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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Nov 8, 2024 • 32min

PAULA SUCHT PAULA (4/4) - Ein Podcast und seine Folgen

Die faszinierende Geschichte der Undercover-Reporterin Paula Schlier wird lebendig. Persönliche Berichte enthüllen ihre Herausforderungen während der NS-Zeit. Dramatische Begegnungen spiegeln die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen wider. Eine erschütternde Entdeckung über einen Nazi-Laden führt zu einem unerwarteten Dialog. Die Reflexion über Verlust und das Erbe von Paula Schlier bietet tiefgreifende Einsichten in die Bedeutung historischer Erinnerungen. Der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart bleibt alarmierend relevant.
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Nov 8, 2024 • 36min

PAULA SUCHT PAULA (3/4) - Paula Schlier und die Gestapo

Paula Schlier wird während eines Osterfrühstücks von der Gestapo verhaftet, was die angespannten Zustände jener Zeit verdeutlicht. Ihr mutiger Einsatz, um als Undercover-Reporterin beim "Völkischen Beobachter" zu agieren, wird lebhaft erzählt. Die düsteren Bedingungen im Garmischer Gefängnis und ihre Erfahrungen in der psychiatrischen Anstalt zeigen ihren Überlebenswillen. Ihre literarischen Beiträge und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind beeindruckend. Die Bedeutung von Demokratie und individueller Freiheit wird durch ihre Geschichte beleuchtet.
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Nov 8, 2024 • 34min

PAULA SUCHT PAULA (2/4) - Paula Schlier und #MeToo vor 100 Jahren

Die Geschichte von Paula Schlier entfaltet sich im Schatten des Hitlerputschs 1923. Sie kämpft um Unabhängigkeit in einer männerdominierten Gesellschaft. Das Podcast beleuchtet die Herausforderungen von Frauen gegen sexuelle Ausbeutung, die noch heute relevant sind. Die Sprache der neuen Sachlichkeit thematisiert schwerwiegende soziale Probleme wie sexuelle Belästigung und Kindesmissbrauch. Paula Schlier’s Tagebuch bietet eine kritische Reflexion ihrer journalistischen Rolle und der politischen Situation, die Frauen oft in den Hintergrund drängt.
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Nov 8, 2024 • 29min

PAULA SUCHT PAULA (1/4) - Paula Schlier und der Hitlerputsch 1923

Xenia Tiling, die talentierte Sprecherin, verkörpert Paula Schlier, eine mutige Journalistin der 1920er Jahre. Sie diskutiert Schliers geheime Untersuchungen beim 'Völkischen Beobachter' und ihre riskanten Erlebnisse während des Hitlerputsches 1923. Chargiert von den politischen Unruhen, thematisiert sie die Herausforderungen für Frauen und deren aufkommende Rolle. Zudem beleuchtet Tiling den Einfluss von Propaganda und die persönlichen Schicksale hinter den politischen Kämpfen, die in dieser turbulenten Zeit unser Verständnis von Mut und Widerstand prägen.
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Nov 1, 2024 • 24min

DIE FIRST LADY UND DIE KÖNIGIN (3/3) - Martha Washington und Marie Antoinette

Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 3. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024) Credits Autorin & Regie : Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Kalte Füße Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind ständig Orte in den Nachrichten, die die italienische Autorin Francesca Melandri aus Erzählungen und Büchern ihres Vaters kennt, aus seinen Geschichten über den Zweiten Weltkrieg bei den Alpini, den italienischen Soldaten, die an der Seite Hitler-Deutschlands in die Sowjetunion, eigentlich aber in die Ukraine einmarschierten. Was wurde nicht erzählt? Bestsellerautorin Melandri verknüpft in ihrem neuen Buch Familiengeschichte mit Weltgeschichte angesichts des erneuten Endes des Friedens in Europa. Vollständige Lesung mit Nina Kunzendorf. ZUM HÖRBUCH Linktipps: Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution  In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“  Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERINDie Independence Hall in Philadelphia, Pennsylvania – ein breites Backsteingebäude mit weißem Glockenturm. Es ist der 4. Juli 1776. Die 13 britischen Kolonien in Nordamerika proklamieren die Loslösung von Großbritannien und das Recht einen eigenen, souveränen Staatenbund zu bilden. Als Gründerväter gehen in die Geschichte ein Washington, Franklin, Jefferson, Adams, Madison – 2 ERZÄHLERINInsgesamt nur Männer. 1 ERZÄHLERINMartha Washington zum Beispiel hätte es auch verdient gehabt. 2 ERZÄHLERINSie kümmert sich nun bald um ihr erstes Enkelkind: ein Mädchen. Elizabeth. Kurz: Betsy. 1 ERZÄHLERINDass die Oma demnächst die erste First Lady der Vereinigten Staaten sein wird, ahnt zu dem Zeitpunkt noch niemand. 2 ERZÄHLERINDie Vereinigten Staaten erringen nach dem Frieden von Paris endgültig ihre Eigenständigkeit. Die Arbeit scheint jetzt beendet. Die Geschichtsbücher schließen sich für die Washingtons. 1 ERZÄHLERINVorrübergehend. MUSIK 05 ZITATOR PRESSE 1Am 23. Dezember 1783 tritt George Washington vor den versammelten Kongress in Annapolis. Die Anspannung der Abgeordneten ist groß. Kaum jemals hat ein siegreicher Feldherr alle Macht einfach wieder zurückgeben an eine zivile Gesellschaft. Kein Cäsar und kein Cromwell. Aber ein George Washington. Ein gutes Omen für den jungen amerikanischen Staat. 1 ERZÄHLERINUnd eine Erleichterung für seine Frau Martha. Nach langen Jahren des Krieges wird Weihnachten 1783 wieder zusammen daheim gefeiert. Zuhause auf Mount Vernon.  1 ERZÄHLERINWas in den USA weiter passiert, ist offen. Die neue Nation geht auf volles Risiko, wagt etwas Unbekanntes. Wie der Staat künftig aussehen wird? Wer ihm wie vorsteht? Eine Schablone dafür existiert nicht.MUSIK 2 ERZÄHLERINBloß der überkommene Entwurf aus dem alten Europa, den viele in Amerika nicht wollen. Genauso wie sich Europa dagegen auflehnt. Die Menschen begehren auf gegen Monarchie, Despotie und Willkür. Das absolutistische System muss weg. Frankreich ächzt unter Hungersnöten. Die Staatskasse ist leer. Der König baut groß um in Versailles. Denkmäler im eigenen Land will er sich setzen. International mitmischen auch, also beteiligt er sich am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Damit möchte Louis XVI. dem großen Rivalen Großbritannien eins auswischen. MUSIK ZITATOR INFOBeide Länder versuchen Fuß zu fassen in Nordamerika und kommen sich in die Quere. Auseinandersetzungen gibt es mit indigenen Bevölkerungsgruppen und untereinander: Wer kolonisiert wo was und wen? Die Briten erkämpfen sich die Vorherrschaft. Frankreich will Revanche und unterstützt die amerikanischen Rebellen finanziell wie militärisch. Handels- und Bündnisverträge sichern schließlich zu, dass Frankreich bis zur Unabhängigkeit an der Seite der jetzt noch abhängigen Kolonien stehen wird. In der entscheidenden Schlacht bei Yorktown verhelfen französische Truppen der amerikanischen Revolution zum Sieg. 1783 fädelt Frankreich ein, dass die Briten im „Frieden von Paris“ die Souveränität der USA anerkennen. 2 ERZÄHLERINProblem bloß: Frankreich ist nach dem amerikanischen Einsatz erst recht pleite. Die Bevölkerung begeistert sich noch mehr als eh schon für die antimonarchistische Sache. MUSIK 2 ERZÄHLERINUnd Die Zeitungen erfinden immer wildere Geschichten über die Königin: Verschwendungssucht! Sex mit Frauen. Mit Männern. Mit allen zugleich. Der Versailler Intrigenstadel bestätigt die Gerüchte.  1 ERZÄHLERINMarie Antoinette ist jung und unbedarft. Das wird ihr immer wieder zum Verhängnis. 6 ZU Lindinger 24:54Ich glaube, wie sie gemerkt hat, dass gar nix mehr geht. Ich glaube, das war erst die Halsband Affäre. 2 ERZÄHLERINWertet Biografin Michaela Lindinger. 7 ZU Lindinger 25:44Das war dann schon in Richtung auf die Revolution hin, wie man ihr unterstellt hat, sie habe mehr oder weniger das teuerste Halsband der Welt auf Kredit gekauft, was überhaupt nicht gestimmt hatten. 1 ERZÄHLERINDas Komplett ist vertrackt. Adel und Klerus übervorteilen sich gegenseitig, wer am Ende was war, weiß man nicht.2 ERZÄHLERINNur eins: Schuld an allem ist Marie Antoinette. Die von nichts eine Ahnung hat. 1 ERZÄHLERINDas will aber niemand glauben. Man traut der prunksüchtigen Königin eine solche Charade zu. 8 ZU Lindinger 25.44Ja, da war dann gar nichts mehr für sie zu machen. (26:36) Man wollte diese Königin fertigmachen. MUSIK 2 ERZÄHLERINUnd diese Königin hat nichts entgegenzusetzen. Sie kriegt in Frankreich keinen Fuß auf den Boden. Man mag sie nicht. Kollektiv. 1 ERZÄHLERINDabei hatte ihr die Mutter Kaiserin Maria Theresia eingeschärft: Sieh zu, dass die Leute Dich lieben! Die Menschen müssen ihre Monarchen lieben.  2 ERZÄHLERINAber wie bringt man die Menschen dazu? 1 ERZÄHLERINVielleicht in dem man es gar nicht erst versucht. Weil man es nicht versuchen muss. Martha Washington betreibt null Eigen-PR. MUSIK 1 ERZÄHLERINDie amerikanischen Unabhängigkeitskriege sind vorbei. George und sie leiten wieder die florierende Plantage Mount Vernon an den Ufern des Potomac, kümmern sich um die Enkelkinder, empfangen Gäste aus der Alten und Neuen Welt. Viele wollen den berühmten Feldherren sehen. Der etwas ungelenk und ein bisschen kühl wirkt. Anders als seine Frau: 06 ZITATOR PRESSE 1„Mrs. Washington ist die Güte in Person. Ihre Seele scheint damit überzufließen wie ein sprudelnder Springbrunnen.“ 1 ERZÄHLERINNotiert ein junger Besucher. 07 ZITATOR PRESSE 1„Und ihre Fröhlichkeit bemisst sich ganz nach der Zahl der Menschen, denen sie ihr Wohlwollen schenken kann“. (Brady 2005: 185) MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERINMartha wird dieses ungezwungene Leben vermissen. Ihr Mann wird gewählt. Ab 1789 ist George Washington Mister President. An seiner Seite geht es erst nach New York, Ende 1790 steht der Umzug an in die damalige Hauptstadt Philadelphia. 05 ZITATOR INFOFür angemeldete Besucher gibt es zweimal wöchentlich Empfänge zur Mittagszeit. Niemand Wichtiges darf bevorzugt oder übergangen werden. Regelmäßig stehen Theaterbesuche an. Datum und Uhrzeit erfährt man aus der Zeitung. Wenn Präsident und Gattin die Loge betreten, erhebt sich das Publikum, das Orchester intoniert „The President´s March“. 2 ERZÄHLERINPendant heute ist „Hail to the Chief”... Bälle muss das Paar geben oder Einladungen dazu folgen. Wobei: „Muss“ ist relativ, sagt die Bostoner Historikerin Catherine Algor: 9 ZU (1.07 Algor) I would say…OV wMartha Washington hat schon deshalb eine Sonderrolle, weil sie die erste der First Ladies ist. Sie muss innovativ sein, ein Protokoll erfinden. An Europas Höfen gibt es solche Protokolle längst. In Marthas DNA liegt ein steifes Zeremoniell aber nun mal einfach nicht. 10 ZU (2.14 Algor) Martha had to invent …OV wSie soll aus dem Stand Veranstaltungs- und Dialogformen ausdenken für eine neue Nation, die ausgesprochen antiaristokratisch und antimonarchisch ist. Jetzt. ATMO Pferdekutsche 2 ERZÄHLERINIhr Mann grübelt ebenfalls: Wie viele Pferde soll Mister President anspannen lassen, wenn er durch die Straßen fährt? Zehn? Zwei? Er entscheidet sich für sechs. 11 ZU Algor 20:58 He wants enoughOVwEr will genug Pferde, um anerkannt zu werden als Autorität, aber nicht so viele, dass man ihn für einen König halten könnte. Und das sind die Herausforderungen: Spricht man den Präsidenten an als Hoheit? Sollen Kongressabgeordnete Titel bekommen wie „Lord“? Das ist ja eigentlich verrückt, denn gegen all das Aristokratische hatte man ja jahrelang in der Revolution gekämpft.     MUSIK 1 ERZÄHLERINAber: Alles ist jetzt Statement. 2 ERZÄHLERINUnd Kalkül. 1 ERZÄHLERINMartha fühlt sich mit den Jahren füllig. Sie tanzt nicht mehr so gern wie früher. 