Alles Geschichte - Der History-Podcast cover image

Alles Geschichte - Der History-Podcast

Latest episodes

undefined
Oct 15, 2024 • 23min

DER KOREAKRIEG - Wie aus Brüdern Feinde wurden

Der Koreakrieg, ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg zwischen 1950 und `53, forderte mehrere Millionen Menschenleben. Wirklich beendet ist er bis heute nicht. Im Juli 1953 wurde nur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Von Isabella Arcucci (BR 2013)Autorin: Isabella ArcucciRegie: Susi WeichselbaumerEs sprachen: Rahel Comtesse, Armin Berger, Clemens NicolTechnik: Susanne HarasimRedaktion: Brigitte Reimer Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN
undefined
Oct 9, 2024 • 32min

WIE WAR DAS DAMALS? Als Homosexualität strafbar war

Schwul sein war in Deutschland fast das ganze 20. Jahrhundert lang verboten. Im Kaiserreich wurde Paragraph 175 ins Strafgesetzbuch aufgenommen, dann durch die Nationalsozialisten verschärft. Sie bestraften gleichgeschlechtliche Liebe mit Gefängnis oder gar KZ-Haft. Nach der NS-Herrschaft wurde das Gesetz unverändert in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik und der DDR übernommen. Erst vor 30 Jahren, am 10. März 1994 beschloss der Bundestag, den Paragraphen ersatzlos zu streichen. Insgesamt wurden über 50.000 Männer wegen dieses Gesetzes verurteilt. Ihre Entschädigung hat erst 2017 begonnen. (BR 2024) Credits Autoren: Christian Schaaf und Michael Zametzer Redaktion: Heike Simon und Eva Kötting Linktipps: BR2 Radioreportage (2024): Vergessene Opfer – Homosexuelle im KZ Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit, und so ist der 27. Januar heute der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Opfer, das waren Juden und Jüdinnen, aber auch Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung und außerdem Menschen, die lange darum kämpfen mussten, als Opfergruppe Anerkennung zu finden: Homosexuelle. JETZT ANHÖREN BR2 Tatort Geschichte (2023): Die „Nacht der langen Messer“ – Der „Röhm-Putsch“ 1934 Im Sommer 1934 brechen die Grabenkämpfe innerhalb der NSDAP offen aus und steigern sich bald zu einem "nationalsozialistischem Bruderkrieg", der dutzende Opfer fordern wird. Allen voran der Stabschef der SA, Ernst Röhm, und weitere wichtige SA-Führer werden in der "Nacht der langen Messer" hingerichtet. Im Anschluss beginnt eine Schmutzkampagne, die ihresgleichen sucht. Im Fokus steht Röhms Homosexualität, weshalb sich bald homosexuelle Menschen im ganzen Reich nicht mehr sicher fühlen können. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk Nova Eine Stunde Liebe (2024): Im Geheimen – Lesbisches Leben in der Weimarer Republik und der NS-Zeit   "Der Aufsteiger" heißt die erste Folge der dreiteiligen ZDF-Dokumentation "Hitlers Macht", die das ZDF 90 Jahre nach Hitlers Regierungsübernahme am 30. Januar 1933 zeigt. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
undefined
Oct 7, 2024 • 25min

NAHOSTKONFLIKT - Der Sechstagekrieg

Mit dem Sechstagekrieg eskaliert Mitte 1967 die Situation im Nahen Osten. Israel schlägt die arabischen Nachbarstaaten vernichtend. Zwar ist der Krieg nach wenigen Tagen wieder vorbei. Aber er hat Folgen bis heute. Von Linus Lüring (BR 2024)Credits Autor: Linus LüringRegie: Sabine KienhöferEs sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Dirscherl, Christian BaumannTechnik: Wolfgang LöschRedaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Dr. Jan Busse, Tom SegevLinktipps:BR24: Lost in Nahost - Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Am 7. Oktober 2023 greifen Terroristen der Hamas Israel an - seitdem ist Krieg in Israel und Gaza. Was ist damals genau passiert - und warum eskaliert die Gewalt dort immer weiter? Dieser Podcast erklärt die Hintergründe - einmal mit Hilfe unserer Korrespondentinnen und Korrespondenten – und indem wir mit Menschen aus Israel und den palästinensischen Gebieten sprechen, die eine sehr unterschiedliche Sicht auf den Konflikt haben. ZUM PODCAST Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Palästinenser und die Nakba Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. JETZT ANHÖREN Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Die Staatsgründung Israels Am 14.05.1948 endet das britische Mandat über Palästina. Noch am gleichen Nachmittag ruft David Ben Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Damit geht der Wunsch vieler Jüdinnen und Juden in Erfüllung, nach den letzten Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung zurückkehren zu können nach Zion, dem "Land der Väter". Der Weg von der Idee Theodor Herzls, in Palästina eine "Heimstätte" für das jüdische Volk zu schaffen, bis zum Staat Israel war lang. Von Beginn an war er von Konflikten und Interessenskollisionen bestimmt. JETZT ANHÖRENUnd hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO ErzählerinEs ist früh am Morgen, als am 5. Juni 1967 dutzende Kampfflugzeuge der israelischen Armee abheben. Ihr Ziel Ägypten. Tom Segev ist damals 22 Jahre alt. Der Israeli kann die Situation erst nicht ganz einschätzen.. 1 Segev Viele Flugzeuge, die haben wir schon gehört. Keine Ahnung was das bedeutet. Nicht mal gewusst, ob das unsere sind. Aber ja, nach der Richtung konnte man schon sehen. ErzählerinDass es zu einem Krieg kommen wird, lag damals bereits in der Luft. Tom Segev ist zu der Zeit im Süden des Landes, in einem sogenannten Kibbuz – einer Gemeinschaftssiedlung. Nicht weit entfernt vom Gaza-Streifen, der damals unter ägyptischer Verwaltung steht. Tom Segev hat sich damals für die Verteidigung des Kibbuz gemeldet. 2 SegevWir lagen auf dem Boden. Man hat mir ein Gewehr gegeben. Und wir sahen weit weg die Lichter von Gaza und wir wussten eigentlich nicht, was wir jetzt tun sollen. ErzählerinDie Frage, die sich Tom Segev und die anderen um ihn herum stellen – Werden bald schon ägyptische Panzer hier angreifen? Was Tom Segev zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß – es wird zu keinem Gegenangriff kommen. Der Krieg, der gerade erst begonnen hat – er wird schon wenige Tage später wieder vorbei sein.  Und er wird die Machtverhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf stellen, erklärt der Nahost-Experte Jan Busse. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr in München. 3 BusseVorher war es so, dass Israel sich selber und auch von außen so betrachtet wurde: Da ist der kleine David, umgeben von einem übermächtigen arabischen Goliath, und durch diesen Krieg von 1967 hat sich dieses eigentlich ins komplette Gegenteil verkehrt. ErzählerinIsrael hat nicht nur gegen Ägypten, sondern auch gegen Syrien und Jordanien gekämpft und einen überwältigenden Sieg errungen. Nach nicht mal einer Woche wird das Territorium, das Israel kontrolliert, dreimal größer sein als vor dem Krieg. In weiten Teilen der Welt ist der Krieg von 1967 heute nach seiner Dauer benannt. Der Sechstagekrieg. Dabei ist dieser Titel eine israelische Wortschöpfung und soll die eigene Dominanz betonen. In der arabischen Welt ist die Wahrnehmung eine völlig andere. Dort spricht man von “Naksa”, arabisch für Rückschlag. Fest steht: Der Krieg und die Ergebnisse prägen die Region bis heute.Wie aber konnte es zu dieser bewaffneten Konfrontation kommen? MUSIK ErzählerinMitentscheidend ist das Jahr 1948. Damals erklärt sich Israel für unabhängig. Nur wenige Stunden später wird der junge Staat von seinen arabischen Nachbarn angegriffen, darunter Ägypten, Jordanien und Syrien. Erklärtes Ziel war es, den entstehenden jüdischen Staat zu vernichten. Israel konnte in diesem Krieg allerdings große militärische Erfolge erreichen. Zwischen allen Parteien wurden später zwar Waffenstillstandsabkommen geschlossen, allerdings keine dauerhaften Friedensverträge. Keines der arabischen Nachbarländer akzeptierte Israel als souveränen Staat. Die Lage bleibt unsicher und es kommt immer wieder zu massiven militärischen Auseinandersetzungen und Drohungen. In den 1960er Jahren gerät die Situation dann außer Kontrolle, analysiert Jan Busse. 5 BusseDas heißt, wir haben dort eine Situation, wo eigentlich alle Seiten befürchtet hatten: Es kommt zu einem Angriff, ohne dass es wirklich gewollt war. Also man ist ein Stück weit hineingeschlittert, und die Situation hat sich sukzessive seit Beginn der 1960er-Jahre eigentlich immer weiter verschärft. MUSIK ErzählerinEin erster Auslöser in der trockenen Region ist die Wasserproblematik. Israel beginnt Wasser aus dem See Genezareth abzuleiten, um Bewässerungssysteme auf eigenem Territorium aufzubauen. Dies gefährdet allerdings die Wasserversorgung Jordaniens, wogegen das Land scharf protestiert. Zudem greift in dieser Zeit Israel immer häufiger Ziele in Syrien oder Jordanien an, weil von dort palästinensische Befreiungskämpfer nach Israel eindringen und Anschläge verüben. Anfang 1967 eskaliert die Situation dann weiter. Im Mittelpunkt dabei: Ägyptens Präsident Nasser. Führer der arabischen Welt, das ist die Rolle, die er für sich sieht. Von Jordanien oder Syrien wird er allerdings kritisch gesehen. Vor allem gegenüber Israel sei er zu wenig durchsetzungsstark. Nasser weiß, dass er jetzt liefern muss. 6 Nasser (bereits overvoiced)Mit der Existenz des Staates Israel werden wir uns nicht abfinden. Jede israelische Aggression wird zum totalen Krieg führen. Ägypten wird jedoch nicht als erster angreifen. Truppen der Vereinten Nationen sollen nicht mehr auf ägyptischem Boden stationiert werden. ErzählerinDie Truppen der Vereinten Nationen, gegen die Nasser sich hier in einer Rede richtet, sind auf der Sinai-Halbinsel stationiert, an der Grenze zu Israel. Sie sichern auf ägyptischem Boden eine Pufferzone zwischen den beiden verfeindeten Ländern. Im Mai 1967 kommt es dann zu einer Entwicklung, die viele internationale Beobachter verwundert und Israel schockiert. Die Vereinten Nationen geben Nassers Forderung tatsächlich nach: Die UN-Friedenstruppen werden abgezogen. Sofort rückt das ägyptische Militär nach und hunderte Panzer werden auf dem Sinai stationiert. Auch Syrien zieht Truppen an der Grenze zu Israel zusammen. Und aus anderen arabischen Staaten sind ähnliche Pläne zu hören. MUSIK ErzählerinTom Segev, der als junger Israeli damals im Kibbuz im Süden Israels lebt, erinnert sich, dass diese Eskalation und die Vernichtungsdrohungen aus Ägypten in der israelischen Gesellschaft damals traumatischste Erfahrungen wachrufen: 7 SegevDas war zu einer Zeit als die meisten Israelis noch gar nicht Hebräisch konnten. Die meisten Israelis waren neue Einwanderer. Viele waren Holocaust-Überlebende. Und wenn man auf schlechtem Hebräisch aus dem arabischen Radio das Wort Vernichtung hört, dann meint man Holocaust. Und diese Angst war ganz authentisch. ErzählerinZu dieser existenziellen Angst vor einem erneuten Holocaust kommt, dass die israelische Gesellschaft ohnehin tief verunsichert ist. Das Land erlebt Mitte der 1960er Jahre eine tiefgreifende wirtschaftliche Rezession, immer mehr Menschen werden arbeitslos. Und immer mehr verlassen Israel – es kommt zu einer Auswanderungswelle von zehntausenden Menschen. Eine Zeitung schreibt bereits davon, dass das “Unternehmen gescheitert sei”. Gemeint ist die Vision des Staates Israel. Die Situation ist 1967 also nicht nur international, sondern auch innerhalb des Landes angespannt. MUSIK ErzählerinAm 20. Mai reagiert Israels Premierminister Levi Eschkol. Er befiehlt die Mobilmachung der israelischen Streitkräfte. Davon fühlt sich wiederum Ägyptens Präsident Nasser provoziert. Mit Kriegsschiffen lässt er zwei Tage später die Meerenge von Tiran blockieren. Israelische Schiffe können nun nicht mehr passieren. Israels einziger Zugang zum Roten Meer ist geschlossen. Das bedeutet unter anderem, dass wichtige Ölimporte nun nicht mehr ins Land kommen können. Die Reaktion in der arabischen Welt ist geradezu euphorisch. Endlich droht Nasser nicht nur, sondern zeigt Stärke gegenüber dem verhassten Israel. Gleichzeitig überrascht Nasser mit diesem Schritt viele internationale Beobachter und auch die Sowjetunion, die damals Ägypten militärisch unterstützt. Allen ist klar: Die Sperrung der Meerenge von Tiran kann als Kriegserklärung gegenüber Israel aufgefasst werden.Wie wird Israel reagieren? Die Angst vor einem Krieg bestimmt jetzt den Alltag im Land und im Kabinett beginnen hektische Beratungen. Der populäre Mosche Dajan wird am 1. Juni neuer Verteidigungsminister. Er war früher Generalstabschef der israelischen Streitkräfte. In einer seiner ersten Pressekonferenzen versucht Dajan, die Stärke Israels zu demonstrieren. 8 DajanLet me say I don’t want anyone else to fight for us. Whatever can be done in a diplomatic way I would welcome and encourage but if fighting does come to Israel I would not like American or British boys to get killed here and I do not think we need them. Sprecher 1 - Voice Over 1Ich erwarte es nicht und möchte auch nicht, dass jemand anderes für uns kämpft. Ich unterstütze alles, was auf diplomatischem Weg getan werden kann. Aber wenn es zu Kämpfen kommt, möchte ich nicht, dass britische oder amerikanische Soldaten hier getötet werden. Und ich glaube auch nicht, dass wir sie brauchen! ErzählerinIn internen Beratungen in der israelischen Regierung sind die Einschätzungen aber keineswegs so eindeutig. Ministerpräsident Eshkol zögert. Wie stark sind die eigenen Truppen wirklich? Wie weit wird Nasser gehen? Bis heute gibt es darauf keine eindeutige Antwort, erklärt der Nahost-Experte Jan Busse. 9 BusseAlso so eine Konfrontation entwickelt der immer irgendwann eine gewisse Eigendynamik, die schwer kontrollierbar ist. Ob ein Krieg unvermeidbar ist, ist natürlich in der Rückschau ganz, ganz schwer zu beurteilen. Klar ist auf jeden Fall: Es gibt Hinweise darauf, dass Nasser eigentlich gar keinen Krieg wollte und sich eigentlich mit seiner Drohkulisse verkalkuliert hat. TC 10:10 – Angriff ist die beste Verteidigung? MUSIK ErzählerinIn den ersten Juni-Tagen 1967 wächst in der israelischen Führung die Überzeugung: Nur wenn man selbst angreift und den hochgerüsteten ägyptischen Gegner überrascht, dann gibt es eine realistische Chance aus einem Krieg als Sieger hervorzugehen. Von einem „präventiven Angriff“ ist unter israelischen Militärs die Rede. Dafür gilt es aber noch, einen Punkt zu klären: Zwar ist man überzeugt, allein kämpfen zu müssen. Trotzdem möchte man so einen Angriff mit dem wichtigsten Verbündeten abstimmen: Den USA. Der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson versucht in größter Eile einen Vermittlungsversuch zu starten. Allerdings ohne Erfolg. In Israel fällt die Entscheidung zum Angriff. Am frühen Morgen des 5. Juni 1967 soll es so weit sein. Tom Segev hält damals regelmäßig Wache an der Grenze zu Gaza. 10 Segev Meine Befürchtung war, dass ich einschlafe. Aber das ist natürlich nicht passiert. Wir hatten ein kleines Transistorradio mit uns und haben die Nachrichten gehört. ErzählerinDann kommt der Moment, wo Tom Segev die Flugzeuge über sich hinweg donnern hört. Sie fliegen wenige Meter über der Erde, um vom ägyptischen Radar nicht entdeckt zu werden. Tom Segev realisiert: 11 SegevJa es war Krieg, es war ganz klar Krieg. Lauter Bombardierungen … MUSIK & ATMO ErzählerinWas Tom Segev hier erlebt, ist die Operation “Fokus”, der Beginn des Sechstagekriegs. Gegen 7 Uhr am Morgen greifen rund 200 israelische Kampfflugzeuge ägyptische Luftwaffenbasen an. In drei Wellen laufen die Attacken ab. Die israelischen Piloten haben einen solchen Angriff lange trainiert. Sie wissen genau, wo die ägyptischen Flugzeuge stationiert sind. Die Ägypter sind von dem Angriff völlig überrascht. Viele von ihnen sitzen noch beim Frühstück, heißt es. Die Bilanz nach wenigen Stunden – Dutzende ägyptische Piloten sind tot und die meisten der Kampfflugzeuge Ägyptens wurden am Boden zerstört. An die 400 sollen es sein. Außerdem sind die Start- und Landebahnen im Land weitgehend nicht mehr einsatzfähig. Ägypten gelingt es im Gegenzug nicht israelische Flugzeuge in großer Zahl abzuschießen. Damit werden auf israelischer Seite auch nur wenige Soldaten getötet. Noch wichtiger aber: Israel hat jetzt uneingeschränkte Lufthoheit. In dieser Situation rücken israelische Bodentruppen vor auf der Sinai-Halbinsel. Sie kommen schnell voran. Ägyptische Soldaten flüchten zu Tausenden. Geräte und Fahrzeuge lassen sie in Panik in der Wüste zurück. Am Ende des Tages stellt die Führung fest: Von Ägypten droht keine Gefahr mehr für Israel. 12 SegevIrgendwann in der Nacht hat man uns dann gesagt, der Krieg ist zu Ende! ErzählerinDies ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Auf der Sinai-Halbinsel wird weitergekämpft. Bald schon werden israelische Kräfte bis zum Suez-Kanal vorstoßen. Und auch in anderen Teilen des Landes sind Kämpfe ausgebrochen. Dabei ist Jordanien der ägyptischen Propaganda aufgesessen. Dort heißt es, Israel sei bereits am Rande der Niederlage. Deshalb greift Jordanien jetzt auch israelische Städte an. Israel reagiert und rückt in Gebiete vor, die von Jordanien annektiert wurden. Dabei handelt es sich um Gebiete westlich des Jordan-Flusses, das sogenannte Westjordanland. Schnell erobern die Israelis Städte wie Dschenin. Dann rückt eine andere Metropole ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Jerusalem, die Heilige Stadt. Israel hat sie zu seiner Hauptstadt erklärt. Allerdings ist Jerusalem geteilt. Israel kontrolliert nur den Westteil. Seit 1948 besetzt Jordanien den Osten. Hier befinden sich die Altstadt und eine der heiligsten Stätten im Judentum, die Klagemauer. Auch bedeutende religiöse Orte des Christentums und des Islam liegen dort. MUSIK ErzählerinDie Kämpfe um Jerusalem sind hart. In den engen Straßen wird um jeden Meter erbittert gekämpft. Dutzende Soldaten sterben auf beiden Seiten. Doch schließlich sind die Truppen Jordaniens besiegt. Zwei Tage nach dem Beginn des Krieges, am 7. Juni, gegen 10 Uhr vormittags ist der Weg in die Altstadt Jerusalems frei. Wenig später stehen dann erste israelische Soldaten an der Klagemauer. Im Land hören die Menschen im Radio wie ein General die Einnahme der Altstadt verkündet. ATMO ErzählerinDie Euphorie im Land ist grenzenlos.Jerusalem war der Sehnsuchtsort vieler Juden. Nun ist sie wieder vollständig unter israelischer Kontrolle. Auch Tom Segev macht sich elektrisiert auf den Weg nach Jerusalem, in die Stadt, in der er geboren wurde und die er nur geteilt kannte. 14 SegevIch war begeistert davon, dass ich ein Teil einer unglaublichen Story bin. Ich war mit einem Freund zusammen. Wir sind ja aufgewachsen in der geteilten Stadt. Und die Altstadt war hinter dem Mond. Weiter weg als Ostberlin von Westberlin. Und auf einmal sind wir dort. ErzählerinDie Freude, die er damals spürt und die die gesamte israelische Gesellschaft ergreift, sieht Tom Segev heute differenzierter. Er hat vor einigen Jahren ein umfangreiches Buch über den Sechstagekrieg geschrieben. Dabei hat er auch rekonstruiert, wie damals die Planungen im israelischen Kabinett abgelaufen sind. 15 SegevDas Interessante ist, dass nicht einer von den Ministern die Frage stellt, sagt mal liebe Kollegen, warum ist das eigentlich gut für uns, Ostjerusalem zu erobern? Niemand fragt, was bedeutet das, dass wir jetzt heilige Plätze erobern, die das Allerwichtigste sind für viele hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt. ErzählerinDer Nahost-Experte Jan Busse hinterfragt in diesem Zusammenhang die Strategie Israels generell. 16 BusseAlso, was die israelischen Ziele angeht, ist auffällig, dass es eigentlich keine klar politisch formulierte Zielsetzung bei diesem Krieg gegeben hat, außer dass man sich verteidigen wollte vor einer als existenziell wahrgenommenen Bedrohung durch Ägypten, das heißt vorrangig ging es darum, die eigene Sicherheit zu schützen und nicht darum, Gebiet zu erobern. Das hat sich tatsächlich erst im Kriegsverlauf ergeben und war auch zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich politisch vorgegeben. Man ist strategielos an diesen Krieg herangegangen und das ist immer etwas, das problematisch ist. MUSIK ErzählerinAn die Folgen denkt aber in diesem Moment niemand. Die Gesellschaft ist euphorisiert von der eigenen Stärke. Israels Truppen sind vor allem strategisch überlegen und eilen von Sieg zu Sieg. Am 10. Juni hat Israel von Ägypten die komplette Sinai-Halbinsel und den Gaza-Streifen erobert. Außerdem sind die jordanischen Truppen aus dem Westjordanland und Ostjerusalem vertrieben. Gekämpft wird noch im Norden. Dort sind israelische Truppen dabei, im Kampf mit syrischen Einheiten noch die Kontrolle über die Golan-Höhen zu bekommen. Das Gebiet ist strategisch wichtig und bietet Zugang zum wertvollen Wasser des Jordan, der hier entspringt. Am 10. Juni gegen 18 Uhr tritt dann - auch auf Vermittlung der USA und der Vereinten Nationen - eine Waffenruhe zwischen Israel und Syrien in Kraft. Damit sind die letzten Kämpfe beendet, der Krieg ist vorbei. Nach 6 Tagen… MUSIK ...
undefined
Oct 7, 2024 • 23min

