastanien oder Kartoffelschalen. Zum Einweichen für die große Wäsche empfahlen die Frauenzeitschriften „Der Silberstreifen“ oder „Der Regenbogen“ Holzaschenlauge. Und was man nicht mehr weiß bekam, konnte man auch färben. Um alte Kleidungsstücke neu erscheinen zu lassen, griff man notgedrungen ebenfalls auf die Natur zurück und färbte mit den Schalen Roter Rüben Textilien karminrot, mit Spinatbrühe hellgrün, mit Birkenlaub grüngelb, mit Sauerampfer maisgelb. Auch die Kosmetik war nun sehr naturnah: Regenwasser oder dünner Aufguss aus Lindenblüten- oder Kamillentee dienten als Gesichtswasser und die Haare wurden mit einer stark verdünnten Spirituslösung massiert, wenn sie zu sehr unter den „Wuckerln“ gelitten hatten, den Röllchen aus Papier oder Holz, auf die sie über Nacht aufgedreht wurden. MUSIK ERZÄHLERINKultur bot ebenfalls eine wichtige Möglichkeit, sich vom Alltag abzulenken; doch auch hier war der Hunger immer dabei. Else Rau erlebte im Münchner Prinzregententheater am 15. November 1945 die Operneröffnung mit Fidelio: O-TON Else RauIm Vorraum vom Prinzregententheater da hab‘n de Ami so a Art Küch‘ eingerichtet g’habt, gell, mit eahnerne Gulaschkanonen und wia ma da so im Theater g’sess‘n san, gell, mia ha’m, Guat‘l hamma koa g’habt, na hat a jede drei Erbs’n im Mund g’habt, wissen’s zum Zutzl’n, drum dass ma was im Mund g’habt hat. Auf oamoi kumma da Gerüche, Gerüche nach Gulasch. Zwiefin und feine Gewürze und Fleisch und Gulasch, Gulasch, Gulasch – i kon Eahna sag’n, des is immer intensiver wor’n, und ‘s Wasser is‘ uns im Mund z’amg’lauf’n, oiso i kon Eahna sag’n, wir san mim Schlucka nimmer nachkumma. Oiso es war phantastisch. Dabei hab‘n de nacha in der großen Pause g‘sehn, dass die herauß‘d eahnare Gulaschkanonen da in Tätigkeit g‘setzt ham und ham da ‘kocht. Meine Güte, oiso des war unbeschreiblich, was ma da für a Gier kriagt hat. Also Fidelio und Gulasch, is für mich ein Begriff! ERZÄHLERDer Alltag der Frauen war Abenteuer genug und ein täglicher Kampf ums Überleben. Neben Essensbeschaffung, Haushalt, Kindererziehung und manchmal etwas Freizeit bestimmte Erwerbsarbeit ihr Leben. Da ganze Jahrgänge an jungen Männern durch den Krieg dezimiert worden waren, mussten viele Frauen damit rechnen, ledig zu bleiben. Umso wichtiger wurde die Arbeit für sie. Auf dem Land war das zunächst vor allem die Tätigkeit auf dem Bauernhof: So arbeiteten evakuierte Städter und Städterinnen, aber auch viele der Flüchtlinge aus den Sudetengebieten, aus Schlesien oder Ostpreußen für Unterbringung, magere Ernährung und geringen Lohn auf den Feldern und im Stall. In der Stadt wurden Frauen hingegen immer mehr in qualifizierten Berufen tätig. Waren bereits in den Zwanzigerjahren Berufe wie Büromädchen, Stenotypistin, Sekretärin, Telefonistin oder Laborantin üblich geworden und hatten die Arbeit als Dienstmädchen in der Hauswirtschaft abgelöst, so ging nun der Aufstieg der Frauen weiter. Ein Bericht des Münchner Wiederaufbaureferats für 1946 hält fest: ZITATORVon dem patriarchalischen Zustand, dass der Mann die Familie ernährt und die Frau das Hauswesen besorgt, hat sich die Großstadtfamilie schon lange entfernt. … 37,8% der Erwerbstätigen sind Frauen. … Allerdings verbirgt sich hinter dem überraschend hohen Anteil der Frauenarbeit eine weittragende soziale Umschichtung…Bei der letzten Zählung im Herbst 1946 waren im Angestellten- und Beamtenverhältnis schon mehr Frauen tätig als in Lohnarbeit. ERZÄHLERINFür die Frauen brachte also die Nachkriegszeit den Aufstieg in Berufe, die gerade nichts mit schwerer Handarbeit zu tun hatten. Doch schon seit den Fünfzigerjahren wurden „Trümmerfrauen“-Denkmäler errichtet, zunächst 1952 in Dresden und in Berlin. Noch ehrte man auch die Männer. So stehen vor dem Roten Rathaus in Berlin seit 1958 zwei Bronzestatuen, die „Aufbauhelferin“ und der „Aufbauhelfer“. Doch bald verengte sich der Fokus auf die Frauen: Ehrungen für die unbekannten Trümmerräumerinnen, die angeblich allein den Wiederaufbau bewältigt hatten, fanden immer wieder engagierte Streiterinnen und Streiter. In vielen deutschen Städten entstanden „Trümmerfrauen“-Denkmäler. ERZÄHLERZum Mythos der Trümmerfrau trug auch die neue Frauenbewegung der Siebzigerjahre bei, die auf die Suche nach den Frauen in der Geschichte ging und den eigenen Müttern ein Denkmal setzte – den starken Müttern der Nachkriegszeit, die in einer vaterlosen Gesellschaft die Kinder alleine großgezogen, für Essen und das alltägliche Überleben gesorgt hatten. Da diese Alltagsarbeit, tatsächlich das millionenfache Schicksal der Nachkriegsfrauen, nicht spektakulär genug schien, trat die „Trümmerfrau“ im engeren Sinne in den Mittelpunkt, die „wie ein Mann“ anpackte und mit schwerer Arbeit den Karren aus dem Dreck zog. MUSIK ERZÄHLERINIhr Mythos überlagert und verstellt in der Rückschau den Blick auf die Frauen der Trümmerzeit und damit auch auf das spezifisch weibliche Nachkriegsschicksal.
