

WIE MENSCHEN FRÜHER REISTEN - Unterwegs sein im Mittelalter
Ob Pilger, Kreuzritter oder Handelsreisende: Die Menschen im Mittelalter waren - anders als landläufig bekannt - sehr mobil. Sich seinerzeit auf den Weg zu machen war indes meist kaum bequem - und nicht selten ein lebensgefährliches Unterfangen. Von Lukas Grasberger
Credits
Autor: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Jerzy, May, Peter Weiß
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Rainer Leng, Florian Wagner, Prof. Anthony Bale
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025
Besonderer Linktipp der Redaktion:
SWR (2025): Der römische Traum – Eine Anno-Story
Ein packender Hörspiel-Podcast im Anno-Universum: Zwei junge Männer verkaufen sich selbst in die Sklaverei – im Glauben, dass sie im Römischen Reich aufsteigen können. Was als verzweifelter Traum beginnt, wird zur abenteuerlichen Odyssee durch Kolonien, Intrigen und Machtzentren eines Imperiums. "Der römische Traum" erzählt die offizielle Vorgeschichte zu "Anno 117: Pax Romana" – als epische Audio-Serie mit deutschen Top-SchauspielerInnen, exklusivem Soundtrack von den Anno-Komponisten und live aufgenommen vom SWR-Symphonieorchester. ZUM PODCAST
Linktipps
BR (2007): Kalenderblatt 29.08.1887
Die ersten bayerischen Pilger reisen organisiert nach Santiago de Compostela: Im Mittelalter sind Hunderttausende von Menschen quer durch Europa bis nach Santiago de Compostela gepilgert - an das Grab des Heiligen Jakobus. Ein besonderer Jakobs-Pilger in der Neuzeit war der Münchner Prälat Monsignore Hermann Geiger. Er brach als erster mit einer bayerischen Reisegruppe nach Santiago auf; und erschloss den Jakobsweg so für Pilgerströme aus Bayern. JETZT ANHÖREN
BR (2024): Marco Polo – Der Abenteurer und sein Mythos
Sagenhafte Reichtümer, weise Herrscher, seltsame Bräuche. Marco Polos Bericht von seiner Asienreise macht ihn zum bis heute berühmten Abenteurer. Doch was davon ist wahr, und wer war der Mann hinter dem Mythos? Autor: Niklas Nau (BR 2018)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO STURM & PFERD
SPRECHERIN
Ein kalter, dunkler Januartag im Jahr 1484. Der Regen peitscht der einsamen Gestalt ins Gesicht, die sich zu Pferd der freien Reichsstadt Ulm nähert.
ZITATOR
„Nie auf meiner ganzen Reise geriet ich so außer mir wie hier, denn Nässe macht den Menschen von Natur aus trist und völlig unordentlich“
SPRECHERIN
...so wird sich der Mönch Felix Fabri an die letzte Etappe, die Rückkehr von seiner Pilgerreise nach Jerusalem erinnern. Doch dann, als die Häuser Ulms am Horizont auftauchen, hellt sich Felix Fabris Stimmung auf. Als er sich endlich dem heimatlichen Kloster nähert, weicht letzte Beklommenheit purer Willkommensfreude. Der Ankömmling wird überschwänglich empfangen, Felix Fabris Prior begrüßt ihn...
ZITATOR
„…ohne auf seine Würde und sein hohes Alter zu achten, und rannte wie ein Jüngling, als wolle er ein Feuer löschen.“
SPRECHERIN
Denn seine Ordensbrüder hatten Felix Fabri eigentlich für tot gehalten. Fabris Briefe aus dem Heiligen Land - sie waren nie angekommen.
SPRECHERIN
Eine Szene, die die Gefahren und Unwägbarkeiten einer typischen Reise im Mittelalter lebendig werden lässt – einer Pilgerreise. Felix Fabri war seinerzeit einer von Vielen: In Massen strömten die Menschen damals gen Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela. Doch nicht nur Geistliche oder Adelige gingen auf religiös motivierte Reise. Dies taten im Mittelalter auch einfache Stadt-Bürger oder Bauern – wenn deren Ziel auch nur der nächstgelegene Wallfahrtsort gewesen sein mag, wo man für die Linderung körperlicher Leiden betete oder – in einem Ablass - um die Vergebung von Sünden. Die Vorstellung jedenfalls, dass die Gesellschaft im Mittelalter statisch war, dass kaum einer je sein Dorf oder seine Stadt verließ – diese Vorstellung sei grundfalsch, sagt der Historiker Rainer Leng.
