

WIE MENSCHEN FRÜHER REISTEN – Die Transsibirische Eisenbahn
Sie ist die längste Eisenbahnstrecke der Welt - die Transsibirische Eisenbahn. Ende des 19. Jahrhunderts will das Zarenreich mit ihr einen Traum wahrmachen: den Raum besiegen und Russland in die Moderne katapultieren. Von Elsbeth Bräuer (BR 2018)
Credits
Autorin: Elsbeth Bräuer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Rainer Buck, Herbert Schäfer
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Dr. Benjamin Schenk
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025
Besonderer Linktipp der Redaktion:
MDR (2025): Weltgeschichte vor der Haustür
Hans Christian Andersen liebte das Reisen – vor allem mit dem Zug. Er lernte das Osmanische Reich kennen, Portugal oder Großbritannien. Eine seiner ersten Reisen führte ihn 1831 nach Deutschland - der Anlass war eine unglückliche Liebe. Das Reiseziel Deutschland hatte mit seiner Vorliebe für Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Ludwig Tieck oder Heinrich Heine zu tun. In die Sächsische Schweiz zog es ihn wegen seiner Schwäche für Berge, Felsen, Täler und Höhlen. Und die Stadt Dresden faszinierte ihn so sehr, dass er danach immer wieder zurückkehrte. ZUR FOLGE
Linktipps
BR (2025): Glacierexpress
Neben der Transsibirischen Eisenbahn ist die Fahrt mit dem Glacierexpress eine der berühmtesten Eisenbahnreisen der Welt. In acht Stunden erlebt man zwischen St. Moritz und Zermatt knapp 300 Kilometer Schweizer Alpenlandschaft in ihrer schönsten Form. Seit 88 Jahren gehört die Reise mit dem "langsamsten Schnellzug der Welt" zu einer der aufregendsten und bequemsten Möglichkeiten, die Alpen zu entdecken. Die dreiteilige Dokumentation gibt es in der ARD Mediathek. JETZT ANSEHEN
BR (2024): Die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland – Vom Adler zum ICE
Neun Minuten dauert die Jungfernfahrt der Lokomotive "Adler". Sie läutet 1835 auf den frisch verlegten Schienen zwischen Nürnberg und Fürth das Eisenbahnzeitalter ein. Seitdem hat sich viel getan in der Geschichte der Eisenbahn... Von Inga Pflug (BR 2020)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ZITATOR
So versank gewissermaßen die europäische Welt hinter uns, und es gab keine Mittel und Wege, die Verbindung mit ihr wieder herzustellen. Aber eine ganz neue und kaum geahnte Welt stieg dafür vor uns auf und sprach in beredter Weise, mit lebhaften Bildern zu unseren Sinnen. Die Eisenbahn brachte durch den unendlich langen Einschnitt, den sie in den asiatischen Kontinent macht, überall neues Leben hervor.
SPRECHER
Sie ist eine Bahn wie keine andere. Die Transsibirische Eisenbahn, von der der deutsche Journalist Eugen Zabel schwärmt, ist längst ein Mythos. Über 100 Jahre später fasziniert sie immer noch Reisende und Russlandfans. Nicht nur für Eisenbahnromantiker ist es ein Traum: Einmal die große Reise von Moskau nach Wladiwostok antreten, über 9.000 Kilometer Schienen, während am Fenster eine endlose Schneelandschaft vorbeizieht, die Eisenbahn sanft rattert und es in den Gängen nach russischem Tee riecht.
MUSIK
SPRECHER
Das Zarenreich im 19. Jahrhundert. Alexander III. herrscht über ein riesiges Imperium – von St. Petersburg im Westen bis zur Pazifikküste im Osten. Doch der Zar hat ein Problem. In den entfernten Gebieten kann er seine Herrschaft schlecht durchsetzen, der Handel mit Sibirien wird erschwert durch schlammige Straßen und unpassierbare Gebiete. Daher geistert jahrzehntelang eine Idee durch die russischen Ministerien. Ein „stählernes Band“ soll Russland wie einen Gürtel zusammenhalten – die Transsibirische Eisenbahn. Es wird die längste Eisenbahnstrecke der Welt werden, ein Viertel des gesamten Erdumfangs. Der Historiker Prof. Benjamin Schenk hat ein Buch darüber geschrieben: „Russlands Fahrt in die Moderne“.