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Jul 4, 2025 • 23min

WESTDEUTSCHLAND NACH 1945 - Wie die Sieger sich zerstritten

Der Zweite Weltkrieg war kaum vorbei, NS-Deutschland und Japan hatten kapituliert, da erkannten die Westalliierten und die Sowjetunion, dass sie keinen Draht mehr zueinander fanden. Das Ergebnis war der Auftakt zum "Kalten Krieg". Von Rainer Volk (BR 2007) Credits Autor: Rainer Volk Regie: Rainer Volk Es sprachen: Krista Posch, Axel Wostry, Helmut Stange Redaktion: Brigitte Reimer   Im Interview: Prof. em. Dr. Rolf Steininger Besonderer Linktipp der Redaktion: SR: InterpretationssacheWas macht Über-Songs wie Let it Be, Nothing Else Matters, Skyfall oder Beethovens Mondscheinsonate so "über"? Das findet Roland Kunz in "Interpretationssache" raus. Er hört genau hin und erzählt die Geschichten dahinter. So wie beim berührenden Soundtrack von „Schindlers Liste“: Eine der besten Filmmusiken, die der große John Williams in seiner langen Karriere geschrieben hat. Roland erzählt, warum John Williams sich diesem Oscar-prämierten Film erst nicht gewachsen fühlte und was den Soundtrack von Schindlers Liste so außergewöhnlich macht. ZUM PODCAST Linktipps Radiowissen (2020): Potsdamer Abkommen – Eine Konferenz und ihre Folgen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg? Darüber berieten im Sommer 1945 die Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion in Potsdam. Die Konferenz stand im Zeichen wachsender Spannungen zwischen Ost und West. JETZT ANHÖREN ZDF (2020): Welt am Abgrund Ende der fünfziger Jahre beginnt das nukleare Spiel der Supermächte - die USA und die UdSSR stationieren Atomraketen in Europa. Und im geteilten Deutschland stehen sich die beiden Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt direkt gegenüber. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: O-Ton 1: Roosevelt – Jalta-Bericht Erzählerin: Es ist der 1.März 1945. In Washington bilanziert Präsident Roosevelt vor dem US Kongress die Konferenz von Jalta. Er spricht von einem erfolgreichen Kraftakt der drei Großmächte für den Frieden, sieht einseitiges Handeln, Einflusssphären und Machtgleichgewichts-Denken am Ende. Übersetzer„Als Ersatz schlagen wir eine Weltorganisation vor, der sich alle friedliebenden Nationen anschließen können. Ich bin sicher: der US-Kongress wird diesem Ergebnis als Anfang einer stabilen Friedens-Struktur zustimmen. Darauf können wir eine bessere Welt für unsere Kinder und Enkel – ihre und meine – aufbauen; eine Welt, auf der sie leben können und müssen. Das ist die eine Botschaft, die ich für Sie habe. Ich empfinde sie sehr tief – und ich weiß, es geht ihnen heute und in Zukunft ähnlich.“ Erzählerin: Wenige Wochen später sind diese Worte bereits veraltet. Nicht nur, weil Roosevelt am 12. April 1945 stirbt – also noch vor der deutschen Kapitulation -, sondern weil auch vom Weltfrieden kaum mehr die Rede ist. Wichtige interne Papiere der Siegermächte des Weltkriegs zeigen, dass schon bei der Konferenz von Jalta - im Nachhinein betrachtet –die Teilung der Welt in Ost und West beschlossen und der „Kalte Krieg“ eröffnet worden ist. Zu Beginn des Treffens, am 4.Februar 1945, ahnt das keiner der Anwesenden. Im Gegenteil: die Gesprächs-Atmosphäre auf der Halbinsel Krim ist freundlich. Stalin, später der Bösewicht schlechthin für den Westen, wird von einer Wochenschau als Sieger der Schlacht an der Oder gelobt: O-Ton 2: The distinguished man, on whose sturdy shoulders falls the responsibility of the government of Russia came to the conference with the enviable prestige of being the architect of the greatest land victory of the war.” O-Ton 3: (Lautsprecher/Leipzig) „Alle Personen in dieser Stadt werden unver¬züglich und vorbehaltlos alle Anordnungen und Befehle der Militärregierung …. Sabotage und Plündern sind verboten. Auf jedes dieser Verbrechen steht die Todesstrafe… Behalten Sie ihre Lebensmittelkarten… Im Freien darf man sich nur zwischen acht und zehn Uhr des Morgens… weitere Ankündigungen werden folgen.“ Erzählerin: Als die Alliierten sich den Deutschen im besiegten Land als neue Herren vorstellen – hier eine Lautsprecherdurchsage aus Leipzig – sind Euphorie und gegenseitiges Wohlwollen der Sieger jedoch schon verflogen ATMO Erzählerin: So schreibt der britische Premierminister Winston Churchill dem neuen US-Präsidenten Truman am 12.Mai ’45 per Telegraph einen langen, sorgenvollen Brief über die Strategie der Sowjetunion: Zitator 2: „Ich habe mich stets um die Freundschaft der Russen bemüht; aber ihre falsche Auslegung der Jalta-Beschlüsse, ihre Haltung gegen Polen, ihr überwältigender Einfluss auf dem Balkan, …die Verkoppelung ihrer Macht mit der Besetzung und Kontrolle so ungeheurer und weiter Gebiete… beunruhigen mich ebenso sehr wie Sie. Wie wird sich die Lage in ein bis zwei Jahren darstellen, wenn die britischen und amerikanischen Armeen nicht mehr existieren und die Franzosen noch keine beachtliche Armee aufgestellt haben…?! Erzählerin: Zwar ist Churchill bald ohne Amt, denn seine Konservative Partei verliert Ende Juli 1945 bei Unterhauswahlen die Mehrheit; doch der Nachfolger Attlee und der neue Außenminister Bevin teilen seine Meinung. Der Innsbrucker Zeithistoriker, Professor Rolf Steininger, einer der besten Kenner der Zeit des „Kalten Krieges“, sagt resümierend: O-Ton 5: Steininger – GB/45: „Wir haben in London eine Entwicklung, die schon seit dem Frühjahr 45 – man kann sogar noch weiter zurück gehen, aber Frühjahr 45 von tiefem Misstrauen gegenüber der sowjetischen Politik getragen ist – von der sogenannten „russischen Gefahr.“ Erzählerin: Bei der Potsdamer Konferenz von Juli bis Anfang August 1945 bestätigen die Weltkriegs-Alliierten zwar die Jalta-Vereinbarung, Deutschland aufzuteilen in Besatzungszonen und einen Kontrollrat für gesamtdeutsche Fragen einzusetzen. Auch werden die Bedingungen für die Kapitulation Japans und die so genannte „Oder-Neisse-Linie“ als künftige Westgrenze Polens diskutiert. Doch Truman ist nicht Roosevelt. Der Neuling im Weißen Haus, bisher mit Weltpolitik wenig befasst, hat sich rasch eingearbeitet. Rolf Steininger hält den Sohn eines einfachen Farmers aus Missouri keineswegs für ‚überfordert’ mit der Materie: O-Ton 6: (Steininger – Truman) Truman ist massiv unterschätzt worden. Truman ist so „down to earth“ – ein Mann der praktischen Politik. Er ist auch jener, der zum ersten Mal Molotov sagt: Haltet Eure Verträge ein – dann wir auch. Und er ist auch schon von einem tiefen Misstrauen getragen.