O-Ton 1 Leng
Also auch der einfache Bauer, von dem man früher immer dachte, der kommt nie über sein Dorf hinaus, war regelmäßig unterwegs. Die Forschung spricht hier von einer hohen horizontalen Mobilität, was letztlich bedeutet, dass auch die einfachen Leute gereist sind. Regelmäßig die Verwandtenbesuche oder auch der Bauer auf einem kleinen Dorf reiste natürlich regelmäßig auf die Märkte in den nächsten größeren Städten, um seine Waren zu verkaufen oder um Geräte einzukaufen, die der Dorfschmied nicht machen konnte. Und das übliche: Verwandtschaften, religiöse Reisen….“
SPRECHERIN
Vor allem der Adel war im Mittelalter viel auf Achse: Rainer Leng, der an der Uni Würzburg zum Thema Mittelalterliche Geschichte lehrt und forscht, spricht von „Reisekönigtum“ und „Herrschaft aus dem Sattel“. Denn im Mittelalter hatten Kaiser und Könige keinen festen Herrschaftssitz. Sie waren dauernd im Reich unterwegs. Auch Fürsten pendelten zwischen ihren jeweiligen Teilresidenzen. Oft schickten die Fürsten und Könige ihre Vertreter, um mit anderen Herrschern zu verhandeln. Diplomaten, Gesandte und Adelige reisten, um politische Allianzen zu schmieden oder Verträge zu unterzeichnen. Die professionellen Briefboten – sie waren wohl am meisten unterwegs, damals, im Mittelalter. Bis zu 80 Kilometer legten sie pro Tag zu Fuß zurück, um Nachrichten zu überbringen. Schließlich zogen per Pferd viele Ritter und Soldaten umher: Zu verschiedenen Schlachtfeldern innerhalb Europas - oder zu Kreuzzügen, etwa ins Heilige Land.
O-Ton 2 Leng
Das mittelhochdeutsche Wort für Krieg ist Reise. Also ursprünglich kommt unser Wort Reisen von unterwegs sein, um Krieg zu führen.
SPRECHERIN
...sagt Rainer Leng.
O-Ton 3 Leng
Wenn wir beim Reiseanlass „Krieg“ sind, man hat im Mittelalter den Krieg im Winter eigentlich immer zu vermeiden versucht. Und nur im Sommer Krieg geführt. Selbst früher war es gefährlich, wenn man mit einer ganzen Armee hochgerüsteter Fußkämpfer und Pferde in ein Regenwetter kam und alles im Matsch stecken blieb. (…) Das Wetter konnte insbesondere bei Alpenüberquerungen hochgefährlich werden. Und es konnte Reisen auch prinzipiell verhindern.
O-Ton 4 Wagner
Weil da ging es ja um Leben und Tod, und die Ausbildung des Pferdes für Ritter war höchst aufwendig und es war ein absoluter Luxus, es war im Prinzip der Ferrari des Mittelalters. Also die Ausbildung hat zwölf Jahre lang gedauert.
SPRECHERIN
...weiß der Münchner Fotograf Florian Wagner. Er hat sich wie die alten Ritter auf den Weg gemacht, ist mit Pferden und Zelten durchs österreichische Mühlviertel gezogen.
O-Ton 5 Wagner
Was wichtig ist, ist erst einmal, wenn ich jetzt diese Strecken mache: Es kann ja mal passieren, dass du dein Ziel nicht erreichst. Dann brauchst du eine Möglichkeit, dein Pferd so anzubinden, dass es am nächsten Tag noch da ist, als Erstes. (...) Das zweite Thema ist, der Mensch will ja auch versorgt sein. Entweder du nimmst Proviant mit, dazu gab es entweder Wagen oder Packpferde. Es waren genügsame Pferde, es waren stabile Pferde, die viel kleiner waren, als man das glaubt. Und es gab auch ein Gesetz, dass ein Ritter, wenn er vorbei reitet an deinem Land, dann darf er so viel Nahrung für sein Pferd mitnehmen, wie er braucht und tragen kann für ein Pferd. Das heißt, das Thema war erledigt, aber wenn der Ritter selber und seine Gefolge, der hatte ja auch Knappen und so weiter, wenn die nichts zu essen hatten, dann durften sie jagen.
