

WESTDEUTSCHLAND NACH 1945 - Aufschwung durch den Korea-Krieg
Der erste heiße Konflikt im Kalten Krieg erschütterte die Welt - auch die Bonner Republik. Im Juni 1950 überschritten Soldaten des kommunistischen Machthabers Kim Il-sung den 38. Breitengrad, die Trennlinie zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Einflussbereich in Korea. Doch der Konflikt sollte Bonn und Westalliierte zu Bündnispartnern verschweißen. Für Westdeutschland begann ein unverhofftes Wirtschaftswachstum. Von Volker Eklkofer und Simon Demmelhuber (BR 2020)
Credits
Autoren: Volker Eklkofer & Simon Demmelhuber
Regie: Martin Trauner
Technik: Helge Schwarz
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel & Peter Veit
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Thomas Schlemmer
Linktipps
Alles Geschichte (2024): Der Koreakrieg – Wie aus Brüdern Feinde wurden
Der Koreakrieg, ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg zwischen 1950 und `53, forderte mehrere Millionen Menschenleben. Wirklich beendet ist er bis heute nicht. Im Juli 1953 wurde nur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Von Isabella Arcucci (BR 2013). JETZT ANHÖREN
ZDF (2020): Pulverfass Korea – Konflikt ohne Ende
Manche Experten sehen im Koreakrieg das wichtigste weltpolitische Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg. Niemals wirklich beendet, beeinflusst er weiter internationale Beziehungen. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
Erzähler
Sonntag, 25. Juni 1950. In Korea beginnt der Sommermonsun. Es gießt in Strömen. In den frühen Morgenstunden entladen sich heftige Gewitter entlang des 38. Breitengrads. Im Tosen des Sturms nehmen die südkoreanischen Soldaten an der Grenze zu Nordkorea den anschwellenden Geschützdonner ebenso wenig wahr wie ihre amerikanischen Militärberater. Der Angriff des kommunistischen Diktators Kim
Il-sung, eines engen Verbündeten der UdSSR, überrollt den unvorbereiteten Gegner. In Blitzkriegsmanier stoßen Kims Truppen vor, besetzen die Hauptstadt Seoul und kontrollieren bereits im August weite Teile Südkoreas.
Erzählerin
Die Welt ist geschockt, der Kalte Krieg ist plötzlich heiß geworden. Die erst fünf Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen greifen militärisch ein. Weil bei der entscheidenden Sitzung des Sicherheitsrats der Vertreter der Sowjetunion fehlt, fällt der Beschluss für eine Kampftruppe, die mit Gewalt Frieden schaffen soll. Mehrere Nationen stellen Kontingente, Anfang Juli übernehmen die USA das Kommando.
Erzähler
Während die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zum Gegenschlag rüsten, flackern in Westdeutschland Kriegsängste auf.
MUSIK
Erzählerin
Nach den aufwühlenden Ereignissen der letzten beiden Jahre – Währungsreform, Berlin-Blockade, Gründung von Bundesrepublik und DDR, erste Bundestagswahl, Regierungsbildung – ist die Sehnsucht nach einer Verschnaufpause groß. Doch mit einem Schlag ist alles anders. Am anderen Ende der Welt tobt Krieg. In einem Land, das wie Deutschland seit 1945 in eine sowjetische und eine amerikanische Einflusszone geteilt ist. In einem Land, in dem die Gegensätze zwischen Ost und West ebenso heftig aufeinanderprallen. Ist das ein Omen? Droht ein deutsches Korea?
Zitator
Der Überfall der nordkoreanischen Kommunisten auf Südkorea und die Kampfhandlungen dort erfüllten die deutsche Bevölkerung mit großer Unruhe.
Erzähler
…schreibt Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, in seinen „Erinnerungen“. Mit der grassierenden Furcht der Menschen hat sich auch der Historiker Dr. Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte beschäftigt.