“ Erzählerin: Diese Haltung Trumans bildet sich im Laufe des Jahres 1945 allmählich heraus. Bezeichnend ist, wie er bereits in Potsdam gegenüber Stalin ein Weltereignis quasi ‚im Nebensatz’ ankündigt: den Abwurf der ersten Atombombe. O-Ton 7: (BBC-Hiroshima) „Scientists, British and American have made the Atomic Bomb at last. The first one was dropped on a Japanese city early this morning. It was…… Erzählerin: Zwei Tage nachdem die britische BBC – wie alle anderen Radiosender der Welt auch – den Abwurf von Hiroshima meldet, greifen Sowjettruppen am 8.August auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ein. Briten und Amerikaner sehen die schnellen Erfolge als Beweis für die Schlagkraft Moskaus. Das vergrößert den Argwohn gegenüber Stalin. Prompt lehnt Truman eine sowjetische Beteiligung an der Besetzung der japanischen Insel Hokkaido ab; umgekehrt verweigert Stalin den USA den Wunsch, auf der Insel-Gruppe der Kurilen einen Stützpunkt zu errichten: Zitator 1: „Wünsche dieser Art werden normalerweise entweder einem besetzten Land vorgelegt oder einem alliierten Land, das unfähig ist, einen bestimmten Teil seines Landes selbst zu verteidigen… Ich glaube nicht, dass die Sowjetunion in eine dieser beiden Kategorien eingereiht werden kann.“ Erzählerin: In Europa schnürt sich das Problemknäuel im Herbst und Winter 1945-46 weiter zu: Vor allem verschlechtert sich überall die Ernährungslage: in Frankreich, Italien, Großbritannien, aber auch in Deutschland sind Lebensmittel knapp. Dazu kommt: das glorreiche Großbritannien ist praktisch pleite. Der berühmte Welt-Ökonom John Maynard Keynes, damals Berater der Londoner Regierung, nennt angesichts der Lage drei Bedingungen, um die Situation zu stabilisieren: Zitator 2: „Diese Bedingungen sind a) eine intensive Konzentration auf Ausweitung der Exporte, b) drastische und unmittelbare Einsparungen unserer Überseeausgaben und c) substantielle Hilfe von den Vereinigten Staaten unter Bedingungen, die wir akzeptieren können.“ Erzählerin: Die Verhandlungen mit den Amerikanern sind zwar erfolgreich; Großbritannien wird der Großteil seiner Schulden aus dem Pachtleih-Gesetz, das im Krieg zum Einkauf von Kriegsgütern diente, erlassen. Darüber hinaus kann der Schatzkanzler ein Darlehen zu niedrigen Zinsen aufnehmen. Aber: London kann diese 3,75 Milliarden Dollar nicht wie gewünscht einsetzen. Daran sind die Sowjets Schuld: Der Innsbrucker Zeithistoriker Professor Rolf Steininger: O-Ton 8: (Steininger – Geld/GB) „Die Briten waren in einer schwierigen Situation. Die Sowjetunion hat sich nicht an die Viermächte-Vereinbarung gehalten, sie hat nicht Lebensmittel in die Westzonen geschickt. In London standen die Hausfrauen Schlange vor den Brotläden – das war noch nicht einmal im Krieg vorgekommen. Das große Darlehen aus den USA, was die Briten für sich eigentlich nutzen wollten, müssen sie nun nehmen, um die Deutschen in ihrer Zone durchzufüttern – die Millionen mehr sind als geplant.“ Erzählerin: Kurz: das Bild ist düster – und es besteht wenig Aussicht auf Aufhellung. Während britische und amerikanische Diplomaten lange Denkschriften an ihre Regierungen schicken, deren Warnungen vor der Sowjetunion auf ein unterschiedliches Echo stoßen, wendet sich Winston Churchill an die Weltöffentlichkeit. Am Ende des ersten Nachkriegswinters, genauer: am 5.März 1946, hält er an der Universität von Missouri in Fulton einen Vortrag über die Lage in Europa und schildert dem Publikum ungeschminkt die Tatsachen, wie er sie sieht: O-Ton 9: (Churchill – Iron Curtain) „From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic… lay all the capitals of the ancient Europe… lie in what I must call the Soviet sphere.“ Übersetzer (Zitator 2): „Von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria ist ein Eiserner Vorhang über Europa herabgelassen worden. Hinter dieser Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten von Zentral- und Osteuropa. Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia: Alle diese berühmten Städte, und auch die Bevölkerung um diesen Städten liegen in einer Sphäre, die ich Sowjetische Sphäre nennen muss.“ Erzählerin: Heute weiß man: die Ansprache ist genau berechnet. In London haben der Premier und der Außenminister sie gelesen; auch US-Präsident Truman kennt ihren Inhalt. Denn er reist gemeinsam mit Churchill in der Eisenbahn nach Fulton. Als ihn Journalisten nach Ende der Veranstaltung dazu befragen wollen, stellt sich der US-Präsident jedoch überrascht und weicht aus. In den USA ist die Mehrheit der Bürger nämlich dafür, möglichst schnell abzurüsten und die eigenen Soldaten heim zu holen. Noch ist der „Kalte Krieg“ nicht mehrheitsfähig. Das Weiße Haus und das US-Außenministerium brauchen also eine Gelegenheit, der Welt Moskaus Haltung zu zeigen. Sie bietet sich bei der großen Außenminister-Konferenz im Frühjahr 1946 in Paris. Das Treffen behandelt vordergründig Friedensverträge mit den ehemaligen Verbündeten Hitlers – zum Beispiel (mit) Italien. Premierminister Attlee beteuert: O-Ton 10: (Attlee – Paris) „We’re discussing these treaties…we are trustees of the unborn children of the future.“ Übersetzer (Zitator 2): „Wir besprechen diese Verträge frei und offen, vor aller Welt. Wir fühlen hier den Druck der Weltmeinung. Mögen unsere Ohren dafür offen bleiben, denn kein Land, kein Herrscher kann es sich leisten, sie zu ignorieren. Wir sind Abgesandte einzelner Länder, aber gemeinsam sind wir für alle Menschen der Erde verantwortlich, die Friede und Sicherheit wollen. Wir sind Treuhänder der ungeborenen Kinder der Zukunft.