NAHOSTKONFLIKT - Palästina zwischen den Weltkriegen

Während des Ersten Weltkriegs trafen im Nahen Osten sehr gegensätzliche Interessen aufeinander: die kriegführenden europäischen Großmächte, das späte Osmanische Reich, arabische Bevölkerung und bald eine immer größere Gruppe von jüdischen Zuwanderern. Unklare Versprechen, große Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen prägen die Jahre zwischen den Weltkriegen. In ihnen liegen die Wurzeln des Nahostkonflikts. Von Rainer Volk (BR 2024) Credits Autor: Rainer Volk Regie: Frank Halbach Es sprachen: Thomas Birnstiel, Carsten Fabian, Katja Schild Technik: Simon Lobenhofer Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Ulrike Freitag, Prof. Peter Wien, Prof. Michael Brenner, Linktipps: BR24: Lost in Nahost - Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Am 7. Oktober 2023 greifen Terroristen der Hamas Israel an - seitdem ist Krieg in Israel und Gaza. Was ist damals genau passiert - und warum eskaliert die Gewalt dort immer weiter? Dieser Podcast erklärt die Hintergründe - einmal mit Hilfe unserer Korrespondentinnen und Korrespondenten – und indem wir mit Menschen aus Israel und den palästinensischen Gebieten sprechen, die eine sehr unterschiedliche Sicht auf den Konflikt haben. ZUM PODCAST Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Palästinenser und die Nakba Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. JETZT ANHÖREN Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Die Staatsgründung Israels Am 14.05.1948 endet das britische Mandat über Palästina. Noch am gleichen Nachmittag ruft David Ben Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Damit geht der Wunsch vieler Jüdinnen und Juden in Erfüllung, nach den letzten Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung zurückkehren zu können nach Zion, dem "Land der Väter". Der Weg von der Idee Theodor Herzls, in Palästina eine "Heimstätte" für das jüdische Volk zu schaffen, bis zum Staat Israel war lang. Von Beginn an war er von Konflikten und Interessenskollisionen bestimmt. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem ManuskriptOT 1: Musik (Ouverture „Lawrence of Arabia – The voice of the guns”)Erzähler: Eigentlich beginnt die Geschichte Palästinas zwischen den Weltkriegenschon vor diesem Zeitabschnitt – nämlich etwa ab 1916. Denn von da an zeigen sich die Folgen der Allianzen im Ersten Weltkrieg: Das Osmanische Reich ist als Verbündeter des Deutschen Reiches auch Gegner der Weltmacht Großbritannien, das sich um seine Interessen im Nahen Osten sorgt. Ab 1916 versucht London daher massiv, das Osmanische Reich zu schwächen. Erzähler: Konkret geht es um den Suez-Kanal: Die Briten glauben, die Osmanen könnten diese schnellste Verbindung Richtung Indien angreifen und blockieren. Deshalb inszeniert der britische Geheimdienst auf der arabischen Halbinsel einen Aufstand der dortigen Stämme - eine berühmte Geschichte. Eine wichtige Rolle dabei spielt der britische Archäologe und Geheimdienst-Offizier Thomas Edward Lawrence. Die Historikerin Professor Ulrike Freitag, Direktorin am Berliner Zentrum Moderner Orient, hält den autobiografischen Bericht „Die sieben Säulen der Weisheit“, den Lawrence in den 1920er Jahren verfasst und den daran angelehnten Film „Lawrence von Arabien“ für ebenso informativ - wie einseitig: OT 2: (Freitag – Lawrence)„Man kann T.E. Lawrence lesen - aber man muss wissen, dass er natürlich unterwegs war, um britische Politik durchzusetzen. Das heißt: Er gibt eine – durchaus arabophile – aber eine britische Perspektive wieder. Und wenn Sie die arabische Perspektive wissen wollen, dann müssen Sie sich eher mit den arabischen Quellen auseinandersetzen.“              Erzähler: Anders als die Geschichte von T.E. Lawrence sind die Hintergründe und Biografien der wichtigen arabischen Akteure des Palästina-Konflikts zwischen den Weltkriegen in Europa weitgehend unbekannt. Dabei sind Herkunft, Leben und Nachkommen der politisch Handelnden teilweise bis heute prägend für die Staatenwelt in Arabien: OT 3: (Musik-Akzent aus „After bombing raid”) Zitator/in„Hussein bin-Ali, geboren 1854. Er ist Oberhaupt der Haschemiten-Dynastie; ein Nachfahre des Propheten Mohammed in 37. Generation. Der türkische Sultan hat Hussein bin-Ali 1908 zum Emir – also zum Prinzen - von Mekka ernannt. //Sein dritter Sohn ist Faisal bin al-Hussein, geboren 1885. Mit Faisal hat T.E. Lawrence intensiven Kontakt während des Arabischen Aufstands. // Abdulaziz-bin-Abdul Rahman, allgemein bekannt als Ibn Saud, Jahrgang 1876. Er ist das Oberhaupt des Saud-Klans; Ibn-Saud beherrscht Anfang der 1920er Jahre Mitte und Norden der arabischen Halbinsel bis zum Golf von Persien. Er ist Verbündeter der Briten und Rivale der Haschemiten.   Erzähler: Der Film „Lawrence von Arabien“ zeigt die Anfänge des Palästina-Konflikts als tragisches Abenteuer; die Gründe des so genannten „Großen Arabischen Aufstands“ ab 1916 bleiben Nebensache. Im Rückblick sagen Experten: Wichtig war, neben arabischem Nationalismus, auch die Not der Menschen. Denn im Weltkrieg haben Briten und Franzosen alle Häfen des Osmanischen Reiches blockiert. Die Folge: Fast überall sind Lebensmittel knapp und es wird gehungert, so Ulrike Freitag. OT 4: (Freitag – Blockade) „Da die Osmanen ja offiziell dort herrschten, betraf diese Blockade auch die arabische Halbinsel. Und deswegen waren eben nicht nur Gold, sondern auch Nahrungsmittel und Waffen sehr wichtig für diesen Aufstand. Dieser führte dann dazu, dass Hussein-bin-Ali sich – über seinen Sohn Faisal insbesondere – mit arabischen Nationalisten unter osmanischer Herrschaft in Damaskus und Beirut und Palästina zusammentat und einen Aufstand gegen die Osmanen durchführte.“   Erzähler: Das klingt einfacher als es ist: Denn in der Großregion kämpfen bald auch Araber gegen Araber: Ibn-Saud zieht gegen Hussein-bin-Ali in den Krieg; erobert 1924 Mekka und andere heilige Stätten des Islam, gründet damit das heutige Saudi-Arabien. Vor allem treten nun die Konsequenzen europäischer Großmachtpolitik hervor. Für die Friedensverhandlungen in Versailles ab 1919, bei den auch der Nahe Osten behandelt wird, sind drei Vorabsprachen wichtig:Zitator/Zitatorin: Zu Kriegsbeginn 1914 sagt der britische Militärgouverneur in Ägypten, McMahon, Hussein bin-Ali die Unabhängigkeit der Region unter seiner Herrschaft zu, wenn dieser mit dem Empire paktiert. //Im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 teilen Briten und Franzosen den Nahen Osten in Einfluss-Sphären ein – von der Levante bis zum Sinai, vom Mittelmeer bis zum Jemen. //Im November 1917 erklärt der britische Außenminister Balfour, London wolle jüdischen Siedlern in Palästina eine Heimat gewähren. OT 5: (Wien – Balfour I - ca. 10:50) – „Es wird darin nicht gesprochen von einem jüdischen Staat, der gegründet werden soll, sondern es geht dabei um eine „jüdische Heimstätte“.         Erzähler: Erklärt Peter Wien, Professor für moderne Geschichte des Nahen Ostens an der Universität von Maryland in den USA über das berühmte Dokument: OT 6: (Wien – Balfour II) – „Dass es dabei eine arabische Bevölkerung geben könnte, die selbst sowas wie nationale Interessen haben könnte, taucht ja in diesem Dokument gar nicht auf. Das heißt: Die Formulierungen sind sehr, sehr vorsichtig und teilweise auch in sich widersprüchlich gewählt und lassen viele Deutungen offen.“    Erzähler: Die komplizierte Ausgangssituation wird nicht einfacher, als der neu geschaffene Völkerbund Anfang der 1920er Jahre Franzosen und Briten Mandatsgebiete in der Region zuspricht. Denn diese schaffen Fakten, die nicht der über Jahrhunderte gewachsenen Lebenswelt der Einheimischen entsprechen. Die Historikerin Ulrike Freitag sagt über die Grenzen, die nun entstehen: OT 7: (Freitag – Grenzen) – „Diese Grenzen gingen eben durch historisch eng miteinander verknüpfte Gebiete, durch Handelsrouten hindurch, teilweise durch Familien hindurch. Also zwischen dem was Trans-Jordanien, heute Jordanien, wurde und Syrien beispielsweise, aber auch zwischen Syrien und dem Irak. Da war das Öl von Mossul ein besonderer Zankapfel zwischen Franzosen und Briten.“      0’25 OT 8: (Musik – „Ich fohr aheim“ – hist.) Erzähler: Ein jiddisches Lied aus dem frühen 20.Jahrhundert – es besingt die Alija – die Rückkehr europäischer Juden nach Palästina. Bis Anfang der 1920 Jahre ist das auch „Zionismus“ genannte Phänomen vor Ort wenig relevant. Im Oktober 1922, als die britische Verwaltung in Jerusalem die erste offizielle Einwohnerzählung in Palästina anordnet, scheint das Problem beherrschbar: Zitatorin:„Demnach leben zu diesem Zeitpunkt gut eine dreiviertel Million Menschen in dem Mandatsgebiet. 590-tausend davon sind Muslime, 84-tausend also etwa 14 Prozent sind Juden, 73-tausend Christen, 7-tausend gehören der drusischen Minderheit an.“  Erzähler: Forschungen zu den Ansichten der arabischen Mehrheitsbevölkerung der Region zeigen für die 20er Jahre ein sehr breites Meinungsspektrum. Ein Indikator hierfür sind die Zeitungen und Zeitschriften, die in Städten wie Jaffa, Haifa oder Beirut erscheinen. So hofft ein Teil der Elite aus Lokalpolitikern und Journalisten offenbar, zionistische Siedler könnten durch Investitionen in Landwirtschaft und Infrastruktur ihre Welt modernisieren. Der Nahost-Historiker Peter Wien sagt über das geteilte Stimmungsbild bei den Muslimen:   O-Ton 9: (Wien – Meinungen) – „Die einen empfinden es als Bedrohung, andere empfinden Solidarität mit den Juden, weil man sich klar darüber ist, dass Juden in Europa eine viel, viel schlechtere Position haben, als sie eigentlich über Jahrhunderte in den islamischen Ländern hatten. Also es gibt durchaus eine differenzierte Darstellung dieses Phänomens.“ Erzähler: In der Tat vergrößern Pogrome und Wirtschaftskrisen die Bedrängnis vieler Juden in Europa, besonders im Osten, Anfang der 1920er Jahre. Die Auswandererzahlen steigen – was den Wortführern des Zionismus politisch zupasskommt. Zumal der Begriff „Palästina“ erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Neuordnung des Nahen Ostens ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist – also auch propagandistisch nutzbar wird – erklärt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München: OT 10: (Brenner – Palästina-Begriff) – „Also zunächst müssen wir mal sagen, dass überhaupt zum ersten Mal in der Geschichte Palästina auf einer Landkarte verzeichnet war als britisches Mandatsgebiet. Unter der osmanischen Herrschaft waren das verschiedene Regionen. Und der Name Palästina tauchte auf keiner politischen Landkarte auf.“   Erzähler: Nur für eine sehr kurze Zeit hofft Großbritannien zunächst, es könne sein Mandatsgebiet mit politischem Geschick und Wachsamkeit halbwegs ruhig halten. Dann müssen Londons Vertreter in Jerusalem feststellen: Die Hitzköpfe auf arabischer wie jüdischer Seite lassen sich nur schwer im Zaum halten. Ulrike Freitag spricht von einem „Crescendo“ der Gewalt, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Palästinas der Zwischenkriegszeit zieht und sieht das Startsignal 1921 bei einer religiösen Festlichkeit: OT 11: (Freitag – Unruhen ab 1921) – „Da kommt es zu großen Auseinandersetzungen im Rahmen einer eigentlich sehr traditionellen muslimischen Prozession, die aber immer etwa gleichzeitig etwa stattfand mit christlichen und jüdischen Prozessionen. 1929 wäre dann zu nennen – in Jaffa, insbesondere. Aber auch Unruhen, die sich aber dann sehr schnell sehr breit ausbreiten.“ Erzähler: Diese Einschätzung wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Religion für den Konflikt. Vor allem Jerusalem mit seinen heiligen Stätten für Christen, Juden und Muslime wird zunehmend zum Zankapfel der Fanatiker. Einer von ihnen ist auf arabisch-muslimischer Seite der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini: Zitatorin: Das Geburtsjahr von Mohammed Amin al-Husseini – 1895, -96, oder -97, ist unklar. Seine Familie ist wohlhabend, der Vater bereits Mufti von Jerusalem – also: islamischer Rechtsgelehrter – und vehementer Anti-Zionist. Al-Husseini studiert in Kairo islamisches Recht und in Istanbul Verwaltungswissenschaft. Als 1921 sein Bruder stirbt, ernennen ihn die Briten zu dessen Nachfolger als Großmufti von Jerusalem, also zum politisch-religiösen Oberhaupt der Muslime in Palästina. Erzähler: Anders als der wegen der Namensähnlichkeit oft mit ihm verwechselte Emir bin-Husseini, der bei den Briten zunehmend in Ungnade fällt, erlebt der Großmufti einen Aufstieg. London unterschätzt lange, dass die Mischung aus Nationalismus und Religion ihn zur Galionsfigur muslimischer Fanatiker werden lässt. Peter Wien von der University of Maryland: OT 12: (Wien – Al-Husseini) – „Der genannte Amir-al-Husseini hält 1931 einen Kongress in Jerusalem und schafft es eben in dieser Veranstaltung, genau dieses Thema, dass Palästina zentral ist für islamische, politisierte, national-arabische Identitäten – zu etablieren. Und schafft auch den Felsendom – das klare Symbol, das alle mit Palästina und mit dem Ruf nach Freiheit für Palästina, der da formuliert wird – dass das damit verbunden wird.“       OT 13: (Musik „Shir Ha Emek”) Erzähler: Und doch braut sich der Sturm aus politisch-religiös motivierten Morden, Hinterhalten und Vergeltungstaten nur allmählich zusammen. So sind zeitgenössische Dokumentarfilme der 1920er und 30er Jahre über Palästina zum Beispiel „Land of promise – Land der Verheißung“, häufig unterlegt mit idyllischer Musik. Sie vermittelt den Eindruck einer blühenden Landwirtschaft und rasch wachsender Städte – einer besseren Zukunft für Juden. Zitator: Tel Aviv zum Beispiel, erst 1909 als Vorort der Hafenstadt Jaffa gegründet, wird rasch zum Vorzeige-Projekt für Einwanderer aus Europa. Viele Gebäude sind im Bauhaus-Stil errichtet – ein Sinnbild für Modernität und Fortschritt. 1931 hat Tel Aviv bereits 46-tausend Einwohner; kurz vor dem Zweiten Weltkrieg 150-tausend. Insgesamt verzehnfacht sich die jüdische Bevölkerung in Palästina bis Ende der 1930er Jahre, während sich die Zahl der arabischen Muslime nur verdoppelt. Erzähler: Aus heutiger Sicht erscheint es naiv, dass Großbritannien lange an eine friedliche Lösung für den Konflikt in Palästina glaubt. Seine Diplomaten lassen sich allerhand einfallen, um vor Ort Zeichen der Hoffnung zu geben. So ernennt die britische Regierung 1920 Herbert Samuel zum Hochkommissar für das Mandatsgebiet - einen praktizierenden Juden. Für Professor Michael Brenner hat diese Personalie besondere Bedeutung: OT 14: (Brenner – Samuel) – „Zum ersten Mal hat ein Jude sozusagen politische Gewalt über das Territorium. Aber Herbert Samuel war Brite und er hat vor allem als Brite gehandelt und hat damit viele der Zionisten auch enttäuscht, weil er doch die Versprechungen, die viele in der Balfour-Deklaration sahen, nicht unbedingt erfüllte. Und vor allem seine Nachfolger, die dann nicht mehr jüdisch waren, sind immer weiter abgerückt von der Erklärung, den Juden eine nationale Heimstätte zu schaffen.“ Erzähler: Ab Ende der 1920er Jahre werden die Phasen der Ruhe in Palästina immer kürzer. Ein Indikator dafür ist die Zahl der Soldaten und Polizisten, die Großbritannien braucht, um Herr der Lage zu bleiben. Besteht die britische Polizei in Palästina anfangs aus weniger als 800 Mann, so steigt deren Zahl bis 1926 bereits auf 1500. Im August 1929 müssen die Polizei-Oberen eilends um Verstärkung durch Soldaten bitten – mehrere tausend Mann werden aus Kairo per Flugzeug und Zug in Marsch gesetzt, weil Unruhen ausbrechen.  Die Konsequenzen für die Londoner Palästina-Politik sind drastisch – sagt die Historikerin Ulrike Freitag: OT 16: (Freitag  – Briten/Kontrolle) – „Nach 1929 haben sie die Gewalt so gesehen, dass sie dachten: Wir müssen jetzt die Einwanderung begrenzen. Und daraufhin haben sich die ersten auch zionistisch-terroristischen Gruppen gegründet, die dann auch begannen gegen die Briten, die dann nicht mehr als Förderer des Einwanderungsprojektes, sondern als dessen Verhinderer gesehen wurden, zu kämpfen.Erzähler: Ulrike Freitag meint mit „zionistisch-terroristische Gruppen“ unter anderem die „Irgun“ und die „Hagana“ – zwei anfangs verbündete, dann konkurrierende Untergrund-Organisationen, die Attentate gegen arabische und britische Einrichtungen verüben. Übrigens wird die Hagana nach der Staatsgründung zur Keimzelle der Armee des Staates Israel. – Ursache für den Zorn der militanten Zionisten sind offizielle britische Stellungnahmen wie das „Passfield White Paper“ von 1930. Es formuliert erstmals eine Begrenzung der Einwanderung von Juden nach Palästina – Zitat: Zitator: „Es ist essenziell sicherzustellen, dass die Einwandernden keine Last sind für die Menschen in Palästina insgesamt, und dass sie keinem Teil der gegenwärtigen Bevölkerung ihre Beschäftigung streitig machen.“ Erzähler: Ob derlei Papiere zu spät kommen oder zu zaghaft formuliert sind? Feststeht: Im April 1936 starten arabische Nationalisten unter Führung des Großmuftis von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, den so genannten „Großen Arabischen Aufstand“ in Palästina. 20-tausend britische Soldaten versuchen vergeblich, ihn zu unterdrücken. Die Zahl der Toten wird auf mindestens 6.000 geschätzt – ein Drittel davon sind Juden. Ulrike Freitag sagt zu den Konsequenzen: OT 17: (Freitag – Konsequenzen-Aufstand) – „Das heißt: Die Briten haben die Kontrolle zunehmend verloren. Und das ist ja auch der Hintergrund, dass die Briten angekündigt haben: Wir geben das Mandat zurück. Und dann sollen die Vereinten Nationen – ursprünglich war es ja der Völkerbund – damit machen, was sie wollen.“ Erzähler: Einen der letzten Versuche, den Konflikt friedlich zu lösen, startet London kurz nach Beginn des Aufstands: Eine sechsköpfige Kommission – nach dem Vorsitzenden William Peel „Peel-Kommission“ genannt – reist in die Region. Man spricht mit prominenten jüdischen Exponenten wie Chaim Weizmann, arabischen Potentaten wie Ibn-Saud oder Emir Abdallah Ibn-Hussein. Am Ende entsteht der „Peel-Plan“. Er sieht vor, Palästina zwischen Juden und Arabern zu teilen und prägt so die Entwicklung nach 1945 vor, sagt Michael Brenner: OT 18: (Brenner – Peel-Plan) – „Nämlich 1947, als die UNO entschied, dass das Gebiet westlich des Jordans in einen jüdischen und einen arabischen Staat geteilt werden sollte. Diese Teilung sah nun ein bisschen anders aus als der Peel-Plan. Aber das ist immer noch eine Grundlage, die für die Entwicklungen bis heute prägend war.“ Erzähler: 1937 hat der Peel-Plan keine Chance. Das zionistische Lager kritisiert, dass nur noch 12-tausend Jüdinnen und Juden pro Jahr ins Land gelassen werden sollen. Arabische Wortführer verdammen die Absicht, weit über 200-tausend muslimische Bewohner in den geplanten arabischen Teil umzusiedeln. – Das Scheitern des Peel-Plans freut Nazi-Deutschland, dessen Experten das Pulverfass, das im Nahen Osten offensichtlich entstanden ist, bald so sehr interessiert, dass sie Reisen dorthin unternehmen. So fährt im Sommer 1937 Adolf Eichmann, der spätere Mitorganisator des Holocaust, in offiziellem Auftrag nach Palästina. Der Nahost-Historiker Peter Wien: OT 19: (Wien – Eichmann)„Eichmann interessiert sich für den Zionismus – nicht so sehr für den arabischen Nationalismus in diesem Zusammenhang. Andere Reisende, die eben in die Region reisen, die interessieren sich für die deutschen Siedler in Palästina. Für die Templer und so weiter. Es gibt ja die Auslandsorganisation der NSDAP, die sehr aktiv unter Auslandsdeutschen in Palästina ist. Das sind Verbindungen, die da bestehen.“ Erzähler: Auch versucht Berlin zunehmend, politisch von der Eskalation des Konflikts zu profitieren. Als Großbritannien die Einwanderung nach Palästina begrenzt, verschärfen die Nazis die Judenverfolgung im Reich – auch um zu zeigen, dass kaum ein Land der Welt größere Kontingente von Juden aufnehmen will. Wie sehr die Lage in Palästina Hitlers Propaganda zupasskommt, spiegelt sich gelegentlich sogar in den Radio-Nachrichten. Subtil wird darin zum Beispiel im Sommer 1938 der Vorwurf erhoben, London engagiere sich einseitig auf Seiten des Zionismus. OT 20: (Drahtloser Dienst, 5.7.1938) – „Die wenigen noch nicht verbannten Araber-Führer Palästinas, darunter Nashah Shibi, forderten nach einer Meldung aus Jerusalem gestern den britischen Oberkommissar Sir McMichael erneut auf, für eine gleiche Behandlung der Juden und Araber Sorge zu tragen und nicht die Juden in auffälliger Weise zu bevorzugen.“  Erzähler: Als Hitler 1939 den Zweiten Weltkrieg vom Zaun bricht, ist damit jene toxische Gemengelage geschaffen, die die Welt bis heute in Atem hält: Falsche Versprechungen und gegenläufige Interessen haben in knapp zwei Jahrzehnten religiösen und ethnischen Fanatismus groß werden lassen. Dass sowohl jüdische wie arabische Soldaten im Zweiten Weltkrieg in britischen Diensten gegen Hitlers Reich kämpfen, gibt Palästina nur eine Atempause. Nach 1945 bricht erneut ein Krieg aller gegen alle aus – der moderne Nahost-Konflikt beginnt.
undefined
Oct 4, 2024 • 23min