SPRECHERIN
Leicht war das Gepäck damit keineswegs.
O-Ton 6 Wagner
Du musst ja auch die Waffen mitführen, du musst ja auch die Ausrüstung mitführen, du musst ja auch eventuell ein Zelt mitführen, du musst ja auch Feuer machen können.
SPRECHERIN
Die Zelte der Reisenden des niederen oder hohen Adels waren meist aus strapazierfähigem Leinen, das man mit Wachs oder Leinöl gegen Wind und Wetter imprägnierte. Die Zelte der einfachen Ritter oder Soldaten waren mit Stroh, die der Fürsten und Könige jedoch mit Teppichen ausgelegt: Mobile Paläste, die innen zudem mit kostbaren Stoffen ausgeschlagen waren. Luxusherbergen auf Zeit, die zuweilen gar mit transportablen Kaminen geheizt wurden. Der Adel musste im Mittelalter auch unterwegs kaum auf eine Annehmlichkeit verzichten, sagt Anthony Bale, Autor des Buchs „Reisen im Mittelalter: Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern.“
O-Ton 7 Bale
Sprecher OV
„Ich beginne mein Buch mit zwei sehr wohlhabenden Reisenden: Lady Lutrell und Henry von Derby, der spätere König von England Henry IV. Dieser reiste nach Preußen, dann ins Heilige Land, und nach Venedig. Stets mit einer unglaublichen Menge an Gepäck. Kutsche für Kutsche, Wagen für Wagen beladen mit Unmengen an Essen: Gemüse wie Gewürze; Knoblauch, Zwiebeln, Erbsen, Lauch, alles Mögliche. Dazu zahlreiche Tiere, die man schlachtete, einmal aber auch einen Leoparden. Als er sich auf den Weg machte, nahm er einfach alles aus seinem Haushalt mit. Und das war eine Zurschaustellung von Wohlstand, Macht und Patronage. Die adeligen Reisenden konnten sich ziemlich frei bewegen.“
SPRECHERIN
Einen überall gültigen und anerkannten Personalausweis, Reisepass oder Reisefreiheit – das alles gab es im Mittelalter nicht. Aber das heißt nicht, dass Reisende keine Dokumente brauchten. Ganz im Gegenteil. Sie mussten etliche Schriftstücke dabeihaben, welche die Ausreise aus dem eigenen Herrschaftsgebiet oder das Durchreisen durch andere Königreiche oder Fürstentümer genehmigten. Anthony Bale:
O-Ton 8 Bale
Sprecher OV
Dafür war ein formaler Geleitbrief erforderlich. Einfache Menschen auf dem Land mussten, wenn sie Leibeigene waren, die Erlaubnis ihrer Herren einholen, um zu reisen. Zudem musste der örtliche Geistliche seine Zustimmung geben.“
SPRECHERIN
Auch Priester oder Mönche konnten nicht auf eigene Faust aufbrechen – etwa zu einer Pilgerreise, sagt der Würzburger Historiker Rainer Leng.
O-Ton 9 Leng
„Kleriker durften auf gar keinen Fall reisen ohne Erlaubnis ihrer jeweiligen geistlichen Oberen, also etwa des Abtes, wenn es ein Mönch war. Bürger allerdings dürften sehr wohl reisen, wann immer sie wollten, wohin auch immer sie wollten.“
SPRECHERIN
Hatte man einmal die Erlaubnis, sich auf den Weg zu machen, blieb da noch immer die Frage der Finanzierung. Einfache Reisende führten Empfehlungsschreiben an Verwandte und Bekannte mit sich, mit deren Hilfe man kostenlos an Essen und Trinken oder eine Schlafgelegenheit kam.