Zuspielung Schlemmer 1
Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Leute massenhaft auf die Straße gegangen wären, um zu demonstrieren. Die Unruhe spielt sich hauptsächlich im privaten Umfeld ab. Ja, man merkt es zuhause in den Familien. Der Zweite Weltkrieg ist grad‘ fünf Jahre zu Ende, der doch fast in jeder deutschen Familie tote Familienangehörige gefordert hat. Das ist noch sehr präsent gewesen, entsprechend auch die Angst. Und dazu kommt etwas, was man heute auch vergessen hat, und das ist die Realität der deutschen Teilung. Wenn es denn zu einem deutschen Korea gekommen wäre, hätten hier erstmals Deutsche auf Deutsche geschossen - und das zu einer Zeit, wo die deutsche Teilung ja auch erst seit einem Jahr harte Realität war.
ATMO Aufgeregtes Gemurmel
MUSIK
Erzählerin
Im Bundeskanzleramt herrscht Nervosität. Augenzeugen berichten von der panischen Angst Adenauers in den Tagen nach dem Kriegsausbruch. Was, wenn die DDR mit dem Segen Moskaus die junge Republik angreift? Die Gefahr scheint Adenauer durchaus real. Der Kanzler weiß, dass Ostdeutschland seit 1948 eine paramilitärische Truppe aufstellt. Die kasernierte Volkspolizei zählt mittlerweile 60.000 Mann unter Waffen. Ihr stehen in Westdeutschland nur schwache Polizeikräfte gegenüber, die zudem auf Länderebene organisiert sind. Diese Ordnungshüter, bemerkt Adenauer sarkastisch, wären nicht einmal in der Lage, demonstrierenden Kommunisten die Plakate abzunehmen.
Erzähler
Erst als im Juli 1950 klar wird, dass die USA tatsächlich bereit sind, Südkorea mit einem massiven Militäreinsatz zu verteidigen, legen sich die ärgsten Befürchtungen in Bonn. Und der Politfuchs Adenauer erkennt die Chancen, die sich im Windschatten des Koreakriegs für seinen halbsouveränen Staat bieten.
Erzählerin
Die Bundesrepublik ist nach wie vor ein besetztes Land. Neben dem Grundgesetz gilt ein Besatzungsstatut, das den Westmächten, vertreten durch einen amerikanischen, englischen und französischen Hochkommissar, Kontrollrechte einräumt.
Erzähler
Adenauer fürchtet Stalin und die Sowjetunion. Für ihn liegt das Heil im Westen, hier möchte er eine souveräne Bundesrepublik als gleichberechtigten Partner fest verankert sehen. Um diesem Ziel näherzukommen, will er Westdeutschland fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederbewaffnen. Durch einen eigenen Verteidigungsbeitrag soll die Bundesrepublik Vertrauen schaffen, sich aus der Pariarolle des Kriegsverlierers befreien und zum Verbündeten der westlichen Welt aufsteigen.
Erzählerin
Ein riskantes Vorhaben. Denn die Menschen in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Italien haben den totalen Krieg des Dritten Reichs und die Verbrechen von Wehrmacht und SS längst nicht vergessen.
Erzähler
Aber Adenauer macht Druck. Mitte August 1950 fordert er in der „New York Times“ eine „starke deutsche Verteidigungsmacht“. Rückendeckung bekommt er unter anderem von Englands Kriegspremier Winston Churchill, der auf die Schaffung einer Europaarmee drängt. In den USA findet der Kanzler vor allem im Pentagon viel Zustimmung. Auch bislang unerbittliche französische Regierungsmitglieder äußern angesichts des Koreakriegs Verständnis. Sogar der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher lässt sich im September zu einer Erklärung hinreißen:
Zitator
Wir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffs übernehmen und sich mit größtmöglicher Macht an der Elbe etablieren.