2 ERZÄHLERINGeorge schon. Am liebsten Menuette bis nach Mitternacht. 1 ERZÄHLERINUms Gernemachen geht es aber nicht mehr. 12 ZU (Algor 8.28) This is a very patriarchal society…OVwDas ist damals eine patriarchale Gesellschaft. Ob das jetzt bei Hofe ist oder eine brandneue Republik: Wer Politik machen will, braucht zwei Sphären. Eine offizielle, da entstehen Gesetze und Verträge. Wichtig ist aber genauso eine zweite Ebene, die politische Prozesse überhaupt ermöglicht. Das ist meist eine inoffizielle Ebene, da finden Gespräch statt bei Partys, beim Abendessen, im heimischen Umfeld. Und hier kommen besonders die Frauen ins Spiel. 1 ERZÄHLERIN Raum geben für sozialen und damit politischen Austausch. Frauensache. Martha beherrscht das aus dem Effeff. 2 ERZÄHLERINDer neue Staat hat noch keine Bürokratie. Wer welchen Job im System bekommt, machen wenige unter sich aus. MUSIK 1 ERZÄHLERIN Bevorzugt beim Abendessen. Die Tage sind aus Marthas Sicht viel zu fremdbestimmt. Sie kümmert sich um ihren Mann, wie sie es in all den Jahren auf Mount Vernon getan hat oder während der Revolution in den Heerlagern der Armee. 1 ERZÄHLERINDas wertet sie als ihre Hauptaufgabe als First Lady. 2 ERZÄHLERINAndere sehen das anders. Plötzlich sind da Repräsentationspflichten, weil die Menschen das zu erwarten scheinen und weil Macht offenbar Repräsentation braucht. Und eine gewisse Aura. 1 ERZÄHLERIN Die – oder eine sehr ähnliche - Aura, wie sie in der alten Welt oftmals Könige und Kaiser umgab. MUSIK 06 ZITATOR INFOBis Mitte der 1770er Jahre betrachten sich viele Einwanderer in Amerika als Europäerinnen und Europäer. Etliche kommen gerade erst aus der alten Welt, die meisten aus Großbritannien und Deutschland. Selbstverständlich gilt: Herrschaft ist Aristokratie, und das wiederum meint Autorität. Nach den Unabhängigkeitskriegen ist die Frage: Die Monarchie ist man los, wer oder was soll aber nun Autorität verkörpern? Und kann oder muss man aus Europa bekannte aristokratische Modelle adaptieren – wenn auch dezent - für ein neues, republikanisches Zeremoniell? Weil einen sonst keiner als Staatsoberhaupt ernst nimmt? 1 ERZÄHLERINMartha Washington als erste Präsidentengattin nimmt es pragmatisch. Zuerst rekrutiert sie einen eigenen Stab. Mit Polly Lear verfügt sie über eine Sekretärin, die ihr vor allem bei der Korrespondenz behilflich ist. Bob Lewis wird Sekretär und Leibwächter. 2 ERZÄHLERINBuchhaltung beherrscht sie als langjährige Managerin von Mount Vernon. Mit spitzem Stift rechnet sie nach, ob die Repräsentationskosten die monetäre Ausstattung des Präsidentenamtes übersteigen. 1 ERZÄHLERINSamuel Francis ist Wirt einer Taverne. Ihn macht Martha zu ihrem Caterer um tea times auszurichten, Parties und Abendessen. 02 ZITATOR„Ich habe Bälle anlässlich des Geburtstags des Präsidenten erlebt“ - 2 ERZÄHLERINBerichtet ein französischer Besucher, der Herzog de la Rouchefoucauld-Liancourt. 03 ZITATOR„Die an Glanz der Räumlichkeiten, an Vielfalt und Pracht der Kleider keinen Vergleich mit Europa zu scheuen brauchen“. (Gerste 2000:24) MUSIK 1 ERZÄHLERINWann immer es geht, versucht Martha ein bisschen altes Leben zurückzugewinnen. Mit einigen Frauen anderer führender Politiker ist sie seit den Revolutionsjahren befreundet. Abigail Adams, Betsy Hamilton oder Lucy Knox bilden ihren inneren Zirkel. Vertraute, die es braucht. 2 ERZÄHLERINUnd die es bleiben, selbst als die Ehemänner anfangen, politisch sehr andere Richtungen einzuschlagen. MUSIK 1 ERZÄHLERINÜber Kinder reden, echte Freunde haben statt nur Intriganten in Versailles und vor den Palasttoren das aufgebrachte Volk und eine geifernde Presse - Das würde Frankreichs Königin Marie Antoinette auch gerne. Die jüngste Tochter hat sie verloren, den ältesten Sohn nach langer Krankheit ebenso. 13 ZU Lindinger 30.52Das war 1789 eben, da hat sie sagen müssen ja, mein Sohn ist tot, und es interessiert niemanden. 2 ERZÄHLERINDie Revolutionäre nehmen es als Zeichen von oben: Der Kronprinz ist tot, der Adel kann weg. 1 ERZÄHLERINMarie Antoinette will auch weg. Ins Exil, in Sicherheit mit den beiden verbliebenen Kindern. 14 ZU Lindinger 35:54Das Problem war es, dass ihr Mann nicht mitgezogen hat. Er war grundsätzlich ein unfassbar unentschlossener Mensch. Und dann ist Ludwig XVI. in einen Alkoholismus und in eine Depression verfallen. Und das war dann auch die Zeit, wo Marie Antoinette bei den diversen politischen Sitzungen präsidiert hat. Weil ihr Mann unpässlich war, wie man offiziell gesagt hat, also, der ist durch die Gegend getorkelt und ist vor den Ministern gestürzt. Es war relativ kurz vor der Revolution und dann, als die Revolution wirklich ausgebrochen ist im Juli 1789, da wollte sie fliehen. Wie alle anderen Adeligen auch. 15 ZU Lindinger 35:54Und dann ist aber der König gekommen und hat gesagt „Nein, ich bin der König von Frankreich, ich bleibe in meinem Land“. Und es geht natürlich nicht, dass sie Entscheidungen ganz allein trifft, hat sie die Koffer wieder ausgepackt. MUSIK & ATMO Revolutionsmenge ZITATOR INFOIm Oktober 1789 ziehen die Arbeiterfrauen – darunter auch viele Männer – nach Versailles. Sie singen Revolutionslieder, schlagen alles kurz und klein, holen die Pferde aus den Stallungen, schlachten und braten sie. Die Königsfamilie muss nach Paris umziehen, in den seit Jahrhunderten unbewohnten Tuilerien-Palast. Kein Schritt mehr ohne Erlaubnis. Ausflüge in den Garten oder in die Stadt – nur unter Bewachung. Nach der Versammlung der Generalstände geht die Macht über an die Volksvertretung. Eine Verfassung gilt es noch auszuarbeiten, man gestünde dem König sogar eine Art Machtposition zu. Der will von einer konstitutionellen Monarchie wie andernorts in Europa nichts wissen. Er regiert. Nein, entgegnet die Volksvertretung: Dann ist die Monarchie eben ganz vorbei. MUSIK 1 ERZÄHLERINZum ersten Mal in ihrer Zeit auf dem Thron nimmt Marie Antoinette das strategische Heft in die Hand. 2 ERZÄHLERINIhr schwedischer Geliebter Hans Axel von Fersen ist zu der Zeit wieder in Paris. 1 ERZÄHLERINDie beiden werden zum politischen Powerpaar wie George und Martha Washington. 16 ZU Lindinger 41.18Der war in Europa sehr gut vernetzt, und sie hat dann alle mögliche Geheimpost, verschlüsselte Post, nicht sichtbare Post mit Zitronensaft versucht, hinauszuschmuggeln. Und manche von diesen Briefen sind ja auch durchaus angekommen, mit den exilierten Adeligen hat es Versuche gegeben, die Monarchie in Frankreich wieder zu reinstallieren sozusagen. MUSIK 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette verhandelt, arbeitet Ideen aus zusammen mit Fersen. Fluchtrouten werden erstellt. 1 ERZÄHLERINDer König sitzt in seinem Zimmer, trinkt Wein und tut nichts. 2 ERZÄHLERINAls Frau allein gelingen Allianzen unter solchen Umständen nicht. 17 ZU Lindinger 41.18Ich glaube, dass Marie Antoinette keine reale Chance gehabt hat, sich selber wieder zu installieren als Königin. Und das hat sie dann auch eingesehen. MUSIK 2 ERZÄHLERINEin letzter Fluchtversuch aus dem Gefängnis scheitert. Das Urteil Tod durch die Guillotine ist längst gefällt. Auch auf Basis einer erzwungenen Falschaussage ihres kleinen Sohnes. Der König ist zu diesem Zeitpunkt schon hingerichtet. Einzig die älteste Tochter wird es außer Landes schaffen und die Revolution überleben. 1 ERZÄHLERINIn ihrer engen dunklen Zelle im schlichten dunklen Gewand wäre Marie Antoinette jetzt die züchtige Königin, die Frankreich immer aus ihr machen wollte. 2 ERZÄHLERINSie betet für ihre Kinder und wünscht sich eines: Ein letztes Mal den geliebten Fersen sehen. 1 ERZÄHLERINSelbst der hat aufgegeben. Und was sie nie erfahren wird, schon eine neue Herzensdame gefunden weit weg von Paris. Dort wird Marie Antoinette am 16. Oktober 1793 auf der Guillotine hingerichtet. 2 ERZÄHLERINWährend in der Alten Welt das Ende der des Absolutismus eingeläutet ist, bahnt sich in der Neuen längst ein republikanischer Anfang. MUSIK 1 ERZÄHLERINMartha Washington hätte gerne mehr Zeit für die Enkel, würde gerne endlich wieder heim auf die Plantage Mount Vernon. Sie sieht aber auch, wie sehr politische Freunde auf eine zweite Amtszeit ihres Mannes drängen, wie sehr die jungen Vereinigten Staaten noch ein bisschen länger diesen Vater der Nation brauchen, um stabil zu werden. Die Kongressarbeit läuft, aber es bilden sich Parteien heraus, die sich nichts schenken. Die Kluft zwischen Nord- und Südstaaten klafft tiefer. George berät sich mit seiner Frau. 1 ERZÄHLERINWenn er bereit ist, ist sie es auch. 2 ERZÄHLERINWie immer. 1 ERZÄHLERINIm Frühjahr 1793 ist er zum zweiten Mal der erste Mann im Staat. Die innen- und außenpolitischen Umstände sind verschärft. Die Französische Revolution radikalisiert sich zunehmend. MUSIK 07 ZITATOR INFOWeniger als eine Woche nach Georges erneutem Amtsantritt kommt die Nachricht aus Frankreich: Nach König Louis XVI. ist jetzt auch seine Frau Marie Antoinette hingerichtet worden. Viele der aristokratischen französischen Offiziere, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, sind eingekerkert und warten auf die Guillotine. In Philadelphia und anderen Städten feiern Anhänger den Sieg der französischen Revolution. Die reiche konservative Oberschicht an der Ostküste dagegen fordert lautstark, nun wieder Großbritannien zu unterstützen. Theoretisch sind die USA noch als Partner an Frankreich gebunden, das ja einst die amerikanische Unabhängigkeit unterstützt hatte.       2 ERZÄHLERINAber das Frankreich Louis XVI. gibt es nicht mehr, argumentiert Washington. Er versucht vehement, sein Land zu den französischen Ereignissen auf Abstand zu halten. 1 ERZÄHLERINMartha unterstützt ihn. Sie hat genug gesehen von Krieg. Die Gräuel in Frankreich machen sie fassungslos. Das junge amerikanische Staatswesen hat aus ihrer Sicht Europa einiges voraus. 08 ZITATOR PRESSE 1„Das außerordentliche Wissen, das sie erworben hat im Austausch mit Menschen aus aller Welt, macht sie zu einer besonders interessanten Gesprächspartnerin.“ 1 ERZÄHLERINSchreiben Journalisten über sie. 09 ZITATOR PRESSE 1„Sie hat ein lebhaftes Gedächtnis und kann die komplette Historie eines halben Jahrhunderts aufleben lassen.“ (Brady 2005:215) MUSIK 1 ERZÄHLERINIm März 1797 zieht Martha Washington mit ihrem Mann zurück nach Mount Vernon, endgültig. Ihr bekanntester Satz in den Geschichtsbüchern wird sein: 08 ZITATORIN MARTHA Bleiben sie standhaft meine Herren. George wird es auch sein. 1 ERZÄHLERINVon Marie Antoinette bleibt als prominentestes Zitat: 03 ZITATORIN MARIEWenn das Volk kein Brot hat, soll es Kuchen essen. 2 ERZÄHLERINDas hat sie so nie gesagt. 1 ERZÄHLERINEs traute ihr nur jeder zu. Und das ist typisch für Marie Antoinette, die Dauerverleumdete. Der die Presse alles unterstellte – die aber vielleicht auch einfach nur sie selbst sein wollte, doch zerrieben wurde in einem überkommenen System, das sie zeitlebens vor das Rätsel stellte: Was will die Welt denn nun von einer Königin Frankreichs? 2 ERZÄHLERINMartha Washington hatte eine ganz ähnliche Frage: Was wollen die USA von der Gattin des ersten Präsidenten? Auch sie gab einfach mal sich selbst – im Unterschied zu Marie Antoinette durfte sie das. Weil es für sie noch keine Folie gab, kein Zeremoniell und keine dynastischen Verpflichtungen, weil das Amt des Mannes es in sich hat, dass man es irgendwann abgibt, und der nächste ist gewählt. 1 ERZÄHLERINMartha und Marie – Marie und Martha: Mit der einen geht eine Ära zu Ende. 2 ERZÄHLERINMit der anderen beginnt ein neues Zeitalter.
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Nov 1, 2024 • 23min