1 O-TON
Das war ein Zeitalter, wo man weltweit daran dachte, große Distanzen mithilfe dieser modernen Infrastruktur zu erschließen. Es war auch die Zeit der großen Verkehrsprojekte auf dem amerikanischen Kontinent, es war die Zeit, wo man den Suezkanal baute und Jules Verne sein Buch schrieb "In 80 Tagen um die Welt", und wo man davon träumte, dass man mithilfe dieses modernen Verkehrsmittels nun Raum und Zeit besiegen könne.
SPRECHER
Der Mann, der für diesen Traum kämpft, heißt Sergei Witte. Sein Herz schlägt für die Schienen. Der Manager berät den Zaren zu Eisenbahnprojekten, wird Verkehrs- und später Finanzminister – er will das Zarenreich moderner machen. In seinem Buch „Die Memoiren des Grafen Witte“ von 1921 beschreibt er, welch großen Stellenwert die Eisenbahn für ihn und den Zaren hat:
ZITATOR
Die Idee, das europäische Russland mit Wladiwostok zu verbinden, war einer der größten Träume von Alexander III. [...] In meiner Funktion [...] setzte ich mich hartnäckig für die Notwendigkeit ein, die große Sibirische Bahn zu bauen. So sehr die früheren Minister den Plan abwendeten, so wollte ich ihn durchführen, erinnere ich mich an mein Versprechen an den Kaiser.
Als Finanzminister war ich in einer besonders guten Position dafür, denn was man für den Bau der Bahn am meisten brauchte, war Geld.
SPRECHER
Was die Eisenbahn angeht, hinkt Russland hinterher. Mit Neid blicken viele in die USA und nach Kanada: Dort schnaufen und rattern schon Züge quer über den Kontinent. Nun soll auch Russland mit einem großen Kraftakt in der Moderne ankommen. Doch wie jedes Großprojekt hat die Transsibirische Eisenbahn ihre Feinde. Bevor sie gebaut wird, wird um sie gestritten – über 30 Jahre lang. Zu teuer, sagen die Kritiker, größenwahnsinnig, ein Projekt, das sich nie lohnen wird. Und dann ausgerechnet Sibirien – das „Reich der Kälte“, groß, wild und unwegsam.
2 O-TON
Sibirien war für Russen, aber auch für Menschen in Westeuropa ein Land, das sehr, sehr weit weg war und ein nicht sehr gut ausgebildetes System von Wegen und Straßen hatte und das wirklich schwer zugänglich war. Und ein Grund, warum man zum Beispiel Sibirien als einen Ort der Verbannung und des Gefängniswesens genutzt hatte, war, dass man nicht nur schlecht hinkam, sondern auch schlecht wegkam. Also es war ein Ort, der im Volksmund als das „größte Gefängnis der Welt“ galt.
SPRECHER
In diesem Gefängnis gibt es Land im Überfluss. Manche versprechen sich davon reiche Gewinne - im Ackerbau und der Viehwirtschaft. Doch die Produkte zu transportieren ist schwierig. Man fährt die Ware mit Schlitten über zugefrorene Wege, unbefestigte Straßen werden schnell mal zu gefährlichen Schlammlöchern. Besonders schlimm ist es im Frühjahr und Herbst. Im Russischen gibt es sogar ein eigenes Wort für diese „Zeit der Wegelosigkeit“: Rasputiza. Die Transsib soll ein kleines Wirtschaftswunder in Gang setzen - und die Regierung hofft, sich damit auch militärisch besser aufzustellen. Schließlich spricht Alexander III. im Jahr 1890 ein Machtwort für die Transsib:
ZITATOR
Es ist Zeit, allerhöchste Zeit.