Erzählerin
Damit ist Adenauer ein echter Coup geglückt. Von nun an steht die Frage der deutschen Wiederbewaffnung auf der Tagesordnung aller internationalen Treffen. Noch im September 1950 stimmen die Westalliierten der Bildung einer 30.000 Mann starken Polizeitruppe zu. So entsteht der halbmilitärische Bundesgrenzschutz, aus dem später die Bundespolizei hervorgeht. Das Projekt Europaarmee scheitert zwar am Widerstand der französischen Nationalversammlung, doch das schadet der westdeutschen Integration keineswegs. Für westliche Sicherheitsinteressen wird die Bundesrepublik bald unverzichtbar. Während sich der Kalte Krieg verschärft, wächst sie immer stärker in die westliche Welt hinein und wird zum Verbündeten aufgewertet.
MUSIK
ATMO Kriegslärm & Schreie
Erzähler
Zurück nach Korea. Hier rollt seit September 1950 die Gegenoffensive der UNO-Truppen. Das Kommando hat der legendäre amerikanische Fünf-Sterne-General Douglas McArthur, ein egozentrischer Militär mit Hang zu goldbetressten Mützen. Beide Seiten führen den Krieg mit äußerster Brutalität. Massaker sind an der Tagesordnung, Flächenbombardements der US-Luftwaffe radieren ganze Landstriche aus. Rücksicht auf die Zivilbevölkerung gibt es nicht.
Erzählerin
Als die UN-Streitkräfte den Nordkoreanern heftige Niederlagen zufügen und zur chinesischen Grenze vorrücken, schickt Mao tse-tung im November 1950 hunderttausende Zwangs-Freiwillige zur Unterstützung Nordkoreas an die Front. Im Frühjahr 1951 droht die Lage vollends zu eskalieren. Der in den USA äußerst einflussreiche General McArthur fordert die Ausweitung des Koreakriegs auf China und den Einsatz von Atombomben. US-Präsident Truman zieht die Notbremse und entlässt McArthur. Die Entscheidung Trumans wird in den USA scharf kritisiert, New York empfängt den gefeuerten Rückkehrer McArthur demonstrativ mit einer Konfettiparade. Im Mai frisst sich die Front zwischen Nord- und Südkorea fest – genau dort, wo der Krieg begann, am 38. Breitengrad. Auf Initiative der Sowjetunion beginnen im Juli Waffenstillstandsverhandlungen, doch erst zwei Jahre später wird die Waffenruhe im Grenzort Panmunjon besiegelt. Das Land bleibt geteilt, bis heute gibt es keinen Friedensvertrag.
MUSIK
Erzähler
In Westdeutschland ebbt der Koreaschock in der zweiten Jahreshälfte 1950 allmählich ab. Das robuste Vorgehen der Amerikaner stärkt das Vertrauen in die westliche Führungsmacht. Die Menschen widmen sich wieder ihren Alltagsproblemen.
Erzähler
Und davon gibt es nicht wenige, denn der junge Staat steckt tief in einer Gründungskrise. Trotz Währungsreform kränkelt die Wirtschaft. Zwar ist der Schwarzmarkt kollabiert, die Läden sind voller Waren, doch die Löhne stagnieren und die Arbeitslosenzahl klettert auf über zwei Millionen. Zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene leben in Armut, sozialer Sprengstoff sammelt sich an.
Erzählerin
Noch im Sommer 1950 stellen die USA auf Kriegswirtschaft um. Die westliche Führungsmacht fährt die Rüstungsproduktion hoch und ist zur Versorgung der Koreatruppen sogar gezwungen, im Ausland einzukaufen. Das ist die Stunde der westdeutschen Nachkriegswirtschaft. Bislang humpelte sie mehr schlecht als recht auf einem Bein, der Binnenkonjunktur. Jetzt darf sie in die Bresche springen und den Weltmarkt versorgen. Auf amerikanischen Druck heben die Siegermächte sogar die nach 1945 erlassenen Produktionsbeschränkungen für die Schwerindustrie auf.