AUFERSTANDEN AUS RUINEN - DDR und BRD im Kalten Krieg

Gleich mit Beginn des Kalten Krieges 1945 befand sich Deutschland im Zentrum des Konflikts. Das zerbombte Land war wegen seiner geografischen Lage, seiner Größe und seines Wirtschafts-Potenzials für die Atommächte USA und Sowjetunion äußerst interessant. In Deutschland wurde der Konflikt ausgetragen. Von Rainer Volk (BR 2022)Credits Autor: Rainer Volk Regie: Martin Trauner Es sprachen: Friedrich Schloffer, Hemma Michel Technik: Andreas Lucke Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Susanne Schattenberg, Prof. Bernd Greiner Besonderer Linktipp der Redaktion: rbb (2024): Der Zerfall Babylons Wie war das in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg? Wie konnten Berlin und Deutschland so sehr zerfallen, das Verbrechen zum Gesetz werden? Der Podcast “Der Zerfall Babylons” taucht mit Bestseller-Autor Volker Kutscher tief ein in die Jahre 1929 bis 38. Er hat für seine Romane um Kommissar Gereon Rath präzise recherchiert in dieser Zeit. “Der Zerfall Babylons” ist ein Podcast, der Geschichte lebendig macht – zu hören überall, wo es Podcasts gibt. ZUM PODCAST Linktipps: ZDF (2018): Geheime Fronten – Spionage im Kalten Krieg Manche zählen Panzer, andere stehlen Baupläne von Atombomben - alles streng gehütete Geheimnisse des Gegners. Wer sie lüften will, riskiert sein Leben im Informationskrieg verfeindeter Blöcke. JETZT ANSEHEN BR24 (2024): 75 Jahre NATO – Kalter Krieg in Bayern Am 4. April 1949 gründeten zwölf Staaten die North Atlantic Treaty Organization, kurz: NATO, also das westliche Verteidigungsbündnis, das Gegengewicht zum Warschauer Pakt. Das Gründungsdatum jährt sich 2024 zum 75. Mal. Der einstige Zweck gilt den Mitgliedsländern wieder als zentral: Sie wollen gemeinsam Stärke zeigen und so einen potenziellen Angreifer von vorneherein abschrecken. Verteidigt worden wäre das Bündnisgebiet während des Kalten Krieges in Bayern ? an der einstigen innerdeutschen Grenze. Kilian Neuwert hat sich für die BR 24 Reportage auf Spurensuche begeben. Denn das, was einst zu gelten schien, wirkt heute wieder brandaktuell. Mit einem deutschen Heeresgeneral ist er zu den Anfängen von dessen Karriere zurückgekehrt. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:19 – Zwischen Panik & PokerfaceTC 05:26 – Politischer, ökonomischer und militärischer WettstreitTC 09:40 – Der Versuch kultureller FreundschaftTC 11:38 - BelastungsprobenTC 18:50 – Alles vorbei?TC 21:41 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO: (Gebet – Priester – Atombombenabwurf Hiroshima) – „We pray thee that the end of the war comes soon. And that we once more may know peace on earth. May the men who fly this night be kept safe in thy care. And may they be returned safely to us. We shall roam forward trusting in thee. Knowing that we are in thy care – now and forever. In the Name of Jesus Christ – Amen.“  SPRECHERZugespitzt formuliert beginnt der Kalte Krieg mit einem Gebet. Als Piloten der US-Luftwaffe am 6.August 1945 zum ersten Atombombenabwurf Richtung Hiroshima starten, bittet ein Priester um Frieden und die sichere Heimkehr der Flieger. Man wisse sich in Gottes Hand. Jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.MUSIK SPRECHERTatsächlich ist der Übergang vom 2.Weltkrieg zum Beginn des neuen globalen Konflikts fließend. Für den Historiker Bernd Greiner beginnt der Kalte Krieg bei der Konferenz der Siegermächte in Potsdam im Juli 1945 – Wochen vor der Kapitulation Japans. Denn hier tauche bereits dessen entscheidender Bestandteil erstmals auf - Atomraketen. TC 01:19 – Zwischen Panik & Pokerface OT Greiner Während der Potsdamer Konferenz bekommt Truman die Nachricht, dass der „Trinity-Test“ in der Wüste von New Mexico funktioniert hat. Und er raunt Churchill zu: Beobachte mich bitte mal – ich geh‘ jetzt mal zu Stalin und sage dem: Wir haben da eine Waffe, wir haben was von nie dagewesener Zerstörungskraft. Stalin reagiert wie Stalin reagiert. Nämlich erst mal gar nicht. Pokerface. Aber intern sagt er: Bestellt Kurtschakow, er möge sich beeilen, das war der Leiter des Atomprogramms.“  SPRECHERDie Sowjetunion braucht indes bis August 1949 für die Entwicklung ihrer eigenen Atombombe. In der Zwischenzeit fühlt sich Moskau dem weltweiten Auftrumpfen der Amerikaner ausgeliefert. Die Historikerin Professor Susanne Schattenberg verweist auf die Bedeutung des Jahres 1947 und die Verkündung der Truman-Doktrin: OT 3 Schattenberg – 1947  „1947 bringen das beide Seiten in programmatischen Reden letztlich auf den Punkt. Also dass der amerikanische Präsident, Harry Truman, sagt, wir haben hier zwei Welten, zwei Lager. Der Leningrader Parteichef Shdanov antwortet dann ein halbes Jahr später entsprechend, dass … die USA und Großbritannien eigentlich schon während des Krieges versucht hätten, die Sowjetunion zu unterdrücken und das nun endlich zutage fördern würde.“   SPRECHERDie Deutschen in Ost und West finden sich, sozusagen, mittendrin in diesem Kräftemessen. Vor allem, als 1948 die erste große Krise ausbricht: MUSIK & ATMOOT 4: Reportage Luftbrücke (Reporter) - „Alle drei Minuten landet auf dem Flughafen Tempelhof…SPRECHERIN: Ab Juni 1948 blockiert die Sowjetunion alle Land- und Wasser-Zugänge nach West-Berlin. Amerikaner, Briten und Franzosen versorgen die unter alliierter Kontrolle stehende Stadt elf Monate lang per Flugzeug – per „Luftbrücke“ - mit allem, was deren Einwohner brauchen. In seiner Selbstwahrnehmung wird West-Berlin zum Vorposten der freien Welt.MUSIK SPRECHERWeltpolitisch aber ist die erste Berlin-Krise anders zu deuten als im Kabarett-Song der „Insulaner“: Nämlich als Stalins Antwort auf Amerikas Muskelspiele. Sie soll beweisen: Der Besitz von Atomwaffen bedeutet nicht grenzenlose Macht. Bernd Greiner, ehemaliger Leiter des „Kolleg Kalter Krieg“ in Berlin, analysiert: OT 6: Greiner – Berlin „Da hat Stalin versucht zu zeigen, dass der Westen ein Kaiser ohne Kleider ist. Ja, was ist denn mit Euren Atomwaffen – wie wollt Ihr denn mit Atomwaffen Berlin schützen? Da sitz‘ ich am längeren Hebel – aus seiner Perspektive. Und signalisiert: Ich kann noch einen Schritt weitergehen. Und wenn ich diesen Schritt weiter gehe, dann steht Ihr, Eure drei oder vier Atomwaffen, die ihr habt - dann steht Ihr ohnmächtig vis à vis.“ SPRECHERDie ehemalige Reichshauptstadt hat Stalin bewusst ausgesucht für seine Strategie. Berlin symbolisiert den Kern der so genannten „Deutschen Frage“ - nämlich: Wo steht Deutschland in Europa – im Osten oder Westen? Weil dies für das Machtgleichgewicht enorm wichtig ist, beantworten die Großmächte die Frage mit der Teilung Deutschlands.TC 05:26 – Politischer, ökonomischer und militärischer Wettstreit MUSIK SPRECHERIN: Aus der sowjetischen Besatzungszone wird die DDR, aus den drei Westzonen die Bundesrepublik. Kanzler Adenauer forciert hier ab 1950 eine Integration in die Verteidigungsstrukturen des Westens – was Moskau durch die so genannte „Stalin-Note“ im März 1952 verhindern will. Der sowjetische Diktator verspricht in ihr eine Wiedervereinigung Deutschlands – falls das Land militärisch neutral bleibe. Die drei Westmächte und Adenauer halten dieses Angebot jedoch für pure Taktik – nicht ernst gemeint und lehnen es ab. Stattdessen tritt die Bundesrepublik 1954 der NATO bei, die sich auf Betreiben der USA gegründet hat. Und die DDR wird ein Jahr später Mitglied des östlichen Militärbündnisses „Warschauer Pakt“. SPRECHERGeografisch entspricht die innerdeutsche Grenze der Nahtstelle des Kalten Krieges. Das engt die Bewegungsfreiheit der deutschen Politik aber nicht ein – im Gegenteil. In den 1950er Jahren können etliche deutsch-deutsche Treffen stattfinden. Für viel Wirbel im Land sorgen die Reise einer Delegation der DDR-Volkskammer nach Bonn 1952 und, 1954, ein Besuch von Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) beim Evangelischen Kirchentag in Leipzig: OT 7: Ehlers – Radio 1954„Das haben wir bei diesem Kirchentag erfahren: Dass es etwas Erstaunliches ist, wenn Christen durch die Kraft ihrer Gemeinschaft den Mut finden, die Abschnürung und die Furcht zu überwinden und offen zu reden und miteinander zu reden. … Die politischen Auswirkungen werden sichtbar werden, denn hier ist die Einheit unseres Volkes an einer entscheidenden Stelle dokumentiert.“ SPRECHERDarüber hinaus profitieren Deutschland-West und -Ost wirtschaftlich von ihrer herausgehobenen Lage am „Eisernen Vorhang“. Denn der Kalte Krieg ist auch ein Systemwettstreit zwischen Markt- und Planwirtschaft. Das führt dazu, dass es den Deutschen, so meint der Historiker Bernd Greiner, zumindest ökonomisch bessergeht als ihren Nachbarn: OT 8: Greiner – Wohlergehen „Sie liefen auf der Butterbahn. Bei allem Gefälle zwischen West und Ost, zwischen der DDR und der Bundesrepublik darf man ja nicht aus dem Auge verlieren: Den höchsten Lebensstandard im Warschauer Pakt, inklusive Sowjetunion, hatte die DDR. Da lagen Welten dazwischen, zum Westen, aber immerhin.“ SPRECHERMilitärisch hingegen sind die Freiräume klein – sowohl für die Bundesrepublik in der NATO wie für die DDR im östlichen Militärbündnis, dem 1955 gegründeten „Warschauer Pakt“. Einer der Gründe ist, dass die Sieger des 2.Weltkriegs nie einen Friedensvertrag mit Deutschland unterzeichnen – weshalb die DDR und die Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung nicht voll souverän sind. OT 9: 1.Appell der Bundeswehr 1955 „Nochmal abzählen! „Eins-Zwo-Drei-Vier-Fünf-Sechs-Sieben-Acht-Neun-Zehn (Pause) – Elf! (Gelächter) – (Reporter): Der UvD, im taubengrauen Stahlhelm, der dem belgischen angeglichen hat, der sich am meisten bewährt hat, hat die Rekruten zusammengetrommelt. Und nun wird gleich der Kompaniechef, Major Busch, die Rekruten begrüßen…        SPRECHERDie Aufstellung der Bundeswehr – hier eine Radioreportage vom Empfang der ersten Freiwilligen 1955 – hat im Blick zurück zwei Seiten. Die eine ist das Eintreten der Bundesrepublik in die Militär-Phalanx des Westens – als Teil der Aufrüstung im Kalten Krieg. Selbst aus der Sicht der NATO hat der Schritt aber noch einen zweiten Aspekt, den Bernd Greiner erläutert:OT 10: Greiner – Bundeswehr/NATO „Dieser Satz des ersten NATO-Generalsekretärs, Lord Ismay, auf die Frage eines Journalisten „Wozu brauchen wir die NATO?“ – Na ja, klar: „To keep the Russians out, the Americans in – and the Germans down.“ Also wir brauchen ein Kontrollinstrument gegenüber den Deutschen. Und Kennedy, zum Beispiel, hat das Adenauer gegenüber sehr deutlich spüren lassen, wer Koch und wer Kellner ist.“         SPRECHERDas erklärt auch, weshalb Wünsche bundesdeutscher Politiker, die Bundeswehr mit Atomraketen auszurüsten, keine Aussicht auf Erfolg haben. TC 09:40 – Der Versuch kultureller Freundschaft OT 11:  (Jingle AFN)„High fellas, this is Jill with your all-time jukebox. (Musik) – Welcome to the all-time jukebox, fellas. Thirty minutes devoted to the replaying of some of the greatest phonograph records of all times.”MUSIK SPRECHERMindestens so wichtig wie Waffen sind für die Beziehungen die kulturellen Angebote der USA. AFN zum Beispiel - das „American Forces Network“. Die Senderkette versorgt im Kalten Krieg die in Deutschland stationierten US-Soldaten mit Nachrichten und Musik. Die Deutschen, die mithören können, lernen so Jazz, Rock’n’Roll und Pop kennen. AFN wird zu einem „Soft-power“-Instrument der USA. Ähnliches gelte auch für die „Amerika-Häuser“ in westdeutschen Großstädten, sagt Bernd Greiner. OT 12: Greiner – Kultur-Assimilation „Plus die ganzen Austauschprogramme. Also eine ganze Kohorte von bundesdeutschen Nachkriegspolitikern, Klaus von Dohnanyi, Eppler, Schmidt, inklusive Top-Journalisten - die waren in der einen oder anderen Weise in Stipendienprogramme eingebunden und waren natürlich mit Herz und Seele Atlantiker.“ OT 13: „Das deutsche Programm von Radio Berlin International setzt seine Sendung fort mit Berichten und Informationen aus sozialistischen Ländern – Musik (ca. 10 Sek.) – „Das Panorama. Informationen und Berichte aus sozialistischen Ländern – Musik SPRECHERINAuch im Osten versucht man es mit Kultur als Freundschafts-Faktor. Der Ton dieser Sendung des DDR-Programms „Radio Berlin International“ zeigt jedoch: Das klingt staatlich verordnet - und verpufft so zumeist. Deshalb kann die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, die Ost-Berlin und Moskau 1947 gründen, trotz ihrer bis zu sechs Millionen Mitglieder für ihre Seite nie erreichen, was im Westen gelingt: Traumland USA.TC 11:38 - Belastungsproben SPRECHERDie Harmonie zwischen Bundesdeutschen und Amerikanern wird allerdings auf eine harte Probe gestellt, wenn der Kalte Krieg eskaliert. Die Amerikaner lassen dann keinen Zweifel, wer das Sagen hat. Das zeigt sich vor allem im Krisenjahr 1961:MUSIKOT 14: Reportage vom Beginn des Mauerbaus „Seit etwa 1 Uhr heute Nacht rattern die Pressluftbohrer und bohren einen Graben quer durch die Eberstraße hier am Brandenburger Tor. Der Graben ist etwa einen halben Meter tief und etwa einen halben Meter breit…“MUSIK SPRECHER13. August 1961 – die DDR beginnt mit dem Bau der Berliner Mauer. Willy Brandt verlangt als Regierender Bürgermeister eine militärische Antwort der USA auf die Provokation des DDR-Regimes. Präsident Kennedy denkt aber gar nicht daran: Er verstärkt zwar die US-Truppen in der Stadt, schickt ansonsten aber nur seinen Vizepräsidenten Johnson – mit einem Brief – zu Brandt. Egon Bahr, Vertrauter von Brandt und Sprecher des Senats von Berlin, erinnert sich an dessen Inhalt noch Jahrzehnte später: OT 15: Bahr – Berlin-Krise/Brief „Der Brief von Kennedy hieß: „Die Mauer ist nur durch Krieg zu beseitigen. Und niemand will Krieg – Sie auch nicht. Und: Sie dürfen nicht verkennen, dass das im Grunde eine große Niederlage für Chruschtschow ist, denn er mauert ja seine Bevölkerung ein.“ – Wir haben das damals als graue Salbe empfunden und haben erst viel später gesehen: Der hatte Recht.“  SPRECHERDie Beziehungen zwischen den Regierungen in beiden Teilen Deutschlands und ihren Führungsmächten werden in den 60er Jahren komplizierter. Im Fall der DDR und der Sowjetunion liegt das an Walter Ulbricht. Der mächtigste Mann in Ost-Berlin ist ein Stalinist alter Schule. Stalins Nach-Nachfolger, Leonid Breschnew, der 1964 in Moskau die Macht erlangt, ist weniger dogmatisch. Susanne Schattenberg berichtet: OT 16: Schattenberg – Breschnew/DDR„Ich finde es sehr lustig, dass Breschnew furchtbar genervt ist von Ulbricht und dann ja auch, wie in vielen anderen sozialistischen Staaten um das Jahr 1970 herum, Führungswechsel herbeiführt – von Ulbricht zu Honecker in der DDR. Und auch Honecker findet er wahnsinnig dogmatisch und viel zu marxistisch-leninistisch. Und das heißt: Wer ist sozusagen eher der ‚Hardliner‘ - ist das eher die DDR, sowohl unter Ulbricht als auch Honecker, als letztlich Moskau selbst.“SPRECHERUm die gleiche Zeit entwickelt sich auch im Westen ein ernster Streit um die so genannte „Entspannungspolitik“. Der neue Bundeskanzler Willy Brandt streckt 1969 diplomatische Fühler Richtung Sowjetunion und Richtung Polen aus, um den Kalten Krieg zu deeskalieren. Im deutsch-deutschen Verhältnis will er den Alltag der Teilung etwa durch Verwandtenbesuche jenseits des Eisernen Vorhangs erleichtern. Die US-Regierung sieht das skeptisch. Das erste Gespräch in Washington zwischen Egon Bahr, der inzwischen Kanzleramtsminister ist, und Präsidentenberater Henry Kissinger verläuft daher sehr ungewöhnlich, wie Bernd Greiner erzählt: OT 17: Greiner – Bahr/Kissinger „Kissinger wird nervös und nervöser, rutscht in seinem Stuhl hin und her. Und stellt dauernd Zwischenfragen, aus denen man herauslesen konnte: Das geht dem von oben bis unten gegen den Strich. Und der Bahr hört sich das eine Zeit lang an und sagt dann irgendwann – und das ist protokolliert: „Henry, ich bin gekommen, um zu informieren – nicht um zu konsultieren.“ Das ist ein unerhörter Satz. Das ist ein unerhörter Satz für die deutsche Nachkriegspolitik.“      SPRECHERLetztlich kann Brandt seinen politischen Spielraum aber nutzen und mehrere Verträge zwischen der Bundesrepublik und Staaten Osteuropas schließen. Das liegt am Vietnamkrieg. Die zweite Langzeitkrise im Kalten Krieg verlangt von der Supermacht so viel Aufmerksamkeit, dass man die West-Deutschen gewähren lässt. MUSIK OT 18: Kekkonen – KSZE/Eröffnung „Ladies and Gentlemen. On behalf of the government and the people of Finland, I have the great honor to declare the third stage of the conference on security and cooperation in Europe open. It is a privilege for us to act as hosts of this conference for the second time… SPRECHERHelsinki, Finlandia-Halle, 1975. Der finnische Staatspräsident Kekkonen eröffnet die Abschluss-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE. Wenige Tage später unterzeichnen Staats- und Regierungschefs aus ganz Europa, den USA und Kanada einen Vertrag, der den Kalten Krieg zähmen soll. Die sogenannte „Schlussakte von Helsinki“ ist das Ergebnis von mehr als zwei Jahren Verhandlungen. Zentral ist eine Art Tauschgeschäft: Der Westen garantiert den Staaten Osteuropas, auch der Sowjetunion und der DDR, die Sicherheit ihrer Grenzen. Das zementiert die Nachkriegsordnung Europas. Im Gegenzug verspricht der Osten die Menschenrechte zu achten und einzuhalten. OT 19: Grüne – Wahlwerbung 1983„Guten Tag, ich komme im Auftrag der Allgemeinheit. Ich soll hier bei Ihnen im Garten diese funkelnagelneue, todsichere Atomrakete aufstellen. – Um Gottes Willen! Sowas ist doch gefährlich. Gehen Sie mir bloß aus dem Weg mit dem Ding… SPRECHERDie KSZE beendet den Kalten Krieg jedoch noch nicht: Das zeigt dieser leicht satirische Wahlwerbe-Spot der Grünen von1983. Zu den Momenten, in denen der Konflikt wieder aufflammt, zählt auch die Phase nach dem so genannten „NATO-Doppelbeschluss“.SPRECHERIN Ende der 1970er Jahre stellen westliche Experten fest: Die Sowjetunion baut neue, modernere Atomraketen. Die NATO beschließt daraufhin, amerikanische Pershing-2-Raketen in Deutschland zu stationieren und gleichzeitig mit Moskau über Abrüstung zu verhandeln. SPRECHERViele Bundesdeutsche halten diese Doppelstrategie für falsches Spiel - sie befürchten eine weitere Rüstungsspirale und demonstrieren vor US-Kasernen. Die politischen Wogen schlagen hoch. Politiker, die Moskaus Raketen als Bedrohung sehen, werfen der „Friedensbewegung“ Kollaboration mit dem Kreml vor. Das empört Willy Brandt, als er im Herbst 1983 bei einer Demo vor 300-tausend Menschen in Bonn auftritt: OT 20: Brandt – Hofgarten„Hier steht nicht die fünfte Kolonne. Wir stehen hier miteinander für die Mehrheit unseres Volks. Über 70 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik, und das ist gut so, halten nichts davon, dass Deutschland immer mehr vollgepackt wird mit atomarem Teufelszeug.“TC 18:50 – Alles vorbei? MUSIK SPRECHEREnde der 1980er Jahre scheint sich der Kalte Krieg zwischen Ost und West aber tatsächlich seinem Ende zuzuneigen. Durch Europa scheint ein Wind der Veränderung zu wehen – hier besungen von den „Scorpions“: SPRECHERIN Bei mehreren Gipfel-Treffen vereinbaren die US-Präsidenten Reagan und Bush mit Michael Gorbatschow, dem neuen Generalsekretär der sowjetischen Kommunistischen Partei, Atomraketen aus Europa abzuziehen und sie zu vernichten. Im Herbst 1989 gibt Gorbatschow sein Ja zur deutschen Wiedervereinigung, 1991 löst sich der Warschauer Pakt auf – anders als die NATO.SPRECHERIst der Kalte Krieg damit Geschichte? Experten sehen das skeptisch. Auf jeden Fall, so meint die Osteuropa-Historikerin Susanne Schattenberg, solle man sich davor hüten, den Westen für den Sieger und den Osten für den Verlierer des Konflikts zu halten: OT 22: Susanne Schattenberg - Ende „Das ist so eine Post-Facto-Interpretation, die heute vorgenommen wird. Ich bin der Meinung, dass das damals niemand so gesehen hat, dass beide Seiten es als enormen Sieg und Gewinn gesehen haben, dass diese Systemkonkurrenz sich auflöst. SPRECHERMittlerweile ist das offensichtlich nicht mehr der Fall. Viele Experten meinen: Putin tue alles, um die Machtverhältnisse zu ändern. Dazu zähle auch der Versuch, das Nachbarland Ukraine, das seit 1991 unabhängig ist, wieder unter die Kontrolle Moskaus zu bringen. Und sei es durch einen Krieg, wie er ihn Ende Februar 2022 vom Zaun brach. Der Kalte Krieg hat ein Erbe hinterlassen. Dazu zählt Bernd Greiner die stete Weiterentwicklung von Atomwaffen und die unverändert starke Rüstungslobby in Ost wie West. Vor allem, meint Greiner, dächten viele noch wie im Kalten Krieg.MUSIKEs kann sein, dass das Tauziehen um Macht und Werte, das der Kalte Krieg symbolisierte, also nur knapp drei Jahrzehnte ruhte – und nun wieder beginnt. Denn die Ukraine liegt da, wo Deutschland einst lag: An der Nahtstelle zwischen West und Ost. TC 21:41 – Outro
undefined
Oct 4, 2024 • 24min