DIE FIRST LADY UND DIE KÖNIGIN (2/3) - Martha Washington und Marie Antoinette

Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 2. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024) Credits Autorin & Regie : Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR (2024): Föhr nach New York – eine Auswanderergeschichte Erst die Weltwirtschaftskrise, dann der Zweiter Weltkrieg – mittendrin zwei junge Friesen in New York. Inge und Hermann sind unabhängig voneinander hierher ausgewandert und verlieben sich 1938. Doch dann muss Hermann für die Amerikaner an die Front. Wird er als Deutscher auf Deutsche schießen? Wie geht es weiter? Ihr Enkel Bente Faust hat ihre Spuren bis nach Harlem, New York, verfolgt und erzählt in sechs Folgen ihre Liebesgeschichte. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution  In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“  Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERINEs ist Frühling 1789: Martha Washington ist gerade angekommen in New York, dem provisorischen Amtssitz des ersten, eben erst gewählten Präsidenten der neuen Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menge jubelt ihrem Mann George und ihr zu. Sie ist die erste First Lady. 2 ERZÄHLERINBloß, dass der Begriff „First Lady“ damals noch gar nicht richtig etabliert ist und auch keiner weiß, welche Aufgaben die Ehefrau eines gewählten Präsidenten so übernehmen könnte. Soziales Engagement zeigen? Politische Ämter übernehmen? Oder nichts tun, außer an Gattenseite huldvoll lächeln? ZITATORIN MARTHA„Ich schätze nur das, was von Herzen kommt.“ 1 ERZÄHLERINBetont Martha Washington in ersten Interviews häufig. 2 ERZÄHLERINUnd jedes Mal will die Presse direkt wissen: Wofür genau schlägt dieses Herz? Die Gazetten drängen auf Privates. MUSIK 2 ERZÄHLERINNicht verwunderlich, würde eine Königin wie Frankreichs Marie Antoinette urteilten. Für sie, wie überhaupt, den europäischen Hochadel der damaligen Zeit ist klar: Privatheit gibt es bei Königs nicht. Von Gottes Gnaden meint für alle, ganz und gar. Am besten, man legt sich ein dickes Fell zu. 1 ERZÄHLERINAber gilt das auch in einem demokratischen System, wie es zu der Zeit in den USA entsteht? Martha Washington ringt lange und oft mit der Frage: Was sollen und dürfen die Menschen sehen und erfahren von einer First Lady der Vereinigten Staaten? 2 ERZÄHLERINAls Frau eines gewählten Staatsoberhauptes für eine bestimmte Zeitspanne sich völlig ausliefern? 1 ERZÄHLERINMartha wird zu dem Schluss kommen: Sie ist der Geschichtsschreibung nichts schuldig. MUSIK 1 ERZÄHLERINNach dem Tod ihres Mannes 1799 verbrennt sie die Briefe der beiden. 41 gemeinsame Jahre, hunderte Dokumente. Weil sie die Nachwelt nichts angehen. 2 ERZÄHLERINÜbrigens: Ihre Korrespondenz schreibt sie selten selbst. 1 ERZÄHLERINVielleicht ausgenommen der Liebesbriefe an ihren George, den sie wirklich gerne hat, was für damalige Ehen keine Selbstverständlichkeit ist. Ansonsten diktiert sie einem Sekretär. 2 ERZÄHLERINIn Grammatik ist sie nicht firm. Geboren am 13. Juni 1731 ist Martha das ältestes von acht Kindern eines solide gestellten Tabakpflanzers. Auf dem weitläufigen Landgut am York River erzieht sie der Vater, wie für Oberschichtmädchen in der Region gängig: 05 ZITATOR PRESSE 2Lesen und Schreiben in Grundzügen genügt. ATMO Stadt viktorianisches England 1 ERZÄHLERIN   Der Vater setzt aufs Praktische, Kaufmännische. Weil das einer vermutlich angehenden Plantagenbesitzergattin nicht schaden kann, nimmt er die junge Martha oft die paar Kilometer mit nach Williamsburg, in die Hauptstadt des Commonwealth of Virginia, der ältesten englischen Kolonie in Nordamerika. MUSIK 1 ERZÄHLERIN   Im Provinzparlament beobachtet die Tochter, wie Politik gemacht wird. Die wohlhabenden Pflanzer dominieren – wiederum untereinander abgestuft nach Hektar, Ertrag, Gewinn. Geld, Beziehungen, Hierarchien bestimmen Entscheidungen, weniger die besseren Argumente. 2 ERZÄHLERIN Spannenderweise sind es genau diese Mechanismen von „Ober sticht Unter“, die man in der neuen Welt zwar selbst bedient, die man sich aber nicht gefallen lassen will von einem Kolonialherren. Geldadel – ja. Erbaristokratie – ganz und gar nicht. ATMO Offiziersclub 1 ERZÄHLERIN So verkürzt erfährt das auch Martha, wenn der Vater sie nach den Parlamentssitzungen mitnimmt in Tavernen wie „Raleigh´s“ oder den „Apollo Room“. Am Biertisch schmieden Revolutionäre erste Pläne, um sich loszulösen vom Mutterland England.   MUSIK & ATMO 2 ERZÄHLERIN Noch liegt die amerikanische Revolution in der Ferne. Mit 17 Jahren heiratet Martha ihren ersten Mann. Dem nahezu doppelt so alten Daniel Park Curtis gehören umfangreiche Ländereien und wie bei Virginias Grundherren damals üblich eine stattliche Anzahl von Sklavinnen und Sklaven. 1 ERZÄHLERIN  Die dunkelhaarige Martha mit den warmen braunen Augen ist hübsch, einfühlsam, grundsätzlich gut gelaunt, vertritt aber – wenn geboten –einen eigenen Standpunkt. So zierlich sie ist, so zupackend kann sie sein. Geldzählen interessiert sie peripher. Gesellschaftliche Verpflichtungen kümmern sie nur, wenn man dabei ausgelassen tanzen kann. 2 ERZÄHLERINSie ist in erster Linie ein Familienmensch. 1 ERZÄHLERINEs trifft sie schwer, als zwei ihrer vier Kinder früh sterben. 2 ERZÄHLERINDieses Schicksal teilt sie mit vielen Eltern in den Kolonien. Krankheiten grassieren, die medizinische Versorgung ist sogar in den Großstädten prekär. Die Kindersterblichkeit ist hoch. 1 ERZÄHLERIN   Martha trauert lange, will für sich sein. 2 ERZÄHLERINIst aber auf einen Schlag wieder ganz gefordert. 1 ERZÄHLERIN   Der überraschende Tod ihres Manns Daniel reißt sie aus der Lethargie. Sohn Jack und Tochter Patcy sind noch klein. MUSIK 2 ERZÄHLERINMartha ist 25 Jahre alt und die mit Abstand reichste Witwe in weitem Umkreis. Mit Verve übernimmt sie die Plantagengeschäfte. Die Herren geben sich die Klinke in die Hand. Anteilnahme und Brautwerbung gehen nahtlos ineinander über. 1 ERZÄHLERINBis dann der eine kommt, 1758. Sie kennt ihn von früheren gesellschaftlichen Anlässen, hat auf Bällen mit ihm getanzt. 2 ERZÄHLERINVirginias Oberschicht ist überschaubar. 1 ERZÄHLERIN George Washington, groß, athletisch, elegant – 2 ERZÄHLERINDie Nase etwas zu lang, die Haut leicht pockennarbig – 1 EZRÄHLERINDas rotbraune Haar kess gewellt, die grauen Augen - er schaut nur eben zum Dinner vorbei und reitet, wie es die Legende will… ZITATOR WASHINGTON„Erst am nächsten Morgen weiter als die Sonne schon hoch am Himmel stand“. 1 ERZÄHLERINLiebe auf den ersten Blick? 2 ERZÄHLERINEher praktische Überlegungen? 1 ERZÄHLERINSie finden sich und heiraten. MUSIK 1 ERZÄHLERINWashingtons Vita ist bereits zum Zeitpunkt des Dinners, das bis zum Frühstück dauert, beeindruckend. 02 ZITATOR INFOLändereien in Virginia, am Potomac und am Rappahannock. Geschäftssinn in Sachen Immobilienkauf und -verkauf. Plus der Ruf eines jungen Kriegshelden. Seit fast drei Jahren tobt der Kolonialkrieg Briten gegen Franzosen. Die Lage generell: chaotisch. Für Washington aber bislang durchaus ruhmreich. Beispiel: ZITATORINDie erfolgsverwöhnten britischen Soldaten versuchen den französischen Stützpunkt Fort Duquesne in der westlichen Wildnis, hinter dem heutigen Pittsburgh zu erobern. Die Franzosen aber stellen mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung eine Falle. Die Briten verlieren die Nerven, werfen die Waffen weg oder schießen aus Versehen auf die eigenen Leute. Der Einzige, der mit seiner Einheit einen einigermaßen geordneten Rückzug hinbekommt, ist George Washington, der Colonel der Miliz von Virginia. Die Briten nennen seine Truppe aus Freiwilligen lange „Freizeitmannschaft“. Nach dem Debakel bei Duquesne nicht mehr. 1 ERZÄHLERINAm 6. Januar 1759 ist Hochzeit. Ein Leben in der Politik an der Seite eines bekannten Feldherren bahnt sich für Martha Washington an. In der neuen Welt gerät vieles in Aufruhr. Die Unzufriedenheit mit dem despotischen Kolonialherren in Großbritannien, George III., wächst. 2 ERZÄHLERINWarum an irgendeine Hoheit horrende Steuern zahlen auf alles Mögliche – für nichts? MUSIK 1 ERZÄHLERINIm alten Europa fragen sich das die Menschen auch. Sei es in England oder Frankreich. Doch durch die dicken Schlossmauern Versailles beispielsweise, wo eine unglückliche Königin Marie Antoinette ihren Platz sucht, dringen solche Stimmen selten. 2 ERZÄHLERIN Man lebt weiterhin nach der bewährten Gebrauchsanleitung für Monarchen. Was soll schon schief gehen? ATMO Marktplatz Frankreich 1 ERZÄHLERINEs sind die 1780er, die Jahre vor der Französischen Revolution. In Paris schwirrt die Luft. An Straßenecken und in Cafés tauscht man Neuigkeiten aus, tratscht. Das Lieblingsthema egal welcher Gesellschaftsschicht: Die Eskapaden der Königin. Billige Heftchen, genannt „Libelles“, bringen einen Skandal nach dem anderen. Sex, Alkohol, Intrigen – 2 ERZÄHLERINWer nicht lesen kann, lässt es sich vorlesen. Wer sich die Libelles nicht leisten kann, klaubt sie aus dem Müll. ZITATORESl'Autrichien/ Die Ausländerin/ l'étranger/ Die Fremde 1 ERZÄHLERINIst offensichtlich zu allem fähig! 2 ERZÄHLERINTatsächlich will Marie Antoinette nur endlich zu einem fähig sein: Mama werden. Die Ehe mit Ludwig XVI. ist zu lange kinderlos. Ihre Mutter in Wien, Kaiserin Maria Theresia bangt um die Allianz mit Frankreich. 1 ERZÄHLERINEin Thronfolger muss her, bitte danke! 1 ZU Lindinger 15:50Deswegen hat sie dann zum Josef II. gesagt, der war Mitregent, dann schon später Kaiser, war sehr berühmt in Österreich für eben seine aufklärerischen Prinzipien, und der ist hinuntergefahren nach Paris, hat sich getroffen mit dem Ludwig XVI. und hat ihm erklärt, wie der eheliche Verkehr funktioniert. 1 ERZÄHLERINErzählt Michaela Lindinger. Die Kuratorin des Wien Museums hat 2023 eine Biografie veröffentlicht über Marie Antoinette. 2 ZU Lindinger 15:50Da gibt's einen Brief, den er geschrieben hat an seinen anderen Bruder zwar Leopold II., der war später auch Kaiser. Damals war er noch Fürst in der Toskana, und der Brief lässt wirklich an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und am Schluss steht halt dann ja, seine Schwester sei ja auch eine unfassbar leidenschaftslose Person, und gemeinsam sind sie die größten Stümper, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Es ist ein sehr, sehr böser Brief. Aber trotzdem es hat etwas gebracht. Es sind ja dann doch in relativ kurzer Zeit mehrere Kinder hintereinander zur Welt gekommen. MUSIK 2 ERZÄHLERINEndlich erfüllt die französische Königin die Erwartungen eines Volkes, das gar nicht ihres ist oder sein will. „Die Österreicherin“ nennt Frankreich Marie Antoinette hartnäckig. Am Versailler Hof fasst sie nicht Fuß, in den Straßen und Gassen Paris und an etlichen anderen Orten im Land köchelt bereits der Aufstand gegen das überkommene System der Monarchie. 1 ERZÄHLERINWährend in Frankreich eine Epoche zu Ende geht, beginnt einen Kontinent weiter eine neue: Die jungen Vereinigten Staaten von Amerika wählen ihren ersten Präsidenten an die Spitze des neuen Staates. An seiner Seite Martha Washington als – ja was? Das Konzept der First Lady wird sie definieren, während im alten Europa mit Marie Antoinette des Konstrukt Königin zu Grabe getragen wird zumindest in Frankreich. Zwei Frauen – zwei Schicksale, sehr verschieden, aber in vielem auch ganz ähnlich. 2 ERZÄHLERINTreffen werden sie sich nie. 1 ERZÄHLERINVerstanden hätten sie sich vielleicht. MUSIK & ATMO Kinder 2 ERZÄHLERINBeide sind Familienmenschen. Martha Washington, weil sie es liebt und sein darf. Marie Antoinette gegen alle Konventionen. Sie stillt ihre Kinder – 1 ERZÄHLERINEin No Go für französische Königinnen. 2 ERZÄHLERINSie liest den vier Kleinen vor, musiziert mit ihnen, tollt zusammen durch den Park. Kümmert sich um den Ältesten, der an einer Erbkrankheit leidet und nicht laufen kann – was das Volk nicht wissen darf. 1 ERZÄHLERIN Besser gestellte Damen in Paris sind längst beides: Begeisterte Mutter und Grand Dame. 2 ERZÄHLERINIn Versailles meckert man. Marie Antoinette ist von vornherein abonniert auf Kritik. Eine festgelegte Aufgabe für Königinnen gibt es nicht. Was soll sie machen? Hofzeremoniell? Weil das einengend ist und der Ehemann desinteressiert, schafft sie sich eine eigene Welt. MUSIK  2 ERZÄHLERINSie lässt einen pompösen Gartenpalast bauen und trifft in diesem Trianon ausgesuchte Freundinnen und Freundin. 1 ERZÄHLERINWählerisch ist die Königin nicht. Lust an Spiel und Tanz und neuster Mode genügt.  2 ERZÄHLERINEine Gast ist besonders: Der schwedische Diplomat Hans Axel von Fersen. 3 ZU Lindinger 17:35Es war ihre große Liebe, mit dem sie innerlich sehr eng verbunden war und ihr Mann, der natürlich selber gewusst hat, er kann sie nicht glücklich machen. Also er hat diese Beziehung zum Fersen ja auch definitiv erlaubt. 2 ERZÄHLERINFersen wird ihre Konstante sein. Als er Anfang der 1780er Jahre nach Amerika geht, um dort zu kämpfen für die Unabhängigkeit der Kolonien, fiebert Marie Antoinette mit. Freiheit – das ist ihr großer Wunsch, ihr Antrieb. Leben wie man will und sagen was man möchte und entscheiden, handeln und dafür nicht ständig angegriffen und verleumdet werden. 1 ERZÄHLERINMan kann alles auswarten, hat ihr die Mutter, Kaiserin Maria Theresia beigebracht. 2 ERZÄHLERINDie Wiener Boulevardzeitungen sind jedoch milde im Vergleich. Die französischen Spottschriften überbieten sich an reißerischen Fake News.   4 ZU Lindinger 24:54Es ist ein Pamphlet erschienen. Und das hieß „Vor Sonnenaufgang“. Da hat man so beschrieben wie sie mit ihren jugendlichen Freunden in irgendwelche Gebüsche in Versailles Schlosspark kriecht und sich dort mit Männern und Frauen vergnügt. Das war ein sehr, sehr langes Pamphlet, das so zahlreiche unterschiedliche sexuelle Beziehungen verdeutlicht hat. Und es ist immer wieder zitiert worden am Hof. MUSIK 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette bekommt Angst. Der König wimmelt sie ab. 1 ERZÄHLER  Er ist froh, als der enge Freund seiner Frau, Fersen, endlich aus den USA zurückkehrt und sich mit ihr beschäftigt. 2 ERZÄHLERIN Sie auch. MUSIK 5 ZU Lindinger 48.50Es war ihre Art der persönlichen Rettung. Ja, wenn ich mit einem Mann verheiratet bin, der so ist wie Ludwig XVI. - und wenn ich gleichzeitig diese ganze Hofgesellschaft rund um mich habe, die mich jeden Tag nur fertig macht. Und dann weiß ich auch noch, dass diese Hofgesellschaft in Paris die Journalisten zahlt, die Lügen über mich verbreiten. Ich glaube diese Beziehung mit dem Fersen, das war das große Glück in Marie Antoinettes Leben. Auf Dauer nicht, der war ja viel weg. 2 ERZÄHLERINFersen wird tatsächlich auch diesmal bald abkommandiert, er muss den schwedischen König auf einer Europa-Reise begleiten. Marie Antoinette lenkt sich ab: Sie designt Kleider, sitzt für Portraits, tobt im Garten mit den Kindern, abends ist Party. 1 ERZÄHLERINÜber die am nächsten Morgen die wildesten Gerüchte in den Spottzeitungen stehen. Das Leben der Königin von Frankreich: Ein infernalisches Chaos! MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERIN  Ganz anders das Eheleben der später ersten First Lady der USA, Martha Washington in den 1770er Jahren. Sie muss nicht lange überlegen, was ein Zeitvertreib sein könnte. Einen Ersatzalltag, eine Flucht braucht sie nicht. Sie hat reichlich Aufgaben auf der Plantage Mount Vernon. Um vier Uhr morgens steht sie auf, kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, sie ist auch die, die die Arbeitseinteilung der Sklaven organisiert, die vorwiegend auf den Feldern schuften müssen. Ihrem Mann hält sie den Rücken frei. Der engagiert sich politisch als Abgeordneter des House of Burgesses in Virginia. Höhen und Tiefen gehen beide an. An einem strahlenden Sommertag 1773 beim Familiendinner hat Marthas Tochter aus erster Ehe, Patcy, einen epileptischen Anfall. Wie oft. Nur diesmal weit heftiger als sonst. Der Teenager stirbt in den Armen des Stiefvaters. 2 ERZÄHLERINEs ist eine persönliche Tragödie. Auch Königin Marie Antoinette wird Kinder zu Grabe tragen, aber immer unter den Augen der französischen Öffentlichkeit. Der Fortbestand der Monarchie hängt an gesundem Nachwuchs. 1 ERZÄHLERINMartha und George Washington bewältigen den Schmerz über den Verlust gemeinsam, reden viel. Darüber und alles andere.  MUSIK 03 ZITATOR INFODie politische Situation spitzt sich zu. Im Dezember 1773 entern erboste Bürger im Hafen von Bosten Handelsschiffe und werfen deren Ladung ins Wasser: Es ist Tee aus Indien, den die britische Krone mit eklatanten Steuern belastet hat. In Virginia bilden sich Fronten. Auf der einen Seite steht der Gouverneur, der die Kolonie verwalten soll, zusammen mit englandtreuen Loyalisten. Auf der anderen Seite eine Opposition, die auf die Einhaltung ihrer Rechte pocht, sich den Menschen in Boston an die Seite stellt und Zulauf bekommt, aus den verschiedensten Schichten. Ihr Slogan: Keine Besteuerung ohne Repräsentation. Ihr Ziel: Entweder Mitspracherecht im britischen Parlament oder kein britischer König mehr als Kolonialherr. Der Erste Kontinental-Kongress in Philadelphia will ein gemeinsames Vorgehen der 13 Kolonien beraten gegen ein zunehmend repressives Mutterland Großbritannien. George Washington ist eingeladen als Repräsentant von Virginia. 2 ERZÄHLERINAm Vorabend des Kongresses treffen sich einige Delegierte auf Mount Vernon und diskutieren: 1 ERZÄHLERINÜberhaupt am nächsten Tag hinzufahren – das ist keine einfache Entscheidung. 2 ERZÄHLERINSchon die Teilnahme am Kongress werden die Engländer ansehen als Verschwörung zum Hochverrat. 1 ERZÄHLERIN     Washington entscheidet sich für Philadelphia. 2 ERZÄHLERIN  Seine Kollegen auch. 1 ERZÄHLERINUnd Martha. Als sich die Gesellschaft am Morgen auf den Weg macht dorthin, sagt sie ihren wohl berühmtesten Satz: 04 ZITATORIN MARTHA  „Bleiben Sie standhaft, Gentlemen – ich weiß, dass George es sein wird.“ MUSIK ZITATOR INFOIm Frühjahr 1775 eskaliert die Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und den Kolonien. Washington wird Oberbefehlshaber einer Armee, die er erst aufbauen muss. Und die der größten Militärmaschinerie der Welt trotzen soll. Er zieht direkt ins Feldlager der Freiwilligenarmee von Boston. MUSIK 1 ERZÄHLERINMartha folgt ihm – und später von Heerlager zu Heerlager. Sie pflegt verwundete Soldaten, spendet Trost, stopft Socken. Sie kümmert sich um die Menschen und um militärische Belange. Bei den strategischen Planungssitzungen in Washingtons Hauptquartier sitzt ist sie gerne dabei. Sie sitzt bei ihrem Mann an der Tafel, wenn bedeutende Besucher ins Heerlager der Kontinentalarmee kommen, etwa amerikanische Befehlshaber oder in der späteren Phase des Krieges französische. 2 ERZÄHLERINDer aus Deutschland stammende General von Steuben nennt sie: 01 ZITATOR„Eine römische Matrone!“ 1 ERZÄHLERINDas Kompliment amüsiert sie. Als Tochter eines Tabakpflanzers, Witwe eines Gutsbesitzers und nun wieder Frau eines solchen ist sie reine Männerrunden gewohnt. Ob Geschäftspartner daheim beim Diner – gewinnbringend – zu unterhalten oder eben jetzt am Tisch im Zelt des Kommandanten strategische Wogen zu glätten – Martha Washington schüttelt sowas aus dem Ärmel. 2 ERZÄHLERINWobei die Revolution langsam mal rum sein könnte. MUSIK 05 ZITATORIN MARTHA„Ich hoffe und vertraue darauf, dass alle Staaten den großen Durchbruch schaffen, die britischen Grausamkeiten stoppen und uns Frieden, Freiheit und Freude bringen, nach denen wir uns so lange bereits sehnen“. 1 ERZÄHLERINSchreibt Martha Washington in ihren Briefen. 06 ZITATORIN MARTHA „Ich wünschte, der Krieg ginge zu Ende.“ 2 ERZÄHLERINDer zieht sich. Mehrfach ist die Moral der Truppe am Boden. Es fehlt an Ausrüstung und Lebensmitteln, die Niederlagen gegen die oft übermächtig erscheinenden Briten sind schmerzlich. George Washingtons Charisma reißt seine Männer ein ums andere Mal mit. MUSIK 1 ERZÄHLERIN Und vielleicht überzeugt die Soldaten auch der unerschütterliche Glaube seiner Frau an ihn – nach wie vor gilt ihr: 07 ZITATORIN MARTHA  „Bleiben Sie standhaft, Gentlemen – ich weiß, dass George es sein wird.“ 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette hat keine Ahnung, auf was sie sich bei Louis XVI. verlassen kann und ob überhaupt. Arrangierte Adelsehen sind politisch, nicht pathetisch. 1 ERZÄHLERINAltbewährtes Konzept. 2 ERZÄHLERINNein, es macht sie nicht glücklich – aber: … Was soll schiefgehen?
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Nov 1, 2024 • 23min