O-Ton 10 Leng
Natürlich konnte man es, wenn man nicht genug Geld hatte, auch auf die billige Art und Weise versuchen. Also dann halt eben hinter einer Hecke schlafen und sich irgendwie durchzubetteln. (...) Die große Masse ging natürlich zu Fuß, das war das einfachste Verkehrsmittel und im Übrigen auch das billigste und das schnellste.
SPRECHERIN
Sich durch den Flickenteppich deutscher Königreiche und Fürstentümer zu bewegen – dies war kein kostengünstiges Unterfangen. Für die Benutzung von Straßen war Wegezoll zu entrichten. An Landesgrenzen, strategisch wichtigen Stellen wie Stadttoren – oder an Flüssen, die zum Gütertransport genutzt wurden, kassierten Mautstationen die Reisenden ab.
ATMO PFERDEGESPANN AUF PFLASTERSTRASSE
Der mittelalterliche Straßenzwang besagte, dass Kaufleute und Händler bestimmte Waren nur auf bestimmten Straßen transportieren durften: Je nach Fuhrwerk und Größe des Pferdegespanns waren Gebühren zu entrichten. Dafür garantierten die von den Landesherren eingesetzten Dienstmänner und bewaffnete Geleitreiter dafür, dass die Wege verkehrstauglich und vor Überfällen sicher sind. Die Bediensteten der Landesherren wachten darüber, dass Reiter und Fuhrwerke keine Schleichwege nahmen, um Mautzahlungen zu entgehen. Betreiber der Mautstationen notierten akribisch Art und Wert der transportierten Waren, Herkunft und Ziel der Reisenden. Eine Bescheinigung darüber war an der nächsten Zollstation vorzulegen – wo sich das bürokratische Procedere wiederholte.
O-Ton 11 Bale
Sprecher OV
Ähnlich wie heute gab es auch damals schon ein recht etabliertes System, seine Identität nachzuweisen. Eine Verwaltungskultur mit Pass- und Zollwesen, das ziemlich modern anmutet. Dem Zahlungswesen der Zollstationen entgehen konnten Reisende nur, wenn sie – etwa als Pater oder Bruder eines Ordens - einen Geleitbrief vorlegen konnten.
SPRECHERIN
Entrichtet wurden Gebühren jeweils in der lokalen Währung. Vor Reiseantritt galt es, die entsprechenden Geldstücke in ausreichender Menge zu besorgen, etwa bei Geldwechslern, die auf Märkten zu finden waren. Denn auch die Herberge oder der ortskundige Führer mussten in bar bezahlt werden.
O-Ton 12 Leng
Das liebe Geld musste man natürlich physisch mit sich tragen, in einem Geldbeutel, den musste man sichern. Man musste schauen, dass man vielleicht noch ein paar Reserven in die Kleidung einnäht, Vorsorge gegen Überfälle treffen.
SPRECHERIN
Wer nicht über üppige Bargeldreserven verfügte, schloss sich besser einer Gruppe an.
O-Ton 13 Bale
Sprecher OV
Für Reisende im Mittelalter gab es zwei Hauptgefahren: Krank zu werden –oder ausgeraubt und betrogen zu werden. Gegen Zweiteres half, sich in Reisegruppen zusammenzutun. Die Gesellschaft anderer Reisender oder eines Führers, die die Sprache des jeweiligen Gastlandes beherrschten, erleichterte das Fortkommen. Entlang der Reiserouten etablierten sich Herbergen und Hotels unterschiedlicher communities. In Venedig oder Jerusalem etwa kamen Reisende aus dem gleichen Land gemeinsam unter. Reisegefährten gleicher Herkunft halfen sich mit praktischen Tipps, und kümmerten sich umeinander. Vor allem für allein reisende Frauen war es ratsam, auf Schutz und Expertise vertrauter Mitreisender zu verlassen.
SPRECHERIN
Der Geschichts-Professor Rainer Leng spricht von prototouristischen Strukturen - also einem Netz an Reisewegen und Herbergen, das sich im Laufe des Mittelalters entwickelte.