AUFERSTANDEN AUS RUINEN - Der Volkseigene Betrieb in der DDR

Die Volkseigenen Betriebe (VEB) waren für die meisten Bürgerinnen und Bürger der DDR viel mehr als nur eine Arbeitsstätte. Von der Theatergruppe bis zum Ferienlager organisierten die VEB zahllose Freizeitangebote. Auch für das soziale Leben der Beschäftigten und wurden so zum Lebensmittelpunkt. Von Ulrike Beck (BR 2024)Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Christian Baumann, Jenny Güzel Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. André Steiner, Dr. Anna Kaminsky Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Diagnose Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg Machtsysteme, die Frauen systematisch unterdrücken. Der sechsteilige Podcast “Diagnose: Unangepasst” macht Geschichten von Frauen unter Macht- und Kontrollsystemen zum Thema. Dazu wird das düstere Kapitel der grausamen geschlossenen venerologischen Stationen in der DDR aufgearbeitet. Hier wurden scheinbar “unangepasste” Mädchen und junge Frauen eingesperrt und misshandelt, um sie nach sozialistischem Vorbild umzuerziehen. Die Journalistin Charlotte Witt begibt sich mit drei betroffenen Frauen auf eine emotionale Reise in die Vergangenheit. Sie blicken auf Machtsysteme damals wie heute und suchen nach Antworten. ZUM PODCAST Linktipps: ARD (1965): Frauen in Industrieberufen – VEB Leuna-Werke In den Volkseigenen Betrieben (VEB) herrscht Arbeitskräftemangel. Am Beispiel des VEB Leuna-Werks "Walter Ulbricht" wird das Umdenken der Betriebsleitungen bezüglich der Beschäftigung ungelernter Frauen dargestellt. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2019): Zwischen Dichtung und Wahrheit Auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall ist das Trauma um die Treuhand noch nicht vorbei. Die Behörde, die volkseigene DDR-Betriebe in gut funktionierende private Unternehmen umwandeln sollte, sorgt bis heute für Debatten. Sogar ein erneuter Untersuchungsausschuss wird gefordert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:59 – Der Weg der VEBsTC 05:19 – Monotonie, Mangel und MeckernTC 09:06 – Viele Angebote - wenig FreizeitTC 11:34 – Die Ära HoneckerTC 14:15 – Entscheidungen treffen andereTC 17:26 – Und nach der Wiedervereinigung?TC 21:50 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK 1.O-Ton (Kaminsky ab 7:16)Also nun läuft das Praktikum schon fast eine Woche. Ich bin in der Möbelfabrik in Ammendorf. Dort ist die Zweigstelle fürs Schneidern untergebracht. Wir schneiden Filzmatten. Zwei Pausen sind zulässig, fünf werden gemacht, ungeachtet der Zigarettenpäuschen, die nicht zählen. Die Norm wird immer erfüllt, und wenn Normer kommen, arbeiten die Leute betont langsam. Und statt einmal rennen sie fünfmal um den Tisch, um irgendetwas zu holen. So kommen die Normen, die erfüllten Pläne und die Pausen zustande. ErzählerAnna Kaminsky liest aus ihrem Tagebuch. Es sind Eindrücke, die sie mit 15 Jahren festgehalten hat. 1977 während ihres Schülerpraktikums, bei dem sie im Volkseigenen Betrieb der Möbelproduktion die sozialistische Arbeitswelt kennenlernen soll. So wie es damals auch für alle anderen Schüler und Schülerinnen in der DDR Pflicht ist: 2.O-Ton (Kaminsky ab 7:16)Ab der achten Klasse gab es den sogenannten Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion. Das war ein Tag in der Woche oder alle zwei Wochen, wo man in einen Betrieb gehen musste als Schüler, um dort die sozialistische Arbeitswelt kennenzulernen. Und zusätzlich gab es immer am Ende des Schuljahres (…) zwei oder drei Wochen ein sogenanntes Praktikum. Und mein erstes Praktikum habe ich in der Möbelfabrik in Ammendorf in Halle absolviert, und dort war eine Zweigstelle untergebracht, die unter anderem für Neckermann Kissenbezüge und so Polsterbezüge schneiderte. ErzählerinAnna Kaminsky hat die Geschichte der DDR zu ihrem Beruf gemacht. Seit 2001 ist sie Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in der die Arbeit einen ganz besonderen Stellenwert hatte: 3.O-Ton (Kaminsky ab 1:02)Grundsätzlich muss man sagen, dass die DDR ja eine Arbeitsgesellschaft war. Also es gab keine Arbeitslosigkeit, auch wenn das natürlich staatlich ja besonders herbeigeführt worden ist, denn auch in internen Wirtschaftsanalysen ist immer wieder die Rede davon, dass, wenn man sich ehrlich machen würde, hätte die DDR auch so etwa 20 Prozent Arbeitslose. Aber aus ideologischen Gründen und aus politischen Gründen konnte man keine Arbeitslosigkeit zulassen, sondern jeder musste irgendwie beschäftigt werden. Und nach 1968 der damaligen Verfassungsreform in der DDR gab es ja nicht nur das Recht auf Arbeit, sondern auch die Pflicht zur Arbeit. Ich denke, dass das auch ganz wichtig ist zu verstehen, dass Arbeit im Prinzip den Lebensmittelpunkt der Menschen darstellte. TC 02:59 – Der Weg der VEBs MUSIK ErzählerDen Grundstein dafür, dass die Volkseigenen Betriebe zum größten Arbeitgeber der DDR-Industrie werden, legen die vier alliierten Siegermächte im Sommer 1945 mit dem Potsdamer Abkommen. Wie der Wirtschaftshistoriker Professor André Steiner vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ausführt. Er ist einer der profundesten Kenner der Wirtschaftsgeschichte der DDR. 4.O-Ton (Steiner ab 0:17)Nazi-Funktionäre oder höhere Nazi-Funktionäre und Kriegsverbrecher sollten auf jeden Fall enteignet werden. Das war ja erstmal zunächst sozusagen der Ansatz, der von allen Alliierten vertreten wurde, der dann allerdings in den Westzonen nicht in dem Maße umgesetzt wurde, wie das in der sowjetischen Besatzungszone geschah. […] Die sowjetische Besatzungsmacht hat dann mit einem Befehl im Oktober 1945 faktisch alle Großbetriebe beschlagnahmt und unter Sequester gestellt. MUSIK Erzählerin Schon ab dem September 1945 beginnt die Sowjetische Militäradministration, kurz SMAD mit wichtigen Strukturveränderungen innerhalb der sowjetisch besetzten Zone. ErzählerMit der Bodenreform werden Großbauern entschädigungslos enteignet, die mehr als 100 Hektar Land besitzen. Ab Oktober werden sogenannte Sequester-Kommissionen gebildet, die darüber entscheiden, welche Betriebe beschlagnahmt und enteignet werden. 5.O-Ton (Steiner ab 1:46)Politisch war das dann so, dass (…) insbesondere von zunächst der KPD und SPD und dann später der SED und den Gewerkschaften wurde sehr schnell dort eine Linie vertreten, dass man im Grunde genommen alle Großbetriebe unabhängig von der politischen Belastung enteignen wollte. ErzählerinBis 1948 sind es rund 4000 Großbetriebe, die in sogenanntes Landeseigentum, beziehungsweise Volkseigentum überführt werden. Und nun verstaatlicht in Volkseigene Betriebe umgewandelt werden. 6.O-Ton (Steiner ab 2:47)Juristisch wurde es gefasst als Volkseigentum, aber in der Umsetzung war es natürlich faktisch Staatseigentum.TC 05:19 – Monotonie, Mangel und Meckern MUSIK ErzählerNach der Staatsgründung der DDR werden es über die Jahrzehnte immer mehr Volkseigene Betriebe. Die im Laufe der Zeit in immer größere Organisationseinheiten eingegliedert werden. ErzählerinZunächst in die Vereinigung Volkseigener Betriebe, ab dem Ende der 60er Jahre in Kombinate. Dadurch entstehen gigantische Unternehmen, so wie das Kombinat Carl Zeiss Jena, zu dem in den Achtziger-Jahren 25 Betriebe gehören, in denen rund 70.000 Beschäftigte arbeiten. Erzähler1972 werden auch die letzten privaten und halbstaatlichen Firmen verstaatlicht. Was sich laut André Steiner auf das ohnehin beschränkte Warenangebot eher kontraproduktiv auswirkt: 7.O-Ton (Steiner ab ca. 10:27) … weil letztendlich wurden dadurch verschiedene Produktionen eingestellt. Diese Betriebe wurden oftmals größeren VEBs dann zugeordnet, von denen wiederum nur als Zulieferer eingesetzt, sodass man letztendlich auch ein bestimmtes Warenangebot, was von diesen kleinen und mittleren Betrieben noch angeboten, sozusagen produziert worden war, verloren hat. Also letztendlich war das eher sozusagen ein Schritt, mit denen man sich ins eigene Knie geschossen hat. ErzählerinNach der Verstaatlichung der kleinen Handwerksbetriebe und mittelständischen Unternehmen steht VEB fortan auch für „Vaters ehemaliger Betrieb“. MUSIKErzählerNicht jeder nimmt diesen Prozess hin. Es gibt durchaus Kritik und Protest gegen die Verstaatlichung der Industrie- und Handwerksbetriebe. Nicht erst in den Siebzigern. Schon das Traditionsunternehmen Carl-Zeiss Jena wird 1948 gegen den Widerstand der Belegschaft verstaatlicht: 8. O-Ton (Steiner ab ca. 9:35)Die hatten ein eigenes Rentensystem und die Zeiss-Stiftung hatte in Jena verschiedene soziale Einrichtungen betrieben. Und das war ja damals sozusagen noch etwas Besonderes. Und darum fürchteten die natürlich. Natürlich gab es auch an anderen Stellen Widerstände gegen Verstaatlichungen, gerade auch bei den kleinen und mittleren Betrieben. Aber 1972 entstand ein solcher politischer Druck, dass letztendlich alle es gab gar keine Möglichkeit also, sich dem dann tatsächlich zu entziehen, dieser Enteignung. ATMOErzählerinDoch gerade, was die Sozialleistungen angeht, müssen sich die Beschäftigten der Kombinate oder VEB keine Sorgen machen. Viel umfassender als im Westen wird dafür gesorgt. 9.O-Ton (Steiner ab 4:18)Die Funktion der Betriebe wurde nach und nach sozusagen ausgeweitet dahingehend, dass eben doch viele Sozialfunktionen den Betrieben übertragen wurden. Also das fängt an bei Betriebspolikliniken oder Kindergärten und hörte im darauf bei Ferienlager oder anderen Erholungsobjekten auf, die zu einem nicht geringen Teil tatsächlich dann innerhalb der Industrie mit angesiedelt waren.ErzählerDie Beschäftigten der kleineren Betriebe müssen sich außerhalb des Betriebes selbst um Kinderbetreuung oder Krankenversorgung kümmern. Eine Poliklinik oder Kantine haben allerdings nur die Großbetriebe zu bieten.TC 09:06 – Viele Angebote - wenig Freizeit MUSIKErzählerinDie Volkseigenen Betriebe bieten nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz und Sozialleistungen, sondern organisieren auch die Freizeit der Beschäftigten. Dank zahlreicher Kulturangebote vom Literatur- bis zum Fotozirkel können die Arbeitenden ihren Hobbys mit Kollegen nachgehen. Anna Kaminsky: 10.O-Ton (Kaminsky ab 2:00)Also zumindest die größeren Betriebe organisierten auch das Kulturleben mit Theaterbesuchen, mit Konzertbesuchen, mit ja Angeboten für die Belegschaft, was Sportgymnastik, vielleicht Singegruppen und so weiter betroffen hat. MUSIK ErzählerBetriebseigene Polikliniken, Kindergärten und - krippen, Ferienlager, Handballmannschaften, Singegruppen und regelmäßige Betriebsvergnügen mit der Belegschaft. ErzählerinDas klingt nach einem Angebot, an das man sich gewöhnen könnte. Die Betriebe haben aber nicht nur das Wohlbefinden ihrer Beschäftigten im Sinn, sondern wollen auch ein Umfeld schaffen, in dem möglichst produktiv gearbeitet werden können soll. ErzählerTrotz allgemein bekannter Widrigkeiten, dass Maschinen immer wieder ausfallen und erst Stunden oder Tage später repariert werden können. Oder Material nicht lieferbar ist und die Beschäftigten oft stundenlang zum Nichtstun verdammt sind. 11.O-Ton (Kaminsky ab 23:39)Aber ansonsten war ja der Arbeitsalltag in der DDR sehr, sehr hart. Also viele Betriebe haben um sechs oder 06:30 Uhr mit der Arbeit begonnen. (…) Das heißt, die Leute mussten in der Regel um fünf aufstehen, um rechtzeitig im Betrieb zu sein. Wenn sie Kinder hatten, mussten die Kinder ja vorher in die Betreuungseinrichtungen gebracht werden. Und dann betrug der Arbeitstag oft bis 16:30 Uhr, 16:45 Uhr also auch sehr lange. Und bis man dann aus dem Betrieb raus war und vielleicht noch einkaufen gehen musste - insbesondere die Frauen mit ihrer doppelten Schicht. Wenn die dann endlich zu Hause waren, waren die natürlich auch kaputt und fertig. (…) Das ergibt eine Umfrage unter Frauen aus der DDR aus den 1980er-Jahren. Und da werden die gefragt, was ihr liebstes Hobby ist - und es sagt eine große Mehrzahl der Frauen: Schlafen. ErzählerFür die Frauen beginnt nämlich nach Dienstende die so genannte Mutti-Schicht, in der sie sich vorwiegend alleine um den Haushalt und die Kinder kümmern. TC 11:34 – Die Ära Honecker MUSIK ErzählerinNach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker steigt der Anteil der staatlichen Industriebetriebe in der DDR auf 99 Prozent. Erich Honecker verfolgt zunächst als Erster Sekretär, dann als Generalsekretär des SED-Zentralkomitees eine etwas andere Wirtschaftspolitik, als sein Vorgänger. ErzählerIn der Ära Honecker wird mehr Wert auf die Konsum- und Sozialpolitik gelegt. Um die Wertschätzung für den „einfachen Arbeiter“ zum Ausdruck zu bringen. Auf dieser Grundlage sollen nicht nur die Lebensbedingungen für die Beschäftigten verbessert, sondern auch die Produktivität gesteigert werden. So das Kalkül. Das nicht ganz aufgeht. André Steiner: 12.O-Ton (Steiner ab (28:50)Letztendlich hat sich tendenziell gerade in den 60er-Jahren schon der Lebensstandard deutlich verbessert und in den 70er-Jahren auch noch. Das bröckelt dann ab Ende der 70er-Jahre, weil da wird nach und nach klar, dass die eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten jetzt überschritten sind, und auch mit der Verschuldungskrise Anfang der 80er-Jahre geht das dann mehr oder weniger in Stagnation über. Und das Problem ist dann eben, dass man sich nicht dazu durchringen kann, an dieser Politik jetzt irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Also das berühmteste Beispiel sind immer die Preissubvention, die ja Ende der 50er-Jahre bei der Abschaffung der Lebensmittelkarten eingeführt wurden. Und die Preise, die damals für Grundnahrungsmittel festgelegt worden waren, die blieben bis zum Ende der DDR so. MUSIK ErzählerinDie Arbeiterinnen und Arbeiter stehen in der Hierarchie der Betriebe ganz unten. Vor ihnen kommen vom Direktor abwärts über die Fachdirektoren jede Menge andere Menschen, die mehr zu melden haben als sie. André Steiner: 13.O-Ton (Steiner ab 14:40)Es gab die Meister-Bereiche dann unten auf der Ebene der praktischen Fertigung. Und innerhalb der Meister Bereiche gab es dann wiederum die sogenannten Brigaden. Und da gab es einen Brigadier, der die geleitet hat, und in denen waren die Beschäftigten dann faktisch organisiert. Die Parteileitung, das ist jetzt wiederum dann abhängig, wie groß das jeweilige Unternehmen war. Es gab ja große Unternehmen wie Leuna beispielsweise, die hatten ja eine eigene SED-Kreisleitung. Also da war dann sehr viel Einfluss der SED dann von vornherein auch gegeben. In dieser Kreisleitung war dann natürlich auch wieder der Betriebsdirektor, der saß da auch mit drinnen. Also das war wechselseitig miteinander verflochten.TC 14:15 – Entscheidungen treffen andere ErzählerDas Mitspracherecht der Beschäftigten in den Betrieben hält sich sehr in Grenzen. Auch, wenn sie formaljuristisch als Volk die Eigentümer sind: Die Entscheidungen treffen andere. Anna Kaminsky: 14.O-Ton (Kaminsky (ab ca. 34:25)Die DDR war ja zentralistisch organisiert, dass viele Entscheidungen einfach in Berlin, in irgendeinem Ministerium oder im Staatsrat oder im Politbüro der SED getroffen worden sind. Und das wurde dann in Anführungsstrichen nach unten durchgestellt und kam dann in den Betrieben an. Und die Betriebe kriegten dann irgendeine Norm vorgesetzt oder irgendeinen Plan, den sie erfüllen sollten und wussten angesichts der maroden technischen Infrastruktur, des Materialmangels auch des Arbeitskräftemangels wussten sie teilweise überhaupt nicht, wie sie das hinkriegen sollten. Also ich denke, da gab es relativ wenig Mitspracherecht. MUSIKErzählerinDennoch tun sich Möglichkeiten auf, die Stimme zu erheben und dabei weder ignoriert, noch sanktioniert zu werden. 15.O-Ton (Kaminsky ab ca. 35)Aber was immer wieder erzählt wird, ist, dass dieses Rummotzen, dass das schon sehr stark war, und natürlich war das auch ein Druckmittel. Weil natürlich wollte die Staats- und Parteiführung, die sich ja selber als Vertreterin des Arbeiter- und Bauernstaates deklariert hatte, die wollten natürlich das Wohlwollen der Arbeiterschaft, also zum einen, weil sie um ihre Macht fürchteten, aber zum anderen, weil sie natürlich auch von sich überzeugt waren: Aber wir wollen doch nur das Beste für das Volk, (…) aber letztlich wurde das Volk gar nicht gefragt, was es eigentlich will. MUSIK ErzählerEin Volk, das sich im Laufe der SED-Diktatur mit den Gegebenheiten zufrieden gibt und versucht, innerhalb der bürokratischen Planwirtschaft und zunehmenden Mangelwirtschaft zurecht zu kommen.ErzählerinVerbunden durch einen großen sozialen Zusammenhalt, der von Zeitzeugen immer wieder beschrieben wird. Viele erinnern sich im Rückblick auch daran, dass Konflikte offen unter Kollegen ausgetragen wurden und es so etwas wie Mobbing nicht gab. ErzählerDabei litten durchaus Menschen darunter, von ihren Kolleginnen und Kollegen regelrecht geschnitten zu werden. 16.O-Ton (Kaminsky ab ca. 48:00)Diejenigen, die aus vielerlei Gründen aus dieser Gemeinschaft ausgestoßen wurden, die wurden ja auch mit einer unglaublichen Härte behandelt, Also wenn man sich anschaut, diejenigen, die dann in den 80er-Jahren oder auch in den 70er-Jahren gewagt hatten, einen Ausreiseantrag zu stellen, wie die in den Betrieben isoliert worden sind. Wir würden heute sagen, dass war Mobbing, was mit ihnen passiert ist. Das will ja heute auch kaum noch jemand auch thematisieren oder sich daran erinnern, wie ist eigentlich mit denen umgegangen worden, die angeblich außerhalb dieser sozialistischen Menschengemeinschaft gestellt worden sind. Also ich denke ja. Die DDR-Vergangenheit wird immer schöner, je länger sie zurückliegt.TC 17:26 – Und nach der Wiedervereinigung? MUSIKErzählerinDie Wiedervereinigung Deutschlands und damit verbundene Einführung der Marktwirtschaft bedeutet das Ende der Volkseigenen Betriebe. Ab dem Sommer 1990 gehen rund 8500 VEB mit etwa vier Millionen Beschäftigten in das Portfolio der Treuhandanstalt. ErzählerDie nun beginnt, die Betriebe in Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Aufbau - also GmbH i.A. - umzuwandeln. Für die Menschen, die im Arbeitsalltag der DDR eine verlässliche Stelle und ein festes Gehalt hatten, ändert sich damit alles. ErzählerinDenn nun verlieren sie größtenteils nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihren Lebensmittelpunkt. Ein Trauma, das sich tief ins kollektive Gedächtnis gräbt. André Steiner: 17.O-Ton (Steiner ab ca. 36:30)In den 90er-Jahren war das natürlich ein totaler Bruch (…) Es war ja der überwiegend größte Teil der ehemaligen DDR Bevölkerung, die Job-Veränderungen dann plötzlich erlebt haben. Was vorher im Grunde genommen nur in sehr begrenztem Maße stattfinden konnte. Und das war natürlich schon noch dazu, wie es abgelaufen ist zum Teil, oder wie es zumindest wahrgenommen wurde, dass es abgelaufen ist, war das natürlich schon traumatisch. Und also diese Erinnerung an die 90er-Jahre spielt, da glaube ich die entscheidende Rolle. Und vor dieser Folie wiederum wird dann natürlich schnell auch sozusagen der DDR Hintergrund idealisiert. ErzählerDie Treuhand wird zum Buhmann für alles, was in der Wahrnehmung der Menschen im Osten zu Beginn der deutschen Einheit nicht rund läuft. Teilweise zu Unrecht, wie Anna Kaminsky meint: 18.O-Ton (Kaminsky ab 42:09 )Und natürlich wird den Mitarbeitern der Treuhand da auch Unrecht getan. Also zum einen ist die Treuhand ja keine West Erfindung. Die hat noch die letzte DDR-Regierung so eingesetzt, auch um eben dieses Volksvermögen die volkseigenen Betriebe wieder zu reprivatisieren, auch weil man wusste, die planwirtschaftlichen Strukturen, die sind nicht konkurrenzfähig, die sind nicht marktfähig. Und das, was die DDR sich an Wirtschaftsinfrastruktur gehalten hat, das sagen ja auch die geheimen Analysen des Politbüros, das war nicht marktfähig. (…ab ca. 45:30) Jenseits dessen, dass das, was da passiert ist, eben doch für einen Großteil der Menschen aus der ehemaligen DDR wirklich traumatisch war und traumatisierende Folgen hatte. ErzählerinBis heute wirkt das Trauma, den Arbeitsplatz und damit auch den sozialen Lebensmittelpunkt verloren zu haben, bei vielen nach. Bei einigen offenbar mehr, als die Erleichterung, nach dem 9.November 1989 nicht mehr in einer Diktatur leben zu müssen. ErzählerFür Anna Kaminsky gibt es viele Gründe für diese Form der Erinnerungskultur. 17.O-Ton (Kaminsky ab ca. 47:30)Also da werden auch Dinge beschworen, die viele von uns so wahrscheinlich gar nicht in der DDR in dieser Form erlebt haben. (…) Wenn man sich die Umfragen anschaut. 1990 sagt eine ganz große Mehrheit der DDR-Bürger das Leben in der DDR war unerträglich. Die Überwachung, die Bespitzelung, diese Unfreiheit, was man mitbekommen hat, wie mit anderen umgegangen wurde. Das war schlimm. Und je länger die DDR zurückliegt, (…) umso mehr tritt das in den Hintergrund. (…) Und ich glaube, das war ja für viele Menschen, die in den 1990er-Jahren gesehen haben, wie die Industrien zu zugrunde gegangen sind, die Betriebe geschlossen haben. Da hängt ja ganz viel dran. Wenn die Betriebe geschlossen haben, gab es keine Steuereinnahmen für die Kommunen mehr. Dann wurde die Kinderbetreuung schwierig. Wenn es keine Kinderbetreuung gab, war es schwierig, dass Frauen arbeiten gehen konnten. Dann wurde die Verkehrsanbindung ausgedünnt. Also es ist ja auch mit einer Form von Isolation und Isolierung verbunden gewesen, nicht nur im Infrastrukturbereich, sondern auch im sozialen Bereich, auf das niemand in dieser Form vorbereitet war. (…) MUSIKTC 21:50 - Outro
undefined
Oct 4, 2024 • 21min