DIE FIRST LADY UND DIE KÖNIGIN (1/3) - Martha Washington und Marie Antoinette

Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 1. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)Credits Autorin & Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger Linktipps: Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution   In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“   Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERIN Martha kommt. In dichten Reihen drängen sich die Menschen an diesem Frühlingstag in den staubigen Straßen von New York. Die Menge jubelt, schwenkt Fahnen, wirft Hüte. 2 ERZÄHLERIN Ellbogen stechen in Rippen. Hände schieben. 1 ERZÄHLERIN Dreizehnmal donnern die Kanonen zum Salut. Als die prächtig geschmückte Fähre - Stoffbahnen und Blumenranken an Bug und Heck in rot, weiß und blau - als die prächtig geschmückte Fähre anlegt an der Südspitze Manhattans – 2 ERZÄHLERINSehen die meisten in der Masse gar nichts vor lauter wedelnder Wimpel und grüßender Taschentücher. 1 ERZÄHLERIN Dabeisein ist alles an diesem 27. Mai 1789. ZITATOR PRESSE 1Der erste Präsident bezieht offiziell seinen provisorischen Amtssitz an der Ecke Cherry und Queen Street – ZITATOR PRESSE 2Wochenlang haben George Washington und sein Stab hier alles vorbereitet – nun kommt seine Frau Martha nach – ZITATOR PRESSE 1Cherry Street Number 3 – ZITATOR PRESSE 2Später wird der Präsident mit seiner Familie in Philadelphia wohnen, in der neuen Hauptstadt der – neuen – Vereinigten Staaten. 1 ERZÄHLERINDie USA haben einen Präsidenten, gewählt vom Volk, seine Macht ist eine qua Amt. Damit beginnt eine neue Zeitrechnung: Die westliche Moderne. MUSIK 2 ERZÄHLERINNur drei Wochen später, am 14. Juli 1789 geht eine andere Ära zu Ende. Im alten Europa, in Frankreich stürmen die Revolutionäre die Bastille. Die Monarchie muss weg. 1 ERZÄHLERIN Im Zentrum dieser beiden Großereignisse so knapp hintereinander, stehen zwei Frauen, deren Leben gar nicht so unähnlich sind. Getroffen haben sie sich nie. Aber sicher ähnliche Erfahrungen gemacht – wenn auch mit sehr unterschiedlichem Ausgang. Die eine: Marie Antoinette, Königin von Frankreich, bekannt für ihre berüchtigte Verschwendungssucht, ihre modischen Exzesse, frivolen Partys. Die andere: Martha Washington. Die erste Mutter einer neuen Nation. Die eine Tochter aus österreichischem Kaiserhaus. Der Vater der anderen ein Tabakpflanzer aus Virginia. Beide stehen irgendwann an der Spitze eines Staates, in der Rolle einer Königin, einer First Lady. Die eine wird helfen ein neues System zu etablieren, der anderen wird ein altes System aus den Fingern gleiten.  2 ERZÄHLERINAusgesucht haben sich die beiden ihre jeweiligen Spitzenposten nicht. MUSIK & ATMO 2 ERZÄHLERINAls am 27. Mai 1789 ganz Manhattan auf den Beinen ist, um die Gattin des Präsidenten zu begrüßen, macht Martha Washington mit, weil man an die Seite des Mannes gehört, wie sie findet: ZITATORIN MARTHA„Er ist viel zu alt, um nochmal groß einzusteigen in die Politik. Aber da es nicht zu verhindern ist, gehe ich mit.“ 1 ERZÄHLERINPer Fähre holt er sie feierlich ab von der anderen Seite des Hudson River. Die begeisterten Bürgerinnen und Bürger der rund 33.000 Einwohner zählenden Stadt New York, überhaupt der neuen Nation, der United States of America, feiern: Martha Washington… 2 ERZÄHLERINDie winkt. Wohl eher verhalten. MUSIK & ATMO 2 ERZÄHLERINDie kleine, rundliche Frau mit den weißen Locken unter der Haube ist 58 Jahre alt, mehrfache Großmutter und mit Leib und Seele Managerin des Familienanwesens Mount Vernon. Das liegt 250 Meilen, also mehrere Tagesreisen entfernt, idyllisch an den Ufern des Potomac River, mit Blick auf die grünen Hügel und Wälder des ländlichen Virginia.  1 ERZÄHLERINJetzt ist sie zudem die erste – 2 ERZÄHLERINJa, was eigentlich? 1 ZU (0.52+5.42) It is interesting… without job descriptionOVw Diese Rolle der „First Lady“, hatte keine Jobbeschreibung. 2 ERZÄHLERINSagt Catharine Allgor. Sie ist Vorsitzende der Massachusetts Historical Society in Boston. 2 ZU (6.02) This happens a lot…OVwWenn man sich mit Frauengeschichte beschäftigt, hat da vieles keinen offiziellen Rahmen. Bei George Washington als erstem Staatsoberhaupt einer Republik war klar, eine aristokratische Ansprache geht gar nicht. Also wurde er auf eigenen Vorschlag „Mister President“. 2 ERZÄHLERINUnd sie? MUSIK 03 ZITATOR PRESSE 1 + 03 ZITATOR PRESSE 2 + div.„Gott schütze Lady Washington!“      1 ERZÄHLERINRufen die Menschen bei ihrer Ankunft in New York. 2 ERZÄHLERINDie Zeitungen titeln genauso. Oder ganz anders. Der Daily Advertiser vom 15. Juni 1789 etwa berichtet: 04 ZITATOR PRESSE 2„Ihre Hoheit (Martha Washington), die letzte Woche durch einen Schmerz im dritten Gelenk des vierten Fingers der linken Hand sehr indisponiert war, ist – wir sind in der glücklichen Lage, dies kundzutun – auf dem Wege der Genesung, nachdem sie sich eine Erkältung zugezogen hatte, als sie in jenem Pelzmantel ausging, den ihr jüngst der russische Botschafter als Geschenk der Prinzessin vermacht hatte.“  2 ERZÄHLERINLady Washington. Hoheit. Prinzessiale Pelzmantelgeschenke. Und plötzlich ist das dritte Gelenk des vierten Fingers -  1 ERZÄHLERIN  Der linken Hand - 2 ERZÄHLERINIst selbst das von allseitigem Interesse. Offizielle Dinner und Empfänge müssen sein - ZITATORIN MARTHA“Mein Leben ist langweilig. Tatsächlich fühle ich mich wie eine Staatsgefangene.” 2 ERZÄHLERINSchreibt Martha Washington am 23. Oktober 1789 aus New York an ihre Lieblingsnichte Fanny, wenige Monate nach dem Amtsantritt ihres Mannes.  MUSIK 03 ZITATORIN MARTHA“Es gibt bestimmte Grenzen für mich, die ich einhalten muss. Und da ich nicht hartnäckig angehen kann dagegen, sitze ich eben viel zuhause. Der Präsident ist diese Woche aufgebrochen zu einer Reise an die Ostküste.“ 2 ERZÄHLERINEinsamkeit von Amtswegen. Genauer ob Amt des Ehemannes. In Europa kennen diesen Zustand Kaiserinnen und Königinnen seit Jahrhunderten. An den Höfen ist alles Ritus. Wer da was warum mehr oder weniger traditionell zu tun und zu lassen hat, wird nicht hinterfragt. Man unterwirft sich der Routine, folgt der Folie, weil es erwartet wird. 1 ERZÄHLERIN  Rang und Rolle definieren, wo man geht und steht. Neben wem, hinter wem und bei wem gar nicht. Ausbrechen aus dem Regelwerk wäre Verrat am System. Die europäischen Adelshäuser funktionieren als streng geführte Familienunternehmen. 2 ERZÄHLERIN Nicht die oder der einzelne ist bedeutsam als Person, die Firma muss weiterlaufen, expandieren, Gewinne bringen. Kinder, besonders Söhne, sichern die Zukunft. Gebiete erweitert man durch Kriege - oder Heirat. Dabei gilt: Allianzen mit Nachbarn entstehen und vergehen. 2 ERZÄHLERIN Die Sippe soll bleiben – 1 ERZÄHLERIN Und zwar an der Macht.    2 ERZÄHLERINEin Paradebeispiel dafür: MUSIK 2 ERZÄHLERINFünfzehn Jahre, bevor Martha Washington „Lady Hoheit Mrs. President“ wird, am 10. Mai 1774, besteigt in Frankreich Louis XVI. den Thron. Seine Frau Marie Antoinette macht das zur Königin. 01 ZITATORIN MARIE"Die Leute glauben es sei so einfach die Königin zu spielen, aber sie irren. Nichts als Vorschriften und Zeremoniell, natürlich zu sein ist anscheinend ein Verbrechen." 1 ERZÄHLERINDabei wäre Marie Antoinette – 2 ERZÄHLERINGanz anders als Martha Washington, Tochter eines Tabakpflanzers in der Kolonie Virginia – 1 ERZÄHLERINMaria Antoinette, eigentlich Maria Antonia Josepha Johanna, wäre vorbereitet gewesen auf ein Leben an der Spitze eines Staates in Pracht und Prunk. 2 ERZÄHLERINTheoretisch. Schon als kleinem Mädchen ist ihr vieles, um es Österreichisch zu sagen, wurscht. 1 ERZÄHLERINIhrer Mutter nicht. Die nur Regentin, aber gerne genannt Kaiserin Maria Theresia ist ehrgeizig. Auch für das Nesthäkchen, Kind Nummer 16, Maria Antonia Josepha Johanna, gibt es keine Ausnahme. 3 ZU Lindinger 1:30Es ist kein Honigschlecken gewesen. 1 ERZÄHLERINSagt Michaela Lindinger. Die Kuratorin des Wien Museums hat 2023 eine Biografie veröffentlicht: „Marie Antoinette. Zwischen Aufklärung und Fake News“. 4 ZU Lindinger 1:30In Österreich ist noch immer dieses Bild von Maria Theresia, dass sie so eine Mutterfigur war und alles so wunderbar und auch die vielen Kinder, die hat sie nicht bekommen, weil sie eine große Familie wollte, sondern die wollte Macht und Kontrolle, die sie mit Hilfe dieser Kinder in Europa ausüben kann. 2 ERZÄHLERIN Eroberungskriege sind teuer, also expandiert Maria Theresia lieber mittels Heirat. Statt Herz – Kalkül. 1 ERZÄHLERINHauptsache Throne besetzen. Wenn nicht durch die eine, dann durch die andere Tochter. 5 ZU Lindinger 1:30Maria Josepha hätte Königin werden sollen von Neapel-Sizilien. Nachdem die tot war, hat sie eine Woche später schon den Leuten unten die nächste Kandidatin präsentiert: Maria Carolina. Die ist dann Königin von Neapel-Sizilien geworden und es war dadurch für die nächste Maria Antonina: So und Du wirst jetzt Königin von Frankreich. MUSIK 1 ERZÄHLERINMit Toben im Spielzimmer ist Schluss. Schnell engagierte französische Lehrer sollen das Kind im Crashkurs vorbereiten. 2 ERZÄHLERINDas Kind hat keine Lust auf Lesen. Lernen nach Lehrbuch fällt dem Mädchen schwer. Klassische Bildung langweilt. Maria Antonia liebt Musik, Tanz und Theater. 1 ERZÄHLERINDie Kaiserin resigniert und setzt auf Aussteuer und Aussehen der Tochter. Aus Paris kommt ein neuer Schönheitstrend: Lächeln. Also muss ein französischer Zahnarzt an die Hofburg, um Maria Antonia eine Spange zu verpassen. 1 ERZÄHLERINMit korrekt reguliertem Lächeln kommt die künftige Braut in Versailles an. 2 ERZÄHLERINUnd merkt: Pariser Bürgerinnen mögen übers ganze Gesicht strahlen, das gilt als modern. In der Hauptstadt treffen sich die besser gestellten Damen in fröhlichen Salons, flanieren durch Parks, spielen nachmittags mit den Kindern, tanzen abends auf Bällen. ATMO Tischglocke 1 ERZÄHLERINIn französischen Königspalästen, erklären die ältlichen Madams, die Marie Antoinette zur Seite gestellt werden, blickt man angemessen drein. 6 ZU Lindinger 4:30Dieser hohe Adel in Versailles hat den Mund verkniffen zugehabt und es war ja das ganze Gesicht auch mit einer sehr giftigen Paste zu gepudert. Also man hat den Mund kaum aufgebracht. Und somit war das Mädchen, das mit 14 Jahren nach Frankreich gekommen ist, für das Umfeld, in dem sie leben sollte, überhaupt nicht vorbereitet. In Paris glaube ich, hätte es ihr sehr gut gefallen, in Versailles war sie eine Katastrophe.   2 ERZÄHLERINInsgesamt ist hier gar nichts wie daheim in Wien. 7 ZU Lindinger 7:24Maria Theresia hat diese 16 Kinder gehabt und dauernd Kriege führen müssen und hat schauen müssen, dass Geld in die Staatskasse kommt und dadurch war dieser Hof ein bissl schlampig. Durchreisende haben das immer wieder betont, es funktioniert schon alles irgendwie. Im Vergleich zu Versailles, wo alles durchorganisiert war, wo jeder genau gewusst hat, wo er an welchem Tag zu welcher Stunde sein wird, wo man nur Floskeln sagen durfte, überhaupt nicht frei herausreden, was man denkt, das war die Marie Antoinette überhaupt nicht gewohnt. MUSIK ZITATOR INFOVon einem aufgeklärten Absolutismus wie in der Wiener Hofburg ist Versailles damals weit entfernt. Das französische Staatssystem orientiert sich streng an der Vergangenheit. Ludwig XV. macht weiter, wie Ludwig XIV. es vor ihm gemacht hat – und Ludwig XVI. es nach ihm beibehalten wird. Man ist auf Bestand ausgerichtet, auf Wahrung dessen, was man kennt. Der politische Weitblick der französischen Monarchen endet denn meist an den mit reichen Tapeten geschmückten Wänden Versailles. Statt weltmännisch mitzumischen auf europäischem Parkett, zerreiben sich der König und alle unter ihm in der kleinteiligen Tagestaktung des Hofzeremoniells. 2 ERZÄHLERINDas ist so filigran austariert, dass man es einer Neuen im System wie Marie Antoinette lang und ausführlich erläutern müsste. 1 ERZÄHLERINDas lassen die ältlichen Tanten, deren Aufgabe es hätte sein sollen. Vielleicht denken sie, das Kind müsste das doch eh wissen. 2 ERZÄHLERINOder sie wollen gar nicht, dass die Ausländerin etwas weiß. Ihnen womöglich den Rang abläuft, Einfluss gewinnt. Marie Antoinette bleibt folglich nur das, was sie von daheim kennt. 8 ZU Lindinger 10:27Zum Beispiel hat sie gesagt okay, wenn ich das Zimmer verlasse, dann kann die Kerze ruhig dort in dem Kerzenständer drinnen bleiben. Und wenn ich wieder zurückkehre, hat sie zum Personal gesagt, dann zündet sie einfach wieder an. So ist es in Wien gehandhabt worden. MUSIK Aber der Hausbrauch in Versailles war eben so: Die Kerzen, die bereits angezündet waren, wurden dem Dienstpersonal übergeben. Die haben die weiterverkauft. Und dadurch, dass diese neue Dauphin gesagt hat, wir lassen die Kerzen einfach drinstehen, haben die einen Verdienstentgang gehabt. Und was man dann weitererzählt hat, war: Die neue Dauphine nimmt den Dienstboten das Geld weg. So ist von Anfang an ist diese junge Frau in einem sehr schlechten Ruf geraten. ZITATORESl'Autrichien/ Die Österreicherin/ Die Ausländerin/ l'étranger 1 ERZÄHLERINGanz Versailles schüttelt darüber den Kopf. Und über ihren Kleidungstil. Ihr noch wenig geschliffenes Französisch. Ihre unverblümte Art. Über alles an ihr. Ständig. 2 ERZÄHLERINUnd man sticht alles und ständig durch an die Boulevard-Presse. Die entsteht in Paris gerade, immer mehr Menschen können lesen. Klatschheftchen wie die sogenannten „Libelles“ überschlagen sich bald in Geschichten und Skandalen über eben: ZITATORESl'Autrichien/ Die Österreicherin/ Die Ausländerin/ l'étranger 2 ERZÄHLERINVon ihrem Mann Ludwig XVI. kommt keine Hilfe. 9 ZU Lindinger 13.06Was natürlich auch alle gewusst haben, dass er überhaupt kein Interesse an ihr hat. Und somit waren da im Endeffekt sieben Jahre, wo kein ehelicher Verkehr stattgefunden hat und dadurch natürlich Marie Antoinette keine Kinder bekommen hat und wo immer dieses Damoklesschwert über ihr gehangen ist. Sie hat keinen Thronfolger auf die Welt gebracht. MUSIK ZITATORIN MARIA THERESIA Bitte sei doch nett zu deinem Mann. Alles hängt von dir ab. Also schau, dass du möglichst viel Zeit mit deinem Mann verbringst. 10 ZU Lindinger 13.06Diese Marie-Antoinette hat sich unfassbar unter Druck gesetzt gefühlt durch diese ständigen Schreiben ihre Mutter. 2 ERZÄHLERIN  Zugleich setzen ihr die kursierenden Spottschriften zu. Auch weil immer irgendein Bediensteter oder Adeliger ganz zufällig so ein Papier in Versailles herumliegen lässt. Sie ist die Königin von Frankreich. 1 ERZÄHLERINDie nicht zu Frankreich passt. Was soll sie anfangen mit dieser Rolle? MUSIK 2 ERZÄHLERIN15 Jahre später und einen Kontinent weiter steht unter sehr anderen Umständen, aber doch ähnlich eine andere Frau vor genau der Frage. Der große Unterschied: Die Menschen lieben sie und ihr George auch. Dazu kommt: Sie steckt in keinem tradierten System fest, in keiner Dynastie, die auf Gedeih und Verderb weiter existieren muss. Die Kinderfrage ist keine Staatsraison, sondern eine private. Verwandtschaftsbeziehungen über Grenzen hinweg spielen keine Rolle. Die Gnade Gottes erweist sich vielleicht in kleinen Dingen und spendet Trost in großen Tragödien. Prädestiniert aber nicht für eine Thronfolge. Hier wählt das Volk. Oder wählt ab. 1 ERZÄHLERINAls Martha Washington im Mai 1789 ankommt in New York, bejubelt von den Massen, weiß sie nicht, was von ihr erwartet wird. Aber wahrscheinlich weiß das niemand so recht. MUSIK 01 ZITATOR INFOPräsident George Washington leitet ein völlig neues Staatskonstrukt. Es wundert wenig, dass sich die ebenfalls neu eingeführten Wahlmänner als Repräsentanten des amerikanischen Volkes entschieden haben für ihn. Washington, den integren, hochangesehenen Helden der Unabhängigkeitskriege. Ehemaliger Chef der Kontinentalarmee, ein herausragender Stratege und General, der den Sieg über die Briten herbeigeführt hat und damit das Ende der Kolonialherrschaft von George III. besiegelt. Politische Gegner halten ihn mit 67 Jahren für zu alt, zu schwach, zerrieben und verbraucht in den langen, durchaus nicht durchgängig erfolgreichen Revolutionsjahren. Befürworter koppeln an diesen unermüdlichen Einsatz und seine Lebenserfahrung die Erwartung: Washington wird die Vereinigten Staaten zusammenführen zu etwas Ganzem, Einheitlichem. Der Präsident soll gemeinsam mit dem frisch gewählten Kongress aus vormals 13 Kolonien eine unabhängige Nation formen, als demokratisch legitimierter Vater der Nation, nicht als Herrscher von Geburtswegen und Gottes Gnaden. 2 ERZÄHLERINWird man als Ehefrau damit automatisch zur „Mutter der Nation“? Martha Washington ist ein Familienmensch, kümmert sich rührend um ihre Enkel, die bei ihr leben. Familie ist für sie etwas Privates. 1 ERZÄHLERINAuf einmal wird all das Gegenstand begeisterter Neugier. Allein schon, was sie anzieht, erregt plötzlich höchstes öffentliches Interesse. Martha trägt gerne Weiß. Die Zeitungen schwärmen: Weiß, die Farbe der Bescheidenheit! Der Güte! Freundlichkeit, menschlichen Wärme. MUSIK 04 ZITATOR PRESSE 1 „Sie war gekleidet in Gewänder unseres Landes, in denen ihre natürliche Güte und ihr Patriotismus auf das Vorteilhafteste herausgestellt wurden.“ 1 ERZÄHLERINMartha mag am liebsten französische Schnitte. In jungen Jahren verspielt und enganliegend, später gesetzter, reifer.   03 ZITATORIN MARTHA„Schönheit liegt nicht in unserem Aussehen, sondern in dem Gefühl, das wir anderen Menschen geben“. MUSIK 2 ERZÄHLERINKönigin Marie Antoinette in Frankreich teilt diese Ansicht. Auch wenn sich die beiden nicht kennen, nie begegnen werden. Diesen Drang nach Leben außerhalb jeglicher von anderen zugeschriebenen Rollen formulieren beide in ihren erhaltenen Briefen. Marie Antoinette ist weit jünger als Martha Washington, als sie erste Frau im Lande wird. Sie will weniger einfach mal nur Ruhe mit der Familie und Bekannten wie Martha. Marie möchte unter Menschen sein, mittendrin, frei – lachen und romantisch lieben. Wie die Heldinnen in den damals angesagten Romanen, die sie verschlingt. 1 ERZÄHLERIN  Ihr Mann erweist sich weiter als Totalausfall. Auf dem Thron und im Bett. 9 ZU Lindinger 13.06Das hat dann sehr viel damit zu tun gehabt, dass sie eine sehr tanzfreudige, eine sehr amüsierwütige junge Frau geworden ist, die sich hauptsächlich in Paris eben mit ihren Freundinnen und Freunden aufgehalten hat und versucht hat, diesem unfassbar anstrengenden Leben mit diesem schrecklichen Mann an der Seite so viel wie möglich fernzubleiben. Das war eine innere Rebellion. 1 ERZÄHLERINZeremoniell hin oder her: Versailles ist ein perfekt und perfide eingespielter Intrigenstadel. 2 ERZÄHLERINDem Teenager aus Österreich ist das egal! Ihre Vorgängerinnen sieht man vielleicht einmal im Jahr bei öffentlichen Auftritten, sittsam gekleidet. Die einzige Aufgabe: Kinder bekommen und Erzieher für sie aussuchen. Die Männer sollen Geschichte schreiben, fahren per Prunkgespann durch die Avenuen. MUSIK 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette ist eine Frohnatur. Frisch in Frankreich ist sie der Obhut der ältlichen Tanten bald überdrüssig. Sie versammelt eine Clique Gleichaltriger um sich. Jeden Tag: Picknick, Schnitzeljagd, Ausfahrt. Jeden Abend: Gelage und Party. 1 ERZÄHLERINPolitisch verhandelt wird bei diesen Veranstaltungen nichts. Auch wenn die Mutter, Kaiserin Maria Theresia, aus Wien mahnende Briefe schreibt, das Kind möge helfen mehr österreichische Botschafter am Versailler Hof zu installieren, die eine oder andere strategische Strippe ziehen, sich nicht dauernd von der angeheirateten Familie abwimmeln lassen und abstempeln als „Die Österreicherin“. Und: Sie kleide sich bitte angemessen! 2 ERZÄHLERIN    Marie Antoinette liebt Designerstücke, die oft märchenhaft-bürgerlich anmuten. Schneidern lässt sie dort, wo es ihr gefällt: Hoflieferant oder Hinterhof-Atelier. Wichtig ist nur: Üppige Prachtroben, eng geschnürt, in denen man sich kaum bewegen kann und permanent Atemnot droht –Nein, Danke! Das grand corps, ein spezielles Korsett, edelsteinbestickt von französischen Prinzessinnen bleibt im Schrank. 1 ERZÄHLERINDas kommt beim Hochadel nicht gut an. 2 ERZÄHLERIN    Luftig soll es sein – in angedeuteter Bescheidenheit absolut extravagant.     1 ERZÄHLERIN    Und orbitant. Teuer. Das steuergeplagte Volk verurteilt sie dafür. 2 ERZÄHLERINWas weiß das Volk schon? 1 ERZÄHLERINDas, was die Gazetten schreiben, erklärt Biografin Michaela Lindinger. 10 ZU Lindinger 20:39Dann hat sie es auch noch gewagt, Herrenkleidung zu tragen. Und hat sie sich auch noch zu Pferd in eben diesen Herrenhosen porträtieren lassen, also praktisch wie ein König. Und man hat nicht nur den Kopf geschüttelt. Man hat versucht, gegen diese Frau vorzugehen. Sie war eine Persona non grata, wirklich von Anfang an. MUSIK 1 ERZÄHLERINDas weiß das Volk. 2 ERZÄHLERINAber eins kann man ihr nicht nehmen: Sie ist die Königin! 1 ERZÄHLERINWas soll schon schiefgehen?
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Oct 18, 2024 • 25min