“ Erzählerin: Das Pathos trägt gewisse Früchte – die Friedensverträge werden 1947unterzeichnet. Doch sind sie fast nebensächlich. Bei den wahren Kernpunkten, der Deutschlandpolitik, habe sich in Paris gezeigt, so Rolf Steininger, wie groß der Graben zwischen West und Ost im Sommer 1946 bereits sei:O-Ton 11: Steininger - Pariser AMK) „Diese Außenminister-Konferenz, endet im Juli, wenn sie so wollen, mit einem totalen Desaster. Molotov bewegt sich kei¬nen Millimeter. Bevin rastet fast aus. Es gibt diese wunderbare Szene, wo er um den Tisch herumläuft und den Molotov am Kragen schüttelt und fragt: Warum sagst Du immer „Njet“? Aber: Bevin hat klare Vorgaben vom Kabinett was zu tun ist im Ernstfall. Und Bevin schlägt vor: wenn die Sowjetunion nicht zurück¬kehrt zu einer gemeinsamen Deutschlandpolitik, sprich auch einer gemeinsa¬men Wirtschaftspolitik, Nahrungsmittel in die Westzone, dann wird Großbritan¬nien seine Zone alleine organisieren.“ Erzählerin: Die Briten haben für ihre Ansichten inzwischen bei den Amerikanern einen wichtigen Verbündeten: Lucius D. Clay. Der damals 49jährige General und stellvertretende Militärgouverneur der US-Zone drängt Washington im Sommer 1946 rascher Tatsachen zu schaffen – bis hin zur Bildung einer westdeutschen Regierung. Aber Außenminister James F. Byrnes zieht kleinere Schritte vor – wenngleich auch sie eindeutig sind: O-Ton 12: (Byrnes-Ankündigung) „Hier ist das Große Haus der Württembergischen Staatstheater in Stuttgart, der Stadt des Länderrats. Es mag dies mit ein Grund sein, warum der Außenminister … eine volle Klarlegung der Richtlinien, die die Vereinigten Staaten bis zum heutigen Tage befolgt haben und die in Zukunft eingeschlagen werden sollen.“ Erzählerin: 6. September 1946, der Reporter von Radio Stuttgart kündigt eine Rede von Byrnes an, die dieser vor deutschen und amerikanischen Honoratioren hält. Sie genießt seither einen geradezu legendären Ruf, als „Rede der Hoffnung“: O-Ton 13: (Byrnes-Rede) The American people, who fought for freedom…Das amerikanische Volk, das für die Freiheit gekämpft hat, will die Deutschen nicht versklaven. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk die eigene Regierung zurückgeben; das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen zurückzufinden zu einem Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt… Nations of the world.“O-Ton 14: (Steininger/Byrnes) „Trotz aller Papierknappheit wurde die Rede in hunderttausenden von Exemplaren in der amerikanischen Zone verteilt. Und wenn sie die Reaktionen (nehmen): die Ministerpräsidenten, der Geiler, der Ministerpräsident, hat Tränen in den Augen; Erhard – der spätere Wirtschafts¬minister – ist begeistert. Das heißt: hier wird eine Schneise geschlagen. Zum ersten Mal sehen die Deutschen. Plötzlich: der große, der große Bruder, die USA, bieten uns die Hand zur Zusammenarbeit – nicht Partner – zur Zusam¬menarbeit an. Das war wie ein Durchatmen, wie frischer Wind. Man wusste: jetzt geht’s los.“ Erzählerin: Die Welt erhält durch die Byrnes-Rede den ersten eindeutigen Hinweis: die USA denken nicht, wie nach Ende des 1.Weltkriegs, an einen Rückzug auf den eigenen Kontinent. General Clay lässt den klärenden Worten von Byrnes im Herbst 1946 Taten folgen. Er trifft dabei, nicht nur wegen der ökonomischen Notlage, auf einen ausgeprägten Kooperationswillen in London. Im dortigen Außenministerium schreibt der Leiter der Deutschland-Abteilung um die gleiche Zeit ein Memorandum, in dem er betont, wie wichtig bessere wirtschaftliche Verhältnisse aus Sicht der Deutschen sind: Zitator 2:  „Wir müssen darauf achten, dass der Teil Deutschlands, der auf westlichen Ideen beruht, sowohl politisch wie auch wirtschaftlich attraktiver ist als der Rest. Wenn wir dies tun, können wir darauf hoffen, dass Ost-Deutschland früher oder später unter westlichen Einfluss gebracht werden kann, oder dass der sowjetische Einfluss dort zumindest zu einem gewissen Grad ausgeglichen wird.“ Erzählerin: Eine der wichtigsten westlichen Ideen ist die Demokratie: in der britischen und der amerikanischen Zone haben bereits erste Wahlen stattgefunden, teilweise sind die Länderverfassungen durch Referenden demokratisch ‚abgesegnet’. Die hohe Wahlbeteiligung und die Mehrheiten für bürgerliche Parteien zeigen den Besatzern: die Deutschen wollen den Weg des Westens mitgehen. Lobend erklärt Botschafter Robert Murphy, politische Berater der US-Militärregierung, im Radio: O-Ton 15: (Murphy) „Amerikaner mit denen ich gesprochen habe, haben mir ge¬gen¬über ihre Bewunderung dafür ausgedrückt, wie sich Deutsche bemühen, eine Demokratie aufzubauen. Sie haben mit Interesse die Wahlen in der ameri¬ka¬nischen Zone verfolgt.“ O-Ton 16: (Musik – „Glenn Miller – „705“) Erzählerin: Freiheit – das haben die Deutschen bis dahin nur in den Medien, wie hier in der Musik alliierter Radiosender – erfahren. Nun schaffen die Briten und Amerikaner auch wirtschaftliche Voraussetzungen. Die Besatzungszonen, faktisch ‚Kleinstaaten’ mit schwierigsten Ein- und Ausfuhrbedingungen für Waren, werden Ende 1946 zusammengeschlossen zur „Bi-Zone“. Die Wochenschau berichtet: O-Ton 16: Bizonen-Abkommen/Wochenschau „Der englische Außenminister Bevin und der amerikanische Außenminister Byrnes unterzeichneten gegen Jahres¬ende ein Abkommen, das die amerikanische und englische Zone zunächst wirt¬schaftlich vereint. Das Abkommen tritt am 1.Januar 1947 in Kraft. Damit ist der erste Schritt zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands getan. Ein hoffnungsvol¬ler politischer Abschluss des alten Jahres, der für das neue Antrieb und Ankur¬belung der Wirtschaft verspricht.“ Erzählerin: Für die Sowjetunion ist die Bizone jedoch ein Affront. Moskau betont in allen Verhandlungen verbal die Bereitschaft, weiter eine gesamtdeutsche Lösung anzustreben – wenn es Reparationen aus den Westzonen erhält. Doch darauf wollen sich Amerikaner und Briten nicht mehr einlassen. So kommt es im ersten Halbjahr 1947 zur Eskalation des „Kalten Krieges, symbolisiert durch zwei Daten – den 12. März, den Tag der „Truman-Doktrin“ und den 5. Juni, den Tag des „Marshall-Planes“.  