AUFERSTANDEN AUS RUINEN - Die Gründung der DDR

Fünf Monate nach der Gründung der BRD wird am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Dass sich mit der DDR ein eigener Arbeiter- und Bauernstaat entwickeln würde, ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nicht absehbar. Von Ulrike Beck (BR 2019)Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann Technik: Robin Auld, Regina Stärke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Ulrich Mählert, Anita Möller Linktipps: ARD History (2024): 1949 in Ost und West – Zwei Familien und ihre Träume Als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in Bonn verabschiedet wird, ist in Bremen große Wäsche. Und in Petriroda wird am 7. Oktober 1949, dem Tag der Gründung der DDR, aus Strohsäcken eine Matratze gemacht. Mit Momentaufnahmen des Jahres 1949 aus dem Leben zweier Familien begleitet "1949 in Ost und West" Maria Bastille und Jördis Krey bei ihrer persönlichen Spurensuche, wie es ihren Familien 1949 ergangen ist – einem Jahr, das für die Deutschen die wichtigste Zäsur für viele Jahrzehnte sein wird: die Teilung in zwei deutsche Staaten vor 75 Jahren. JETZT ANSEHEN rbb (2024): Zwischenzeiten – Eine Familiengeschichte der Wendejahre Die wilden Jahre in Berlin, die späten 80er und beginnenden 90er Jahre sind auch für die Wozniaks und die Konrads entscheidend – zwei Familien in Ostberlin, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Jana stammt aus einer Funktionärsfamilie, Frank aus einer Handwerkerfamilie mit Privatbetrieb. Die einen profitierten vom SED-System, die anderen litten darunter. Trotzdem heiraten Jana und Frank am 9.11.1989 – am Tag des Mauerfalls. Sie erleben die Wende und den ersten Jahren im wiedervereinigten Deutschland: Alles ist neu, eine Zeit der Krisen und Hoffnungen. ZUM HÖRSPIEL Archivradio (2023): Gründung der DDR 7.10.1949 | Am 7. Oktober 1949 wird aus der sowjetischen Besatzungszone die DDR. Dazu wird in der Ost-Berliner Wilhelmstraße die provisorische Volkskammer ins Leben gerufen, provisorisch, weil die Wahlen erst im Folgejahr stattfinden sollten. Wichtigster Redner an diesem Gründungstag der DDR ist Wilhelm Pieck. Er ist zusammen mit Otto Grotewohl Vorsitzender der SED und wird an diesem Tag Präsident der DDR. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 - IntroTC 02:54 – Enteignungen, Verurteilungen und andere ReformenTC 07:39 – Anita Möller: Eindrücke einer ZeitzeuginTC 10:45 – Die Sozialistische Einheitspartei DeutschlandsTC 13:52 – Alltag NachkriegszeitTC 16:05 – Ein „antifaschistisch-demokratischer Neuanfang“?TC 20:30 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - Intro 1.O-Ton: (Wilhelm Piek) (frei verwendbar)Auf der Grundlage der vom 3. Volkskongress bestätigten Verfassung ist in der deutschen Hauptstadt Berlin einmütig von allen Parteien und Massenorganisationen im deutschen Volksrat die Deutsche Demokratische Republik geschaffen worden ErzählerWilhelm Pieck verkündet am 7.Oktober 1949 im großen Festsaal des früheren Reichsluftfahrtsministeriums die Gründung der DDR. Musik Vier Tage später wählt ihn die Provisorische Volkskammer, das Parlament der DDR, zum Präsidenten des neuen Staates. Ministerpräsident und damit Staatschef wird der frühere Sozialdemokrat Otto Grotewohl. ErzählerinDass sich vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwei deutsche Staaten entwickeln würden, ist 1945 nicht absehbar. Nach der Kapitulation des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht übernehmen ab dem 5. Juni die vier Siegermächte die Regierungsgewalt in Deutschland. ErzählerDeutschland soll entnazifiziert, demokratisiert und entmilitarisiert werden. Es soll dafür gesorgt werden, dass niemals wieder eine militärische Bedrohung von diesem Land ausgeht. Darauf einigen sich der amerikanische Präsident Harry Truman, der sowjetische Regierungschef Josef Stalin und der britische Premier Winston Churchill am 2.August 1945 mit dem „Potsdamer Abkommen“. Musik ErzählerinJosef Stalin scheint es mit dem demokratischen Aufbau seiner Besatzungszone eilig zu haben. Noch bevor er das Potsdamer Abkommen unterzeichnet, lässt die Sowjetische Militäradministration SMAD als erste Siegermacht in ihrer Zone wieder Parteien zu. Bis Juli gründen sich KPD, SPD, CDU und die Liberal-Demokratische Partei LDP. ErzählerDie vier Parteien bilden zusammen die „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“, die als Block politische Beschlüsse nur einstimmig fassen dürfen. Ein Novum in der deutschen Parteiengeschichte. ErzählerinWelche Strategie Stalin mit seiner Besatzungspolitik in der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone, verfolgt, erklärt der Historiker und Autor Ulrich Mählert. Er ist Referent bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und einer der profiliertesten Kenner der DDR-Geschichte: TC 02:54 – Enteignungen, Verurteilungen und andere Reformen 2.O-Ton ( Mählert ab 3:04)Die Sowjetunion hatte auf der einen Seite das Ziel, maximale Reparationsleistungen aus dem Land zu bekommen, weil die deutsche Wehrmacht das eigene Land verwüstet hatte. Auf der anderen Seite hatte man anfangs den Versuch unternommen, politische Strukturen zu schaffen, die für ganz Deutschland gelten sollten und auch mit dem Ziel, den Einfluss der Kommunisten in ganz Deutschland sicherzustellen. Atmo & Musik ErzählerUm dieses Ziel zu erreichen, wird noch während der letzten Kriegswochen KPD-Funktionär Walter Ulbricht zusammen mit anderen deutschen Kommunisten aus seinem Moskauer Exil nach Berlin eingeflogen. Ulbricht ist als Leiter der KP-Gruppe Berlin gut auf seinen Einsatz im Nachkriegsdeutschland vorbereitet. Sein Auftrag ist klar: Er soll die Vorherrschaft der kommunistischen Partei in der sowjetisch besetzten Zone ebnen. 3.O-Ton ( Mählert ab 7:35)Walter Ulbricht war der Mann Moskaus, der eigentliche Organisator, der eigentliche Macher in der Kommunistischen Partei und in dem sich entwickelnden politischen System der SBZ. (…) Und Ulbricht war der Funktionär, der alle anderen Funktionäre kannte. Der Personalpolitik betrieb, der das Vertrauen der Sowjets hatte, und er hat im Prinzip bis ja Ende der 60er Jahre bis Anfang der 70er Jahre weitgehend unumstritten geherrscht. Musik ErzählerinAb September 1945 beginnt die SMAD mit wichtigen Strukturveränderungen innerhalb der SBZ. Mit der Bodenreform werden Großbauern entschädigungslos enteignet, die mehr als 100 Hektar Land besitzen. Im Oktober tritt die Schulreform in Kraft - mit dem Ziel, alte Bildungsprivilegien zu überwinden. Ab dem Sommer 1946 werden unter der Losung „Enteignung der Kriegsverbrecher“ Betriebe entschädigungslos verstaatlicht. Musik ErzählerDie SMAD beginnt schon wenige Wochen nach Kriegsende, nicht nur NS-Verbrecher massenweise in Speziallager wie Buchenwald, Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen und Sachsenhausen zu internieren. 4.O-Ton: (Mahler ab ca 11:25)Das waren häufig auch ehemalige deutsche Konzentrationslager. Da sind selbstverständlich viele Funktionsträger des NS-Systems gelandet. Da landeten aber auch ab Sommer 1945 oppositionelle Kommunisten, oppositionelle Sozialdemokraten, bürgerliche Demokraten, die irgendwie auffielen, die denunziert wurden, die im Weg standen. Und das setzte sich fort. Es gab sowjetische Militärtribunale, die bis Anfang der 1950er Jahre Deutsche im Schnellprozess zu teilweise Jahrzehnten Lagerhaft verurteilten, teilweise zum Tode verurteilten. Es wurden dann auch Tausende von Gefangenen in die Sowjetunion in den Gulag transportiert. ErzählerinEs sind über 50.000 Menschen, die Folter und Hunger in den Speziallagern der SBZ nicht überleben. Mehr als 20.000 werden bis 1947 in die Sowjetunion verschleppt und dort teilweise umgebracht. ErzählerTrotz der öffentlich inszenierten Schauprozesse nimmt die Bevölkerung an dem Schicksal der Verurteilten wenig Anteil. Was daran liegt, dass - genau wie in den westlichen Besatzungszonen - auch die Nachkriegsgesellschaft in der SBZ in erster Linie damit beschäftigt ist, zu überleben. Ulrich Mählert: 5.O-Ton ( Mählert ab ca. 14:10)Die lebten in einem kriegszerstörten Land. Es gab Zuzugssperren. (…) alles war reglementiert. Man war froh, wenn man ein Dach überm Kopf hatte, Frauen warteten auf die Heimkehr ihrer Männer aus der Kriegsgefangenschaft. Es gab Millionen von Flüchtlingen aus den vormaligen deutschen Gebieten des Ostens, die praktisch in der SBZ erst mal Halt gemacht hatten Man war so beschäftigt mit dem Überleben, mit der Frage: Was soll ich essen?  (…) Da hat man da zum Teil der Frage der Politik auch überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt . (…) und dann greift natürlich so ein Gedankengang: Die Leute, die da verhaftet werden, die werden sich schon irgendwas haben zuschulden kommen lassen und ich denke, es gab ja auch keine Massenemigration aus dem Nationalsozialismus, sondern Leute sind gegangen und geflohen, die unmittelbaren Verfolgungsdruck verspürt hatten und so ähnlich war es natürlich auch in der SBZ. ErzählerinZumal die Bodenreform unter der Losung „Junkerland in Bauernhand“ in weiten Teilen der Bevölkerung äußerst populär ist. Schon weil ein Teil des enteigneten Agrarlandes in den Besitz von über 500.000 Landarbeitern, Kleinbauern und Flüchtlingen übergeht. Es gibt also in Zeiten des Wiederaufbaus nicht nur Verlierer, sondern viele Gewinner. TC 07:39 – Anita Möller: Eindrücke einer Zeitzeugin Musik ErzählerAußerdem sorgt die sowjetische Besatzungsmacht als erste Siegermacht dafür, dass es auch wieder ein kulturelles Leben gibt. Zwei Monate nach Kriegsende existieren im Ostsektor Berlins wieder Theater, Symphonieorchester, Opernensembles und Kabaretts. 6.O-Ton: ( Mählert ab 17:51)Es gab einen anfänglich unglaublich hoffnungsvollen kulturellen Aufbruch. Viele Migrantinnen und Migranten, die praktisch vom Nationalsozialismus in alle Welt geflohen sind, sind in die SBZ zurückgeholt worden, sind dorthin gegangen, hatten dort auch ein kulturelles Leben entfaltet, was auch beispiellos war.  Musik ErzählerinEin kleiner Lichtblick an Normalität für die Nachkriegsgesellschaft, die mit sowjetischen Besatzungssoldaten konfrontiert sind, die berüchtigt dafür sind, brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgehen. Anita Möller blickt zurück: 7.O-Ton: ( Möller ab 8:22)Ich erinnere mich nur, dass wir Angst hatten vor denen. Es hieß, die brechen ein und stehlen und vergewaltigen. Das waren halt die Dinge, die man so gehört hat im Umfeld. Also man hatte einfach Angst vor denen. Später wurde das dann anders. Als ich dann 14, 15, 16 Jahre alt war, haben wir dann Russen kennengelernt, die – wie sag ich das jetzt - sehr nett waren. ErzählerAnita Möller ist bei Kriegsende fünf Jahre alt. Sie hatte erlebt, dass eine Brandbombe ihr Elternhaus in Dresden zerstörte. Die Familie flüchtete nach Österreich. 1947 fällt der Entschluss, nach Deutschland zurückzukehren - nach langer Diskussion zwischen den Eltern: Es geht zurück in die SBZ und nicht nach Köln, in die Heimatstadt der Mutter. Atmo ErzählerinEiner der Gründe für die Entscheidung ist ein Anruf aus Dresden: 8.O-Ton: ( Möller ab 2:28)Das war ein enger Freund meiner Eltern. Seine Frau (…) war meine Patentante. Und die beiden waren so, wie ich das nenne, Uralt-Kommunisten. Die hatten Parteibücher, ich glaube unter 300 waren die Nummern. Und die sagten: Hier wird es jetzt wunderbar. Der sozialistische Staat wird kommen, und hier gehört dann alles allen. Kommt doch her. Hier lässt sich viel besser leben als in Westdeutschland. ErzählerAnitas Eltern gehören zu den vielen, die sich nach der NS-Diktatur wünschen, in einem sozialistischen Staat zu leben. Es herrscht eine Aufbruchsstimmung, von der sich nicht nur in der SBZ Menschen mitreißen lassen. Der Historiker Ulrich Mählert: 9.O-Ton ( Mählert ab 18:16)Es gab insgesamt eine Linkswende in ganz Europa. Sie müssen sich in Erinnerung rufen: 1945 wird Winston Churchill abgewählt und Clement Attlee folgt als Labour Premierminister. (…) „Nach Hitler kommen wir“ war der Slogan der Kommunisten und viele Menschen waren davon überzeugt, dass jetzt praktisch eine sozialistische, kommunistische, sozialdemokratische Zukunft anbricht.TC 10:45 – Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Musik ErzählerinDoch gab es jemals die Chance, dass aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges ein sozialistischer Staat hervorgeht, so wie ihn sich Anita Möllers Eltern und viele andere herbeisehnen und keine neue Diktatur? Schon 1946 ist der erste Schritt bereits getan, der den Weg der SBZ in die spätere DDR-Diktatur ebnet. Durch die Vereinigung von SPD und KPD zur sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED. Musik ErzählerDie Idee, die Spaltung der Arbeiterklasse zu überwinden und sich zu einer gemeinsamen gleichberechtigten Einheitspartei zusammen zu schließen, kommt ursprünglich von der SPD. Die KPD weigert sich zunächst, ändert aber auf Druck der sowjetischen Besatzungsmacht ab dem Herbst 1945 ihren Kurs. ErzählerinNach dem schlechten Ergebnis der Partei bei den Wahlen in Österreich und Ungarn soll sich die KPD nun mit der SPD zusammenschließen, dabei aber die Führungsrolle übernehmen. So ist es der Wunsch der sowjetischen Besatzungsmacht. Otto Grotewohl, Vorsitzender des Zentralausschusses der Ost-SPD lässt sich wie viele andere Sozialdemokraten darauf ein. 10.O-Ton ( Mählert ab 6:25)Zum einen gab es sicherlich auch viele Sozialdemokraten, die davon überzeugt waren, dass die sozialdemokratischen Funktionäre auf allen Ebenen, die ja einen ungeheuren Rückhalt innerhalb der Arbeiterschaft und der Otto-Normalverbraucher-Bevölkerung hatten, die Kommunisten letztlich an die Wand spielen würden. Dann gab es persönlichen Druck. Es gab Überredungen, Schmeicheleien Versprechungen. (…) In dieser Gemengelage (…) ist man dann den Weg gegangen. ErzählerAm 21. April 1946 besiegeln KPD-Chef Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Nicht nur Pieck und Grotewohl teilen sich den Parteivorsitz, sondern auch alle anderen wichtigen Ämter werden innerhalb der SED zunächst paritätisch besetzt. Eine Regelung, die bis 1948 gilt. Musik ErzählerinBei den folgenden Landtagswahlen im Herbst 1946 rächt sich, dass die SED in der Bevölkerung als „Russenpartei“ verschrien ist, deren Funktionäre die Demontage der Industrieanlagen durch die Sowjetunion als gerechte Entschädigung der Besatzer darstellen. Die Wähler und Wählerinnen entscheiden, dass die SED in keinem der fünf Länder die absolute Mehrheit erreicht. ErzählerDessen ungeachtet setzt die Partei wesentliche Pflöcke in Richtung künftiger Kontrollstaat. Im Dezember 1946 wird mit der „Deutschen Verwaltung des Inneren“ ein zentrales Innenministerium für die SBZ aufgebaut. Auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht entsteht darin der Grundstein für den künftigen Überwachungsapparat: die politische Polizei, die sich im Laufe der Zeit zum Führungsorgan der fünf Länder der SBZ entwickelt. Eine besondere Aufgabe kommt darin der Abteilung Kriminalpolizei 5, auch Kommissariat 5 genannt, zu. Einem Vorläufer des Ministeriums für Staatssicherheit.TC 13:52 – Alltag Nachkriegszeit Musik ErzählerinWährenddessen versucht die Gesellschaft in der zerstörten SBZ - wie Millionen von anderen Menschen in der Nachkriegszeit, ihr Leben neu zu organisieren. 11.O-Ton (Möller 3:37)Wir sind ganz am Anfang in das Mietshaus, in dem meine Tante wohnte. Oben unterm Dach gab es ein Zimmer, und da (…) wohnten wir dann zu sechst. Das war sehr eng und dunkel und schäbig, das weiß ich noch, aber (…) man hat es hingenommen. Es ging ja allen schlecht. Keiner hatte irgendetwas. Deshalb war das auch nichts Besonderes.  ErzählerAuch wenn Anita Möllers Vater als Bauingenieur schnell wieder Arbeit findet, ist der Alltag der Familie davon bestimmt, sich etwas zu essen zu beschaffen. 12.O-Ton (Möller ab 12:10)Meine Mutter ist damals - (…) Die ist immer über die sogenannte grüne Grenze gegangen nach Westdeutschland hamstern. Die gingen da rüber mit einem Rucksack durch den Wald in der Nacht auf die andere Seite und (…) hat Essen geholt und dann zurück nach Hause gebracht. Musik ErzählerinIn aller Not lässt es die SED-Führung am Freizeitprogramm für Kinder- und Jugendliche nicht mangeln. Gleich nach Kriegsende gründet Erich Honecker den Jugendausschuss für die Ostzone, aus dem ein Jahr später die Jugendorganisation FDJ entsteht. ErzählerDarüber hinaus wird im Dezember 1948 die sozialistische Kinderorganisation gegründet: der Verband der jungen Pioniere. In dem die sechs- bis 13-jährigen lernen sollen, sich nicht selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern das Kollektiv. Die Vorsitzende der Jungen Pioniere ist Margot Feist, spätere Honecker. ErzählerinAuch Anita Möller geht mit acht Jahren zu den Jungen Pionieren. 13.O-Ton (Möller ab ca. 5:20)Das fand ich damals ganz toll mit diesen gleichaltrigen Kindern in verschiedenen Gruppen zu spielen, zu arbeiten und dieser Zusammenhalt. (…) Später als ich 13, 14 Jahre alt war und die Zukunft so aussah, dass die Nachfolgeorganisation dann die FDJ Freie Deutsche Jugend sein wird. Da bin ich dann nicht mehr eingetreten.   TC 16:05 – Ein „antifaschistisch-demokratischer Neuanfang“? Musik ErzählerWährend Anita noch begeistert zu den Treffen der Jungen Pionieren geht, hat sich das Verhältnis der drei Westmächte zur UdSSR merklich abgekühlt. Ost und West sind längst auf dem Weg in den Kalten Krieg. ErzählerinBereits im März 1947 gibt US-Präsident Harry Truman mit der „Truman-Doktrin“ als neues Ziel der amerikanischen Außenpolitik vor, freie Völker in ihrem Kampf gegen Totalitarismus künftig zu unterstützen. ErzählerIm Sommer 1947 legt die USA den Marshall-Plan vor. Das Milliarden-Dollar-schwere Wiederaufbauprogramm soll auch in der SBZ gelten. Doch Stalin geht diesen Weg nicht mit. Genau so wenig wie die Währungsreform, die in den westlichen Besatzungszonen am 20. Juni 1948 in Kraft tritt. ErzählerinStatt der D-Mark wird wenige Tage später in der SBZ die Ostmark eingeführt. Und ab Ende Juni die Planwirtschaft. Ulrich Mählert: 14.O-Ton: (Mählert 24:09)Das war eine Planwirtschaft, die einerseits darauf ausgerichtet war, Güter für die Sowjetunion zu produzieren und andererseits war das auch ganz stark darauf ausgerichtet, die Schwerindustrie aufzubauen, die man in Ostdeutschland nicht hatte. (…) Und insofern war praktisch das ein nachholendes Industrialisierungsprogramm mit dem Versprechen nach dem Motto „So wie ihr heute arbeitet, werdet ihr morgen leben“. Und gleichzeitig blieben Lebensmittel rationiert und die Menschen haben ja nichts von den versprochenen Wohltaten des Sozialismus erkennen können. ErzählerAnders als die Parole vom „antifaschistisch-demokratischen Neuanfang“ glauben machen sollte, verwandelt sich die SED ab dem Frühsommer 1948 zur marxistisch-leninistischen Kaderpartei: 15. O-Ton Mählert ( ab 9:50)Das war wirklich so eine Phase, in der überall politische Opposition ausgeschaltet worden sind. Innerhalb der SED wurden die Sozialdemokraten aus ihren Funktionen gedrängt. Man hat die christdemokratische Partei, die liberaldemokratische Partei da rigoros gleichgeschaltet. Massenorganisationen wie die Freie Deutsche Jugend, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, die bis zu dem Zeitpunkt noch Fragmente von Pluralität in ihren Führungsgremien hatten, wurden Schritt für Schritt in den Statuten, in ihrer Organisationsform auf Linie gebracht. Die Planwirtschaft, der Wirtschaftsplan wurde neu aufgelegt und das ist dann praktisch eine Verschärfung des politischen und ökonomischen Transformationsprozesses. Musik ErzählerinAls Reaktion darauf, dass die Westalliierten am 20.Juni 1948 auch in ihren drei Sektoren Berlins die D-Mark einführen, lässt Stalin alle Land- und Wasserwege in die alte Reichshauptstadt blockieren. ErzählerDamit sind mehr als zwei Millionen Menschen in den Westsektoren Berlins fast ein Jahr lang eingeschlossen. Um sie zu versorgen, beginnt unter Führung von US-Generalgouverneur Lucius D. Clay am 24.Juni 1948 die Berliner Luftbrücke. Atmo SprecherMehr als 500 amerikanische und britische Transportmaschinen bringen bis zum 12. Mai 1949 Lebensmittel und Kohle nach Berlin. Sie fliegen über einen breiten Luftkorridor und landen schließlich im Zweiminuten-Takt an den Flughäfen Tempelhof, Gatow und Tegel.  Es sind am Ende 1,8 Millionen Tonnen Nahrung, Kohle und Industriegüter, dank denen die Westberliner die Blockade überleben. ErzählerinStalins Kalkül, wenn schon nicht ganz Deutschland, so wenigstens Berlin unter seine Kontrolle zu bringen, geht nicht auf. Stattdessen tritt am 23. Mai das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Nur 12 Tage nach der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler erteilt Josef Stalin schriftlich seine Zustimmung, einen zweiten deutschen Staat zu gründen: die Deutsche Demokratische Republik. ErzählerAnita Möller ist damals neun Jahre alt: 16.O-Ton (Möller ab ca. 17:00)Ich habe das ja alles erst sehr viel später - Ende der Fünfzigerjahre da bin ich dann auch ab und zu nach West-Berlin gefahren - gemerkt (…) dass es hier alles gab und wir so wenig hatten, aber irgendwie hat man das hingenommen. Das hat sich alles erst geändert mit dem Bau der Mauer. Da war schlagartig klar: Ich muss weg. Erzählerin:Anita Möller gehört zu den wenigen, die nach dem Bau der Mauer mit ihrer Familie durch einen Tunnel in den Westen fliehen kann. TC 20:30 – Outro
undefined
Sep 20, 2024 • 23min