O-Ton 14 Leng
Man weiß also, wo man lang zu gehen hat, man weiß, welche Wirtshäuser man aufzusuchen hat. Es ist in der Szene sogar bekannt, welcher Wirt welche Fremdsprachen spricht und wo die Pilger oder Reisenden eines bestimmten Landes ihre typischen Anlaufstellen finden. Die Kommunikationsnetzwerke sind gut ausgebaut. Alleine durch die vielen Reisenden, die zwischen den vielen Orten und Stationen hin- und herreisen, verbreiten sich Nachrichten wahnsinnig schnell. So kann man dann auch sein Kommen ankündigen, also die richtigen Leute muss man fragen, an die richtigen Leute die Informationen einspeisen und häufig sind diese Knoten im Kommunikationsnetzwerk.
SPRECHERIN
Als Reiserouten nutzte man bis tief ins Mittelalter hinein die Straßen des ehemaligen römischen Imperiums. Wege führten bevorzugt oberhalb von Tälern oder am Fuß von Bergen entlang. Die Talsohle war oft sumpfig, Pfade an Flussläufen zuweilen überschwemmt. Schließlich fürchtete man die „schlechte Luft“ an Gewässern, von der man dachte, sie könnte Krankheiten übertragen. Die Sorge vor Seuchen - sie war generell ein ständiger Begleiter, sagt Florian Wagner, der sich in Theorie wie Praxis intensiv mit dem „Reisen im Mittelalter“ beschäftigt hat.
O-Ton 15 Wagner
Du bist durch ein Dorf gegangen, die haben das oft nicht zugegeben, dass sie irgendeine Krankheit im Ort haben... und du hast das als Reisender dann ins nächste Dorf getragen, und bist halt unter Umständen auch dran gestorben.
SPRECHERIN
Damit Durchreisende ihrerseits keine Krankheiten einschleppten, lagen deren Herbergen oft abseits der Stadtzentren. Geschlafen wurde meist zu mehreren in einem Bett, nackt. Waschen konnte man sich am Brunnen im Hof, zur Verrichtung der Notdurft ging es in den Stall. Hygienische Verhältnisse, die die Verbreitung von Infektionskrankheiten begünstigten, sagt der Mittelalter-Experte Rainer Leng. Doch nicht nur Pensionen und Hotels waren Seuchenherde. Gesundheitsgefahren lauerten nicht nur zu Lande, sondern auch auf dem Wasser - etwa bei der Fahrt übers Mittelmeer gen das Heilige Land.
O-Ton 16 Leng
Das enge Zusammenleben auf dem Schiff förderte natürlich auch Krankheiten und Seuchen. Man geht heute davon aus, dass bei den Reisen von Venedig nach Jerusalem zehn Prozent aller Reisenden nicht überlebten.
SPRECHERIN
Neben Krankheiten machten auch Angriffe von Piraten oder das Kentern von Schiffen in Stürmen das Reisen zu einem lebensgefährlichen Unterfangen. Da gerade längere Fahrten von Pilgern oder Händlern zu einer „Reise ohne Wiederkehr“ werden konnten, regelte man zu Hause seine Angelegenheiten: Der Reisende verfasste sein Testament, um die Hinterbliebenen zu versorgen und um einen geregelten Übergang seiner Güter zu gewährleisten. Zur Vorsorge kam die Vorbereitung der Reise, die im Laufe des Mittelalters einfacher wurde. Nach und nach erschienen Reiseführer, die sich mit Erfindung des Buchdrucks rasant verbreiteten. Ein Vorläufer war der Codex Calixtius, eine reich illustrierte Handschrift.
O-Ton 17 Bale
Sprecher OV
Der Codex Calixtus ist eines der frühesten Werke, die man einen Reiseführer nennen könnte.
SPRECHERIN
...betont der Professor für Literatur des Mittelalters und der Renaissance an der University of Cambridge, Anthony Bale.