Der Grund dafür aber ist nicht allein die wirtschaftliche Stabilisierung Deutschlands. Attlee, Bevin, Truman und der seit Januar ’47 zum Nachfolger von Byrnes bestellte US-Außenminister Marshall haben ebenso sehr Krisengebiete auf dem Balkan, in Ostmitteleuropa und im Mittleren Osten im Blick: Zitator 1: In Polen werden die Parlamentswahlen im Januar 1947 von der Sowjetunion manipuliert – die von ihr protegierten so genannten „Block-Parteien“ erhalten 93 Prozent der Stimmen. In der Tschechoslowakei propagiert der kommunistische Ministerpräsident Gottwald ein Bündnis aller Slawen unter Führung der Sowjetunion; in Griechenland kämpfen linke Guerrilla-Verbände gegen die Regierung. Im Iran weigert sich Moskau entgegen den Vereinbarungen, seine Truppen zurückzuziehen Erzählerin:  In diese Querelen hinein beginnt in Moskau das nächste geplante Außenminister-Treffen der Alliierten – am 10.März 1947, also zwei Tage ehe Präsident Truman im US-Kongress seine berühmte Rede hält. // Geschichtsforscher wie Rolf Steininger sehen die Diskussionen in der Sowjet-Hauptstadt als letzten Lackmus-Test vor der Teilung der Welt: O-Ton 17: (Steininger – Moskau) „Der große Test für einige, für einige war’s gar kein Test mehr, ist dann die Außenminister-Konferenz im März/April 1947. Die Briten haben den Eindruck: die Sowjets wollen eine Lösung. Die Russen wollen aber gleichzeitig massiv Reparationen. Und wir kennen alle diesen berühmten Spruch von George Marshall, dem Außenminister: Die Ärzte diskutieren und der Patient stirbt. Und da sehen Sie: es gibt da keine Annähe¬rungspunkte mehr. Da ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Und vor allen Dingen die USA – organisieren jetzt das, was sie sozusagen „kontrollieren“ können.“ Erzählerin: Im Frühsommer 1947 ist die Kriegskoalition am Ende. West und Ost haben das Vertrauen zueinander verloren. Es geht – und das erstaunt im Rückblick – weniger um eine konkrete Kriegsgefahr, als um Befürchtungen vor einer Machtzunahme der jeweils anderen Seite. Wichtig ist: die Pläne beider Seiten bleiben defensiv, auch der bereits kurz erwähnte „Marshall-Plan“, der – und das unterstreicht das Gesagte über Deutschland und Europa – sich an den ganzen Kontinent richtet: O-Ton 18: (Steininger - ERP) „Es ging den Amerikanern nicht nur um Deutschland in dieser Phase, sondern auch um Westeuropa. Es ging um die Stabilisierung Frankreichs, es ging um die Stabilisierung Italiens – das waren die Länder mit den stärksten kommunistischen Parteien. Und die Furcht in Washington war noch nicht einmal so sehr, dass die Sowjets durchmarschieren. Sondern die Befürchtung war, dass die sowjetische „Fünfte Kolonne“, d.h. die kommunisti¬schen Parteien das Ruder übernehmen würden. Erzählerin: Wie klar die beiden Machtblöcke im Laufe des Jahres 1947 bereits fertig ‚betoniert’ sind, zeigen interne Analysen der US-Regierung. So schreibt der US-Diplomat George Kennan im November 1947: Zitator 1:  „Die Kriegsgefahr ist mancherorts äußerst übertrieben worden. Die sowjetische Regierung will keinen und erwartet keinen Krieg mit uns in der vorhersehbaren Zukunft. …Die politische Ausbreitung des Kommunismus konnte zumindest zeitweilig zum Stillstand gebracht werden.“
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Jun 20, 2025 • 23min

DAS ALTE ROM - Die Geschichte eines imperialen Traums

Das alte Rom ist die Mutter der imperialen Idee. Sie wurde von Julius Caesar unabsichtlich begründet und seitdem immer wieder aufgegriffen: von byzantinischen Herrschern, Karl dem Großen, den heilig-römischen Kaisern oder von russischen Zaren und Napoleon Bonaparte. Vielleicht, bei genauerem Hinsehen sogar von der EU. Von Ulrich Zwack (BR 2020)Credits Autor: Ulrich Zwack Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Christian Schuler Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Thomas Morawetz   Im Interview: Dr. Julian Traut Besonderer Linktipp der Redaktion: SWR: Das Wissen    Täglich Neues aus Gesundheit und Geschichte, Wissenschaft und Weltgeschehen. Wichtige Zusammenhänge, gründliche Recherchen, überraschende Hintergründe über die unterschiedlichsten Themen: „Das Wissen“ spricht mit Menschen, die sich auskennen, reist an die wichtigsten Schauplätze und sammelt so Erkenntnisse um sich den drängendsten Fragen von heute, gestern und der Zukunft zu stellen  ZUM PODCAST Linktipps SWR (2025): Der römische Traum – Eine Anno-Story   Ein packender Hörspiel-Podcast im Anno-Universum: Zwei junge Männer verkaufen sich selbst in die Sklaverei – im Glauben, dass sie im Römischen Reich aufsteigen können. Was als verzweifelter Traum beginnt, wird zur abenteuerlichen Odyssee durch Kolonien, Intrigen und Machtzentren eines Imperiums. "Der römische Traum" erzählt die offizielle Vorgeschichte zu "Anno 117: Pax Romana" – als epische Audio-Serie mit deutschen Top-SchauspielerInnen, exklusivem Soundtrack von den Anno-Komponisten und live aufgenommen vom SWR-Symphonieorchester. Jetzt abonnieren – ab 20. August geht’s los! ZUM PODCAST   SWR (2021): Das Erbe des Römischen Reiches Das Limesmuseum in Aalen ist Basisstation für Dieter Moors Erzählung über das Erbe des Römischen Reiches. Die Reise geht weiter Rund ums Mittelmeer nach Bosra und Lepis Magna und endet bei Pont du Gard in Frankreich. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ERZÄHLERIN:Paris ist die Stadt der Liebe, München leuchtet als Isar-Athen, New York preist sich als Big Apple. Viele Städte schmücken sich mit wohlklingenden Beinamen. Doch Rom ist einzigartig: Rom ist golden. Rom ist ewig. Denn Rom ist mehr als nur eine Stadt. Rom ist eine Idee. Nicht nur die einer Stadt, sondern die eines ganzen Reiches.  1. ZUSP: OT-TrautDas Besondere am Römischen Reich ist, dass es in seiner jahrhundertelangen Geschichte immer wieder transformiert wurde und auch durch verschiedene Ideen ergänzt wurde: Also das Römische Reich ist als historisches Gebilde eigentlich ein schwieriger Begriff. ERZÄHLERDer Münchner Historiker Dr. Julian Traut ist Spezialist für bayerische Landesgeschichte. Daneben beschäftigt er sich aber auch immer wieder mit dem römischen Reichsgedanken und den Veränderungen, die er im Lauf der Zeit erfuhr. 