INSEL-GESCHICHTEN - Ascension, die Ratten und das Paradies

Sie ist ein Experimentierfeld am Ende der Welt: die Atlantikinsel Ascension, auf halbem Weg zwischen Afrika und Südamerika. Hier entstand ab Mitte des 19. Jahrhunderts das erste künstlich geschaffene Ökosystem der Welt. Die Briten siedelten zahlreiche neue Pflanzen und Tiere an. Doch die koloniale Unterwerfung der Insel durch die Briten zeigt bis heute Schattenseiten. Von Lukas Grasberger (BR 2023)Credits Autor: Lukas Grasberger Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger, Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer Technik: Regina Stärke, Christine Frey Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: João Vitor Tossini, Dr. Nicola Weber, Prof. David Wilkinson Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Über die Tücke der ökologischen Zeitbombe Dem Klimaschutz läuft die Zeit davon: Wenn die Erderwärmung begrenzt werden soll, braucht es globale Anstrengungen, warnt der IPCC. Der Philosoph Hans Jonas entwarf bereits 1979 eine globale Umweltethik. Heute ist sie aktueller denn je. JETZT ANHÖREN ARD alpha (2021): Leben auf dem Mars? Gibt es - oder gab es Leben auf dem Mars? Und wenn ja, wie könnte dieses Leben aussehen? Die Antwort finden wir möglicherweise auf der Erde. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:17 – Eine Insel im DornröschenschlafTC 03:05 – Die steinerne FregatteTC 06:30 – Ethische Fragen der Flora und FaunaTC 10:53 – Das Problem Vögeln, Ratten und KatzenTC 14:07 – Ist da doch ein Plan(et) B?TC 22:38 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO ERZÄHLERINEine Insel irgendwo im Nirgendwo, Mitten im Atlantik. Eigentlich nur ein  größerer Felshaufen im Wasser - flächenmäßig in etwa so groß wie Würzburg. Jedoch so uninteressant, dass selbst frühe portugiesische Eroberer nur kurz einen Fuß daraufsetzten. Um fortan einen großen Bogen um das wüste Eiland zu machen. Mit diesen wenigen Worten könnte die Geschichte der Insel Ascension erzählt sein. Eigentlich. MUSIK Denn Ascension, diese Insel, auf der wahrscheinlich sechs, sieben Millionen Jahre lang so gut wie nichts passierte, seit  sie sich nach einem Vulkanausbruch über die Meeresoberfläche erhob: Diese Insel wurde in den letzten gut 200 Jahren zu einem Knotenpunkt der Weltgeschichte. Und sie sollte sich letztendlich zu einem biologischen Labor unter freiem Himmel entwickeln - das sogar Antworten auf  drängende Zukunftsfragen unserer Zeit liefern könnte. TC 01:17 – Eine Insel im Dornröschenschlaf ATMO Es ist eine Entwicklung, die keineswegs absehbar ist, als die Seefahrer João da Nova und Afonso de Albuquerque Anfang des 16. Jahrhunderts wohl als erste Menschen Ascension Island betreten. O-Ton 1  João Vitor Tossini, Politikwissenschaftler, englisch, deutsche Overvioce, Teil 1„Diese portugiesischen Seefahrer machten nur kurz Station auf Ascension – das übrigens einer Überlieferung nach so heißt, weil Albuquerque sie am Feiertag von Christi Himmelfahrt erstmals gesichtet haben soll.“ ERZÄHLERIN   ...weiß der brasilianische Politikwissenschaftler Vítor Tossini. O-Ton 1 Tossini Teil 2„Auf der Insel gab es kaum Wasser. Lebensfeindliche Bedingungen also, weshalb weder da Nova, noch ein paar Jahre später Albuquerque formale Besitzansprüche geltend machten. Die Portugiesen hatten kein Interesse daran, die Inseln bewohnbar zu machen und sie zu besiedeln.“   ERZÄHLERIN Für gut 300 Jahre fiel die unwirtliche Insel erneut in einen Dornröschenschlaf. Im 17. Jahrhundert beschrieb ein schiffbrüchiger Seemann die Insel mit den Worten: “Jeder hätte gedacht, dass der Teufel persönlich hier seine Wohnstatt genommen - und den Eingang der Hölle hierhin verlegt hat.” MUSIK ERZÄHLERIN Nicht viel schmeichelhafter äußerte sich der britische Naturforscher Charles Darwin, der 1836 zur ersten geologischen Expedition nach Ascension kam. ZITATOR„Der Tag war klar und heiß: Und ich sah eine Insel, die mir nicht in Schönheit zulächelte, sondern mich in nackter Hässlichkeit anstarrte. Die Lavaströme sind mit Hügeln bedeckt. Die Landschaft ist in einem Ausmaß zerfurcht, die sich geologisch nicht einfach erklären lässt.“  TC 03:05 – Die steinerne Fregatte ERZÄHLERINTrotz der wenig einladenden Geologie, trotz der äußerst kargen Fauna und Flora sollte Ascension doch bald interessant für die seefahrenden Nationen der Neuzeit werden. Dies lag vor allem an Napoleon. Die Briten verbannten den französischen Ex-Kaiser nach dessen letzter Kriegs-Niederlage bei Waterloo auf die Atlantikinsel St. Helena – die 1300 Kilometer entfernte Nachbarinsel von Ascension.   O-Ton 2 Tossini OV„Die Briten sagten sich: Wenn wir Napoleon nach St. Helena ins Exil schicken, dann brauchen wir eine Präsenz in der Region. Damit nicht das gleiche passiert wie in Elba, wo Napoleon zuletzt entkommen konnte.“ ERZÄHLERIN Großbritannien baute Ascension Island zu einer „steinernen Fregatte“ aus. Da es der Königlichen Marine selbst untersagt war, über Land zu herrschen, stellten die Briten Ascension tatsächlich als Kriegs-Schiff in ihren Dienst. Solche „steinernen Fregatten“, sagt Vítor Tossini, wurden im 19. Jahrhundert zu strategische wichtigen Stützpunkten, mit denen das British Empire seine Position als globale Großmacht festigte. O-Ton 3 Tossini OV„Stützpunkte wie Ascension Island waren wichtig, als es um Napoleon ging. Sie sollten etwas später eine bedeutende Zwischenstation für britische Schiffe auf dem Weg in die Kolonien, zunächst Ost-Indien, dann Südafrika werden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Ascension und St. Helena zu Häfen, die Dampfschiffe auf diesen langen Routen mit Kohle versorgen konnten.“ MUSIK ERZÄHLERINDie Lage von Ascension Mitten im Südatlantik erlaubte es Großbritannien, gleich einer Spinne die Fäden im weltumspannenden Netz der Macht zu spinnen: So beschreibt es der Experte für internationale Politik, Vítor Tossini. Mit seinen „steinernen Fregatten“ machte Großbritannien seinen Einfluss geltend – etwa für die Abschaffung des Sklavenhandels. Dies, betont Tossini, sei weniger aus christlicher Nächstenliebe oder Humanismus geschehen. Vielmehr fürchtete Großbritannien im globalen Markt um die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Produkte. O-Ton 4 Tossini OV „Großbritannien hatte Anfang des 19. Jahrhunderts den Handel mit Sklaven im British Empire abgeschafft – und drängte andere Nationen, es ihm gleichzutun. Das Parlament in Brasilien verabschiedete dazu eine Reihe von Gesetzen, um die Briten zu besänftigen. Praktisch ging der Sklavenhandel jedoch weiter. Deshalb begann Großbritannien, die Muskeln spielen zu lassen, und fing brasilianische Handelsschiffe ab – besonders solche Boote, die Sklaven transportierten. Wichtige Haltepunkte dafür waren St. Helena und Ascension Island: Mitten im Atlantik, genau zwischen Afrika und Brasilien waren sie dafür perfekt gelegen.“ ERZÄHLERIN   Ihren zuallererst militärisch-machtpolitischen Charakter hat die Insel, auf der offiziell gerade einmal 800 Menschen dauerhaft leben, bis heute behalten. Vítor Tossini: O-Ton 5 Tossini OVSPRECHER„Bis zum heutigen Tag kann niemand eine Liegenschaft auf Ascension Island erwerben, und niemand darf sich dauerhaft dort niederlassen. Man kann seinen Aufenthalt dort verlängern - aber ob das gewährt wird: Das hängt von der britischen Regierung ab.“TC 06:30 – Ethische Fragen der Flora und Fauna MUSIK ERZÄHLERINUm die karge Insel für die zeitweise dort stationierten Briten attraktiver zu machen, entwickelten zwei Biologen einen gewagten Plan. Charles Darwin und sein Kollege Joseph Hooker schlugen der britischen Marine vor, Bäume, Sträucher und andere Pflanzen nach Ascension zu bringen. Ein neues, künstlich angelegtes Ökosystem entstand, weiß Nicola Weber. Die promovierte Biologin forscht und lehrt an der der University of Exeter. Von 2013 bis 2016 war Weber verantwortlich für den Naturschutz auf Ascension.   O-Ton 6 Dr. Nicola Weber englisch, dt. OV„Schiffe brachten Flora aller Art – und aus den verschiedensten Teilen der Welt nach Ascension. Vieles kam aus Key Gardens, dem Londoner Botanischen Garten, zu dem Joseph Hooker gute Beziehungen hatte. Diese Bäume, Büsche und Blumen wurden auf dem Green Mountain, dem Grünen Hügel gepflanzt.“ ZITATOR„Nach oben hin findet man ein Dickicht von 40 verschiedenen Baumarten, daneben wachsen zahlreiche Sträucher und Obstbäume“. ERZÄHLERIN...heißt es in John Croumbie Browns Studie „Wälder und Feuchtigkeit“ aus dem Jahr 1877. Binnen weniger Jahrzehnte war also auf dem „Grünen Berg“ von Ascension üppige Vegetation entstanden. Die ursprüngliche Idee, die Versorgung der Inselbewohner mit Obst und Gemüse vor Ort zu verbessern, schien erreicht. Doch gelöst waren die Wassernöte Ascensions damit noch keineswegs. Und auch das neue Ökosystem, der frische Bergwald, der Wasser aus den Wolken kämmte, erwies sich als fragil: Die neu eingeführte Flora und Fauna bedrohte endemische, seit Langem auf der Insel heimische Tiere und Gewächse. O-Ton 7 Dave Wilkinson engl., dt. OV„Solch ein Vorgehen führt fast zwangsläufig dazu, dass man Arten ausrottet.“ ERZÄHLERIN...sagt der Ökologe Dave Wilkinson, Professor an der University of Lincoln. O-Ton 8 Wilkinson OV„Diese Begrünung von Ascension war ein Experiment, das man heutzutage wohl als unethisch ablehnen würde. Fände man unberührte Natur, dann versuchte man sicher alles zu tun, sie genauso zu erhalten. Andererseits: Dieser neu geschaffene tropische Wald war viel artenreicher als die Natur, die vorher da war. Es mag vorher 20, vielleicht 30 Pflanzenarten gegeben haben: Vor allem Gräser, Farne oder Moose. Heute dürften wir ein paar hundert Arten dort haben.“ ERZÄHLERINDas „Experiment von Ascension“ wirft – Mitten in der aktuellen Biodiversitätskrise - Fragen nach dem Preis, und dem Wert des Erhalts einzelner Arten auf. Fragen, die eher ethischer und philosophischer als biologischer Natur sind. Nicola Weber: O-Ton 9 Weber OV„Naturerhalt bedeutete für uns stets, invasive Arten loszuwerden – und einer Landschaft zu erlauben, in den Zustand zurückzukehren, bevor der Mensch sich einmischte. Hier auf Ascension hat eindeutig der Mensch diese invasiven Arten eingeführt. Müssen wir nun unsere Fehler beheben, und diese ausrotten? Oder müssen wir – als Verursacher dieses Problems – mit den Folgen leben und Wege finden, wie Fauna und Flora sich dem anpassen können?“ ERZÄHLERINMit dem Lehrbuchwissen zu Natur- und Artenschutz komme man auf Acension nicht weiter, betont die Biologin. Ein vielfältiges und ausgeglichenes Ökosystem, das resilient auf die aktuellen und kommenden Krisen reagieren kann: Dies ist demnach erstrebenswerter - als eine Insel wie etwa Ascension in einen fragilen, artenarmen Urzustand zurückzuführen. Nicola Weber hat auf Ascension Island die „friedliche“ Koexistenz einheimischer und invasiver Arten beobachtet.  O-Ton 10 Weber OV„Ja, es gibt Fälle, in denen eine invasive eine einheimische Art verdrängt hat. Es gibt hier aber auch das Beispiel, wo etwa ein invasiver Baum einer endemischen Art einen Lebensraum bietet.“TC 10:53 – Das Problem Vögeln, Ratten und Katzen MUSIK ERZÄHLERINEine solcherart friedliche Koexistenz sicherzustellen – das gelinge nicht immer, räumt die Wissenschaftlerin Weber ein. Das bekannteste Beispiel: Die Ratten, die irgendwann beim Zwischenstopp eines Segelschiffs Anfang des 18. Jahrhunderts auf die Atlantikinsel gelangt sein müssen. Ein niederländischer Seefahrer, der 1720 auf Ascension strandete, berichtete, er habe angesichts der Masse an Ratten um sein Leben gefürchtet. Die Ratten von Ascension nährten sich nicht nur von menschlichen Hinterlassenschaften. Sie dürften, so vermutet die ehemalige Konservatorin der Insel, die Landvögel auf der Insel ausgerottet haben. Und begannen dann, die Nester der Seevögel zu plündern. Nicola Weber: O-Ton 11 Weber OV„Nachdem die Ratten sich auf Ascension einmal angesiedelt hatten, begannen sie die Eier der Seevögel zu räubern, was deren Bestände dezimierte. Dies taten sie jedoch nicht in dem Ausmaß wie später die Katzen – die man eigentlich auf die Insel gebracht hatte, um die Rattenplage zu bekämpfen. Die Katzen interessierten sich aber nicht sonderlich für die Ratten, ihnen schmeckten die Vögel besser. Das sollte katastrophale Auswirkungen auf die Seevögel-Populationen haben.“ ERZÄHLERIN2001 entwickelten Vogelschützer gemeinsam mit der britischen Regierung daher einen umstrittenen Plan: Die wilden Katzen sollten getötet werden, um den Seevögeln – die sich auf Ascension vorgelagerte Felsen zurückgezogen hatten – die Rückkehr zu ermöglichen. O-Ton 12 Weber OV„Es gab lange ethische und moralische Diskussionen, eine Volksbefragung, bei der sich zahlreiche Bewohner gegen die Ausrottung der Wildkatzen aussprachen. Als man dann begann, die Tiere zu vergiften, erwischte es auf der Insel auch viele Hauskatzen: Fast 40 Prozent wurden unabsichtlich getötet. Aus Artenschutz-Perspektive war diese Maßnahme aber erfolgreich. Gleich nachdem die Wildkatzen ausgerottet waren, kehrten die Seevögel zurück. Zuerst die Maskentölpel, später eine endemische Fregattvogel-Art. Mittlerweile sind elf Seevogel-Arten zurückgekehrt, wir haben mehrere Tausend Paare, die auf der Insel nisten.“ ERZÄHLERINTrotzdem sei es schwierig, das Ökosystem im Gleichgewicht zu halten, räumt Nicola Weber ein. Bedingungen zu schaffen, in denen Vielfalt gedeihen kann – ohne dass eine Pflanze oder ein Tier ein anderes verdrängt. Sollte eine Art sich zu aggressiv ausbreiten und radikale Eingriffe nötig werden, müssten darüber nicht die Biologen, sondern die Gesellschaft als Ganzes entscheiden. O-Ton 13 Weber OV„Die Ausrottung einer Tier- oder Pflanzenart auf Ascension ist ein emotionales Thema, das die auch Interessen der Bewohner berührt. Wir haben gelernt, dass man in alle Programme zum Management dieses vom Menschen geschaffenen Ökosystems die Öffentlichkeit von Anfang an einbinden muss. Denn es kann auch schiefgehen. Vieles funktioniert hier nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. „Trial and Error“ hat eine lange Geschichte hier, es hat Ascension geprägt.“  TC 14:07 – Ist da doch ein Plan(et) B? MUSIK ERZÄHLERINDer aus „Versuch und Irrtum“ entstandene neue Nebelwald von Ascension stellt - nach Ansicht manches Experten - als gesichert geltende Erkenntnisse der Biologie auf den Prüfstand. Denn klassischerweise, sagt der britische Forscher Dave Wilkinson, werde die Frage, wie ein so komplexes Ökosystem wie am Green Mountain entstehen kann, mit „Koevolution“ erklärt. Koevolution meint einen oft lange andauernden, ausgefeilten Prozess, in dem sich zwei Arten wechselseitig aneinander anpassen – um daraus ihren Nutzen ziehen. Etwa bei Schmetterlingen und Orchideen: Eine Orchidee braucht das Insekt zur Bestäubung – und bietet diesem süßen Nektar, der allerdings in einem tiefen Blütenkelch schlummert. Schmetterlinge passten sich daran an, indem sie einen besonders langen Rüssel entwickelten, um den Nektar zu erreichen. In Summe entstünde aus solchen langwierigen, komplexen Prozessen ein neues Ökosystem, so die Theorie. Dave Wilkinson hat auf Ascension jedoch etwas ganz anderes beobachtet. O-Ton 14 Wilkinson OV„Das Ökosystem am Green Mountain wurde am Reißbrett in weniger als 50 Jahren geschaffen.  Das hat mir gezeigt, dass es vielleicht nicht immer diesen langen Prozess der Koevolution zwischen Organismen – Pflanzen und Tieren – braucht. Ascension ist eher ein Beispiel für „Ecological Fitting“. Das bedeutet, es werden Arten bunt zusammengewürfelt. Findet eine Pflanze oder ein Tier passende Bedingungen vor, überlebt es. Wenn nicht, stirbt es aus.“ ERZÄHLERINFür den Biologie-Professor Dave Wilkinson ist Ascension Island damit ein Studienobjekt, das zumindest ein wenig Hoffnung macht im Kampf gegen die Klimakrise.  O-Ton 15 Wilkinson OV„Wenn wir uns heute Sorgen darüber machen, wie lange etwa ein gerodeter Regenwald braucht, um sich zu regenerieren, dann zeigt ein Beispiel wie Ascension: Das kann unter bestimmten Umständen sehr schnell geschehen. Schnell bedeutet in diesem Zusammenhang: Eine für die Menschheit relevante Zeitspanne von ein- bis zweihundert Jahren.“ ERZÄHLERINDass einmal gerodeter Tropenwald nachwächst – dies funktioniere aber auf Grund des einfacheren Kreislaufs von Verdunstung, Kondensation und Regen mitten im Meer einfacher als etwa im brasilianischen Binnenland mit dem komplexeren Ökosystem des Amazonas. Rode man dort zu große Flächen, so trockne der Boden aus, der Wald sei unwiederbringlich verloren. MUSIK ERZÄHLERINDavid Wilkinson hält Acension für „untererforscht“, was die Potenziale der Insel anbelangt. Und er vertritt eine sehr gewagte Hypothese: Wenn es auf einer kargen Vulkaninsel Mitten im Atlantik gelingt, binnen weniger Jahrzehnte ein neues Ökosystem zu etablieren, dann könnte dies auch auch auf einem anderen Planeten gelingen. O-Ton 16 Wilkinson OV„Es handelt sich um die Idee des Terraforming, die ein wenig nach  Science-Fiction klingt. Will man einen fremden Planten wie etwa den Mars für den Menschen bewohnbar machen, dann könnte man damit anfangen, Bedingungen zu schaffen, dass das Leben auf sehr niedriger Stufe möglich wird: Wie das etwa auf der Erde der Fall war, wo es am Anfang kaum Sauerstoff gab, der dann aber dank der Photosynthese von Pflanzen zunahm, was wiederum das Wachstum neuer Vegetation ermöglicht. Eine Dynamik, die sich aus sich selbst speist. Ein Ökosystem, das sich selbst erhält und reproduziert, wie wir es auch auf Ascension beobachten konnten: Auch dort hat man es der Natur überlassen, ihren eigenen Weg zu finden.“   ERZÄHLERINDass Ascension quasi eine Blaupause für Leben auf dem Mars abgeben könnte – das ist Zukunftsmusik. Bei der Erkundung anderer Planeten, für die Raumfahrt spielte – und spielt - die Insel indes bereits eine wichtige Rolle. ATMO ERZÄHLERIN Es waren nicht die NASA-Mitarbeiter im Kontrollzentrum Houston – sondern ihre Kollegen auf Ascension Island, die 1969 die Nachricht von der erfolgreichen Mondlandung der amerikanischen Astrounauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin empfingen. Doch nicht nur bei der Erkundung des Alls, auch für die ganz weltliche militärische Eroberung und Verteidigung war Ascension Island bedeutend. Ob als Zwischenlande-Platz für Flugzeuge der Alliierten im Zweiten Weltkrieg – oder für die Logistik des britischen Militärs während des Kriegs um die Falkland Inseln im Jahr 1982. O-Ton 17 Tossini OV„Interessanterweise gab es Uneinigkeit mit den USA über diese kriegerische Nutzung: Die Amerikaner waren dagegen, Ascension zur Machtprojektion zu nutzen: also seine politischen Interessen auch mit Androhung oder Anwendung von Gewalt durchzusetzen – auch weit entfernt vom eigenen Territorium. Premierministerin Margret Thatcher pochte jedoch auf die britische Souveränität, und betonte, Ascension sei die Insel der Krone - und damit „unsere“ Insel.“ MUSIK ERZÄHLERINAscension Island galt nach der britischen Verteidigung der Falkland-Inseln mehr denn je als „unversenkbarer Flugzeugträger“, mit dem Großbritannien seine Interessen im Südatlantik durchsetzen konnte.Heute setzt man Vítor Tossini zufolge weniger auf offene militärische Gewaltdemonstration, um sich Vorteile im internationalen Mächtespiel zu verschaffen, führt Vitor Tossini aus. Politische Widersacher – und zuweilen auch Partner – würden vielmehr ausgespäht, auch von der Atlantikinsel aus. Davon künden zahlreiche Abhör-Anlagen des britischen Geheimdienstes GCHQ, aber auch der US-amerikanischen NSA, die auf Ascension ihre Antennen in die Luft recken. Der brasilianische Experte für internationale Politik, Vítor Tossini: O-Ton 18 Tossini OV„Man muss die Abhör-Anlagen als Teil der Geheimdienst-Kooperation „Five Eyes“ sehen. Dabei arbeiten Großbritannien, die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zusammen. Es ist wie ein Puzzle einer möglichst lückenlosen weltweiten Überwachung, zu dem jedes der Länder seinen Teil beiträgt – und die Basis auf Ascension dürfte sich auf ihrer Lage gut dazu eignen, den afrikanischen Kontinent, aber auch brasilianische oder argentinische Telekommunikation abzuhören.“  ERZÄHLERINWeltweit verfüge der britische Geheimdienst über Einrichtungen zur militärischen und nachrichtendienstlichen elektronischen Aufklärung. Ob auf Ascension, Gibraltar oder Zypern – auf abgeschirmten Inseln wie Ascension bleibe der Öffentlichkeit mehr denn je verborgen, was genau Geheimdienste treiben - und wie effektiv diese smartere, digitale Art der Kriegsführung wirklich funktioniere. Gegner und Partner über die wahre Macht und Bedeutung von Ascension im Unklaren zu lassen – dies dürfte indes durchaus im Interesse Großbritanniens liegen, betont der Politikwissenschaftler Vítor Tossini. O-Ton 19 Tossini OV„Es ist eine sehr große Spannbreite, wozu diese Insel den Briten nützlich sein kann. Man kann sich Ascension vorstellen als Instrument zur konventionellen Kriegsführung, wie auch der äußerst unkonventionellen, etwa zur Satellitenbild-Auswertung durch Geheimdienste. Theoretisch könnten sowohl Großbritannien wie auch die USA sogar Atomwaffen auf Ascension stationieren – ohne damit internationale Verträge zu brechen. Wie auch immer: Übersee-Gebiete wie Ascension helfen Großbritannien, trotz seiner eigentlich bescheidenen Größe ein bedeutender Akteur auf der internationalen Bühne zu bleiben – und quasi oberhalb seiner eigentlichen Gewichtsklasse zu kämpfen.“ MUSIK ERZÄHLERINAscension Island – einst schon für Charles Darwins und Joseph Hooker ein „Experiment am Ende der Welt“ - ist damit bis heute in vielerlei Hinsicht eine Insel der Möglichkeiten geblieben - die auch in Zukunft einige Überraschungen bereithalten dürfte…   TC 22:38 – Outro
undefined
Sep 20, 2024 • 23min

