
Alles Geschichte - Der History-Podcast MEDIZINGESCHICHTEN - Weiße Kittel im Ost-West-Konflikt
Menschenversuche im "Kalten Krieg" - im Namen der Feindesabwehr wurden zigtausende Menschen zu medizinischen Versuchskaninchen. Im Osten wie im Westen. Zum Beispiel gab es radioaktive Verseuchung von Menschen in der Sowjetunion genauso wie Experimente mit Drogen und giftigen Chemikalien an Strafgefangenen in den USA. Von Lukas Grasberger (BR 2018)
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Johannes Hitzelberger, Martin Fogt
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Allen Hornblum (US-Autor), Prof. Wolfgang U. Eckart (Medizinhistoriker, ehem. Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Uni Heidelberg), verstorben 2021
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025
Besonderer Linktipp der Redaktion:
MDR (2025): DNA des Ostens
35 Jahre sind wir wiedervereint, aber die Unterschiede zwischen Ost und West sind nach wie vor ein Thema. Man könnte sagen, die Wiedervereinigung ist unvollendet. Menschen im Osten fühlen sich als Bürger zweiter Klasse - der Westen schaut dagegen oft mit Unverständnis gen Osten. In „DNA des Ostens“ stellt Host Anna Thalbach die Fragen: Warum ist das Zusammenwachsen so schwierig? Und wie könnte es besser gehen? ZUM PODCAST
Linktipps
Deutschlandfunk Kultur (2025): Späte Einsicht – Deutsche Ärzte arbeiten NS-Vergangenheit auf
Keine andere akademische Gruppe hat sich so konsequent und bedingungslos dem Nationalsozialismus unterworfen wie die deutsche Ärzteschaft. Ihre Vergehen und Verbrechen blieben lange unaufgearbeitet. Jetzt findet ein Umdenken statt. JETZT ANHÖREN
Bayern 2 (2022): Ohne Zustimmung geht gar nichts - 75 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess
Im Dritten Reich beteiligten sich viele Mediziner ohne Skrupel an Menschenversuchen, bis hin zum Tod. Aber nur wenige davon mussten sich beim Nürnberger Ärzteprozess verantworten. Es ist ein Prozess, der bis heute große Bedeutung hat, wenn es um die Selbstbestimmung der Patienten geht. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte gibt es auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Nürnberg im Dezember 1946: Ein junger Arzt ringt bei seiner Aussage als Zeuge vor dem Kriegsverbrechertribunal mit sich - und um die Wahrheit.
O-Ton Wolfgang Lutz, NS-Luftfahrtmediziner
„Wir gingen dabei von der Voraussetzung aus, dass kriegswichtige Versuche vorgenommen werden. Deren Ergebnis geeignet ist, das Leben von Soldaten zu retten. Und dass diese Versuche ausgeführt werden an kriminellen Verbrechern, die durch ein ordentliches Gericht zum Tode verurteilt worden sind. Und denen durch Teilnahme an den Versuchen die Möglichkeit gegeben wird, begnadigt zu werden. Und wir haben das reichlich hin- und her diskutiert – aber wir sind nicht zu einem ganz eindeutigen Ergebnis gekommen.“
SPRECHERIN
Worüber der Mediziner Wolfgang Lutz mit Kollegen diskutiert haben will - das waren Menschenversuche: vorgenommen an Häftlingen im KZ Dachau. Die Versuchsperson wurde dabei etwa in eine Unterdruckkammer gesteckt, um den Absturz eines Kampfpiloten aus großer Höhe zu simulieren. Dutzende Häftlinge kamen bei den so genannten Höhenversuchen in Dachau ums Leben. Allein bei medizinischen Menschenexperimenten in Konzentrationslagern sollen mindestens 20.000 Menschen ermordet worden sein; insgesamt gab es Schätzungen von Forschern zufolge fast 200.000 Todesopfer allein im Namen der NS-Medizin. Lediglich 20 Ärzte und drei Nichtmediziner mussten sich ab 1946 dafür bei den „Nürnberger Ärzteprozessen“ verantworten. Es war ein amerikanisches Militärgericht, das ihnen den Prozess machte, betont Allen Hornblum, Verfasser mehrerer Bücher zur Ethik in der Medizin. Die Vertreter der Vereinigten Staaten agierten dabei aus einer Position der ethisch-moralischen Überlegenheit, so der amerikanische Autor.
SPRECHER:
O-Ton Allen Hornblum, US-Autor
„Wir haben den Nazi-Ärzten, Deutschland und dem Rest der Welt gezeigt, wie medizinische Versuche ausgeübt werden sollten. Und die Juristen haben in der Urteilsbegründung den „Nürnberger Kodex“ entwickelt: Den bis heute wohl besten Kodex, um Menschen zu schützen, die an wissenschaftlichen Versuchen teilnehmen.“
SPRECHERIN
Nie wieder sollten Probanden mit Gewalt oder Zwang, durch Täuschung oder Überredung dazu gebracht werden, an medizinischen Versuchen teilzunehmen. Nie wieder sollten Ärzte Experimente an Menschen vornehmen, bei denen diese von vorneherein der Tod oder ein dauernder Schaden erwartet. Versuche sind demnach auch immer nur dann zulässig, wenn der Proband weiß, was mit ihm passiert: Wenn er aus freiem Willen eine verständige und informierte Entscheidung trifft. All dies wurde im „Nürnberger Kodex“ dauerhaft festgeschrieben - und fand angesichts der nationalsozialistischen Medizinverbrechen Konsens der Ärzteschaft weltweit. Doch die Tinte unter dem „Nürnberger Kodex“ war kaum trocken, schon wurde er gebrochen, sagt Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart, Autor eines Buchs zur Medizin in der NS-Diktatur.
O-Ton Prof. Wolfgang U. Eckart
„Es ist ganz erstaunlich, dass trotz der Nürnberger Erklärung (…) dass dann trotzdem sehr intensiv auf amerikanischer, aber auch auf französischer Seite, vermutlich auch auf sowjetischer Seite Humanexperimente angestellt wurden. Dass ganz deutlich gegen diese Nürnberger Deklaration verstoßen wurde - und zwar in einem großen Umfang.“
SPRECHER:
O-Ton Hornblum OV
Die amerikanische Medizin fand nach dem Krieg keinen Bezug zu den Ärzteverbrechen der Nazis – und wollte ihn vielleicht auch nicht finden. Das waren doch keine echten Ärzte! Das waren doch abscheuliche Betrüger und Folterer – das dachte man. Die echte Medizin wird doch von Menschen gemacht, die verschiedene Eide geschworen haben, das Leben von Menschen zu retten und zu bewahren.“
SPRECHERIN
Jenseits des Atlantiks wähnte man sich auf der „richtigen Seite“, sagt Allen Hornblum. Auf der „richtigen Seite zu stehen“ - das war bald weniger eine moralische, als vielmehr eine strategische Anforderung: Aus dem Ringen der Siegermächte um die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg war schnell ein Wettstreit der Systeme von Ost und West geworden. Den die Sowjets wie die USA mit Hilfe der besten Köpfe zu gewinnen trachteten.