Erzähler
Zwar verursachte der Bombenkrieg immense Schäden in zahlreichen deutschen Städten, doch nur ein Viertel der Industriekapazität ist zerstört. Trotz einiger Demontagen sind ausreichend Produktionsstätten vorhanden, es gibt qualifiziertes Personal und mit mehr als zehn Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen ein riesiges Arbeitskräftereservoir. Milde als „Mitläufer“ entnazifiziert oder gar als „entlastet“ eingestuft, besetzen viele alte Manager erneut die Chefetagen. Thomas Schlemmer:
Zuspielung Schlemmer 2
Und was haben sie anzubieten? Stahl haben sie anzubieten, Maschinen haben sie anzubieten und Kraftfahrzeuge haben sie anzubieten. Vor allem zivile Kraftfahrzeuge haben sie anzubieten, die dann stärker nachgefragt werden, nachdem eben amerikanische Kraftfahrzeugfirmen jetzt Militärfahrzeuge herstellen. Und chemische Industrieprodukte, Kohlechemie, Petrochemie. Und diese vier Warengruppen – Stahl, Kraftfahrzeuge, Maschinen und Produkte der chemischen Industrie, die stützen die erste Phase des deutschen Exportwunders.
MUSIK
Erzählerin
Mehr und mehr kommt die Außenwirtschaft in Schwung. Was immer die Welt benötigt, Made in Germany liefert. Während Korea in Gewalt und Blut versinkt, verdoppeln sich im Zeitraum Juni 1950 bis Juni 1951 die Ausfuhren. Der Koreaboom übertrifft die kühnsten Erwartungen. Es sind nicht nur altbekannte Konzerne wie BASF, Siemens oder AEG, die die Hochkonjunktur beflügeln. Auch Mittelständler fassen international Fuß. Diese Industrieunternehmen ziehen andere Branchen mit nach oben. Zehn Jahre lang glänzt die Wirtschaft mit einem Wachstum von rund 8 Prozent jährlich. Bereits 1952 wird die Bundesrepublik Mitglied beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Sie spielt nun in der ersten Liga, ist kreditwürdig.
Erzähler
Die 50er Jahre sind die Zeit der Traumkarrieren. Adolf Dassler, schon im „Dritten Reich“ Sportschuhersteller, packt wieder an. Die deutsche Fußballnationalmannschaft, die 1954 das „Wunder von Bern“ vollbringt, trägt seine Schuhe mit den drei Streifen. Heute ist Adidas eine Weltmarke. Max Grundig, der 1930 sein erstes Radiogeschäft eröffnet, wird führender Rundfunkgeräteproduzent Europas, 1953 produziert er fast 40.000 Radios. Gustav Schickedanz baut eines der größten Versandhäuser der Welt auf, sein berühmter Quellekatalog erscheint erstmals 1954. Heinz-Horst Deichmann, als junger Soldat an der Ostfront schwer verwundet, studiert von 1946 bis 1952 Theologie und Medizin. Ab1956 leitet er das Familienunternehmen und macht sich einen Namen als größter Schuheinzelhändler Europas. Reinhold Würth übernimmt 1954 im Alter von 19 Jahren den Schraubenladen seines verstorbenen Vaters und zeigt, dass er den Dreh raus hat.
Er schafft ein Schrauben- und Dübelimperium, betreibt Hotels und Spitzenrestaurants und baut eine Kunstsammlung mit 18.000 Werken zusammen.
MUSIK
Erzählerin
Der Aufschwung macht die Westdeutschen wohlhabend, die Nachfrage nach Konsumgütern wächst. Bald fehlen den Betrieben Arbeitskräfte, DDR-Flüchtlinge, Übersiedler und ab 1955 erste Gastarbeiter füllen die Lücke. Das individuelle Realeinkommen verdoppelt sich bis 1960, bis 1973 verdreifacht es sich. Man kann sich wieder etwas leisten: Radio, Kühlschrank, Fernseher, VW-Käfer, Italienurlaub.