WACHSTUM UND PLEITE - Die Geldfabrik Wall Street

Die Wall Street ist eine kleine Straße in Lower Manhattan, New York - und gleichzeitig der Inbegriff von Geld, Macht und Kapitalismus. In der Wall Street Nummer elf sitzt die größte Wertpapierbörse der Welt. Hier spekulieren Händlerinnen und Händler seit über 200 Jahren - mittlerweile täglich mit zig Milliarden Dollar. Wegen der exorbitanten Summen können Krisen der Wall Street, Börsen-Crashs, die ganze Welt erschüttern. Von Maike Brzoska (BR 2023) Credits Autorin: Maike Brzoska Regie: Anja Scheifinger Es sprachen: Caroline Ebner, Andreas Neumann, Diana Gaul, Benjamin Stedler, Clemens Nicol Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Boris Gehlen, Prof. Julia Rischbieter Besonderer Linktipps der Redaktion: ZDF – Terra X (2024): USA – Der Riss Am 5. November 2024 wird bei den US-Präsidentschaftswahlen nicht nur über den nächsten Präsidenten, sondern auch über die demokratische Entwicklung des Landes entschieden. Vieles deutet darauf hin, dass diese, je nach Gewinner, sehr unterschiedlich verlaufen könnte. Dabei spielt der tiefe Riss, der die US-Gesellschaft durchzieht, eine wichtige Rolle. Jetzt, wo Donald Trump zum zweiten Mal zur Wahl steht, wird er besonders offensichtlich. In den Medien, vor Gericht, beim Beten, in Sachen Einkommen, Bildung und Ernährung. Und natürlich immer und überall beim Thema Race. ZUM PODCAST (externer Link) Linktipps: WDR (2020): Der große Crash – Die Wirtschaftskrise von 1929 in Deutschland Am 24. und 25. Oktober 1929 stürzen an der New Yorker Börse Aktienkurse ins Bodenlose. Innerhalb kurzer Zeit werden gewaltige Vermögenswerte vernichtet: der "Schwarze Freitag" an der Wall Street. Nach den Jahren des Booms kann sich auch Deutschland dem Sog nicht entziehen. Der Film berichtet detailgenau, wie die Krise an den Börsen das alltägliche Leben veränderte. Eindrucksvoll erzählen Zeitzeugen von Not, Hunger und dem Verlust der Würde. Auch die Gier von Spekulanten ist Thema der Sendung. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2016): Geld schläft nie – Ein Blick hinter die Kulissen der Wallstreet Nach der Finanzkrise ist die Wallstreet wieder Ziel der Träume junger Ökonomen. Nicht jeder hält der exzessiven Arbeit stand. Unternehmen haben darauf reagiert. Sie verbieten Mitarbeitern, nachts E-Mails zu bearbeiten und verordnen einen freien Tag in der Woche. JETZT LESEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERINDie Geschichte der Wall Street begann unter einem Baum – und zwar mit einem Versprechen: ZITATOR We the Subscribers do hereby solemnly promise, that we will not buy or sell from this day on any kind of Public Stock, at a less rate than one quarter percent Commission and that we will give a preference to each other in our Negotiations. ZITATOR Wir, die Unterzeichner, versprechen hiermit feierlich, dass wir von diesem Tag an keine Aktien zu einem geringeren Satz als einem Viertel Prozent Kommission kaufen oder verkaufen und dass wir uns gegenseitig den Vorzug geben werden. SPRECHER24 Männer unterzeichneten diese Vereinbarung im Mai 1792. Sie trafen sich unter einer Platane, einem buttonwood, deshalb spricht man vom Buttonwood Agreement. Es gilt als Gründungsdokument der mächtigsten Börse der Welt – die New York Stock Exchange, wie sie später heißen wird.MUSIK SPRECHERIN 2Die ersten Jahre – oder: Das Geld fließt in die Neue Welt SPRECHERINDie Platane, unter der sich die Männer trafen, stand in der Wall Street im südlichen Manhattan. Die Straße heißt so, weil es dort tatsächlich einen Wall, also eine kleine Mauer gab. SPRECHEREnde des 18. Jahrhunderts begannen Händler dort Wertpapiere feilzubieten. Ihre Geschäfte machten sie in Kaffeehäusern, vor allem im Tontines Coffee House, Wall Street Nr. 85. Die Geschäfte gingen gut, aber immer wieder kam es zu Betrug und Tricksereien, schreibt Charles R. Geisst in seinem Buch „Geschichte der Wall Street“. Kurse wurden manipuliert, Gelder veruntreut. Das sollte sich ändern. Und so gründeten mit dem Buttonwood Agreement die 24 Unterzeichner eine Art Club. Mit bestimmten Regeln, festen Gebühren und Handelszeiten. Wer sich nicht daran hielt, flog raus. SPRECHERINIn der Anfangszeit konnte man in der Wall Street vor allem Staatsanleihen erwerben. Wer der jungen US-amerikanischen Bundesregierung Geld leihen wollte, brachte es zu den Händlern und bekam im Gegenzug das Versprechen, das Geld nach einer bestimmten Zeit zurückzubekommen, inklusive Zinsen versteht sich. SPRECHERGleich die allererste Anleihe brachte dem Staat 80 Millionen Dollar ein – damals eine enorme Summe. Das Geld war aber auch nötig, denn die amerikanische Bundesregierung hatte sämtliche Schulden aus dem Unabhängigkeitskrieg übernommen. MUSIK SPRECHERINAn Kapital mangelte es nicht. Amerika war für viele Menschen in Europa ein verheißungsvolles Land. Die junge Republik bot ausreichend Land und barg Unmengen an Rohstoffen wie Holz und Eisenerz. Das versprach riesige Gewinne. Viele wollten deshalb ihr Geld dort investieren – oder wanderten gleich selbst in die USA aus. SPRECHERIm Tontines Coffee House gab es täglich zwei Sitzungen, eine am Vormittag und eine am Nachmittag. Die zum Verkauf stehenden Wertpapiere wurden ausgerufen und die Händler gaben Gebote ab. Alle Verkäufe zusammen ergaben am Ende des Tages den Börsenkurs. Die Geschäfte liefen gut. In der Wall Street herrschte reges Treiben, sagt der Wirtschaftshistoriker Boris Gehlen. Er ist Professor an der Universität Stuttgart. 01 O-TON (Gehlen)Man muss sich das tatsächlich sehr hektisch vorstellen, weils da eben in kurzer Zeit um sehr große Geldsummen ging, die dann bewegt werden sollten und eben auch um die Möglichkeit als Erster an einem Geschäft teilzunehmen. SPRECHERINUm Geschäfte geordnet abwickeln zu können, führte man Verhaltensregeln für das Börsenparkett ein. 02 O-TON (Gehlen)Bekannt ist aus den Regelwerken, dass man explizit verboten hat, über das Parkett zu laufen, um dieser Hektik ein wenig entgegenzuwirken. MUSIK SPRECHERDie Zahl der Wertpapiere stieg. Viele der damals neu gegründeten Eisenbahngesellschaften und Schifffahrtsunternehmen brauchten Kapital, das sie sich über die Börsen besorgten. Entweder über Anleihen oder über Aktien, also Anteile an ihrem Unternehmen. SPRECHERINDie Händler verdienten sehr gut, deshalb zog die Wall Street viele Einwanderer an. Aber nicht jeder konnte Mitglied im exklusiven Club der New York Stock Exchange werden – denn dafür musste man schon einiges an Geld mitbringen. 03 O-TON (Gehlen)Wenn wir uns die Mitgliedschaftskosten anschauen, dann war das das X-fache eines Jahresgehalts von Arbeitern. Also man musste eben erst einmal eine enorm hohe Summe an Geld überhaupt aufbringen, um dort handeln zu können. MUSIK SPRECHERIN 2Fragwürdige Geschäfte – oder: Kurse, die plötzlich purzeln SPRECHERAber es gab auch kleinere Börsen und andere Wege, in der Wall Street Geld zu verdienen. Manche Händler versuchten, hoch spekulative Wertpapiere unter die Leute zu bringen. Die gab es nämlich schon damals. In den Kaffeehäusern waren sie nicht geduldet, deshalb handelten sie auf der Straße. Man nannte sie Curbstone Brokers, also Bordsteinhändler. Später ging daraus die American Stock Exchange hervor. SPRECHERINWobei fragwürdige Geschäfte überall vorkamen. Es wurden zum Beispiel Kurse manipuliert. SPRECHERUm trotzdem das Vertrauen in den Finanzmarkt aufrecht zu erhalten, drohte die New York Stock Exchange mit drastischen Strafen – eine staatliche Regulierung gab es zu dieser Zeit allerdings nicht. 05 O-TON (Gehlen)Kläger waren Börsenhändler, die Beklagten waren Börsenhändler und die Richter waren Börsenhändler. Und da ging es dann um die Bewertung, ob Transaktionen mit den Regeln der New York Stock Exchange vereinbar waren oder nicht. Und wenn man zu dem Schluss kam, dass jemand gegen die Regeln verstoßen habe, konnten die Strafen sehr, sehr hart sein, bis hin zum dauerhaften Ausschluss von der Börse. Und damit ging einher faktisch die wirtschaftliche und soziale Existenzvernichtung. Und insofern war das natürlich ein Anreiz, sich doch weitgehend an die Regeln zu halten. SPRECHERINDas dämmte die unlauteren Geschäfte an der Wall Street zwar ein. Dennoch kam es immer wieder zu Kursstürzen, und zwar während des gesamten 19. Jahrhunderts. 06 O-TON (Gehlen)Und das hat dann mit dazu beigetragen, dass eben auch das Finanzsystem in den USA sehr häufig von Finanzkrisen geschüttelt war und dass auch die Spekulation doch andere Dimensionen als in europäischen Staaten angenommen hat. SPRECHERSchon damals zeigte sich ein Muster, das wir heute noch kennen: Boom and Bust, übersetzt bedeutet das so viel wie: Aufschwung und Niedergang. MUSIK SPRECHERIN1837 kam es beispielsweise zu einer Börsenpanik, die einen schwere Wirtschaftskrise nach sich zog. Vorausgegangen war ein Boom, der mit dem Indian Removal Act von 1830 begann. Das Gesetz sah die zwangsweise Umsiedlung und Deportation der indigenen Bevölkerung vor. Das freigewordene Land erzielte Höchstpreise. Eine Spekulationswelle setzte ein. Aktien von Eisenbahngesellschaften und Baumwollfirmen waren stark nachgefragt – in der Annahme, dass sie nun gute Geschäfte machen. SPRECHERAber die Spekulationsblase platzte, nachdem die US-Regierung vorschrieb, dass Land nur noch mit Gold und Silber und nicht mehr mit Banknoten gekauft werden durfte. Das schränkte den Kreis der Käuferinnen und Käufer stark ein. Die Stimmung kippte. Alle wollten so schnell wie möglich ihre Wertpapiere loswerden. In der Wall Street gab es Tumulte. Soldaten marschierten auf, um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten. SPRECHERINÄhnliche Börsenpaniken gab es 1857, 1869, 1873 und 1893. Häufig kam es danach zu Firmenpleiten und Wirtschaftskrisen. Denn Unternehmen geht das Geld aus, wenn Menschen ihre Unternehmensanteile, ihre Wertpapiere im großen Stil verkaufen. Es fehlt an Liquidität. 08 O-TON (Gehlen)Was auch damit zu tun hat, dass wir bis 1913 eben kein Zentralbanksystem in den USA haben, keinen Lender of Last Resort, also jemand, der einspringen kann, wenn tatsächlich die Liquidität an den Märkten knapp wird. MUSIK SPRECHERIN 2Große Geschäfte – oder: Als Banker panisch wurden SPRECHERINDie Industrialisierung veränderten die US-amerikanische Wirtschaft. Riesige Unternehmen entstanden – und machten einige Männer sagenhaft reich. Zum Beispiel Cornelius Vanderbilt, den man König der Eisenbahnen nannte, oder der John D. Rockefeller mit seinem Öl-Imperium. SPRECHERGleichzeitig war der Kapitalbedarf groß. Die Zahl der Aktien nahm Ende des 20. Jahrhunderts stark zu. Aber auch große Bankhäuser wurden zu dieser Zeit gegründet. Viele davon hatten ihren Sitz in oder nahe der Wall Street. 09 O-TON (Gehlen)Die beiden größten Bankhäuser Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war Kuhn, Loeb & Co. und der Gegenspieler war JP Morgan, also das große Bankhaus der Wall Street. MUSIK SPRECHERINJohn Piermont Morgan war der einflussreichte Banker seiner Zeit – er hatte fast überall seine Finger im Spiel über sein Bankhaus JP Morgan & Company, damals in der Wall Street Nr. 23, arrangierte er zahlreiche Fusionen und Übernahmen, zum Beispiel bei der United States Steel Corporation, der damals größten Aktiengesellschaft der Welt. Zeitweise hatten er und seine Partner von JP Morgan & Company mehr als 72 Aufsichtsratsmandate in 47 großen Gesellschaften inne. SPRECHERMorgan war es dann auch, der die Geschicke des Landes nach dem nächsten Börsensturz lenken sollte … SPRECHERINIm Herbst 1907 gab es erneut einen Kurssturz an der Wall Street. Auslöser war ein gescheiterter Versuch von Augustus Heinze, Spross deutscher Einwanderer, Aktien seiner Firma zurückzukaufen. Er verspekulierte sich aber und scheiterte grandios. SPRECHERDie Banken, bei denen er sich Geld geliehen hatten und denen er es nicht mehr zurückzahlen konnte, gerieten in Zahlungsschwierigkeiten. Es folgten Bankruns, weil die Menschen ihr Geld in Sicherheit bringen wollten. Aktienkurse rauschten in den Keller, niemand vergab mehr Kredite. Bald reihte sich ein Konkurs an den anderen.  SPRECHERINViele der kleineren Banken hatten ihr Geld bei den großen Banken angelegt. Vor allem bei JP Morgan. Eine Zentralbank, wo sie ihr Geld hätten parken können, gab es ja damals nicht. Als die kleineren Banken sich die Gelder vorzeitig auszahlen lassen wollten, weigerte sich JP Morgan zunächst. Eine und Bankenpleite folgte auf die nächste. Und so sagten JP Morgan und andere Banker letztlich doch zu, große Summen, auch aus eigenen Vermögen, als Darlehen bereitzustellen. SPRECHERMehrere solche Rettungsaktionen waren nötig. Die Gespräche fanden zum Teil in Morgans Privatbibliothek statt. Der Patriarch soll viele Banker persönlich überredet haben. Wobei er sie einmal auch einfach in seiner Bibliothek einschloss, bis eine Einigung gefunden war.  SPRECHERINDie sogenannte Bankers Panic blieb nicht ohne Folgen. Um dem offensichtlich gewordenen Machtvakuum zu begegnen, gründete man ein Zentralbankensystem in den USA, das Federal Reserve System, kurz Fed. Die New Yorker Dependance der Fed hat ihren Sitz in der Liberty Street, zwei Blocks von der Wall Street entfernt. MUSIK SPRECHERIN 2Die 1920er Jahre – oder: Beifall für die Wall-Street-Banker MUSIK SPRECHERWenige Jahre später der nächste Aufschwung. Es waren die Roaring Twenties, die wilden 20er Jahre. Der Wohlstand stieg merklich, die USA wurden zur Konsumgesellschaft. Man kaufte Radios, Telefone – und erstmals auch Wertpapiere. Das war jetzt nicht mehr nur wenigen Vermögenden und Bankern vorbehalten, denn nun hatten mehr Menschen etwas Geld übrig. 10 O-TON (Gehlen)Und die haben im Grunde dann in Aktien investiert. Und dadurch stiegen die Kurse eben weiter an. Das hat dann neue Anleger immer wieder angezogen, so dass da das klassische Phänomen einer Überspekulation zu betrachten war. SPRECHERINMit steigenden Kursen stieg auch das Ansehen der Wall-Street-Mitarbeiter. Die Bewunderung und Popularität war so groß, dass sie morgens auf dem Weg zur Börse oder zur Bank von Touristen beklatscht wurden. MUSIK SPRECHERIm Oktober 1929 folgte der Absturz. Und damit der berühmt-berüchtigte Schwarze Freitag – bzw. Black Thursday in den USA. Als möglicher Auslöser gilt der Bankrott eines Londoner Spekulanten, aber schon länger erwarteten viele auf eine Kurskorrektur. Was dann kam, übertraf allerdings die schlimmsten Erwartungen. SPRECHERINDie Kurse der New Yorker Börse fielen ins Bodenlose. Zeitungen warnten davor, der Wall Street einen Besuch abzustatten. Die Bürgersteige dort seien nicht sicher, weil sich immer wieder Menschen aus dem Fenster stürzten. SPRECHERAuf den Börsen-Crash folgte die Great Depression, die Große Depression. In den USA war zeitweise knapp die Hälfte der Bevölkerung ohne Arbeit. Menschen hungerten. Die Kindersterblichkeit war hoch. SPRECHERINDie Regierung unter Franklin D. Roosevelt reagierte Anfang der 1930er mit mehreren Gesetzen. Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Wall-Street-Geschichte wurde der Wertpapierhandel umfassend reguliert.  11 O-TON (Gehlen)Im Zuge dessen wird die Securities Exchange Commission eingerichtet. Im Grunde als staatliche Börsenaufsichtsbehörde, weil man inzwischen dann doch gemerkt hat, dass es doch eine einheitliche Rahmensetzung benötigte. SPRECHERDaneben gab es mit dem Glass-Steagall-Act von 1933 ein Gesetz, das die Bankenlandschaft in den USA fundamental verändern sollte. Dieses Gesetz wird bis heute in anderen Ländern zitiert und diskutiert. Die Wirtschaftshistorikerin Julia Rischbieter. Sie ist Professorin an der Universität Konstanz. 12 O-TON (Rischbieter)Der Glass-Steagall-Act sah vor, dass es eine strikte Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investitionsbanken geben sollte. SPRECHERINAuf diese Weise trennte man das risikoreiche Geschäft der Investmentbanken von den Guthaben der Sparerinnen und Sparer. Und auch eine Einlagensicherung wurde eingerichtet, die Sparguthaben im Fall einer Bankenpleite schützt. SPRECHERDas Gesetz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt und blieb viele Jahrzehnte in Kraft, bis es 1999 unter Bill Clinton mehr oder weniger abgeschafft werden soll. SPRECHERINZurück zu den 1950ern: In dieser Zeit wurden Investmentfonds zum Verkaufsschlager. Solche Fonds bündeln verschiedene Wertpapiere, so dass auch Kleinanleger und Kleinanlegerinnen an verschiedenen Aktien teilhaben können. SPRECHERUnd 1967 gab es noch ein Novum: Die erste Frau erhielt einen festen Sitz an der New York Stock Exchange - nach mehr als 170 Jahren Wertpapierhandel. Die Mitgliedschaft kostete übrigens knapp eine halbe Million US-Dollar – denn noch immer war der Börsenhandel den Reichen vorbehalten. MUSIK SPRECHERIN 2Der Aufstieg der USA – oder: Als Staatsschulden zur Ware wurden SPRECHERINAuch auf der weltpolitischen Bühne änderte sich einiges für die USA. Das Land etablierte sich immer mehr als größte Handelsmacht und wurde von einer Schuldner- zu einer Gläubigernation. Sie verlieh und investierten also mehr Geld im Ausland als umgekehrt. Spätestens ab dieser Zeit war die Wall Street nicht mehr nur das Finanzzentrum Amerikas, sondern der Welt. SPRECHEREin Beispiel für Auslandsinvestitionen war der sogenannte Eurodollarmarkt. Er entstand während der Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre. Die Preise für Erdöl stiegen zu dieser Zeit enorm an. 13 O-TON (Rischbieter)Das bedeutet, dass die ölfördernden Länder auf einmal sehr hohe Gewinne machen. Und diese Ölförderländer hatten natürlich ein hohes Interesse, ihre Gewinne gut zu verzinsen und einzulegen bei Banken. Und das haben sie getan, vor allem bei europäischen Banken und New Yorker Banken. SPRECHERINUm die Zinsen auf die eingelegten Gelder zahlen zu können, mussten die Banken es investieren. Es gab zu dieser Zeit allerdings an Überangebot an Kapital – die Banken wussten kaum, wohin damit. 14 O-TON (Rischbieter)Und somit befanden sich ja diese großen Banken dann in der Situation, dass sie ja Verluste gemacht hätten. Sie hätten eigentlich Zinsen auszahlen müssen und hatten aber gar nicht die Gewinne dafür. Und in dieser spezifischen Situation haben sie angefangen, Ländern weltweit Kredite anzubieten, und diese Länder waren aber nicht unbedingt immer so kreditwürdig wie europäische Länder. SPRECHERDie Staatsverschuldung stieg zu dieser Zeit stark an, insbesondere in den lateinamerikanischen Staaten. Das wurde zum Problem, als die amerikanische Fed in den 1980er die Zinsen massiv anhob, wodurch sich die Kredite stark verteuerten. Als eines der ersten gab Mexico 1982 seine Zahlungsfähigkeit bekannt. Die Lage war für viele Staaten dramatisch. 15 O-TON (Rischbieter)Die Folgen waren desaströs, weil alle Sozialindikatoren sich verschlechtert haben, also Kindersterblichkeit, Lebenserwartung. Und in Lateinamerika heißt das Jahrzehnt deshalb auch lost decade, also das verlorene Jahrzehnt. SPRECHERINAls absehbar war, dass viele Länder ihre Schulden bei Banken, auch bei den Wall Street Banken, nicht bedienen konnten, suchte man auf internationaler Ebene nach Lösungen. Einige Kredite wurden umgeschuldet, Schuldenerlasse debattiert – und auch ein Mann der Wall Street machte einen Lösungsvorschlag. Er hieß Richard A. Debs, der spätere Gründer von Morgan Stanley International. SPRECHERDebs Idee war, die Kredite umzuwandeln in handelbare Anleihen. So konnten diejenigen sie kaufen, die große Risiken eingehen wollten. Internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank unterstützten das Vorhaben. Und so wurde der Plan 1989 umgesetzt – und viele Banken wurden ihre Kredite auf diese Weise los, während die verschuldeten Staaten zum Teil noch höhere Zinsen berappen mussten … MUSIK SPRECHERINEtwa zu dieser Zeit passierte der nächste Börsensturz, der heftigste seit über 50 Jahren. Der Handel mit den Wertpapieren wurde ausgesetzt, die Fed stellte Liquidität bereit, viele Unternehmen kauften eigene Aktien auf, um den Kurs zu stabilisieren. Das beruhigte die Lage. SPRECHERNach diesem Börsensturz von 1987 gab es erneut eine Debatte über die Risiken, die von den Finanzmärkten ausgehen. Aber anders als früher sprachen sich nun viele nicht für mehr, sondern für weniger Regulierung aus. Das würde die Finanzmärkte sicherer machen, meinte etwa Alan Greenspan, lange Zeit Chef der amerikanischen Zentralbank. 16 O-TON (Rischbieter)Er hat argumentiert, dass die bisherige Regulierung, die man habe, nicht nur ausreicht, sondern die würde eigentlich die Geschäfte behindern. Wenn wir diese verschiedenen Regularien aufheben, dann hätten wir eine Situation, in der nämlich die Banken eigenverantwortlich überhaupt handeln könnten und dann könnten sie sozusagen erstens mehr Gewinne machen und würden auch im Sinne des Staates besser handeln können. SPRECHERINDas führte letztlich zur Abschaffung des Trennbankensystems, das mit dem Glass-Steagall-Act eingeführt worden war, und zu weiteren Liberalisierungen der Finanzmärkte. MUSIK SPRECHERIN 2Finanzinnovationen – oder: Rettungsschirme für die Banken MUSIK SPRECHERDie Geschäfte weiteten sich aus, immer neue Finanzprodukte wurden an der Wall Street ersonnen. Derivate wurden der Renner. Damit kann man zum Beispiel auf Kursentwicklungen wetten. Solche hoch spekulativen Wertpapiere gab es schon länger, aber ab den 1990ern wurden sie im großen Stil gehandelt. SPRECHERINMit Derivaten kann man auch fallende Kurse setzen, deswegen gab es die Vorstellung, sie würden die Finanzmärkte sicherer machen. Das Gegenteil war allerdings der Fall. Es kam zur Dotcom-Blase, investiert wurde in alles, was mit dem damals neuartigen Internet zu tun hatte. Die Blase platzte im Jahr 2000. SPRECHERWenige Jahre später folgte die weltweite Finanzkrise. Auslöser war eine geplatzte Immobilienblase in den USA. Dort hatten sich viele Menschen teils ohne Vermögen oder Einkommen Häuser auf Kredit gekauft. Man hielt diese „Risiken“ für beherrschbar, weil man sie als komplexe Wertpapiere handelbar machte und in die ganze Welt verkaufte. Das funktionierte allerdings nur solange, wie die Preise am Häusermarkt nicht fielen – was 2007 aber der Fall war. Einige kleinere Banken gingen Pleite – und drohten größere mitzureißen. MUSIK SPRECHERINRegierungen unterstützten sie und stellten Liquidität bereit. Sie schossen also Geld in astronomischem Ausmaß zu, indem sie milliardenschwere Rettungsschirme aufspannten. Die Banken seien too big to fail hieß es, sie würden ganze Volkswirtschaften mit in den Abgrund reißen. Teilweise überforderte das die Staaten. Aus der Finanzkrise wurde erst eine Euro- und dann mancherorts eine Staatsschuldenkrise, zum Beispiel in Griechenland. Zeitweise war knapp ein Drittel der Menschen in Griechenland ohne Arbeit. Sozialausgaben wurden zusammengestrichen, Krankenhäuser geschlossen, viele Menschen wurden obdachlos. SPRECHERUm die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, senkten Zentralbanken weltweit die Zinsen auf neue Tiefststände. Das sollte die Kreditvergabe stimulieren. Auch viele Kleinanlegerinnen und Kleinanleger investierten ihr Geld, weil das Ersparte auf der Bank keine Zinsen mehr einbrachte – der nächste Börsenboom. SPRECHERINUnd ist das nun das Ende der Geschichte? Keineswegs. Denn wenn man eines aus der Geschichte der Wall Street lernen kann, dann das: Auf jeden Boom folgt ein Bust, nach jedem Aufschwung kommt ein Niedergang. Bleibt die Frage, wann es soweit ist – und wie schlimm es dann wird. MUSIK
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Oct 18, 2024 • 24min