O-Ton 18 Bale
Sprecher OV
Der Codex Calixtus beschreibt die Strecke nach Santiago de Compostela im Norden Spaniens. Aber nicht nur das: Diese Sammelhandschrift schildert Gefahren und Unannehmlichkeiten, vor denen Reisende sich hüten sollten. Von Moskitos über Pferdefliegen bis hin zu Naturgefahren. Der Codex Calixtus gibt auch konkrete Tipps, um das Beste aus einer Reise zu machen – etwa, wie man Geld wechselt, was man unterwegs am besten isst, die Entfernung bis zum nächsten Ort, ja sogar, wie man bestimmte Worte übersetzt. Ab 1300 etwa erlebte dieses Genre des Reiseführers einen regelrechten Boom. Zum einen, weil Pilgerfahrten so populär wurden. Andererseits, weil die Reisen von Händlern immer weiter führten und abenteuerlicher wurden. Die Beschreibungen wurden nach und nach angereichert mit naturwissenschaftlichen Betrachtungen und anthropologischen Beschreibungen, zur Wesensart bestimmter Völker und ihrer Religionen.
ZITATOR
„In Äthiopien findet man auch Menschen, deren Füße sieben Fuß Breite besitzen. Wenn sie sich hinlegen, bedecken sie sich mir ihren Füßen, die ihnen Schatten spenden. Wie sie laufen, ist ein Wunder.“
SPRECHERIN
Eine Textpassage aus Jean de Mandevilles „Von seltsamen Ländern und wunderlichen Völkern“ aus dem 14. Jahrhundert. Darin schildert der Autor Begegnungen und Erlebnisse einer Reise, die ihn angeblich ins „Heilige Land“, den Fernen Osten und nach Afrika führte. Es war eines der meistverbreiteten Reisebücher des Mittelalters, nur die Reiseabenteuer des Marco Polo in Asien wurden mehr gelesen. Mandeville beschreibt darin im wahrsten Sinne unglaubliche Begebenheiten, wie etwa von Schnecken mit großen Schneckenhäusern, die von Menschen bewohnt werden können, nachdem sie das Schneckenfleisch verzehrten, oder von menschenartigen, aber hundsköpfigen Wesen.
O-Ton 19 Leng
Im Mittelalter selbst genoss die Schrift eine hohe Autorität. Also was im Mittelalter geschrieben war, das hat man in der Regel geglaubt. (…) Und jeder Reisende, der einen Reisebericht schrieb, in dem er behauptete, auf diese Völker auch getroffen zu sein, der wurde geglaubt. So hat man etwa im Mittelalter den Reisebericht des Jean de Mandeville ernst genommen und geglaubt. Umgekehrt, ein Marco Polo, der tatsächlich sehr weit nach Osten kam, bis nach China, der aber von all diesen Völkern nichts berichtet, den hat man im Mittelalter für einen Lügner und Aufschneider gehalten.
SPRECHERIN
Aus heutiger Perspektive sind viele Geschichten Mandevilles offensichtlich Fantastereien. Mittlerweile haben Wissenschaftler durch Quellenkritik aufgedeckt, dass Jean de Mandeville viele der von ihm beschriebenen Länder noch nicht mal selber bereist hat. Und doch übe – jenseits der Frage von Echtheit und Wahrheitsgehalt – der Bericht Mandevilles über seine Reisen bis heute eine Faszination auf ihn aus, sagt der britische Historiker Anthony Bale.
O-Ton 20 Bale
Sprecher OV
Denn die eigentliche Frage ist: Erzählt uns das Reisen etwas über die Welt – oder etwas über uns selbst? Blicken wir über uns selbst hinaus, wenn wir reisen, oder nehmen wir nur uns selbst mit, wohin auch immer wir gehen? Man kann dies speziell bei den Berichten von Pilgerreisen im Mittelalter beobachten. Die Menschen damals wollten nicht das Jerusalem des 14. Jahrhunderts kennenlernen. Das war ihnen lästig. Sie wollten das Jerusalem der Bibel sehen. Und sie wollten nicht, dass banale Alltagsbeschreibungen diese Wahrnehmung stören.
SPRECHERIN
Die Erzählungen Mandevilles, sagt Anthony Bale, stünden an der Schwelle zwischen einer mittelalterlichen – und einer modernen Wahrnehmung der Welt. Sie weisen in eine neue Zeit, in der die Reisen, anders als im Mittelalter, bald dem reinen Vergnügen, der Unterhaltung und Entspannung dienen sollten. Doch dies wiederum ist eine andere Geschichte…