2. ZUSP:   OT-Traut (weiter)Es gab verschiedene römische Reiche, die römische Republik, das römische Kaiserreich. Als das Römische Reich zerbricht, kommt es dann zu verschiedenen Neuinterpretationen. Und es wird an die römische Reichsidee angeknüpft. ERZÄHLERIN:Die Vorstellung von Rom als Reich, das nicht sterben darf, liegt unter anderem darin begründet, dass einige biblische Texte wie das Buch Daniel, die Johannes-Apokalypse oder der 2. Thessalonicherbrief seit dem Altertum oft so interpretiert wurden, dass das Ende des Imperium Romanum den Weltuntergang einläuten würde. MUSIK ERZÄHLER:Ausgehend von einer am Tiber gelegenen, zunächst ziemlich unbedeutenden, Kleinstadt eroberten die Römer nach und nach ein ganzes Weltreich. ERZÄHLERIN:Nichtsdestotrotz ging es in Rom selbst ständig drunter und drüber; balgten sich Patrizier und Plebejer um die Macht. Bis im Jahrhundert vor Christi Geburt immer häufiger herausragende Einzelpersönlichkeiten nach der Alleinherrschaft strebten und der inzwischen arg in die Jahre gekommenen Republik den Garaus machten. ERZÄHLER:Der erste, der aus diesem Ringen siegreich hervorging, war Gaius Julius Caesar. Ein genialer Feldherr, herausragender Staatsmann, brillanter Schriftsteller und meisterhafter Ränkeschmied. ERZÄHLERIN:Anfang 44v.Chr. ließ sich er sich vom Senat - gewissermaßen Roms parlamentarischem Oberhaus - zum Diktator auf Lebenszeit ernennen. Damit schien er die traditionelle römische Republik beseitigt und sich zum Alleinherrscher aufgeschwungen zu haben. Ob er zusätzlich nach dem Königstitel strebte, ist bis auf den heutigen Tag umstritten. Nicht umstritten ist dagegen, dass rund 60 Senatoren den Diktator Caesar als lupenreinen Tyrannen betrachteten und am 15. März des Jahres 44 v. Chr. mit 23 Dolchstichen ermordeten. ERZÄHLER:Damit war Caesars Modell der Alleinherrschaft übers Römische Imperium kläglich gescheitert. Dennoch gehen die deutsche Bezeichnung Kaiser oder der in mehreren slawischen Sprachen gebräuchliche Titel Zar direkt auf seinen Namen zurück. MUSIK ERZÄHLERIN:Zum ersten Kaiser im eigentlichen Sinn wurde Caesars Adoptivsohn Octavian. der nicht nur das Vermächtnis seines Adoptivvaters antrat, sondern auch dessen Namen erbte. Er riss zwar ebenfalls die Alleinherrschaft an sich, vermied dabei aber tunlichst alles, was ihn als Usurpator hätte erscheinen lassen können. Stattdessen hielt er sich demonstrativ an die traditionellen republikanischen Spielregeln. Begnügte sich nach außen mit der Stellung eines Primus inter pares, also gleichsam eines Ehrenvorsitzenden unter ihm gleichrangigen Bürgern. Seine eigentliche Macht stützte er allerdings ebenfalls auf die lebenslange Sicherung wichtiger Amtsbefugnisse. Die eines Dictators war nicht darunter. Aber der lebenslange Titel eines Imperators oder die jährliche Verleihung der Amtsgewalt eines Volkstribuns bescherten ihm z.B. auf Dauer den Oberbefehl übers Militär oder das Vetorecht gegenüber den Inhabern anderer Staatsämter. ERZÄHLER:Auch auf religiöser Ebene spielte Octavian eine Sonderrolle. Nicht nur, dass er lebenslang das Amt des Pontifex Maximus bekleidete, das gewissermaßen dem eines Papstes über den römischen Götterkult entsprach - er ließ sich vom Senat obendrein den Ehrennamen Augustus verleihen. Das bedeutete der Erhabene und erhob den Kaiser gewissermaßen zu einem Wesen zwischen Mensch und Gott. ERZÄHLERIN:Die kaiserliche Hofpropaganda und unterwürfige Provinz-Obrigkeitsvertreter machten die sakrale Weihe, die den Herrscher dadurch umgab, im ganzen Reich publik. So frohlockte eine zeitgenössische Inschrift im kleinasiatischen Halikarnassos:       MUSIK ZITATOR: Das Göttliche hat den Menschen, den Caesar Augustus gesandt, auf dass unser Leben glücklich werde. Den Vater seines Vaterlandes, den Heiland des ganzen Menschengeschlechts, dessen vorausschauende Fürsorge die Gebete aller nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen hat. ERZÄHLER:Nun hing In der Antike der Himmel wesentlich tiefer als heute. Deshalb wurde Augustus von vielen auch ganz konkret als Erlöser betrachtet, gefeiert und verehrt. Hatte er doch für inneren und äußeren Frieden, Rechtssicherheit und Wohlstand gesorgt und die Weltherrschaft Roms gesichert. Kurzum: Er hatte sich als Götterliebling erwiesen und das sagenhafte Goldene Zeitalter wieder heraufgeführt. Und das dank übermenschlicher Fähigkeiten, die ihm die Götter verliehen hatten. ERZÄHLERIN:Diese Fähigkeiten bildeten die Basis für den kaiserlichen Herrscherkult, denn sie waren nach damaligem Glauben göttlicher Natur. Darum hatten sie auch Anspruch auf kultische Verehrung. Der Herrscher selbst konnte offiziell allerdings erst nach dem Tod zum Gott erhoben werden. Vorausgesetzt, seine Herrschaft wurde als eine gute betrachtet. Dann wurde er, wie z.B. Caesar, Augustus, Claudius oder Trajan vom Senat zum divus, zum Vergöttlichten, erklärt, der dasselbe Recht auf religiöse Verehrung besaß wie die herkömmlichen Staatsgötter Jupiter & Co. Erst als sich das Kaisertum im 3. Jahrhundert vom Prinzipat zum absolutistischen Dominat wandelte, führte der Herrscher bereits zu Lebzeiten regelmäßig den Titel dominus et deus - Herr und Gott. MUSIK ERZÄHLER:Seit Augustus blieb die römische Reichsidee eng mit dem Kaisertum verbunden, galt das Imperium Romanum als Idealstaat - in dem die verschiedensten Völker in Rechtssicherheit, Wohlstand und Frieden unter der Regentschaft eines von den Göttern eingesetzten Monarchen zusammenlebten. ERZÄHLERIN:Konstantin der Große stellte schließlich das Christentum dem Heidentum gleich und leitete dadurch die vollständige Christianisierung des Imperiums ein. Auf den ersten Blick bedeutete das den Verlust des sakralen Nimbus der Kaiser. Aber in Wahrheit war das Gegenteil der Fall. Denn der Herrscher war jetzt zwar kein Gott mehr, galt aber als Stellvertreter Gottes auf Erden. Und das erhob ihn selbstverständlich weiterhin himmelhoch über alle Normalsterblichen. So schrieb der Kirchenvater Eusebius von Caesarea über das Wesen der Regentschaft Konstantins des Großen: MUSIK ZITATOR:Christus übt die oberste Herrschaft über die ganze Welt aus und steht über allen Dingen. Er ist das Wort Gottes, durch das unser gottgeliebter Kaiser, gleichsam in Übertragung der göttlichen Machtfülle und Nachahmung Gottes, die Angelegenheiten dieser Welt regelt und lenkt.  