WACHSTUM UND PLEITE - Die großen Strategien der Wirtschaftspolitik

It's the economy, stupid! Bill Clinton hat diesen Ausdruck in den 1990ern im US-Wahlkampf berühmt gemacht. Er beschreibt, dass vor allem die Wirtschaftslage darüber entscheidet, ob ein Politiker gewählt wird oder nicht. Weil die Wirtschaft so zentral ist, versuchen auch Ökonominnen und Ökonomen Einfluss auf sie zu nehmen - und hatten immer wieder neue Ansätze, um die Wirtschaft in den Griff zu kriegen. Von Maike Brzoska (BR 2023) Credits Autorin: Maike Brzoska Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger, Frank Manhold, Maren Ulrich Technik: Susanne Herzig Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Peter Spahn, Prof. Alexander Nützenadel, Katrin Hirte Besonderer Linktipps der Redaktion: mdr aktuell & hr (2024): Wendehausen – Heimat im Todesstreifen Zu DDR-Zeiten lag das Dorf Wendehausen im Sperrgebiet der innerdeutschen Grenze. Das Grenzregime der DDR war hart, die Kontrollen scharf. Zeitzeugen berichten von Vertreibung, Flucht und zerstörten Existenzen. Wendehausen an der thüringisch-hessischen Grenze hat eine Vielzahl von dramatischen Familiengeschichten zu bieten, voll von Brüchen, Tragik und teilweise Tod. Dieser Podcast zeichnet die Geschichte des Ortes und der Menschen im Todesstreifen nach. Es geht auch darum, wie die DDR-Geschichte die Menschen vor Ort bis heute prägt. Und was das über das Ost-West-Verhältnis aussagt, 35 Jahre nach dem Fall der Mauer. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2024): Verliert Deutschland Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit? Die deutsche Wirtschaft rutscht tiefer in die Krise. Die Industrie will die Transformation zur Klimaneutralität, fordert aber einen klaren politischen Rahmen und bessere Infrastruktur. Kann das Konzept soziale Marktwirtschaft den Standort retten? JETZT ANHÖREN ARD alpha (2022): Arbeit, Zins und Geld – Keynesianismus Nichts hat den britischen Ökonomen John Maynard Keynes mehr geprägt als die Folgen der dramatischen Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den vielen Millionen Arbeitslosen war sein Glaube an den Kapitalismus jedoch nicht erschüttert. Doch statt auf die Selbstheilungskräfte des freien Marktes, setzte er lieber auf die wirtschaftliche Gestaltungskraft des Staates. Der Staat sollte das ewige Auf und Ab zwischen Wirtschaftskrise und -boom entschärfen. Vor allem in den 50er, 60er und 70er Jahren bestimmte die von Keynes angeregte Wirtschaftspolitik die weltweiten Märkte. Vollbeschäftigung, Wachstum und Stabilität  - war dies endlich ein verlässliches Programm für die Zukunft? JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ZITATORDie Ideen der Ökonomen und Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger als man im Allgemeinen glaubt. Um die Wahrheit zu sagen, es gibt nichts anderes, das die Welt beherrscht. SPRECHERINIdeen von Ökonomen und Philosophen sollen die Welt beherrschen – eine merkwürdige Aussage. War es Größenwahn, was John Maynard Keynes zu dieser Aussage veranlasste? Jedenfalls gilt der Brite gilt als einflussreichster Ökonom des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen haben nicht nur die Wirtschaftstheorie revolutioniert, sondern hatten auch ganz praktischen Einfluss auf die Politik, genauer: auf die Wirtschaftspolitik. Keynes hat seine Theorie vor gut hundert Jahren entworfen. Anlass waren die damaligen Krisen, sagt der Ökonom Peter Spahn. Er ist emeritierter Professor der Universität Hohenheim. 01 O-TON (Spahn)Der Börsencrash und die Große Depression, die danach kam, das bildete sicherlich den Anstoß für die Keynsche Theorie. Das war so eine Art Anschauungsmaterial für ihn. Aber auch schon in den 1920er Jahren war die englische Wirtschaft durch anhaltende Arbeitslosigkeit geprägt, und das hat Keynes eigentlich auch umgetrieben. SPRECHERIN Wie funktioniert eine Volkswirtschaft? Wenn man so will, ist sie das Ergebnis von zig Tausenden Entscheidungen, die wir alle täglich treffen. Was kaufe ich ein? Wie viel gebe ich dafür aus? Soll ich mehr sparen? Oder, von der Warte von Unternehmerinnen und Unternehmer aus betrachtet: Zu welchem Preis biete ich meine Waren an? Investiere ich in neue Maschinen oder muss ich demnächst Mitarbeitende entlassen? Ökonominnen und Ökonomen sind nun diejenigen, die verstehen wollen, wie das alles zusammenhängt. Das beschäftigte auch Keynes. 02 O-TON (Spahn)Keynes kam zu der Einsicht, dass es gar keine überzeugende Theorie über die normale Funktionsweise der Gesamtwirtschaft gab. Und das hat ihn umgetrieben und ihn dann dazu gebracht, 1936 seine Allgemeine Theorie vorzulegen. SPRECHERINUm zu verstehen, was Keynes Ideen so revolutionär machte, muss man wissen, wie man sich das Zusammenspiel in der Wirtschaft vorher vorgestellt hat. 03 O-TON (Spahn)Es gab immer so die Idee, na ja, die Volkswirtschaft reguliert sich selber. Das ist ja die Idee einer Marktwirtschaft. Wenn einzelne Märkte im Ungleichgewicht sind, wenn es irgendwie ein Überangebot von bestimmten Gütern gibt, dann vertraut man darauf, dass die Preise sich entsprechend anpassen. Und so funktioniert das gewissermaßen im Sinne einer Selbstregulierung. SPRECHERINEin Beispiel: Nehmen wir an, auf einem Markt ist das Angebot an Broten größer als die Nachfrage. Dann senken die Bäckerinnen den Preis, damit die Markbesucher denken; oh, wie günstig! und ein paar Brote mehr kaufen. Am Ende sind trotz des übergroßen Angebots alle Brote verkauft und für den nächsten Markttag backen die Bäckerinnen ein paar weniger. So regulieren sich Angebot und Nachfrage über den Preis, der Knappheit oder Überfluss signalisiert. Der Markt ist am Ende wieder im Gleichgewicht. Diese Art der Selbstregulation ist eine der grundlegenden Ideen von klassischen ökonomischen Denkern wie Adam Smith oder Jean-Baptiste Say. Keynes beobachtete allerdings, dass sich die Gesamtwirtschaft nicht unbedingt mit einzelnen Märkten vergleichen lässt. 04 O-TON (Spahn)Und dann stieß er auf zwei zentrale Gegenargumente in Bezug auf den Glauben, dass sich das alles gesamtwirtschaftlich selbstreguliert. SPRECHERINEines seiner Argumente bezog sich auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeit ist, wenn man so will, die Ware, die auf diesem Markt angeboten wird. Der Lohn ist der Preis der Arbeit. Nach der klassischen Logik sinken die Löhne, wenn es Arbeitslosigkeit gibt – denn es gibt mehr Menschen, die Arbeit suchen. Die niedrigeren Löhne führen nun dazu, dass mehr Menschen eingestellt werden. Für die Unternehmen mag das erst mal Sinn machen, allerdings haben sinkende Löhne – gesamtwirtschaftlich betrachtet – auch noch andere Effekte, so Keynes. 05 O-TON (Spahn)Er hat gesagt, gerade wenn die Löhne bei Arbeitslosigkeit sinken, macht das die Sache möglicherweise schlimmer. Weil wenn die Löhne sinken, dann sinken natürlich auch die Haushaltseinkommen der Arbeitnehmer, dann geht der Konsum zurück und das vertieft wieder die Krise. Das bedeutet, was die Unternehmen bei den Kosten durch sinkende Löhne an Entlastung gewinnen, das verlieren sie dann auf der Nachfrageseite, weil eben der Konsum zurückgeht. MUSIK SPRECHERINDaneben zeigte Keynes, dass auch der Geldmarkt besonders ist und gesamtwirtschaftliche Auswirkungen hat. Heute sind solche Zusammenhänge bekannt – vor gut hundert Jahren war das anders.  Da sahen Politiker dem Abwärtstrend, der in die Große Depression führte, weitgehend untätig zu. Am Ende lag in zahlreichen Ländern der Welt die Wirtschaft brach und die Menschen verzweifelten, viele hungerten auch. Eine traumatische Erfahrung. Aber der Rat lautete damals eben: Stillhalten, Krisen gehen vorbei – und können sogar positive Effekte haben. Sagt der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel. Er ist Professor am Institut für Geschichtswissenschaften der Berliner Humboldt Universität. 06 O-TON (Nützenadel)Das Problem war natürlich auch, dass man eine solche Krise bislang noch nie erlebt hatte und deswegen nicht wusste, was für Folgen sich daraus ergeben können. Aber tatsächlich war das für viele der damaligen Akteure eigentlich selbstverständlich zu sagen: Wir müssen durch diese Krise durchgehen und sie hat auch reinigende Effekte und danach stehen wir eigentlich wieder besser da. SPRECHERINVon sogenannten Reinigungskrisen war damals die Rede. Erst die Theorien von Keynes lieferten das Verständnis für makroökonomische, das heißt gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge – und damit auch Instrumente, um eine Volkswirtschaft zu beeinflussen. Deshalb hielten Keynes Ideen in vielen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg Einzug in die Wirtschaftspolitik. Hierzulande allerdings sollte es noch etwas dauern– Keynes Ideen der gesamtwirtschaftlichen Steuerung waren vielen Politikern in der Bundesrepublik sehr suspekt. 07 O-TON (Spahn)Das galt merkwürdigerweise in Deutschland als geradezu planwirtschaftlich verdächtig. Und die damals herrschende Partei, die CDU, war also strikt dagegen. SPRECHERINInsbesondere CDU-Kanzler Konrad Adenauer, ab 1949 Bundeskanzler, war es wichtig, sich von den Planwirtschaften der DDR und des Ostblocks abzugrenzen. 08 O-TON (Nützenadel)In den 50er Jahren hatten viele den Eindruck, dass die Planwirtschaften des kommunistischen Bereichs durchaus in der Lage waren, Investitionen gezielt auf bestimmte Wachstumsfaktoren zu lenken und dass da vielleicht sogar mehr Wachstum entstehen könnte als im Westen. Also es gab durchaus so eine Art von Wettbewerb zwischen Ost und West. SPRECHERINDie zentral geplante Wirtschaft der DDR wollte man mit einer Marktwirtschaft übertrumpfen. Allerdings gab es auch in der Bundesrepublik die Überzeugung, dass eine Marktwirtschaft einen starken ordnungspolitischen Rahmen braucht. Der sogenannte Ordoliberalismus war zu dieser Zeit in der Bundesrepublik dominierend. Nach dieser Spielart hält sich der Staat aus dem Markt raus, setzt also auf die Selbstregulierung von Angebot und Nachfrage. Dennoch spielt der Staat im Ordoliberalismus eine wichtige Rolle, denn er legt die Regeln für den Markt fest. 09 O-TON (Nützenadel)Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu setzen, um etwa fairen Wettbewerb zu ermöglichen oder auch eine Vermachtung von großen Unternehmen zu verhindern. SPRECHERINDenn eine Vermachtung von Unternehmen, also eine Machtanhäufung, geht in der Regel zulasten von Verbraucherinnen und Verbraucher. Noch mal das Beispiel Wochenmarkt: Wenn alle Bäckerinnen sich absprechen und darauf einigen, einen doppelt so hohen Preis zu verlangen, haben die Käufer das Nachsehen. Das „Brotkartell“ hat den Wettbewerb außer Kraft gesetzt. Solche Kartelle wollte insbesondere der CDU-Politiker Ludwig Erhard verhindern. Der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler war in der Nachkriegszeit zuständig für die Wirtschaftspolitik in den westlichen Besatzungszonen. 10 O-TON (Hirte)Das Gesetz gegen Marktmacht-Missbrauch – das sind Kartelle, das sind Syndikate – das war sein Kind, was er gegen alle Widerstände damals durchgesetzt hat. SPRECHERINSagt die Soziologin Katrin Hirte. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft der Universität Linz. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg musste vieles neu gedacht und umgebaut werden, auch staatliche Institutionen und Regeln für die Märkte. Erhard wollte einen starken Rahmen setzen, wandte sich aber gegen jedwede Umverteilung, etwa in Form eines Rentensystems. 11 O-TON (Hirte)Weil die Wirtschaft ja so eingerichtet ist, dass sie sich die Menschen ja selber versorgen können. Weil jeder wird ja in einer funktionierenden Marktwirtschaft reich und nimmt Anteil. Wir brauchen diese ganzen Versorgungssysteme gar nicht. SPRECHERINSo Erhards Begründung. Auf Druck von CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer musste Erhard allerdings Alfred Müller-Armack, Professor für Wirtschaftspolitik, in seine Grundsatzabteilung holen. Und Müller-Armack sprach sich für Umverteilungen aus. 12 O-TON (Hirte)Deswegen nennt man ihn dann den Erfinder der sozialen Marktwirtschaft. SPRECHERINDie neue Ordnung in der Bundesrepublik sollte laut Müller-Armack… ZITATOR… das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbinden. SPRECHERINDie soziale Marktwirtschaft gilt als zentrale Errungenschaft der jungen Bundesrepublik. Auch andere Institutionen, die das Land bis heute prägen, entstanden zu dieser Zeit. Zum Beispiel die Bundesbank, die – anders als etwa in Frankreich oder in Italien –, allein der Stabilität der D-Mark verpflichtet war und nicht etwa noch die Konjunktur im Blick haben sollte. 