SPRECHER
Im Mai 1891 tut Alexanders Sohn, der spätere Zar Nikolaus II., den ersten Spatenstich – und zwar im Pazifikhafen Wladiwostok, das heißt übersetzt „Beherrsche den Osten“. An gleich fünf Stellen gleichzeitig beginnen die Bauarbeiten. Doch die Verantwortlichen haben sich bei der Planung verschätzt. Die Eisenbahn kostet weit mehr als erwartet. Der russische Staat soll das Projekt finanzieren – doch der sitzt auf dem Trockenen. Also müssen Kredite aus dem Ausland her, und zwar schnell. Wie begeistert man Investoren und Touristen? Die Verantwortlichen setzen auf die Pariser Weltausstellung. Während in Sibirien die Schienen verlegt werden, läuft die Werbetrommel in der französischen Hauptstadt heiß. Die Weltöffentlichkeit soll Sibirien als Zukunftsprojekt kennenlernen.
3 O-TON
Man kooperierte mit der internationalen Schlafwagengesellschaft und stellte in einen dieser Pavillons auf der Pariser Weltausstellung Waggons der Luxusklasse und die Besucher der Weltausstellung konnten nun diesen Waggon besuchen, sie konnten dort Platz nehmen und Tee trinken, und während sie dort saßen, ungefähr eine Stunde, wurde an den Fenstern dieses Zuges ein gewaltiges Landschaftspanorama vorbeigezogen, und dieses Landschaftspanorama sollte den Menschen, die in diesem Zug saßen, die Illusion erwecken, dass sie sich im Zug befinden und gerade durch Sibirien fuhren. Und als sie dann nach einer Stunde diesen Zug wieder verließen, wurden sie empfangen von Personal auf dem Bahnsteig, was nun chinesische Trachten trug, um diese Illusion perfekt zu machen, als hätte man in dieser Stunde im Kopf diese Distanz zwischen Moskau und Peking in diesem Zug der Luxusklasse zurückgelegt.
SPRECHER
Es ist ein genialer Marketing-Coup. Sibirien – das ist auf einmal nicht mehr dieses verschnarchte Hinterland mit seinen öden Landschaften und gefährlichen Sträflingen. Sibirien, das ist die Zukunft! Im Westen überschlägt man sich vor Begeisterung. In Paris werden Luxus-Reiseführer unter den Journalisten verteilt – auf Englisch, auf Französisch, auf Deutsch. Schon bald kaufen sich Reisende die ersten Zugtickets. Denn auch wenn sich der Bau noch bis 1916 hinzieht: Ab 1903 können die Touristen schon lange Teilstrecken zurücklegen.
4 O-TON
Wenn man sich die westlichen Berichte anschaut, und wir haben vor allem westliche Berichte, weil in Russland wurde viel weniger darüber geschrieben und diskutiert, dann ist es tatsächlich dieser Traum, den wir auch bei Jules Verne finden. Diese Technik, die uns eben hilft, Raum und Zeit zu erobern und auch diese Faszination, dass dieses Russland, was lange Zeit als unterentwickeltes Land galt, dass Russland die Ressourcen und das Knowhow aufbringt, um dieses gewaltige Verkehrsprojekt zu realisieren.