MUSIK ERZÄHLERIN:Gegen Ende des 5. Jahrhunderts brach die Westhälfte des Imperiums unter dem Ansturm völkerwandernder Germanenstämme zusammen. Die Osthälfte bestand dagegen noch fast ein Jahrtausend lang fort. Auch wenn sie nach der Ausbreitung des Islam ständig an Ausdehnung und Macht einbüßte. ERZÄHLER:Heute wird das Oströmische Reich nach seiner Hauptstadt Konstantinopel, alias Byzanz, meist als Byzantinisches Reich bezeichnet.  Den Oströmern selbst wäre das jedoch nie in den Sinn gekommen. Bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanischen Türken im Jahr 1453 nannten sie sich ausschließlich Rhomaioi.  - Römer. ERZÄHLERIN:Aber auch im Westen blieb die Romidee weiterhin lebendig, betrachtete man den Fortbestand des Imperiums zumindest theoretisch als gegeben. Auch wenn der Thron bis zur Krönung Karl des Großen durch den Papst am Weihnachtstag des Jahres 800 gewissermaßen verwaist blieb. Julian Traut: 3. ZUSP:   OT-TrautDas Römische Reich, das Karl der Große begründet hat, setzt sich weniger aus einem einheitlichen Reichsgebiet zusammen, sondern ist mehr als eine politische Idee zu verstehen, als Bezugspunkt, als Ort der Kaiserwürde. Und der Papst als Spender dieser Kaiserwürde tritt da in den Vordergrund. Das Römische Reich, das dann später unter dem Titel des Heiligen Römischen Reich später noch mit dem Zusatz Deutscher Nation Bestand haben sollte, ist also ein supranationales und weniger politisch als mehr ideelles Gebilde. ERZÄHLER:Rein äußerlich stellte Karls Krönung die Wiederherstellung des einstigen Westreichs dar. Doch erfolgte die Neubelebung nicht nur gemäß römischer, sondern auch nach fränkischer Überlieferung. Das wies der Romidee teilweise eine ganz neue Richtung. Zwar blieb das Kaisertum weiterhin mit sakraler Weihe umgeben und stützte auch Karl seine Herrschaft nicht zuletzt auf die Schlagkraft seiner Truppen. Aber beides war nun auch mit germanischen Vorstellungen in Form des von Gott dem rechtmäßigen Herrscher verliehenen Königsheils und des Heereskönigtums verbunden. Hinzu kam die durch die päpstliche Salbung symbolisierte Vorstellung vom Gottesgnadentum. Dadurch wurde Karls Reich nicht nur zum neuen Rom, sondern auch zum neuen Jerusalem erhoben.    ERZÄHLERIN:Indes war Papst Leo III. eigentlich gar nicht dazu berechtigt, jemanden zum Kaiser zu erheben. Da das römische Reich in Gestalt des oströmischen ja noch konkret fortbestand, wäre allein der oströmische Kaiser befugt gewesen, einen Mitkaiser zu ernennen. Aber Nikephoros I. dachte gar nicht daran, einen ungehobelten Frankenkönig als Amtskollegen zu betrachten.     ERZÄHLER:Deshalb versuchte Karl, seine Legitimation durch eine betont römische Amtsführung zu beweisen: Er ließ für den Bau der Aachener Pfalzkapelle antike Säulen aus Rom und Ravenna importieren; wies die wichtigsten Gelehrten seiner Zeit an, die antike Literatur zu pflegen; schuf eine straffe Zentralverwaltung. Und wirklich: Als in Konstantinopel auf Nikephoros I. der wesentlich kompromissbereite Michael I. folgte und Karls Kaisertum anerkannte, galt auch der Frankenherrscher als rechtmäßiger Erbe der alten Caesaren und sein Reich wirklich als Westteil des Imperium Romanum.    ERZÄHLERIN:Dann dauerte es erst einmal anderthalb Jahrhunderte, ehe 962 mit der Kaiserkrönung Ottos I. die lange Reihe der römischen Kaiser deutscher Herkunft begann. MUSIK ERZÄHLER:Nun gehörte es seit der Spätantike zu den Hauptpflichten des Kaisers, als Schirmherr der Kirche aufzutreten. Dadurch wurden ihm folgerichtig nicht nur weltliche, sondern auch kirchliche Rechte eingeräumt. Wie die oströmischen Kaiser beriefen jetzt auch die römisch-deutschen Synoden und Konzilien ein, setzten nach Gutdünken Bischöfe und Äbte ein und ab - und manchmal sogar den Papst. ERZÄHLERIN:               Das zeugte nicht von Größenwahn, sondern entsprach den Erwartungen, die man in Kaiser und Reich setzte. Das Imperium war ja nicht als nationaler Flächenstaat gedacht, sondern als Universalmonarchie, deren Macht sich vor allem auf die Loyalität von Menschen aus den unterschiedlichsten Weltgegenden gegenüber dem von Gott - zum Herrschen bestimmten - Regenten stützte. ERZÄHLER:Wohl erstreckte sich das Heilige Römisches Reich im Hochmittelalter von Antwerpen bis nach Breslau, von Hamburg bis nach Siena. Aber von echter Weltherrschaft kann da trotz aller Größe kaum gesprochen werden. Ein starkes Machtzentrum, mit dem sich auch das Ausland gut stellen wollte, bildete es jedoch allemal. So berichtete der Mönch und Chronist Widukind:    MUSIK ZITATOR: Der Kaiser wurde durch seine vielen Siege weithin berühmt. Deshalb besuchten ihn auch oft Gesandte von den Römern, Griechen und Sarazenen und brachten Geschenke: Goldene, silberne, bronzene, gläserne und elfenbeinerne Gefäße, Teppiche, Balsam, Gewürze und Tiere wie Löwen, Kamele, Affen und Strauße. ERZÄHLERIN:Aber das Heilige Römische Reich hatte nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. Vor allem in Frankreich und in Italien polemisierte man ständig gegen die Vereinnahmung des Imperium Romanum durch die deutschen "Barbaren" Ja, selbst die Römer wollten vom Kaiser, der ihren Namen trug, nichts wissen. Als Otto III. die Tibermetropole tatsächlich zur Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches machen wollte, setzten sie ihm so zu, dass er nur knapp mit dem Leben davonkam. MUSIK ERZÄHLER:                          In Rom wurde auch der ideologische Krieg zwischen Papst und Kaisertum um die religiöse Führungsrolle im Abendland begonnen. Der Kaiser, so erklärte Papst Gregor VII. im Jahr 1076, maße sich eine Stellung an, die nach Christi Willen allein dem Papst als Nachfolger des Apostels Petrus zukomme. Die Antwort Heinrichs IV. erfolgte postwendend. In einem hochfahrenden Brief setzte er den Papst kurzerhand ab: MUSIK ZITATOR:Du wagtest zu drohen, du wolltest uns unserer von Gott verliehenen Gewalt berauben, als hätten wir das Reich von dir, und als ob die Kaiserkrone in deiner und nicht Gottes Hand läge, der uns zur Herrschaft berufen hat. Steig herab vom angemaßten Stuhl des heiligen Petrus. Steig herab, steig herab! ERZÄHLERIN:Nach den bisherigen Gepflogenheiten wäre die Angelegenheit damit erledigt gewesen. Aber jetzt folgte etwas völlig Neues: Der Papst verhängte seinerseits über den Kaiser den Kirchenbann. ERZÄHLER:In diesem Stil ging es über 150 Jahre lang weiter. Man setzte einander ab, ernannte Gegenpäpste und Gegenkaiser. Nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. konnte der Papst die Auseinandersetzung schließlich zu seinen Gunsten entscheiden. Seitdem besaßen die Kaiser in kirchlichen Angelegenheiten keinerlei Mitspracherecht mehr.                                      