INSEL-GESCHICHTEN - Korsika und die Autonomie

Korsika: Eine traumschöne Insel im Mittelmeer, bewohnt von Einwohnern, die seit Jahrhunderten um ihre Freiheit kämpfen. "Korsika ist nicht Frankreich", "Freiheit für Korsika": Solche Graffiti finden sich überall auf der Insel. Welche Rolle spielen dabei die eigene korsische Identität und Sprache? Und die alten korsischen Lieder, die Musikgruppen wie "Alba" wieder zum Leben erwecken? Von Vanja Budde (BR 2023) Credits Autorin: Vanja Budde Regie: Ron Schickler Es sprachen: Laura Maire, Florian Schwarz, Ron Schickler Technik: Regine Elbers Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Ghjuvanfrancescu Mattei, Alain Di Meglio, Matthias Waechter Linktipps: BR (2022): L’Alba beim Nürnberger Bardentreffen 2022 Während die Musiker das Erbe des polyphonen Gesangs ihrer Heimat Korsika bewahren, sind sie offen für zeitgenössische Elemente aus Folk und Jazz sowie Einflüsse aus arabischen und nordafrikanischen Ländern sowie aus Italien, Griechenland, Portugal, dem Senegal und Simbabwe. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2022): Korsika, Frankreich und die ewige Frage der Unabhängigkeit Im Frühjahr 2022 kehrte die Gewalt zurück. Nach der Ermordung eines inhaftierten Nationalisten kam es zu Protesten auf Korsika. Die Forderung nach Unabhängigkeit ist wieder da, doch die korsische Bevölkerung ist bei diesem Thema zerstritten. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:40 – Eine Insel, schon immer begehrtTC 05:15 – 14 goldene JahreTC 08:53 – Die Universität Korsika Pasquale PaoliTC 12:56 – Wege in die AutonomieTC 19:31 – Das Korsisch ParadoxonTC 22:45 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIKSprecherinAlgajola, ein kleiner Ort an der zerklüfteten Westküste Korsikas. In der Dorf-Kirche verbinden drei Männer ihre Stimmen zum Paghjella-Gesang: Sie sind die Wurzeln der korsischen Musik, diese klagend-dramatischen mehrstimmigen Melodien. Wenn man sie hört, sieht man Korsikas schroffe Berge vor sich, die mehr als 50 Gipfel über 2.000 Meter Höhe, die eiskalten, klaren Flüsse, die zu Tal stürzen, die stachelige Macchia, die das harte Leben der Schäfer im Inneren der Ile de Beauté Jahrhunderte lang bestimme: der heute bei Touristen beliebten „Insel der Schönheit“. Denn Korsika ist schön, aber auch wild. Ein „Gebirge im Meer“, umkämpft seit Jahrtausenden, stets beherrscht von fremden Mächten, gegen die sich die Korsen immer gewehrt haben. All das klingt mit in diesem traditionellen, polyphonen Gesang. Die UNESCO hat ihn darum 2009 zum immateriellen Erbe der Menschheit erklärt. ATMOSprecherinEiner der drei Sänger ist Ghjuvanfrancescu Mattei. Seine Gruppe L’Alba lade sie dazu ein, mit in die korsische Seele einzutauchen, erklärt er den Touristen, die an diesem Abend zu annähernd 100 Prozent das Publikum stellen. Darum sängen sie ausschließlich in ihrer eigenen Sprache: Korsisch. Das klingt überhaupt nicht wie Französisch, sondern hat eher Ähnlichkeiten mit Italienisch. Weshalb es auch im Norden der Nachbarinsel Sardinien von vielen verstanden wird. MUSIKTC 02:40 – Eine Insel, schon immer begehrt SprecherinKorsika ist nach Sizilien, Sardinien und Zypern die viertgrößte Insel im Mittelmeer; mit knapp 350.000 Einwohnern, in etwa so viele wie Island hat. Früher wurde in den Dörfern im Inselinneren viel gesungen, bei Festen, aber auch abends in den Familien. Doch immer mehr junge Leute wandern in die Städte ab, nach Bastia an der Ostküste mit ihren langen Sandstränden oder in die Insel-Hauptstadt Ajaccio im Südwesten. Zurück bleiben die Alten, gesungen wird immer seltener. Gruppen wie I Muvrini, A Filetta oder eben L’Alba sind darum die Hüter nicht nur von Geschichte und Tradition, sondern sie bewahren und fördern auch die korsische Identität. Sagt Ghjuvanfrancescu Mattei: O-Ton 1 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch, OVOV MÄNNLICH„Unsere Insel hat in der Vergangenheit gelitten. Und sie hat sich an jedes Leiden angepasst. Deshalb findet man auch in der Musik, im künstlerischen Ausdruck, eine Form von Melancholie, eine Form von Schmerz. Denn die korsische Bevölkerung wurde in all den Jahren der Fremdherrschaft mundtot gemacht. Das erzählen wir auch in unseren Liedern: Dass wir Korsen schweigen mussten. Immer wieder unsere Staatsangehörigkeit ändern mussten. Sicherlich spürt man das in unserer Musik: Korsikas melancholische Leuchtkraft.“ ATMO SprecherinSie ist lang, die Liste der fremden Herrscher über diese gebirgige Insel, die zwischen dem italienischen Festland und Sardinien liegt: Byzantiner, Langobarden, Sarazenen und Franken setzten sich an den Küsten fest. Die Markgrafen der Toskana meldeten ebenso Ansprüche an, wie die Seerepubliken Pisa und Genua. Die meisten Korsen zogen sich ins unzugängliche Inselinnere zurück. MUSIKDabei war die Insel schon in prähistorischer Zeit bewohnt. Und schon immer begehrt. Ligurer und Etrusker vom nahen italienischen Festland siedelten sich an, aber auch Griechen und Araber hinterließen genetisch ihre Spuren. Unter der Herrschaft Genuas im Mittelalter kamen viele italienische Siedler, die ihre Sprache und Kultur mitbrachten. Es wird daher angenommen, dass die moderne korsische Bevölkerung eine Mischung all dieser ethnischen und linguistischen Gruppen ist. So blieb Korsika, das nie eine brave Kolonie oder Provinz war, immer eine Welt für sich.TC 05:15 – 14 goldene Jahre 1729 hatten die Korsen genug: In mehreren, Jahre langen Aufständen lehnten sie sich gegen die Zwangsverwaltung und das Feudalsystem der Genuesen auf. 1755 riefen sie ihre staatliche Unabhängigkeit aus. Unter Führung des Widerstandskämpfers Pascal Paoli, der bis heute als „Babbu di a Patria“ verehrt wird, als „Vater des Vaterlandes“, gaben sich die Korsen eine demokratische Verfassung. Übrigens war es die erste Verfassung im Zeitalter der Aufklärung, lange vor den Verfassungen der Vereinigten Staaten im Jahr 1776 und Frankreichs 1791. Inklusive Gewaltenteilung und Volkssouveränität und des europaweit ersten Frauenwahlrechts immerhin für alleinstehende Frauen und Witwen. Einer der engsten Mitarbeiter Paolis dabei war Carlo Buonaparte: Napoleons Vater. Die Genuesen mochten sich mit der kämpferischen Inselbevölkerung nicht länger herumärgern und verkauften ihre Ansprüche an Frankreich. Schon nach 14 Jahren war es dann vorbei mit der Freiheit: 1769 besiegte Frankreich die korsischen Truppen in der Schlacht bei Ponte Novu. MUSIKSprecherinSeither ist Korsika französisches Staatsgebiet. Sieht man von einer kurzen Periode während der Französischen Revolution ab, als die Insel unter englische Oberhoheit geriet. Pascal Paoli ging ins Exil nach England, 1807 starb er in London. Der junge Napoleon schrieb später in seinen unveröffentlichten „Lettres sur la Corse“: „Die Geschichte Korsikas ist ein ständiger Kampf zwischen einem kleinen Volk, das frei sein will, und seinen Nachbarn, die es unterjochen wollen.“ Obwohl der korsische Kampf um Unabhängigkeit nur so kurze Zeit Erfolg hatte, beeinflusste er nicht nur viele Intellektuelle und Staatsmänner jener Zeit, unter ihnen Jean-Jacques Rousseau und die Gründungsväter der Vereinigten Staaten. Sondern die Erinnerung an diese 14 goldenen Jahre der Freiheit ist auch heute noch lebendig. Vor allem in der damaligen Hauptstadt des unabhängigen Korsikas: Corté, in den Bergen im Inselinneren gelegen. Heute hat die lebendige Kleinstadt am Zusammenfluss von Restonica und Tavignano 7.500 Einwohner. Die Hälfte davon sind Studenten der einzigen Universität Korsikas. TC 08:53 – Die Universität Korsika Pasquale Paoli Die nach Pascale Paoli benannte Universität ist ein wichtiges Symbol des Strebens nach Autonomie, erklärt ihr Vize-Direktor Alain Di Meglio in seinem lichten Büro im oberen Stockwerk des modernen Baus.  O-Ton 2 Alain Di Meglio, Französisch (kein OV, da kurz und unten erklärt)„Pascal Paoli, der Gründer des unabhängigen Korsikas, hatte hier eine Universität ins Leben gerufen, die vier Jahre lang bestand, von 1765 bis 1769.“SprecherinDenn Pascale Paoli hat hier in Corté nicht nur das unabhängige Korsika gegründet, sondern 1765 auch eine Universität, die bis zur Machtübernahme Frankreichs 1769 bestand. O-Ton 3 Alain Di Meglio, Französisch/OVOV ALAIN„Korsikas Universität war 212 Jahre lang geschlossen und wurde 1981 wiedereröffnet. Und zwar unter Druck, auf Grund von Forderungen. Zu dem Zeitpunkt, als die Universität wiedereröffnet wurde, saßen 120 politische Gefangene in den französischen Gefängnissen. François Mitterrand hat sich dann des Problems angenommen, Wahlen zum ersten Korsischen Regionalparlament zugelassen und die Universität wiedereröffnet. Das war erst möglich, nachdem die Sozialistische Partei unter François Mitterrand an die Regierung gekommen war. Von diesem Zeitpunkt an hat die Universität das Studium der korsischen Sprache wiederaufgenommen und korsischsprachige Lehrer für das Bildungssystem ausgebildet.“SprecherinNeben Französisch ist an der Universität Korsisch obligatorisches Nebenfach in sämtlichen Fächern. O-Ton 4 Alain Di Meglio, Französisch/OVOV ALAIN„Das ist sehr, sehr wichtig, weil die Sprache ein Identitätskriterium ist. Aber sie ist keine geschlossene Identität, keine ethnische Identität, sondern eine offene Identität, eine kulturelle Identität.“ MUSIK SprecherinWeil sie über die Sprache transportiert werde und nicht über Abstammung, erklärt Di Meglio. Die Sprachforscher der Uni haben die Jahrhunderte lang nur mündlich überlieferte Grammatik des Korsischen verschriftlicht und eine verbindliche Rechtschreibung festgelegt. Die Wissenschaftler zogen kreuz und quer über die Insel, zeichneten die verschiedenen Dialekte auf und brachten ein Wörterverzeichnis des Korsischen heraus. O-Ton 5 Alain Di Meglio, Französisch (kein OV da kurz und unten erklärt)„Die Wiedergeburt der korsischen Sprache ist nicht der Universität allein zu verdanken, sie hat aber einen großen Beitrag dazu geleistet.“ SprecherinSo habe die Uni einen wichtigen Beitrag für die Wiedergeburt der Sprache geleistet, sagt Di Meglio. Das war auch dringend nötig, denn unter französischer Herrschaft wurde das Korsische gezielt unterdrückt, wie Matthias Waechter erklärt. Der deutsche Historiker und Frankreich-Experte leitet das Institut Européen des Hautes Etudes Internationales in Nizza. Er hat umfassende Werke über die Geschichte Frankreichs verfasst. O-Ton 6 Matthias Waechter„1870 bis 1940: Das war die Phase, in der sich dieses republikanische Staats- und Nationsmodell in Frankreich durchgesetzt hat. Und es musste sich gegen starke Widerstände durchsetzen. Und in diesem Zusammenhang hat man sich gedacht, um eine einheitliche Republik zu gründen, müssen wir auch alle eine einheitliche Sprache sprechen. Die Regionalsprachen, die ja in Frankreich extrem verbreitet waren, noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wurden vom Zentralstaat brutal unterdrückt. Insofern hat Frankreich große Schwierigkeiten, damit zurechtzukommen, dass es ein Volk gibt in Korsika, das seine Kultur autonom leben möchte.“ SprecherinAn öffentlichen Orten wie zum Beispiel den Schulen Korsisch zu sprechen, war verboten. Doch die Unterdrückung ging noch weiter, richtete sich auch gegen die musikalische Tradition, erklärt Matthias Waechter: O-Ton 7 Matthias Waechter„Der Harmoniegesang, der in Korsika gepflegt wurde, galt ja auch als ein Ausdruck korsischen Widerstands. Diese gesamten Ausdrucksformen einer Eigenständigkeit wurden als Widerständigkeit gegenüber der Französischen Republik angesehen. […] Man fürchtete, dass die Menschen, die in diesen Grenzregionen oder auf einer Insel wie Korsika lebten, zum Separatismus neigen würden, wenn man ihnen zu viel Eigenständigkeit lassen würde.“ SprecherinIn der französischen Nationalversammlung ging die Angst um, dass dann etwa auch die Bretagne, das Baskenland oder das Elsass ähnliche Ansprüche wie die „störrischen“ Korsen erheben könnten. O-Ton 8 Matthias Waechter„Und diese Angst ist natürlich immer noch im Hintergrund, dass eine Region, die zu viel Eigenständigkeit besitzt, separatistisch wird. Und dass die Autonomie nur der erste Schritt zur Sezession ist“.TC 12:56 – Wege in die Autonomie MUSIK Sprecherin Im Falle Korsikas nicht ganz zu Unrecht: Nicht nur die restriktive Sprachenpolitik trieb die Korsen auf die Barrikaden. Nachdem Algerien 1962 in einem grausamen Krieg seine Unabhängigkeit errungen hatte, siedelten tausende Algerienfranzosen, die so genannten „Pieds noirs“ nach Korsika über. Viele Korsen fürchteten, eines Tages zur Minderheit auf ihrer eigenen Insel zu werden. Denn gleichzeitig wanderten zehntausende Korsen auf der Suche nach Arbeit von der wirtschaftlich rückständigen Insel ins Ausland ab. Wegen dieser massiven Landflucht verlor Korsika ein Drittel seiner Bevölkerung. In Sorge um die eigene Identität radikalisierte sich der korsische Nationalismus, Korsika wurde mit einer französischen Kolonie verglichen. In den frühen 1970er Jahren gründeten sich mehrere Parteien als politischer Arm der Nationalbewegung. Nachdem Frankreich Forderungen nach offizieller Zweisprachigkeit, Autonomie oder gar Unabhängigkeit strikt ablehnte, gingen einige Nationalisten in den Untergrund. Der 1976 gegründete Frontu di Liberazione Naziunalista Corsu, kurz FLNC, versuchte die Unabhängigkeit mit Bombenattentaten und Morden zu erzwingen. Mehrere bewaffnete Gruppen bekämpften sich auch gegenseitig. 1998 eskalierte die Gewalt: Ein nationalistisches Mordkommando erschoss den französischen Präfekten der Insel, Claude Erignac, aus nächster Nähe, auf offener Straße, mitten in der Hauptstadt Ajaccio. Die französische Öffentlichkeit war schockiert. O-Ton 10 Matthias Waechter„Und insofern wurde dieses Autonomiebestrebungen oder Unabhängigkeitsbestreben der Korsen auch oft als eine Bedrohung wahrgenommen.“ SprecherinÜber diese blutigen Zeiten spricht man auf der Insel heute nicht gern. Die Täter von damals und ihre Hintermänner wurden gefasst und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die militanten Gruppen haben die Waffen niedergelegt. In den Supermärkten kauft man Baguette und auf den Dorfplätzen spielen die Korsen Boule. Haben sie ihren Frieden mit Frankreich gemacht? Nicht wirklich: Fährt man auf der sich durch die Berge schlängelnden Straße D18 nach Corte, durchquert man kurz vor der Universitätsstadt einen Straßentunnel. Dessen Wände sind über und über mit Spraydosen beschrieben: „Korsika ist nicht Frankreich“, liest man da auf Französisch. „Freiheit für Korsika“, „Franzosen raus aus Korsika“ und so weiter. MUSIK SprecherinAuf der ganzen Insel weht der „Mohrenkopf“ mit Stirnband auf Bannern und Fahnen und klebt als Aufkleber auf Autos: Das Emblem des Freiheitskampfes. Und in den Altstadt-Gassen von Corte ist das Konterfei eines Mannes allgegenwärtig: Es ist das Porträt von Yvan Colonna. Der korsische Nationalist war wegen Beteiligung an dem Präfekten-Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte dabei stets seine Unschuld beteuert. Im März 2022 wurde Yvan Colonna im Gefängnis im südfranzösischen Arles von einem Mithäftling angegriffen und schwer verletzt. Daraufhin kam es auf Korsika zu Protesten und Ausschreitungen. Dutzende Polizisten wurden verletzt. Yvan Colonna starb drei Wochen später im Alter von 61 Jahren im Krankenhaus. Zu seiner Beerdigung in seinem Heimatdorf in den korsischen Bergen ordnete der Regionalpräsident der Insel Trauerbeflaggung an. MUSIK Anfang der 2020er-Jahre stand damit Korsikas Verlangen nach Autonomie wieder auf der Tagesordnung. Auf Korsika machte man sich Hoffnungen auf neue Verhandlungen und Fortschritte. Doch dann griff der russische Präsident Vladimir Putin die Ukraine an. Die folgende Energiekrise und eine hohe Inflation hielten ganz Europa in Atem, so auch Frankreich. Das Thema Korsika rückte wieder auf die hinteren Ränge. Dabei seien die Forderungen im Vergleich zu den achtziger und neunziger Jahren mittlerweile gemäßigt, betont Alain Di Meglio, der Vize-Direktor der Universität in Corté: Nur noch zehn Prozent der Korsen verlangten die Unabhängigkeit ihrer Insel von Frankreich. Doch für die Autonomie seien 90 Prozent. Er eingeschlossen. O-Ton 11 Alain Di Meglio, Französisch/OVOV ALAIN„Ich bin Autonomist. Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ich bin Autonomist, da ich ein Aktivist der korsischen Sprache bin! Ich fordere das Korsische als offizielle Sprache neben Französisch. Und ich bin für ein System, das mehr Vertrauen in Korsika setzt, das Korsika mehr Macht gibt, aber ohne die Armee oder die Polizei zu fordern oder sich aus dem System der Solidarität mit Europa und Frankreich zu lösen. Die deutschen Bundesländer: Die sind ein Modell für uns. Deutschland ist viel besser dezentralisiert als Frankreich.“ SprecherinDie Verfechter korsischer Freiheit haben ihre Ansichten auch deshalb abgemildert, weil sie den Gang in die Politik und durch die Institutionen angetreten haben: Autonomisten und Separatisten taten sich zusammen und errangen 2015 die Mehrheit im korsischen Regionalparlament. Doch Korsika müsse sich auch Europa und der Welt öffnen, fordert Di Meglio. Ebenso wie Frankreich, das zu sehr auf seinen einheitlichen Zentralstaat fixiert sei und Befugnisse nur zögerlich abgebe. O-Ton 12 Alain Di Meglio, Französisch/OV OV ALAIN„Und ich glaube auf jeden Fall, dass das Prinzip der Autonomie heute ein notwendiges Prinzip ist, sogar weltweit: Wir werden aufgefordert, kurze Transportwege zu fördern, vor Ort zu konsumieren, um die CO2-Kosten des Großhandels zu vermeiden. Man verlangt von uns, die Verpackungen zu reduzieren, man verlangt von uns mehr Ökologie, man verlangt von uns, Energie zu sparen. All das, was in Europa und der Welt im Trend liegt, ist ein Prinzip, das in Richtung Autonomie geht.“TC 19:31 – Das Korsisch Paradoxon MUSIK SprecherinAuf dem Weg zu mehr Eigenständigkeit sei die korsische Sprache ein wichtiger Trittstein, betont Di Meglio. O-Ton 13 Alain Di Meglio, Französisch/kein OV, da kurz und oben erklärt „Die Sprache ist das wichtigste Kriterium für das Bedürfnis der Korsen nach Identität.“ SprecherinDoch obwohl sie heute im öffentlichen Leben, auch in der Literatur, anerkannt sei, gebe es da eine große Gefahr: Nur noch zehn bis 15 Prozent der Jugendlichen sprächen aktiv Korsisch und nur noch etwa die Hälfte verstehe die Regionalsprache. Denn in den Familien wird Korsisch zum ersten Mal seit Jahrhunderten nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben. O-Ton 14 Alain Di Meglio, Französisch/OV OV ALAIN„In den vergangenen 40 Jahren hat sich eine Art Paradoxon entwickelt: Die korsische Sprache ist sichtbarer und präsenter in der Politik und in den Medien. In der Bevölkerung geht sie jedoch zurück. Sie wird im Alltag weniger gesprochen.“MUSIK SprecherinDie UNESCO stuft Korsisch darum als bedrohte Sprache ein. Diese Entwicklung müsse gestoppt werden, fordert Alain Di Meglio. Doch er ist guter Hoffnung. Auch wenn es immer weniger gesprochen wird, werde Korsisch immer häufiger an den Schulen gelehrt. Und dann sei da ja auch noch die Musik: Viele korsische Lieder sind in der Zeit der Unterdrückung verloren gegangen, doch erstaunlich viele haben auch überlebt. Dank der Überlieferung in den Familien, wie Ghjuvanfrancescu Mattei von L’Alba erzählt: Alle Mitglieder der Gruppe hätten von einer mündlichen Weitergabe profitiert. Fragt man ihn, ob er sich als Korse fühle oder als Franzose, antwortet der Musiker überraschend weltoffen: O-Ton 17 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch/OVOV MÄNNLICH„Ich fühle mich sehr wohl und gut verstanden in der korsischen Sprache, natürlich. Aber ich fühle mich auch sehr gut mit Französisch. Und ich empfinde mich in gewisser Weise auch ein bisschen deutsch, und auch spanisch und auch italienisch. Ich fühle mich jedenfalls sehr wohl in meiner Rolle als Mittelmeeranrainer und das gilt auch für die anderen Musiker der Gruppe.“ SprecherinMattei erklärt: Sie stünden mit einem Bein auf jedem Ufer des Mittelmeeres. Zwar bewahren sie die Tradition der korsischen Musik und hüten damit eine uralte kulturelle Tradition. Doch sie wollen sie auch kreativ weiterentwickeln. Darum habe L’Alba sich auch anderen mediterranen Einflüssen geöffnet, sagt Ghjuvanfrancescu Mattei: Griechischen, nordafrikanischen, italienischen Musiktraditionen. O-Ton 18 Ghjuvanfrancescu Mattei, Mix aus Korsisch und Französisch/OVOV MÄNNLICH„Wir versuchen eigentlich mit der korsischen Sprache, der korsischen Musik, eine neue Musik zu machen, die ihre Wurzeln aber nicht verleugnet. Wir versuchen, ein Bindeglied zu schaffen, zwischen allen Ufern des Mittelmeers. Aber natürlich ist der Ausgangspunkt immer noch die Art und Weise zu singen, die für Korsika spezifisch ist.ATMOTC 22:45 – Outro
undefined
Sep 20, 2024 • 22min