13 O-TON (Nützenadel)Das war eine Grundsatzentscheidung, die gerade von vielen Ordoliberalen gefordert wurde. SPRECHERINEinen Paradigmenwechsel gab es hierzulande Mitte der 1960er Jahre. Eingeleitet 1963 mit Gründung des Sachverständigenrates, den sogenannten Wirtschaftsweisen. ZITATORDer Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen: Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (…) wird ein Rat von unabhängigen Sachverständigen gebildet. 14 O-TON (Spahn)Und dieser Sachverständigenrat hatte ja auch die Aufgabe, die Grundlagen einer makroökonomischen Politik zu entwerfen, um konkrete Dinge dem Staat auch vorzuschlagen. Und auf der anderen Seite gab es dann das sogenannte Stabilitätsgesetz von 1967. MUSIK SPRECHERINIm Stabilitäts- und Wachstumsgesetz waren vier Ziele für die Wirtschaftspolitik festgeschrieben, das ist das sogenannte Magische Viereck: ZITATORVollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wirtschaftswachstum SPRECHERINAngemessenes Wirtschaftswachstum bedeutete: nicht zu viel und nicht zu wenig wachsen. Dahinter steckt die Annahme, dass man die Konjunktur entsprechend steuern kann. 15 O-TON (Nützenadel)Natürlich geht es auf die Vorstellung zurück, die auch durch Keynes in den dreißiger Jahren geprägt worden ist, dass der Staat durch eine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die wirtschaftliche Entwicklung stabilisieren und auch langfristig positiv beeinflussen kann. Das ist sozusagen das Keynesianische Modell, das hier 1967 auch in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat. SPRECHERINKeynes Ideen passten gut in die Zeit, die geprägt war von allgemeinem Fortschrittsoptimismus. Das konjunkturelle Auf und Ab der Wirtschaft, so hoffte man, gehört der Vergangenheit an. Von nun an sollte es dauerhaft angemessenes Wachstum geben. Erreichen wollte man das vor allem mit der antizyklischen Konjunkturpolitik. MUSIK 16 O-TON (Spahn) Das heißt ganz praktisch: Wenn wir eine schwache Konjunktur haben, dann soll der Staat also mehr Geld ausgeben, Budgetdefizite zulassen … SPRECHERIN… um die schwächelnde Konjunktur durch mehr Nachfrage anzukurbeln. Zum Beispiel durch Steuersenkungen, damit die Menschen mehr Geld zum Einkaufen haben, oder indem der Staat selbst Waren nachfragt. 17 O-TON (Spahn)Aber in der Hochkonjunktur soll er gewissermaßen Kaufkraft stilllegen. Er soll also die Steuern vielleicht ein bisschen erhöhen und soll dazu beitragen, die Nachfrage zu bremsen. SPRECHERINEin schöner Plan – allerdings kam bald schon Ernüchterung auf. 18 O-TON (Nützenadel)Man merkte schon in den frühen 70er Jahren, dass es sehr schwer war, alle vier Ziele gleichzeitig zu erreichen. Das hing damit zusammen, dass durch die Ölpreiskrise ein exogener Schock, ein Angebotsschock, in die Wirtschaft getragen wurde, den man durch eine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, und das ist ja der keynesianische Ansatz, nicht begegnen konnte. SPRECHERIN Durch die stark steigenden Ölpreise 1973 und 1979 gerieten viele Länder, auch die Bundesrepublik, in schwere wirtschaftliche Krisen. Die ohnehin schon hohe Inflation stieg weiter an. 19 O-TON (Nützenadel)Man hatte dann die berühmte Stagflation der 70er Jahre, wo hohe Inflationsraten und stagnierendes Wirtschaftswachstum zusammen auftreten, und damit auch diese ganze keynesianische Konzeption doch sehr stark in die Kritik gerät. SPRECHERINUnter anderem weil die keynesianische Politik die Inflation durch die zusätzliche Nachfrage tendenziell noch weiter verschärft. Hinzu kam, dass es zunehmend Einflüsse von außen gab, nicht nur in Form von exogenen Schocks wie der Ölpreiskrise, sondern auch in Form von internationalen Handels- und Finanzströmen, die immer weiter zulegten. In dieser Zeit kam es zum nächsten Paradigmenwechsel. 20 O-TON (Nützenadel)Die Bundesbank hat im Grunde in den frühen 70er Jahren schon eine monetaristische Wende vollzogen ab 1973, auch wegen der hohen Inflation. SPRECHERINDer Monetarismus ist gewissermaßen der Gegenentwurf zum Keynesianismus. Hinter diesem Konzept steht vor allem der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman. Der Monetarismus geht davon aus, dass es langfristig zum besten wirtschaftlichen Ergebnis kommt, wenn der Staat sich raushält. 21 O-TON (Nützenadel)Diese kurzfristige Steuerung von Konjunktur, das war ja die Idee von Keynes, die lehnte man ab, sondern man sagte eben, wir müssen eigentlich nur ganz langfristig die Geldmenge so wachsen lassen, dass es sich dem Wachstum der Realwirtschaft anpasst. SPRECHERINDie Geldmenge sollte so gesteuert werden, dass es weder zu Inflation noch zu Deflation kommt. Denn sowohl sinkende als auch stark steigende Preise schaden der Wirtschaft, so die Meinung der Monetaristen. Darüber hinaus sollte die Wirtschaftspolitik aber möglichst wenig eingreifen und stattdessen auf die Selbstregulation der Märkte setzen. Diese Idee verfolgten ab 1976 auch die Wirtschaftsweisen, als sie den Begriff der Angebotspolitik in die Debatte einbrachten. Angebotspolitik bedeutet, dass man die Unternehmensseite langfristig stärkt. 22 O-TON (Spahn)Was bedeutet das praktisch? Es geht darum, genügend Arbeitsangebot, genügend Bildung, genügend Forschung, genügend technischen Fortschritt, genügend Energie in der Volkswirtschaft zu haben, aber auch so schwierige Dinge zu fördern wie die Bereitschaft, unternehmerische Risiken zu tragen und anderes mehr. SPRECHERINDer Fokus liegt also auf der Seite von Unternehmerinnen und Unternehmern. Wie das konkret aussah, war je nach Land verschieden. 23 O-TON (Spahn)Wir unterscheiden bei der Angebotspolitik noch mal zwei Spielarten. Diese englische und amerikanische Variante, das ist im Grunde genommen so eine Art Deregulierungsstrategie, oder man kann auch sagen Privatisierungsstrategie. Die These war, der Staat sei eigentlich eine Wachstumsbremse. Seine vielfältigen Regulierungen würden die privaten Aktivitäten bremsen und man müsse den Staat aus vielen Bereichen zurückziehen. SPRECHERINBekannt für diese Spielart sind insbesondere die britische Premierministerin Margret Thatcher und der US-Präsident Ronald Reagan. Aber auch in der Bundesrepublik wurden in den 1980ern und 90ern viele Märkte privatisiert, zum Beispiel der Telefonmarkt. 24 O-TON (Spahn)Wir hatten ja in den 80er Jahren noch das staatliche Telefon, und das kann man sich heutzutage ja gar nicht mehr vorstellen, dass wenn man ein Telefon haben wollte, dann musste man einen Antrag stellen. Der wurde dann nach ein paar Monaten auch bestätigt und nach weiteren Monaten kam dann ein Techniker von der Post und stellte uns diesen staatlichen Apparat dahin. Das war eine staatliche, eine hoheitliche Angelegenheit. SPRECHERINIn der Bundesrepublik und mehr noch in Frankreich gab es aber auch noch eine zweite Spielart. 25 O-TON (Spahn)Da kann man sagen, Angebotspolitik geht in Richtung von Industriepolitik oder vielleicht sogar in Planification. Da ist die Idee, dass der Staat bestimmte Bereiche als zukunftsträchtig einschätzt und sich aktiv dafür einsetzt, dass die Firmen in diesem Bereich was machen, also etwa heutzutage Halbleiter-Produktion oder Chip-Produktion. MUSIK SPRECHERINAb 2008 dann die große weltweite Finanzkrise. Die Preise auf dem US-Immobilienmarkt brachen ein, Immobilienfinanzierer gingen Pleite, das brachte auch Banken und Versicherungen in große Schwierigkeiten. Die Staaten spannten milliardenschwere Rettungsschirme auf – und mussten in den Jahren danach teils selbst gerettet werden. Nicht wenige fragten sich danach: Wie konnte das passieren? So auch die britische Queen Elizabeth II, die auf einer Veranstaltung der renommierten Londoner School of Economics fragte: ZITATORIN (britischer Akzent)Why did nobody see this coming? SPRECHERINJa, warum hat niemand die Krise kommen sehen? Hatten Ökonominnen und Ökonomen zu sehr auf die Selbstregulation der Märkte vertraut? Braucht es vielleicht eine neue Theorie, ähnlich wie nach der Großen Depression? Peter Spahn meint Nein. 26 O-TON (Spahn)Die Finanzkrise war ein Betriebsunfall innerhalb des Banksystems, allerdings dann mit desaströsen Folgen für die Gesamtwirtschaft. Aber man brauchte eigentlich keine makroökonomisch neuen Theorien, um zu verstehen, welche Folgen diese Finanzkrise hatte. Das war eben ein wichtiger Unterschied zu den dreißiger Jahren. SPRECHERINWährend der Finanzkrise und auch während Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg zeigte sich aber erneut ein Umdenken. Denn anders als früher ist Wirtschaftspolitik heute recht pragmatisch. 27 O-TON (Nützenadel)Die meisten versuchen eigentlich undogmatisch an solche Fragen heran zu treten, ich würde sagen, das Fach hat sich insgesamt sehr stark pluralisiert. Man versucht ganz pragmatisch einzelne Elemente herauszugreifen. SPRECHERINZwei Beispiele: Als die Konjunktur während der Corona-Pandemie einzubrechen drohte, beschloss die Regierung kurzerhand den Konsum über eine Senkung der Mehrwertsteuer anzukurbeln – das ist klassische Nachfrage-Politik im Sinne von Keynes. Auf der anderen Seite sollen ein verändertes Einwanderungsgesetz und der Zuzug von Fachkräften langfristig die wirtschaftlichen Aussichten von Unternehmen, also der Angebotsseite stärken. 28 O-TON (Nützenadel)Insofern würde ich sagen, es gibt diese Schulen in dem Sinne heute nicht mehr, wie wir sie früher beobachtet haben. SPRECHERINVielleicht auch, weil ihre Verheißungen ein Stück weit entzaubert worden sind im Laufe der Jahrzehnte. 29 O-TON (Nützenadel)Die Nachkriegszeit war schon von einem sehr großen Optimismus geprägt, dass man Wirtschaft steuern könnte, dass man wirtschaftliches Wachstum auf Dauer gewährleisten könne und dass die Wirtschaftspolitik hierzu einen positiven Beitrag leisten könne. Ich glaube, dieser Optimismus, der ist doch sehr stark erschüttert worden. Man weiß, dass Prognosen sehr komplex sind. Spätestens seit der Finanzkrise hat man gesehen, dass die Prognosen eigentlich oft gar nicht so gut sind. Gerade die etablierten Prognose-Verfahren haben sich eigentlich nicht immer bewährt. Aber nach wie vor sind Ökonominnen und Ökonomen in der öffentlichen Debatte sehr prominent vertreten, mehr als andere Fächer. SPRECHERINDiese herausragende Stellung der Wirtschaftswissenschaften hat sich vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet, aus mehreren Gründen. 30 O-TON (Nützenadel)Das hing zum einen damit zusammen, dass natürlich die Schwankungen in der Wirtschaft viel extremer geworden sind und dass damit auch große Krisen politische Systeme vernichten können. Und dass natürlich auch die Politik immer stärker auch von der Wirtschaft abhängt. SPRECHERINZum Beispiel von den Steuereinnahmen, die in Boom-Zeiten sehr viel höher ausfallen und damit mehr Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. 31 O-TON (Nützenadel)Das war vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht so sehr der Fall, da waren die Staatseinnahmen ja viel geringer. Die Staatsquote war irgendwo bei unter 10 Prozent, und das hat sich natürlich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert. SPRECHERINHeute liegt die Staatsquote hierzulande bei rund 50 Prozent, das bedeutet, die Staatsausgaben entsprechen etwa der Hälfte der Wirtschaftsleistung. Und nicht zuletzt machen Wähler die Politik für ihre wirtschaftliche Situation verantwortlich. It´s the economy, stupid! – Es kommt auf die Wirtschaft an! lautet ein geflügelter Satz, der das beschreibt. Politik und Wirtschaft sind also in mehrfacher Hinsicht eng miteinander verknüpft. MUSIK 32 O-TON (Nützenadel)Insofern ist es ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, was sich im 20. Jahrhundert verändert hat im Vergleich zu früheren Epochen. SPRECHERINDeshalb stimmt es schon irgendwie, was Keynes gesagt hat: Es sind auch die Ideen von Ökonomen, die die Welt beherrschen. Seien sie nun richtig oder falsch.
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Oct 18, 2024 • 25min