ERZÄHLERIN:So gingen Kaiser und Reich aus der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst erheblich geschwächt hervor. Den Rest besorgte sehr viel später der Dreißigjährige Krieg. Er ließ das Heilige Römische Reich ausgeblutet, verstümmelt und als Spielball fremder Mächte zurück. Trotzdem bestand es noch gut 150 Jahre lang weiter. MUSIK ERZÄHLER:Neben dem oströmischen und dem Heiligen Römischen entstanden ab dem Mittelalter auch andere Kaiserreiche. Etwa das bulgarische oder das serbische - und natürlich vor allem das russische. Denn als nach dem Fall von Konstantinopel die orthodoxe Kirche ihres kaiserlichen Schutzherren beraubt war, wollten die Großfürsten von Moskau an dessen Stelle treten. Deshalb begannen sie sich dem Ausland gegenüber dadurch zu legitimieren, dass sie Moskau zum Dritten Rom erklärten und sich selbst zu Zaren.  ERZÄHLERIN:Als Zar par excellence gilt bis heute Peter der Große. Dabei hat gerade er das Wort Zar durch Imperator ersetzt. Also durch den ursprünglich rein militärischen Namenstitel der römischen Kaiser. Denn Peter wollte weniger als spätantiker oder mittelalterlicher kaiserlicher Schirmherr der orthodoxen Gläubigen betrachtet werden, denn als auf der Höhe der Zeit stehender, absolutistischer Monarch einer neuen europäischen Großmacht. Bis 1917 bezeichneten sich auch seine Nachfolger nur noch als Imperatoren. MUSIK ERZÄHLER:Ganz anders Napoleon I. von Frankreich. Als Ziehsohn der Französischen Revolution, genialer Feldherr, Machtmensch und Politiker war er der vielleicht modernste Monarch seiner Zeit. Trotzdem bediente er sich, als er Ende 1804 das französische Kaisertum schuf, einer betont traditionellen Formensprache: 5, ZUSP:  OT-TrautNapoleon war es einerseits, der das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach tausend Jahren beendet, im August 1806 so also mit einer großen Tradition bricht, andererseits sich aber dann selber schon durchaus in der Tradition der römischen Reichsidee und des Kaisertums sieht. Er vollendet sozusagen die Französische Revolution, krönt sich selbst zum Kaiser, aber er tut dies in Anwesenheit des Papstes und lässt sich auch vom Papst salben. Napoleon benutzt also verschiedene Versatzstücke, die sich vor allem in der Repräsentation zeigen. Er trägt den Lorbeerkranz. Es werden verschiedene Herrschaftssymbole kreiert, die an die römische Kaiseridee anknüpfen und so begründet er das französische Kaisertum MUSIK ERZÄHLER:Das 65 Jahre nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegründete Kleindeutsche Kaiserreich wurzelte erklärtermaßen nicht im alten Rom, sondern im freien Germanien des fälschlich zum teutschen Volksheiland hochstilisierten Cheruskerfürsten Hermann. Hitlers Drittes Reich berief sich ebenfalls kaum auf römische Traditionen, aber dafür umso mehr auf die irrationale arische Rassentheorie. Anders Mussolini in Italien. Denn zu dessen erklärten Zielen gehörte bekanntlich die Wiederherstellung des Imperium Romanum unter zeitgemäßen Bedingungen. ERZÄHLERIN:Was Deutschland betrifft, ist die römische Staatsidee mithin bereits 1806 abrupt abgerissen. Lediglich der Bundesadler erinnert immer noch ein wenig daran. Lässt er sich doch unmittelbar vom den obersten römischen Staatsgott Jupiter verkörpernden Adler herleiten, den schon die römischen Legionen auf ihren Feldzeichen trugen. ERZÄHLER:Dafür hat Franz II., der letzte heilig-römische Kaiser, die Reichsidee bereits 1804 in seine Heimat verpflanzt und als Kaiser Franz I. von Österreich den imperialen Traum der alten Römer einfach weitergeträumt. Sein neues Kaiserreich besaß ja auch wirklich alles, was ein echtes Kaiserreich ausmacht. Es war ein Vielvölkerstaat und sein Kaiser ein Vielvölkerbeherrscher von Gottes Gnaden. Das ließ sich schon allein an seinem sogenannten großen Titel deutlich ablesen. Selbst in stark verkürzter Form:   ZITATOR:Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät, von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Galizien und Illyrien; König von Jerusalem etc. Herzog von Lothringen, von Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen; Herzog von Friaul, Ragusa und Zara; Markgraf von Ober- und Niederlausitz und in Istrien; Herr von Triest, und auf der Windischen Mark; Großwojwode der Woiwodschaft Serbien etc., etc. ERZÄHLERIN:Heute gibt es in Europa gar keinen Kaiser mehr. Doch ist zusammen mit der Kaiserwürde auch die römische Reichsidee erloschen? Ja und nein. Nach der Regentschaft selbstgefälliger Potentaten sehnt sich niemand mehr zurück. MUSIK Aber wenn man die Vorstellung akzeptiert, dass die EU lediglich einen Paradigmenwechsel vollzogen hat, indem sie das Gottesgnadentum eines Einzelnen durch einen freiheitlich-demokratischen Grundwertekatalog ersetzt, kann die Europäische Union durchaus als zeitgemäße Fortsetzung des römischen Traums gelten. Denn auch sie umfasst Gebiete mit vielen Völkern, in denen Wohlstand, Frieden und Recht herrschen. MUSIK ERZÄHLERIN:Folglich ist es vielleicht doch mehr als nur reiner Zufall, dass die Gründungsverträge der Staatengemeinschaft in Rom geschlossen wurden - jener Stadt, in die schon seit über 2000 Jahren alle Wege führen.

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