INSEL-GESCHICHTEN - Das rätselhafte Urvolk der Kanaren

Fernab der einst bekannten Welten entwickelte sich um Christi Geburt auf den Kanaren eine rätselhafte Kultur. Die ersten Bewohner der Inseln im Atlantik scheinen weder über seetaugliche Boote noch über Kenntnisse der Schifffahrt verfügt zu haben. Wie aber waren sie dann auf die Inseln mitten im Meer gekommen? - Nur eines der vielen spannenden Rätsel rund um die Ur-Kanaren, die Guanchen. Von Lukas Grasberger (BR 2024) Credits Autor: Lukas Grasberger Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Christian Baumann, Carsten Fabian, Katja Schild, Jennifer Güzel Technik: Matthieu Belohradsky Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Teresa Delgado, Prof. Harald Braem, Dr. Rosa Fregel, Dr. José Ignacio Sáenz Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2012): Eine Insel verlässt sich auf sich selbst Auf den Kanarischen Inseln gedeihen Pläne und erste Projekte, den Anteil sauberen Ökostroms zu erhöhen. Die kleinste Insel der Kanaren, El Hierro, geht dabei sehr weit: Die abgeschiedene, windumtoste Vulkaninsel will sich von diesem Jahr an zu hundert Prozent mit Wind- und Wasserkraft versorgen. ZUM BEITRAG WDR (2024): Teneriffa & Co. – Macht der Massentourismus die Kanaren kaputt? Millionen von Menschen zieht es jedes Jahr auf die Kanaren. Obwohl der Tourismus der wichtigste Wirtschaftszweig für die Urlaubsinseln ist, bringen die Urlauber auch einige Probleme mit sich. Deshalb protestieren im Frühjahr 2024 rund 57.000 Menschen auf Teneriffa, Gran Canaria und an vielen anderen Orten gegen den Massentourismus. Die größte Forderung: Mehr Wohnraum und günstigere Preise. Aber auch für eine bessere Wasserversorgung, eine Obergrenze für Touristen und für mehr Umweltschutz protestierten viele Einheimische. Die ARD-Korrespondentin Kristina Böker erzählt, wie es den Menschen vor Ort geht, welche Rolle der Tourismus für die Einheimischen spielt und auf wen die Menschen tatsächlich wütend sind. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser FolgeTC 00:15 - IntroTC 02:36 – Genetische VielfaltTC 06:13 – Eine Frage und zwei ThesenTC 11:14 - HöhlenfundeTC 13:38 – Rätsel über RätselTC 18:34 – Der Streit um PyramidenTC 21:45 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - Intro MUSIK & ATMO Strandpromenade, Meeresrauschen SprecherTouristen schlendern über die Strandpromenade von Maspalomas auf Gran Canaria. Einige schlürfen Eis, andere lassen den Blick über den tiefblauen Atlantik streifen. Für die ovale Steinformation zu ihren Füßen, ein paar Meter strandwärts, scheinen sich die meist deutschen Urlauber kaum zu interessieren. Ganz anders die kanarische Archäologin Teresa Delgado. Für Forschende wie sie sind die Spuren derjenigen, die bereits ein paar Tausend Jahre vor den Touristen auf die Insel kamen, ein spannendes Rätsel - das sie nur nach und nach zu lösen lernen. O-Ton 1 Dr. Teresa Delgado, Konservatorin am Museo Canario, Las Palmas, span. Voice Over weiblich„Das sind Reste einer Siedlung, wie sie für die Ureinwohner der kanarischen Inseln typisch war. Damals boomte die Bevölkerung auf Gran Canaria, ihre Kultur blühte. Menschen, die seinerzeit in Berg-Höhlen lebten, zogen an die Küsten. Die Gesellschaft war im Aufbruch: Vormalige Viehzüchter entwickelten ihre Fähigkeiten im Ackerbau - und begannen auch den Ozean intensiv auszubeuten.“ SprecherIn den Ruinen von „Punta Mujeres“ fanden die Archäologen Hinterlassenschaften, die auf einen reichhaltigen Fischkonsum der ersten Bewohner Gran Canarias hindeuteten. Doch da war eine Sache, die die Forscher bald ins Grübeln bringen sollte... O-Ton 2 Delgado Voice Over weiblich„Bei dieser und anderen Ausgrabungen haben die Archäologen nie Gräten oder Köpfe von Hochsee-Fischen gefunden. Die ersten Bewohner der Inseln haben wohl nur an oder nahe der Küste gefischt. Darauf, dass sie das ohne Boote taten, weist eine besondere Ohrerkrankung hin, die man in Schädeln der Urkanarier gefunden hat. Diese hatten einen Tumor im Hörkanal, der bei häufigem Kontakt mit kaltem Wasser entsteht – etwa, wenn man am Ufer nach Meerestieren taucht. Auch hat man bei Ausgrabungen nie Überbleibsel von Schiffen entdeckt. In der Gesamtschau verleitet uns das zu dem Schluss, dass die frühen Bewohner der Inseln weder über Boote, noch über Fähigkeiten der Navigation verfügt haben dürften.“ MUSIK & ATMO Meeresrauschen SprecherWie aber waren die ersten Siedler dann auf die kanarischen Inseln gekommen – und warum? Und: Falls sie doch eigene Boote hatten: Weshalb hatten sie sich überhaupt auf die lebensgefährliche Überfahrt übers offene Meer, in unbekannte Gefilde, begeben? TC 02:36 – Genetische Vielfalt SprecherVieles zur Herkunft und Lebensweise der kanarischen Ureinwohner erscheint uns heute, gut 500 Jahre nach der endgültigen Einnahme der Inseln durch die Spanier, geheimnisvoll. Die iberischen Eroberer haben die Guanchen, Canarios, Majos und Majoreros, die Gomeros, Bimbaches und die Benahoaritas gnadenlos ausgerottet. Deren Kultur und Zivilisation versank im Dunkel der Geschichte. MUSIK Grabungs-Funde haben nachgewiesen, dass das mediterrane Seefahrer-Volk der Phönizier bereits im zehnten Jahrhundert vor Christus einen Fuß auf die Insel Lanzarote setzte. Später kamen die Römer. Doch beide waren keine Siedler, betont die Archäologin Teresa Delgado: Es waren wenige Menschen, die dort saisonal Stützpunkte für den Handel, etwa mit Purpur, betrieben. Die Urkanarier, das erste Volk, das die Inseln im Atlantik dauerhaft besiedeln sollte, waren andere... O-Ton 3 Delgado Voice Over weiblich„Die erste nachhaltige Besiedlung der Inseln fand durch Berber-Völker aus dem Nordwesten Afrikas statt. Darauf deuten auch die jüngsten Untersuchungen von Spuren alten Erbguts hin.“ O-Ton 4 Dr. Rosa Fregel, Genforscherin, Universidad de La Laguna, Teneriffa, span. Voice Over weiblich„Nach unseren genetischen Analysen waren die ersten dauerhaften Bewohner der Kanaren Berber, die aus dem Norden Afrikas stammen.“ Sprecher  ...bestätigt die Forscherin Rosa Fregel von der Universität von La Laguna auf Teneriffa. Die Biologin untersuchte mit ihrer Arbeitsgruppe das Erbgut von 48 Menschen, deren Überreste Archäologen an verschiedenen Orten der Inseln ausgegraben hatten. Die alten Erbgutspuren verraten, dass die Ur-Kanarier offenbar in zwei Wellen übers Wasser kamen: In Fregels Analysen zeigte das Erbgut der ersten Bewohner der östlichen Kanareninseln Lanzarote, Fuerteventura und Gran Canaria einen größeren europäischen Einschlag - während bei den westlicher gelegenen der Anteil an nordafrikanischen Genen überwog. Und: Es war kein homogenes Berber-Volk, das da aus Nordafrika auf das Atlantik-Archipel gelangte. O-Ton 5 Fregel Voice Over weiblich„Es war bereits ein Völkergemisch. Das Erbgut der ersten kanarischen Siedler weist nordafrikanische und mediterrane Elemente auf – sowie aus Subsahara-Afrika. Vor der ersten Migration auf die Kanaren dürfte es größere Wanderungsbewegungen im und in den Norden Afrikas gegeben haben. Auch von Menschen, die südlich der Sahara aufbrachen, Richtung Norden.“ SprecherWaren es Verwerfungen rund um die römische Einnahme von Nordafrika, die Menschen unterschiedlicher Herkunft und in großer Zahl vertrieben, und diese zu einer Wanderung bis auf die kanarischen Inseln veranlassten? Nicht nur genetisch, auch ihrem Aussehen nach unterschieden sich die Guanchen, die Ureinwohner Teneriffas, frühen Beschreibungen zufolge deutlich. Der Dominikaner-Pater Fray Alonso de Espinosa, der mit den spanischen Eroberern auf die Insel kam, schilderte die Urbevölkerung einerseits als „dunkel und braungebrannt“; andererseits fand der Priester und Geschichtsschreiber im Norden des Eilands „hellhäutige“ Menschen vor - darunter Frauen „mit blondem und schönem Haar“. Die Forschung der Biologin Rosa Fregel und ihrem Team bestätigt, dass es besonders unter den Ureinwohnern der großen Inseln Teneriffa und Gran Canaria eine große genetische Vielfalt gab. TC 06:13 – Eine Frage und zwei Thesen MUSIK SprecherDoch: Wer genau wann auf die Inseln kam – und vor allem warum: Diese Fragen lassen sich auch mit Erbgut-Analysen nicht zufriedenstellend beantworten. Für Teresa Delgado passen die Erkenntnisse ihrer Forscher-Kollegin Fregel zumindest zu zwei Theorien über die Ankunft der ersten Siedler auf den Kanaren. O-Ton 6 Delgado Voice Over weiblich„Die erste These geht davon aus, dass ein anderes Volk – wie die Römer – die ersten Inselbewohner herübergebracht, sie quasi auf den Inseln ausgesetzt hat: Als Gefangene oder Sklaven. Eine zweite These ist, dass sie aus eigenem Antrieb und mit eigenen Mitteln gekommen sind. Demnach hätten die Ur-Kanarier die Kunst der Schifffahrt mit der Zeit einfach verlernt. “ SprecherEs gibt Quellen, die Wissenschaftler an der These vom Inselvolk ohne jegliche Kenntnisse und Mittel zur Seefahrt zweifeln lassen. So erwähnt der italienische Geschichtsschreiber Leonardo Torriani nach der spanischen Eroberung im 16. Jahrhundert, Boote von Ureinwohnern, gefertigt aus dem Holz von Drachenbäumen. Der deutsche Kanaren-Forscher Harald Braem verweist in diesem Zusammenhang auf Zeugnisse, die die indigene Bevölkerung selbst hinterließ. O-Ton 7 Braem„Gran Canaria ist stark vertreten mit interessanten Darstellungen…. die Felsbilder natürlich, sogar von einem Schilfboot.  Was jetzt wirklich interessant diskutiert wird, ist, dass diese Boote Schilfboote waren. Dieses Schilf ist quasi unsinkbar, weil es ja hohl ist innen. Und dass mit diesen Schilfbooten diese Expeditionen gemacht wurden.“ SprecherOb es diese Boote wirklich gab, und wie groß der Bewegungsradius damit gewesen sein mag – dies ist und bleibt eine weitere Unbekannte in der Geschichte der Urkanarier. In jedem Fall dürften die ersten Bewohner der Kanaren ihr Dasein über 1000 Jahre lang in Isolation gefristet haben - bis die Europäer die Inseln im späten Mittelalter wiederentdeckten. Selbst die benachbarten Inseln waren stets zum Greifen nah – und doch unerreichbar. Mangels Metallvorkommen stellten die Ur-Kanarier Werkzeuge und Waffen aus Stein und Knochen her. Und noch eine These wird durch DNA-Analysen von Rosa Fregel gestützt: Dass sich Wirtschaft und Gesellschaft jeder einzelnen der Kanareninseln unabhängig voneinander entwickelten, Handel oder sonstiger Austausch fand nicht statt: Ton 8 Fregel Voice Over weiblich„Insgesamt recht seltene Krankheiten, die auf El Hierro gehäuft auftraten, deuten auf eine starke Blutsverwandtschaft hin - und eine geringe genetische Vielfalt der Bewohner. Auf Gran Canaria dagegen hat sich eine große genetische Diversität erhalten. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass es auf dieser ungleich größeren Insel mehr Vieh und Getreide hab – und mehr Wasser, um auch eine größere Bevölkerung durch Krisenzeiten zu bringen.“ ATMO Plätschern Wasserquelle SprecherWasser – das gibt und gab es auf der nordwestlichsten Kanareninsel La Palma im Überfluss. Noch heute füllen die unterirdischen Quellen zuverlässig die Trinkwasserreservoirs. Die Nähe zum Wasser: Sie war ein entscheidender Grund, warum gerade hier die einst wichtigste Siedlung der Ureinwohner entstand. O-Ton 9 Braem„Wir sind hier im barranco gomeros, im Westen von La Palma, und das ist eine besondere Zone, mit etwa 35 Höhlen der Ureinwohner. (...) Hier in dem barranco werden, hochgerechnet, 200 bis 250 Menschen gelebt haben, Männer, Frauen, Kinder.(…) Die Population der Einwohner hier, der Ureinwohner, wird ungefähr auf 10.000 geschätzt, zur Ankunft der Spanier, in zwölf Stämmen aufgeteilt.“ ATMO Schritte, Abstieg in den barranco SprecherÜber unwegsames Gelände geht es hinunter, zum Grund der Schlucht. Vor Ankunft der spanischen Eroberer, die Bäume und Sträucher in großer Zahl abholzten, dürfte der Barranco de Los Gomeros bewachsen und die Höhlensiedlung besser zugänglich gewesen sein. Heute prägen Sand, Fels und Geröll eine zerklüftete Landschaft, die schließlich ins Meer mündet.  O-Ton 10 Braem„Grundnahrungsmittel war das Meer. Dann war ja hier die Anbaumöglichkeit hier am Bach gegeben… Oder natürlich die Ziegen, die meiste Grundlage beruhte auf Ziegen. Also sowohl die Felle, für Kleidung. Oder die Sehnen, die Hörner. Also man konnte von der Ziege das Fleisch, alles verwenden. Das war hier so eigentlich eine ganz gut ausgewogene Kost zwischen Früchten… Beerensammler, nä? Und Gofio gabs ja auch. Gofio, das war die geröstete Wurzel des Farnkrauts...und dann hat man ein Mehl, so n Hirte hatte nen Beutel mit Gofio dabei für unterwegs: Schnell mal ein kleines Brot backen, oder so.“TC 11:14 - Höhlenfunde SprecherIn den Höhlen des Barranco de Los Gomeros fördern Archäologen noch immer zahlreiche Utensilien der Urkanarier zu Tage, weiß Harald Braem. ATMO Klettern O-Ton 11 Braem„Die interessantesten Sachen sind natürlich immer im vorderen Bereich, wo die Feuerstelle war, und wo man die Abfälle ´rauswarf. Und da findet man am meisten.“ MUSIK Sprecher Kunstvolle, aus Knochen geschnitzte Nadeln, mit denen die Ureinwohner Kleidung aus dem Leder der Ziegen nähten, fanden sich in den Höhlen ebenso wie steinernes Werkzeug, mit denen sie Fleisch schnitten. Unmengen an Splittern tönerner Töpfe lassen erahnen, dass hier groß aufgekocht wurde: Die Benahoaritas, so der Name der ersten Siedler auf La Palma, lebten wohl in Verbünden von Großfamilien zusammen. Ein Grund, warum die kanarischen Ureinwohner nicht in einzelnen Höhlen wohnten – sondern sich in Höhlenkomplexen niederließen: Überall dort, wo ihnen die vulkanische Geographie der Inseln genügend Platz bot. O-Ton 12 Dr. José Ignacio Sáenz, Leiter der archäologischen Stätte Cueva Pintada, Gáldar, Gran Canaria, span., Voice Over männlich„Diese Orte bestehen teils aus natürlichen Höhlen, teils aus künstlichen Eintiefungen, die die Ureinwohner so in den Berg schlugen, dass sie einerseits unterirdische Wohnräume hatten, andererseits aber auch die Flächen der Terrassen nutzen konnten, die die Geografie der Hanglage für sie bereithielt. Später kamen auch freistehende, runde Steinhäuser dazu. Es entstanden nach und nach immer komplexere Siedlungen, wie etwa im Gáldar – wo sich mehr als 60 Häuser rund um die Cueva Pintada, die „bemalte Höhle“, gruppieren.“ Sprecher...sagt José Ignacio Sáenz. Er leitet das Museum Cueva Pintada in Gáldar, im Nordwesten von Gran Canaria. Der heute knapp 25.000 Einwohner zählende Ort war einst Hauptstadt des Nordreiches der Altkanarier. An der Cueva Pintada von Gáldar zeigt sich, dass die kanarischen Ureinwohner Höhlen nicht nur für weltliche Zwecke nutzten O-Ton 13 Sáenz Voice Over männlich„Die Cueva Pintada war keine normale Grabkammer. Bei den dort aufgebahrten Mumien dürfte es sich, ähnlich wie bei christlichen Heiligen-Reliquien, um bedeutende Persönlichkeiten gehandelt haben. Diese Bestattung, möglicherweise eines kanarischen Herrschers, dürfte die Höhle zu einem ,heiligen Ort’ aufgewertet haben.“TC 13:38 – Rätsel über Rätsel MUSIK SprecherAuch die „bemalte Höhle“ von Gáldar hält, wie José Ignacio Sánz einräumt, letztlich mehr Fragen als Antworten über das Leben und Sterben der kanarischen Ureinwohner bereit. Denn deren Kenntnisse der Mumifizierung wollen nicht recht zu einem ausgewanderten Berbervolk aus Nordafrika passen: Dies rief den französischen Forscher Jean-Paul Canamas auf den Plan: Der behauptete, verbannte oder verschleppte Ägypter seien einst gemeinsam mit den Berbern auf die Inseln gelangt, und hätten dort ihre Bestattungsbräuche eingeführt. Doch warum unterscheiden sich die Arten der Mumifizierung der alten Ägypter und der Altkanarier dann so deutlich? Wie erklärt sich, dass die Ägypter Verstorbene ausweideten, die Urkanarier ihren dagegen mitsamt aller Organe einbalsamierten – und die Leichen schließlich auch noch in Lederhäute einnähten? Auch der Sinn und Zweck der Zeichen und Formen an der Wand der Cueva Pintada von Gáldar bleibt bis heute im Dunkel der Vergangenheit verborgen. Markierten die Kreise und Dreiecke, die Archäologen in unterschiedlicher Ausprägung auf allen Kanareninseln entdecken, die Zugehörigkeit zu einem Volk, Stamm oder Familie? Dienten sie einst als eine Art Kalender – oder für religiösen Riten? Die Forscherin Teresa Delgado glaubt: In der vorzeitlichen Gesellschaft der Urkanarier waren handfeste landwirtschaftliche Zwecke und spirituelle Praxis kaum zu trennen. O-Ton 14 Delgado Voice Over weiblich„Diese Menschen mussten den Blick nach oben richten, die Sterne, das Wetter und die Jahreszeiten verfolgen: Sie sahen sich also im wahrsten Sinn des Wortes den Himmelsmächten ausgesetzt.“ SprecherOb sich die Geheimnisse der indigenen Bildersprache jemals vollständig lüften lassen? José Ignacio Sáenz hat daran Zweifel: Denn die ersten Bewohner der kanarischen Inseln hinterließen keinerlei schriftliche Dokumente, ihre Kultur wurde mündlich überliefert. Selbst von ihrer Sprache sind nur Bruchstücke bekannt – etwa die Ureinwohner-Bezeichnung Guanche - die sich aus den Worten „Guan“ für „Mensch“ und „Chinet“ für die Insel Teneriffa zusammensetzt. So bleibt Wissenschaftlern wie Sáenz nur, Scherben zusammenzufügen, auf dass sich ein stimmiges Bild von den ersten Kanariern ergebe; oder, im wahrsten Sinn des Wortes, die Zeichen an der Wand zu deuten: Felsgravuren etwa, oder die Malereien in der Cueva Pintada. Doch diese in ihrer tieferen Bedeutung zu entschlüsseln: Für José Ignacio Sáenz eine schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe. O-Ton 15 Saénz Voice Over männlich„Als Archäologen kommen wir hier oft nicht weiter, weil wir mit den materiellen Zeugnissen einer Kultur arbeiten. Sobald es um die Welt des Denkens, des Glaubens, der Rituale und der Religion der Urkanarier geht, wird es für uns sehr schnell sehr kompliziert.“ SprecherDer Autor Harald Braem taucht in seinen Büchern und Filmen tief ein in diese mythenumrankte Welt der kanarischen Ureinwohner. Literarisch - und mit experimentellen Expeditionen folgt er den Spuren der Urkanarier, auch in seiner Wahlheimat La Palma. Die Gesellschaft der dort lebenden Benahoaritas, das wird dabei deutlich, war eine hierarchische. Die Autorität der Adelsklasse leitete sich ab aus dem Monopol über Mythen und Riten, aber auch aus der Fähigkeit, den Himmelskalender zu deuten. Als Mittler zwischen den Menschen und den übernatürlichen Kräften, als eine Art Priester und Zeremonienmeister traten dabei die Faycanes oder Fayzagues auf dem heiligen Berg der Ureinwohner auf: Dem Idafe – auf dem man Tiere opferte, die Götter beschwor - und weissagte. O-Ton 16 Braem„Also, Tieropfer, insofern, als man die Ziege danach aufgegessen hat, mit der ganzen Familie (lacht)...das ist klar. Aber die Innereien, das wurde dann zum Idafe hochgebracht, und dann auf einem kleinen Opferplatz hingelegt für die Seelenvögel, also Adler, Geier und Raben. Und dann hat man beobachtet, wie die Tiere sich verhalten haben. Und daraus dann geweissagt. Das ganze Ritual ging eigentlich immer um Himmel und Wasser. Dass es wieder regnet und das Wasser kommt. Da gabs ganz ausgeklügelte Rituale von Steinanbohrungen bis zu Zicklein, die angebunden wurden. Und die haben dann so gejammert, dass dann die große Regengöttin Munaiba dann ein Erbarmen hatte. Und hat´s dann regnen lassen“.TC 18:34 – Der Streit um Pyramiden MUSIK Sprecher Für kultische Zwecke genutzt worden sein soll auch eine Reihe von Steinbauten, die ebenfalls nach Himmelskörpern ausgerichtet sind - und die bis heute Rätsel aufgeben: Stufenpyramiden, die sich auf der Hälfte der acht kanarischen Inseln finden. Um den Ursprung der imposanten Bauten aus dunklem Lavastein entstand in den 1990er-Jahren eine erbitterte Kontroverse, an der sich Wissenschaftler und geschichtsinteressierte Laien, aber auch kanarischen Nationalisten und Esoteriker beteiligten. Auch Harald Braem hat gemeinsam mit dem norwegischen Archäologen Thor Heyerdahl an der Pyramide von Güimar auf Teneriffa gegraben. Nach Heyerdahls abenteuerlich anmutender These bildeten die kanarischen Pyramiden sowohl zeitlich als auch geografisch eine Zwischenstation auf dem Weg von ägyptischen Sonnenanbetern zu den Maya in Mexiko. Demnach wäre ihre Bauzeit rund 1000 Jahre vor Christi anzusiedeln. Kanarische Wissenschaftler wie die Kuratorin des Museo Canario von Las Palmas, Teresa Delgado, reagieren auf solche Spekulationen zunehmend gereizt. O-Ton 17 Delgado Teil 1 Voice Over weiblich„Diese Pyramiden haben nichts mit der Welt der kanarischen Ureinwohner zu tun“ Sprecher..erklärt Teresa Delgado, Kuratorin des Museo Canario in Las Palmas de Gran Canaria. O-Ton 17 Delgado Teil 2 Voice Over weiblich„Das sind Anhäufungen von Lesesteinen, die Bauern von ihren Feldern entfernt haben, die Stufen wurden dazu angelegt, um Früchte oder Getreide zu trocknen. Archäologen haben die Pyramiden nach Ausgrabungen eindeutig auf die Zeit nach der spanischen Eroberung datiert. Es ist schon wichtig, hier der wissenschaftlichen Evidenz zu folgen: Wir können nicht einfach Geschichten verbreiten, die nicht durch die Evidenz wissenschaftlicher Erkenntnis gedeckt sind.“ Sprecher Diese „archäologischen Erkenntnisse“, entgegnet der deutsche Professor Harald Braem, seien das Ergebnis lediglich einer Grabung - und ließen andere Funde und historische Quellen außer Acht. O-Ton 18 Braem„Tatsächlich beschreiben Chronisten wie Leonardo Torriani die Rituale auf solchen Pyramiden. Das gabs ja vor den Spaniern! Da wurden die Könige, die Menceys gekrönt, da wurden die Feste gefeiert an diesen Pyramiden…und wir haben zum Beispiel unter der einen Pyramide eine Höhle ausgegraben, da lagen Scherben, und zwar der Ureinwohner! Also man wird nicht ernst genommen. Oder, die Ureinwohner werden nicht ernst genommen.“ MUSIK Sprecher Es mangle an Finanzmitteln und Motivation, behauptet Braem. Und es fehlten Forscherinnen und Forscher mit einem frischen Blick, um das archäologische Erbe der kanarischen Ureinwohner unvoreingenommen zu erkunden, ihre steinernen Zeugnisse zum Sprechen zu bringen. Und dennoch: Trotz aller Kritik ist Harald Braem zuversichtlich, dass die weit zurückliegende Zivilisation der Urkanarier nicht in Vergessenheit geraten wird. O-Ton 19 Braem„Die Kultur hier ist irgendwie in den Menschen drin, in der Landschaft: Die ist auf eine magische Weise so kraftvoll, dass sie einfach überlebt.“TC 21:45 – Outro

Get the Snipd
podcast app

Unlock the knowledge in podcasts with the podcast player of the future.
App store bannerPlay store banner

AI-powered
podcast player

Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features

Discover
highlights

Listen to the best highlights from the podcasts you love and dive into the full episode

Save any
moment

Hear something you like? Tap your headphones to save it with AI-generated key takeaways

Share
& Export

Send highlights to Twitter, WhatsApp or export them to Notion, Readwise & more

AI-powered
podcast player

Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features

Discover
highlights

Listen to the best highlights from the podcasts you love and dive into the full episode