WACHSTUM UND PLEITE - Eine Idee kommt nach Europa

Wirtschaftswachstum - da ist erstmal nur eine Zahl. Aber was für eine! Geht die Zahl nach oben, dann steigt die Stimmung. Und umgekehrt genauso. Denn unsere Wirtschaft soll wachsen, da sind sich die meisten einig. Dabei ist diese Idee historisch betrachtet relativ neu. Sie hat mit dem Kalten Krieg zu tun. Von Maike Brzoska (BR 2024) *** Podcast-Tipp: mdr & detektor.fm (2024): Deutschland - ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall https://1.ard.de/dhl?cp=br Credits Autorin: Maike Brzoska Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Dorothea Anzinger, Frank Manhold Technik: Ruth-Maria Ostermann Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Matthias Schmelzer, Robert Groß Besonderer Linktipps der Redaktion: mdr & detektor.fm (2024): Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall In diesem Herbst feiern die Deutschen den 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Nach Plauen am 7. Oktober, Leipzig am 9. Oktober und dann dem Höhepunkt am 9. November 1989 in Berlin, ist der Weg zu einem wiedervereinten Deutschland im Herbst 89 frei. In dem sechsteiligen Storytelling-Podcast trifft der  ostdeutsche Journalist Christian Bollert drei Menschen, die zufälligerweise an diesem historischen Tag geboren worden sind und die er bereits seit ihrem 18. Geburtstag begleitet. Mit ihnen blickt er auf ihr Leben, Deutschland und die Zukunft. ZUM PODCAST Linktipps: Bundeszentrale für politische Bildung (1980): Die Bedeutung des Marshall-Plans für die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland Das „European Recovery Program" (ERP) - auch nach seinem Urheber, dem US-Außenminister Georg C. Marshall, als Marshall-Plan bezeichnet - hat die europäische und vor allem die deutsche Nachkriegsentwicklung in einem solch starken Maße beeinflusst, wie kaum ein anderes Ereignis dieser Zeit. Aber was bedeutete das Programm für die wachsenden wirtschaftlichen Probleme damals? Und was wirft er für ein Licht auf die amerikanische Nachkriegspolitik? JETZT LESEN ARD alpha (2022): Arbeit und Mehrwert – Kommunismus   Was würde Karl Marx  (1818 - 1883) tun, wenn er noch einmal auf diese Welt käme? Er würde in ein Einkaufszentrum gehen und staunen, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft seit seiner Zeit entwickelt haben. Das wird ihn aber nicht davon abhalten, seine Theorie des Kommunismus unter die Leute zu bringen. Die Ware, die Arbeitskraft, das Tauschproblem, die Arbeitszeit und den Mehrwert: Marx findet auch in einem modernen Einkaufszentrum genügend Beispiele, die seine Theorien belegen. Denn für ihn liegt der Kommunismus nicht etwa in der Vergangenheit, sondern noch in (weiter) Zukunft. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHERINKaum zu glauben: Da stehen die beiden mächtigsten Männer der Welt – und streiten über Haushaltsgeräte. So geschehen auf einer Weltausstellung in Moskau 1959, mitten im Kalten Krieg. Der Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon machten einen Rundgang durch die Ausstellung und stoppten in einer amerikanischen Musterküche, die dort gezeigt wurde. Zwischen Waschmaschine und Backmischung kippte dann plötzlich die Stimmung. Chruschtschow bezeichnete die Neuerungen der Musterküche als nutzlose Spielereien und warnte vor dem Blendwerk des Kapitalismus. Nixon hingegen pries die Überlegenheit von US-Konsumgütern wie dem Farbfernseher. Als kitchen debate, Küchendebatte, ging der Schlagabtausch in die Geschichte ein, sagt der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer. Er vertritt die Professur für sozial-ökologische Transformationsforschung an der Universität Flensburg. 01 O-TON (Schmelzer)Diese Debatte steht eben symbolisch für diesen hegemonialen Streit über unterschiedliche Wachstums- und Entwicklungsmodelle, die damals sehr virulent waren. SPRECHERINBegonnen hatte dieser Streit bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Vieles war nach dem Krieg zerstört, den Menschen fehlte es praktisch an allem: Nahrungsmitteln, Kleidung, Kohlen zum Heizen. Die Situation schien aussichtslos. MUSIK SPRECHERINAbhilfe schaffen sollte ein US-amerikanisches Hilfsprogramm: Der Marshall-Plan, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall. 02 O-TON (Groß)Der Marshallplan war im Prinzip das Wiederaufbauprogramm der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Es erstreckte sich von 1948 bis 1952 und umfasste Hilfen im Wert von ungefähr 13 Milliarden US-Dollar, was heute einem Wert von ungefähr 135 Milliarden Dollar entspricht. SPRECHERINSagt der Umwelthistoriker Robert Groß. Er forscht am Institut für Soziale Ökologie der Universität Wien. Begleitet wurde der Marshall-Plan durch eine breit angelegte Informations-Kampagne, die der Bevölkerung den Marshall-Plan erklären sollte. SPRECHERINEin Beitrag aus der Wochenschau zeigt das deutlich. Anlass für den Bericht war der Europa-Zug, der in München startete. 03 TON (Wochenschau)Feierliche Eröffnung des Europa-Zuges auf dem Münchner Hauptbahnhof. Als Erstes besichtigten hohe amerikanische und deutsche Politiker diese fahrende ERP-Ausstellung. Sie steht unter dem Motto: Zusammenarbeit der freien Völker. SPRECHERINAm ERP, also am europäischen Wiederaufbau-Programm, nahmen allerdings nur westeuropäische Staaten teil. MUSIK SPRECHERINDie Staaten im sowjetischen Einflussbereich verzichteten auf die US-Hilfe. ZITATORWir brauchen keinen Marshall-Plan, wir kurbeln selbst die Wirtschaft an! SPRECHERINHieß es auf Plakaten in der sowjetischen Besatzungszone. Die Ablehnung hatte ihren Grund, denn der Marshall-Plan entsprang nicht der reinen Menschenliebe. Sondern war auch ein politisches Projekt. Ein Ziel war, sozialistische Ideen einzudämmen – denn die breiteten sich in Europa immer weiter aus. 04 O-TON (Groß)Ganz konkret ging es da um die Kommunisten, die in Frankreich, in Deutschland, in Österreich und auch in Italien - also fast über ganz Westeuropa - Protestaktionen organisierten, was den Amerikanern ein Riesendorn im Auge war und auch als destabilisierender Faktor wahrgenommen wurde. Und das ist sozusagen ein ganz zentrales Motiv im Marshallplan drinnen, nämlich die Arbeits-, die Lebensbedingungen zu verbessern, mehr Menschen in die Beschäftigung zu bringen, den Menschen Einkommen zur ermöglichen, Nahrungsmittel bereitzustellen, um sie eben vor dieser Radikalisierung durch kommunistische Gruppierungen zu schützen. SPRECHERINNeben solchen kurzfristigen Hilfen gab es auch längerfristige Projekte. So wurden mithilfe der Gelder aus dem Marshall-Plan Industrie und Infrastruktur in den europäischen Ländern wiederauf- und teilweise auch umgebaut. Davon sollte auch die US-Wirtschaft profitieren – jedenfalls erhoffte sich die US-Administration das. Daneben gründeten die Regierungen internationale Organisationen. Man wollte Handelsschranken wie Zölle abbauen und den Freihandel etablieren. 05 O-TON (Groß)Es ging darum, die nationalen Industriepolitiken aufeinander abzustimmen, um so eben gute Bedingungen für das Wirtschaftswachstum in den Nachkriegsjahren herzustellen. SPRECHERINZentral dafür war die Gründung der OEEC, der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1948. 16 Staaten waren Mitglied. Die USA gehörten nicht dazu, dennoch waren sie allgegenwärtig. 06 O-TON (Schmelzer)Nicht als Mitglied dieser Organisation, aber eben als der dominante Geldgeber und auch als ein sehr entscheidender Akteur in den Politiken, die durch die OEEC eben verfolgt worden sind, die auf eine spezifische, sehr marktorientierte liberale Wirtschaftsordnung abzielten und dann eben zunehmend Wachstum als Ziel in den Vordergrund stellten. MUSIK SPRECHERINDie Idee: Eine expandierende, sprich: wachsende Wirtschaft sollte die Menschen wieder in Lohn und Brot bringen und mehr Wohlstand schaffen. Heute ist uns dieser Gedanke vertraut, historisch betrachtet war diese Idee aber relativ neu. 07 O-TON (Schmelzer)Es gibt eigentlich erst seit den 1820er Jahren relevante Wirtschaftswachstumsraten, die über das Bevölkerungswachstum hinausgehen. SPRECHERINDamals begann man fossile Energieträger wie Kohle oder Öl zu nutzen. 08 O-TON (Schmelzer)Und noch viel jüngeren Datums ist die Dominanz von Wachstumsdiskursen in unseren Gesellschaften, die nämlich erst auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. SPRECHERINWachstumsdiskurse – also etwa Fragen wie: Muss unsere Wirtschaft ständig wachsen? Was genau wächst da eigentlich, wenn „die“ Wirtschaft wächst? Und können wir gleichzeitig wachsen und das Klima schonen? Heute sind das zentrale Zukunfts-Fragen. Aber Ende der 1940er Jahre waren solche Probleme noch weit weg. Stattdessen ging es um ganz anderes. Zum Beispiel um den Wiederaufbau. Für den brauchte man eine Messgröße, um zu wissen, wie er in den einzelnen europäischen Staaten läuft. Denn nur so konnte man die Gelder aus dem Marshall-Plan sinnvoll verteilen. Und daneben brauchte man eine Zahl für die Wirtschaftskraft der Länder, um festlegen zu können, wer welchen Beitrag an die OEEC zahlt. Länder, die wirtschaftlich besser dastehen, sollten mehr beisteuern, andere weniger. Um da eine vergleichbare Größe zu haben, einigte man sich schließlich auf das Bruttosozialprodukt. 09 O-TON (Schmelzer)Das Bruttosozialprodukt ist das statistische Messwerkzeug, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist und was überhaupt erst möglich machte, zu messen, was denn eigentlich wachsen soll. SPRECHERINDas Bruttosozialprodukt wächst, wenn es mehr Waren und Dienstleistungen als im Vorjahr gibt. Eine klare und einfache Rechnung – zu einfach, fanden schon damals viele, auch in der OEEC. 10 O-TON (Schmelzer)Es war tatsächlich so, dass die Ökonom*innen davor gewarnt haben, diese Zahlen zu nutzen für eben diese weitreichenden Zwecke der Wohlstandsmessung und des Vergleichs von Ländern und Ähnliches. SPRECHERINUnter anderem weil wichtige Bereiche ausgeklammert werden, zum Beispiel die Hausarbeit. 11 O-TON (Schmelzer)Die Sorge-Tätigkeiten, die im Haushalt passieren, aber auch außerhalb des Haushalts, sehr stark weiblich geprägt sind, die aber essenziell sind, damit wir als Menschen und menschliche Gesellschaften überhaupt funktionieren können, die werden quasi überhaupt gar nicht mitberücksichtigt in diesem statistischen Standard. MUSIK SPRECHERINDas neue Bruttosozialprodukt, aus dem später das Bruttoinlandsprodukt wurde, erwies sich jedenfalls als äußerst nützliche Zahl. Für Regierungen war sie bald schon eine feste Zielgröße, auf die sie hinarbeiten konnten. Auf die sie politischen Maßnahmen abstimmten. Im großen Stil steigern wollten sie das Bruttosozialprodukt, indem Industrie und Landwirtschaft mechanisiert wurden. 13 O-TON (Groß)Es ging darum, wo immer es möglich war, menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. Und da war der Verbrennungsmotor ein ganz zentrales Element. SPRECHERINBis dahin gab es in Europa große Dampfmaschinen, wie etwa Dampflokomotiven, die mit Kohlen angeheizt wurden. Die kleineren Verbrennungsmotoren konnten vielseitiger eingesetzt werden – in Traktoren und Autos etwa. Statt Kohle brauchte man nun Benzin oder Diesel, also Erdölprodukte. Erdöl war das Schmiermittel, das die Wirtschaft antreiben und das Wachstum entfachen sollte. SPRECHERINAber neben diesen praktischen Hilfen, um Erträge zu erhöhen – oder, auf die gesamte Gesellschaft bezogen: um das Wachstum zu steigern –, war aus Sicht der Amerikaner auch noch etwas anderes nötig. MUSIK SPRECHERINDie Europäer brauchten ihrer Meinung nach eine andere Erwartungshaltung. Ein anderes mindset. Dafür etablierte man 1953 die Europäische Produktivitätsagentur. Man wollte allen Teilen der Gesellschaft die Steigerung der Produktion schmackhaft machen. Nicht nur Unternehmerinnen und Unternehmern, sondern auch der arbeitenden Bevölkerung. 15 O-TON (Schmelzer)Und vor dem Hintergrund wurden quasi dezidiert auch Workshops veranstaltet mit eben diesen Akteuren, um so ein neues Set an Mentalitäten zu verbreiten, das darauf abzielt, die Idee von einem Positivsummenspiel in Europa zu etablieren. Also wegzukommen von der Idee, die Gesellschaft ist ein Nullsummenspiel. Wenn eine Gruppe mehr bekommt, dann muss eine andere weniger bekommen, hin zu einer Mentalität, in dem der Kuchen für alle wächst und alle davon profitieren können. SPRECHERINUm von den Amerikanern zu lernen, reisten Tausende Europäerinnen und Europäer in den 1950er und -60er Jahren in die USA. Dort konnten sie mit eigenen Augen sehen, wie sich der Output steigern lässt. Sie schauten sich zum Beispiel an, wie PKW an Fließbändern gefertigt werden. Oder wie die just-in-time-Produktion funktioniert. Manche der Reisenden, darunter hochrangige Manager, waren danach regelrecht schockiert. So erfuhren sie in einem Ford-Werk in Cleveland, wie mehrere Tausend Motoren pro Tag gefertigt werden. Zum Vergleich: Bei Daimler-Benz dauerte der Bau eines einzigen Motors fast einen ganzen Tag. Der Schock war auch deshalb so groß, weil US-Firmen zu dieser Zeit begannen, nach Europa zu exportieren. Die europäischen Unternehmen mussten nachziehen, wollten sie nicht Pleite gehen. Aber es ging nicht nur um Profit: Die Modernisierung der Wirtschaft und die Steigerung der Produktion hatten zu dieser Zeit auch eine starke geopolitische Komponente. Es ging darum, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Der Kalte Krieg nahm an Fahrt auf Ende der 1950er Jahre – und damit der Kampf um das bessere Wirtschaftssystem. So sah es auch Nikita Chruschtschow, Regierungschef der Sowjetunion. 16 O-TON (Schmelzer)Chruschtschow hat bereits 1958 auf einem Parteikongress argumentiert, dass Wirtschaftswachstum, das Wachstum der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion in der Sowjetunion, eigentlich der Rammbock ist, mit dem das kapitalistische System zerschlagen werden soll. Und die Sowjetunion legte damals sehr, sehr ambitionierte Wachstumspläne vor, die deutlich über den statistischen Wachstumsprognosen in den westlichen Ländern lagen. Was eben dazu geführt hat, dass in westlichen Politiken viel stärker auch geplante Wachstumspolitik in den Vordergrund rückte. MUSIK SPRECHERINWo lebt es sich besser – im Kommunismus oder im Kapitalismus? Wer bietet seinen Bürgern die besseren Produkte? Wer hat technologisch die Nase vorn? Tatsächlich war die Frage damals nicht, ob die Sowjetunion die USA beim Wirtschaftswachstum einholen würde, sondern wann. Man rechnete damit, dass es Mitte der 1960er Jahre so weit sein würde. Das Wachstum der Wirtschaft wurde deshalb zur alles entscheidenden Frage. Die Devise lautete: ZITATORExpand or die – expandiere oder stirb. SPRECHERINWeiter angeheizt wurde die Stimmung, als die Sowjets ihre technologische Überlegenheit in der Raumfahrt aller Welt vor Augen führten. 17 TON (Sputnik)Denn sie waren es, die den ersten Satelliten ins Weltall schossen, wie der Wochenspiegel 1957 berichtete: MUSIK & ATMO ZITATOR Meine Damen und Herren, ein uralter Traum der Menschheit, der Vorstoß ins All, scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Denn gestern Abend, genau 23.35 Minuten, erreichte eine sogenannte Flash-Meldung die Agenturen der Welt. (…) Und in dieser Meldung heißt es: Am 4. Oktober wurde in der Sowjetunion ein künstlicher Erdsatellit, der erste auf der Welt, erfolgreich aufgelassen. Der Satellit beschreibt jetzt elliptische Flugbahnen um die Erde, wie anzunehmen ist in Höhe bis zu 900 km. (…) Der Wettkampf der USA mit der Sowjetunion um den ersten Erdsatelliten wurde von den Sowjetrussen gewonnen. SPRECHERINZwei Jahre später trafen dann Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon direkt aufeinander. Der Schlagabtausch in der amerikanischen Modellküche war ein symbolischer Höhepunkt der Systemkonkurrenz der beiden Supermächte. 18 O-TON (Schmelzer)Diese Küche spielte darin eine entscheidende Rolle, weil sie eben quasi verdeutlichen sollte auf einer ganz konkreten Ebene, was die Vorteile sind, die eben verschiedene Wirtschaftssysteme haben. MUSIK SPRECHERINDer Wiederaufbau in den kapitalistischen Staaten Westeuropas lief nach Plan. Die von der OEEC ausgerufenen Wachstumsziele für die 1950er Jahre wurden sogar übertroffen. Und tatsächlich ging es den meisten Menschen in materieller Hinsicht sehr viel besser als noch vor ein paar Jahren: Die meisten wohnten wieder in einer warmen Wohnung, hatten genug zu essen, viele sparten für ein Auto oder einen Italien-Urlaub. Der neue Wohlstand befriedete die Gesellschaft. Die Frage bei der OEEC, die den Wiederaufbau koordiniert hatte, war nun: Wie geht es weiter? 19 O-TON (Schmelzer)Nach dem Auslaufen der Marshall-Plan-Gelder war im Prinzip unklar, was passiert eigentlich mit dieser Organisation? Und damals intervenierte sehr stark die USA und hat quasi die OECD neu gegründet als ein Club der westlichen reichen Länder. Neue Mitglieder waren dann eben zuerst die USA und Kanada und dann später auch Japan. SPRECHERIN1961 wurde aus der OEEC die noch heute existierende OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aber trotz des neuen Namens blieb sie bei ihrem bewährten Rezept: Wirtschaftswachstum. 20 O-TON (Schmelzer)Damals proklamierte die OECD ein Wachstumsziel von 50 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Das heißt, das kollektive Bruttoinlandsprodukt aller Mitgliedsländer sollte um 50 Prozent gesteigert werden in zehn Jahren. SPRECHERINWobei die ambitionierten Ziele auch Kritik hervorriefen. Manche fragten damals, ob es überhaupt möglich ist, dass die Wirtschaft immer weiter wächst, dass jedes Jahr mehr produziert wird. 21 O-TON (Schmelzer)Und diese Debatte ist vor allem deswegen interessant, weil sie deutlich macht, dass es damals überhaupt nicht selbstverständlich war, vor allem in Europa, längerfristige Wirtschaftsentwicklung als Expansion zu denken. Die Hauptperspektive in dieser Phase des Wiederaufbaus war ein Zurück-zu-dem-Zustand-vor-dem-Krieg. MUSIK SPRECHERINAber genau das änderte sich zu dieser Zeit. Statt Wiederaufbau galt nun: dauerhafte Expansion. Statt Genügsamkeit hieß es: Immer-mehr. Das ständige Wachstum der Wirtschaft wurde zum unhinterfragten Politikziel. Auch weil sich irgendwann zwischen Wiederaufbau und Kaltem Krieg, zwischen Automatisierung und Erdöl-Motoren eine neue Sichtweise etabliert hatte. Matthias Schmelzer spricht von einem Wachstums-Paradigma. Und meint damit: 22 O-TON (Schmelzer)Dass Wachstum auch ein Versprechen ist, ein Mythos, ein mächtiges Narrativ in unseren Gesellschaften, das sehr stark die Politik prägt und eigentlich auch quasi international zu dem primären Ziel von Wirtschaftspolitik geworden ist. SPRECHERINWirtschaftswachstum ist seitdem nicht nur die Steigerung des Bruttosozialproduktes, sondern gleichbedeutend mit Fortschritt, Wohlstand und besserem Leben. Das gilt für die meisten bis heute. Dabei zeigt die Forschung, dass dieser Zusammenhang nur bedingt existiert. 23 O-TON (Schmelzer)Es gibt keine direkte Kopplung von Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand. Es scheint so zu sein, dass es in den meisten Gesellschaften bis zu einem bestimmten Einkommensniveau tatsächlich diesen Zusammenhang gibt. Aber wenn diese Einkommens-Schwelle überschritten wird, die eben in europäischen Gesellschaften in den 1970er, 80er Jahren überschritten worden ist, dann führte historisch gesehen mehr Wachstum nicht zu steigendem Wohlergehen. SPRECHERINTrotzdem hielt man daran fest, trotz wachsender Kritik aus verschiedenen Richtungen. 24 O-TON (Schmelzer)Zum einen eine starke Kritik an den Verteilungswirkungen von Wachstum, die eben sehr ungleich sind. SPRECHERINDenn ein stark steigendes Bruttosozial- oder Inlandsprodukt bedeutet nicht automatisch, dass es allen besser geht. Es kann auch nur einer bestimmten Gruppe – theoretisch auch nur einer einzigen Person – zugutekommen. MUSIK 25 O-TON (Schmelzer)Gleichzeitig kam auch eine sehr starke ökologische Kritik, Stichwort Grenzen des Wachstums, 1972, auf, die nochmal diese Abhängigkeit von Ressourcen und auch das Problem der Emission in den Vordergrund rückten. SPRECHERINKönnen wir auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen überhaupt unendlich wachsen? Spätestens ab den 1970ern gab es grundlegende Kritik an einer Wirtschaftsweise, die unsere natürlichen Ressourcen über Gebühr beansprucht. Zu einer Abkehr von der Wachstumsidee führte das allerdings nicht. Stattdessen wollte man anders wachsen. 26 O-TON (Schmelzer)Der erste Versuch lief unter dem Stichwort qualitatives Wachstum. Aber sehr schnell folgten dann auch andere Begrifflichkeiten, die sich eigentlich über die Jahrzehnte bis heute ziehen. SPRECHERINInklusives Wachstum, nachhaltiges Wachstum oder grünes Wachstum, zum Beispiel. Wobei sich vor einigen Jahren auch der Begriff Post-Wachstum oder degrowth dazu gesellte, also die Idee weniger zu wachsen. Aber insbesondere in Krisenzeiten zeigt sich immer wieder dasselbe Muster. So etwa nach der Finanzkrise unter der Regierung Angela Merkel. 27 TON (Angela Merkel) Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung. (…) Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. (…) Und genau vor diesem Hintergrund beginnt die neue Bundesregierung ihre Arbeit mit einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. SPRECHERINOder 2023, als Finanzminister Christian Lindner erklärte, wie man den Konjunktureinbruch nach dem russischem Angriffs-Krieg bewältigen will. 28 TON (Christian Lindner) Die Voraussetzung für eine soziale Gesellschaft und dass wir unsere ökologischen Ziele erreichen, dass man auch individuell wirtschaftlich vorankommt, das ist eine starke Wirtschaft. Und hier müssen wir besser werden. Wir haben an Wachstumsdynamik verloren und deshalb legen wir ein Wachstumschancengesetz vor. MUSIK SPRECHERINEin Grund, warum so viele Politikerinnen und Politiker so auf Wachstum fokussiert sind, ist, dass unsere Systeme darauf ausgerichtet sind. Denn was passiert, wenn die Wirtschaft tatsächlich mal stark einbricht, zeigte sich nach der Finanzkrise in Griechenland, wo die Wirtschaft um 25 Prozent geschrumpft ist. 29 O-TON (Schmelzer)Die sozialen Folgen waren katastrophal. Das schlägt sich dann nieder in großen Wellen von Krankenhauspleiten, Versorgungskrisen und generell einer Situation, wo Jugendarbeitslosigkeit explodiert, Menschen auswandern, Perspektiven fehlen. Also Wachstum ist in diesen Gesellschaften eine zentrale Voraussetzung für Stabilität. SPRECHERINWeniger Wachstum führt in unserem Wirtschaftssystem früher oder später zu Arbeitslosigkeit. Das belastet die Sozialsysteme – es wird weniger eingezahlt und gleichzeitig brauchen mehr Menschen Unterstützung. Daneben sinken die Steuereinnahmen – und damit der politische Handlungsspielraum. Unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht unabhängiger, resilienter zu machen, wäre eine wichtige Aufgabe. Dementsprechend wichtig wäre es, Entwürfe für ein gutes individuelles als auch gesellschaftliches Leben zu stärken, für die ständiges Wachstum keine Bedingung ist. MUSIK 30 O-TON (Schmelzer)Für die meisten Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, dass es ohne Wirtschaftswachstum überhaupt diese Sachen geben kann: Fortschritt, Entwicklung, eine bessere Zukunft. Und das ist, glaube ich, der Kern der ideologischen Zugkraft dieser Wachstumsidee, der moderne Gesellschaften heute vor Herausforderungen stellt. SPRECHERINMan denkt, dass es gar nicht mehr anders geht. Dass unsere Wirtschaft immerzu wachsen muss. Aber eigentlich ist es eine recht neue Idee, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Gut möglich, dass diese Epoche nun langsam zu Ende geht.

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