SPRECHER
Auf der Strecke sind auch Luxuszüge einer belgischen Firma, der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, unterwegs – sie bieten alle Annehmlichkeiten eines Vier-Sterne-Hotels. An Bord gibt es ein Klavier, eine kleine Bibliothek, in manchen Wägen sogar einen Raum mit Fitnessgeräten für die müde gesessenen Beinen. Im Speisewagen bringt einem das Personal im Frack und weißen Handschuhen ein mehrgängiges Menü. Auf der langen Reise haben die Touristen genug Zeit, um ihre Gedanken festzuhalten. Der Engländer Harry de Windt beschreibt 1901 seine Fahrt mit der Transsib in „From Paris to New York by Land“. Er ist erstaunt darüber, dass Sibirien ganz anders ist als angenommen:
ZITATOR
Klimatisch ist die Reise wunderbar in der Winterzeit, dann zeigt sich Sibirien von seiner besten Seite. Nicht das Sibirien des englischen Dramatikers, mit heulenden Schneestürmen, angeketteten Verurteilten, Wölfen und Peitschen, sondern ein lächelndes Land voller Versprechen und Fülle, sogar unter den endlosen Schneedecken. Die Landschaft ist natürlich öde, aber an den meisten Tagen ist der Himmel blau und wolkenlos und es scheint eine strahlende Sonne, die man so oft vergeblich an der Riviera sucht.
SPRECHER
Die Transsibirische Eisenbahn beschreibt De Windt als „fahrenden Luxuspalast“. Abends versammelt man sich ums Klavier, und die Stunden vergehen schnell, wenn man den russischen Frauen beim Singen und Spielen zuhört, Glinka und Tschaikowsky. In „From Paris to New York by Land“ beschreibt de Windt aber auch, dass es in der Transsib oft langweilig ist - und wie das auf die Stimmung drücken kann.
ZITATOR
Alles ist sehr traurig und deprimierend, vor allem, wenn man gerade frisch aus Europa kommt. Der Zug hat einen Vorteil, er rattert und knattert nicht, während er sich wie ein stilles Gespenst durch die desolaten Steppen stiehlt. Als Heilmittel gegen Schlaflosigkeit wäre er unschätzbar, und wir schlafen viel.
6 O-TON
Das war natürlich kein ICE und auch kein TGV, das waren sehr langsame Geschwindigkeiten, die die Passagiere dort erlebten. Es ist auch sehr abhängig von den Zügen. Die Züge der höheren Klasse fuhren vielleicht maximal 80 Stundenkilometer, aber die meisten Züge waren noch viel langsamer unterwegs, weil auch die Gleise und das Gleisbett keine höhere Geschwindigkeit zugelassen haben, also man zuckelte relativ gemütlich durch die Landschaft.
SPRECHER
Mit den Reisenden ändert sich auch das Sibirienbild.
7 O-TON
In Russland hat sich langsam dieses Bild von Sibirien als das Reich der Kälte und das größte Gefängnis der Welt verändert und wurde ersetzt durch ein Bild, das vergleichbar ist mit dem Wilden Westen in Amerika, also das war dann Russlands wilder Osten. Das heißt: Man träumte davon, dass dieses Sibirien, das ja so dünn besiedelt ist und wie ein weißes Blatt Papier daliegt, dass das ein Raum ist, wo ganz neue große Projekte zu realisieren sind und man darauf hoffte, dass Sibirien wirklich so dieses russische Zukunftsland wird.
SPRECHER
Doch für diesen Traum vom Zukunftsland müssen viele hart anpacken. Zum Höhepunkt des Baus 1895/96 arbeiten 80.000 Männer gleichzeitig an der Transsib. Beim Bau der Eisenbahn seien so viele Arbeiter gestorben, schreiben sowjetische Historiker, dass die Schienen geradezu auf Knochen verlegt seien. Das ist wohl übertrieben und sollte vor allem das Zarenreich in ein schlechtes Licht rücken. Doch ein raues Leben war es allemal. Die Arbeiter leben in Erdhütten, viele sterben an Krankheiten und Erschöpfung.
8 O-TON
Die Arbeiter spielten kaum eine Rolle, das ist aber auch relativ typisch für diese großen Infrastrukturprojekte, dass man oft die Ingenieure der Eisenbahnbrücken feierte und die Administratoren, die verantwortlich waren, diese Entscheidungen zu treffen, aber über die Menschen, die wirklich die Arbeit gemacht haben, diese Bahn zu bauen, über die hat man sehr wenig gesprochen.
SPRECHER
Auf den Baustellen trifft man auf italienische Steinmetze, russische Bauern, Chinesen und Mongolen – und Sträflinge. 20.000 Gefangene arbeiten auf den Baustellen. Der Reisende Sir Henry Norman behauptet, zivilisierte Menschen trügen in der Gegend einen Revolver und Vorsichtige sogar zwei. Doch das ist nicht die einzige Gefahr.
9 O-TON
Es gab Unfälle, das hatte auch damit zu tun, weil die Devise war: so schnell und so billig wie möglich diese Bahn zu bauen. Das heißt, man baute einspurig, das war eine einspurige Bahnlinie an vielen Strecken, und man baute mit sehr leichtem Material, und das führte natürlich zwangsläufig dazu, dass die Bahn nicht so sicher war wie Bahnlinien, die solider konstruiert waren.
SPRECHER
Für eine Baustelle hätte man sich kaum schwierigere Bedingungen aussuchen können: Tauende Permafrostböden, meterhohe Hochwasser, Erdrutsche und Temperaturen bis -50 Grad. Der Baikalsee ist eine besondere Herausforderung. Bis die Schienen entlang des Ufers so weit sind, transportiert man die Passagiere im Winter mit Pferdeschlitten übers Eis. Weil man beim Bau an Material spart, ereignen sich häufig Unfälle. Wenn die Züge wegen der Unfallgefahr langsamer fahren, dauert die Fahrt von Moskau nach Wladiwostok statt einer Woche schon mal einen Monat.
MUSIK
SPRECHER
Nicht alle Reisenden fahren mit den Luxuszügen der Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Die meisten Passagiere nutzen die einfachen Züge der Russischen Staatsbahn. So auch die etwa drei Millionen Menschen, die mithilfe der Transsibirischen Eisenbahn umgesiedelt werden. Es sind bäuerliche Kolonisten aus der Ukraine, Weißrussland oder dem Westen der russischen Gouvernements. Der Reisende Richard Penrose beschreibt 1901 in „The Last Stand of the Old Siberia“ die Ausmaße dieser Migration:
ZITATOR
Die Zahl der Auswanderer steigt rapide, alle Züge und Boote sind überfüllt, und entlang der Flüsse sieht man viele Emigranten, die auf Flößen ihrem neuen Heim entgegentreiben, mit Familien, Pferden, Schweinen und ihrem ganzen Hausrat.
SPRECHER
Die Armut treibt die Auswanderer nach Sibirien. Sie erhoffen sich eine bessere Zukunft und eine neue Heimat. Nur gehört diese Heimat schon jemandem: der angestammten, nomadischen Bevölkerung, die oft vertrieben wird.
10 O-TON
Es ging natürlich darum, diesen Raum, der als wild, als barbarisch und unzivilisiert beschrieben wurde, den zu erschließen, mit bäuerlichen Kolonisten aus dem Westen des Zarenreiches, und diese Kolonisten stellte man sich vor als Kulturbringer, die also die europäische Zivilisation in diese asiatischen Gebiete brachten, aber man nahm natürlich auch die Urbevölkerung dort wahr. Und die waren im russischen Diskurs ähnlich wie die „Indianer“ in Amerika, die galten als Wilde, galten als unzivilisiert, und die hoffte man mithilfe dieser modernen Technik und dieser ganzen Infrastruktur, die diese Technik auch bringt, auf ein höheres Zivilisationsniveau zu bringen im Duktus der damaligen Zeit.
SPRECHER
Der ganz große Handelsboom, den man sich von der Transsib verspricht, tritt nicht ein. Doch viele profitieren vom Handel. Besonders landwirtschaftliche Produkte laufen gut. Die Butter aus Sibirien ist legendär, sie wird mit speziellen Kühlwaggons auf die europäischen Großmärkte gebracht, darunter London. Mit der Eisenbahn kommt für viele Städte der Aufschwung. Einige werden ganz neu gegründet – zum Beispiel das heutige Nowosibirsk, das an der Kreuzung der Bahnlinie mit dem Fluss Ob liegt.
11 O-TON
Das war erst mal eine Eisenbahnsiedlung, die aus wenigen Barracken bestand. 1891 begann man ja mit dem Bau und diese Stadt hatte 1900 bereits 18.000 Einwohner. Das heißt, wir sprechen hier von einem Städteboom in Sibirien, das zog sich entlang der Bahnlinie bis nach Wladiwostok fort, der vergleichbar ist mit der Urbanisierung und mit dem Explodieren der Städte auf dem nordamerikanischen Kontinent in der gleichen Zeit. Da erleben wir ähnliche Prozesse, wie Städte aus dem Bode schießen wie Pilze und das ist natürlich im Wesentlichen der Transsibirischen Eisenbahn zu verdanken.
SPRECHER
Aus halbvergessenen Orten werden über Nacht blühende Handelszentren. In vielen sibirischen Städten gibt es Zeitungen, Büchereien, Kinos, Schulen, Hospitäler und Museen. Doch die Transsib schafft nicht nur Gewinner. Manche bekommen von der Eisenbahn wenig mit. Die Verlierer, weit weg von den Bahnlinien, versinken langsam in der Bedeutungslosigkeit.
12 O-TON
Das schönste Bild hat eigentlich Tschechow geschaffen mit seinem „Kirschgarten“, wo man dieses Bild hat von dieser Datscha des alten Russlands, die weit weg liegt von einer Eisenbahnlinie und man hört nur in der Ferne den Klang der Lokomotive und damit hat Tschechow eben deutlich gemacht, dass dort, wo die Zukunft und das Leben und die Dynamik ist, das ist da, wo die Eisenbahn ist, und in der russischen Provinz hat die Eisenbahn nicht hingefunden und das ist der Ort, wo das Leben langsam stillsteht.
SPRECHER
Die Transsibirische Eisenbahn soll nicht nur die Wirtschaft ankurbeln. Sie soll sich auch militärisch lohnen und Gebiete im Fernen Osten sichern. Doch der Plan geht nicht auf. Ein Teil der Eisenbahn führt über chinesisches Territorium, bis zum Gelben Meer – ein Gebiet, auf das die Japaner ein Auge geworfen haben.
13 O-TON
Die Japaner haben das mit großem Argwohn gesehen, dass sich die Russen dort ausbreiten in der Region, und ein wesentlicher Anlass auch dieses Kriegs, der dann ausbrach – Japan überfiel ja dann Russland – ein wesentlicher Anlass war eben der Bau dieser Bahnlinie. Das heißt, man hatte eigentlich die Bahn gebaut, um diese Gebiete sicherer zu machen und letztendlich war der Bau dieser Bahn der Anlass für den Krieg, der für Russland fatale Folgen hatte.
SPRECHER
1905 verliert Russland den Krieg mit Japan. Und noch ein Kalkül geht nicht auf: Die Eisenbahn soll die Herrschaft des Zaren stärken. Doch mit der Transsib transportiert man auch umstürzlerische Flugblätter, viele Eisenbahnarbeiter werden Revolutionäre: Sie rufen 1905 an vielen Orten in Sibirien unabhängige „Republiken“ aus. 1917 bricht die Revolution aus. Der letzte Zar, Nikolaus II., wird ein Jahr später von den Bolschewiki erschossen. Die Revolutionswirren wirken sich auch auf die Bahn aus.
14 O-TON
Zunächst brach der Einstrom von westlichen Touristen auf der Bahnlinie komplett ein und die Bahn diente anderen Zielen, sie diente zum Beispiel auch dem Ziel, dass die Menschen, die aus Russland flohen, die alte Elite, dass die zum Teil auf der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Wladiwostok fuhren oder weiter nach Schanghai, um dann ins Ausland zu kommen und sich vor den Bolschewiki zu retten, und es dauerte dann doch einige Zeit, bis man die Transsibirische Eisenbahn wieder in einen zivilen Zustand versetzte.