Erzähler
Vor allem aber kann die Regierung Adenauer eine großzügige Sozialpolitik betreiben. Sie verschafft Flüchtlingen und Vertriebenen Grund und Boden, entschädigt sie für ihre Verluste, versorgt Kriegswitwen und -waisen, bringt eine Rentenreform auf den Weg und vergisst auch Opfer des Nationalsozialismus nicht. Die sozialpolitischen Maßnahmen sorgen für Ausgleich und tragen dazu bei, dass sich die Masse der Deutschen von Hitlers Führerstaat abkoppelt und die Demokratie annimmt. Die nationalsozialistische Tätergemeinde geht währenddessen spurlos in der Nachkriegsgesellschaft auf.
Zuspielung Schlemmer 3
Diese Verteilungsspielräume, die werden eben durch des geschaffen, was man gemeinhin das Wirtschaftswunder nennt, und ein Katalysator dieses Wirtschaftswunders ist eben der Koreakrieg, weil er der westdeutschen Industrie neue Expansionsmöglichkeiten eröffnet. Die Gießkanne war sehr gut gefüllt und es werden schon spezifische Gruppen besonders bedacht: Das sind eben die Alten und das sind die Opfer des Krieges. Und da entsteht auch eine Art von Zusammengehörigkeit und von Gemeinschaft, die bestimmte politische Gräben hinwegreicht.
MUSIK
Erzählerin
Im Oktober 1954 gehen Konrad Adenauers Bewaffnungswünsche endlich in Erfüllung: Westdeutschland wird Gründungsmitglied des Verteidigungspaktes Westeuropäische Union und tritt der NATO bei. Die Pariser Verträge beenden auch die Besatzungszeit und geben der Bundesrepublik die staatliche Souveränität zurück. Pazifistische Gruppen wie die „Ohne-mich-Bewegung“ protestieren vergeblich gegen die Militarisierung. Der Bundestag stimmt dem Vertragswerk gegen alle Bedenken im Februar 1955 zu.
Erzähler
Nun gilt es, die Bundeswehr aufzubauen und für Bewaffnung und Ausstattung zu sorgen. Ein Bundesland steht dabei buchstäblich Gewehr bei Fuß: Bayern.
Erzählerin
Bayern steckt zu Beginn der 1950er Jahre mitten im Wiederaufbau. Viele Städte sind noch von verheerenden Kriegsschäden gezeichnet. Würzburg und Donauwörth haben besonders unter den Bombenangriffen gelitten: Drei Viertel der Gebäude liegen in Schutt und Asche. Nürnberg ist zur Hälfte, München zu einem Drittel zerstört. Zwei Millionen Vertriebene müssen versorgt werden.
Noch immer lebt ein Drittel der Bewohner Bayerns von der Landwirtschaft. Die Gewerbe- und Industriebetriebe, die schon vor dem Krieg hier ansässig waren, kommen aber langsam wieder in Fahrt.
Erzähler
Doch in Bayern schlummert noch ungenutztes ökonomisches Potential. Brachliegende Relikte der NS-Kriegswirtschaft, ihre Produktionsanlagen und Experten warten auf ein Comeback.
Zuspielung Schlemmer 4
Bayern ist lange der so genannte Luftschutzkeller des Reiches, das heißt, der strategische Bombenkrieg reicht über eine bestimmte Linie nicht hinaus. Und deswegen ist Bayern lange Zeit vergleichsweise sicher vor Bombenangriffen. Viele Industriebetriebe werden entweder nach Bayern verlagert oder in Bayern neu aufgebaut. Und des trifft vor allem zukunftsfähige Industrien im Bereich des Kraftfahrzeugbaus und im Bereich der optischen Industrie, im Bereich der chemischen Industrie und im Bereich des Flugzeugbaus. Und aller Demontagen und Zerstörungen zum Trotz sind da viele Kerne nach wie vor vorhanden und lassen sich aktivieren.
Erzählerin
Zudem verlassen bedeutende Unternehmen wegen des Kalten Kriegs die „Frontstadt“ Berlin, andere wandern im Streit mit dem SED-Regime aus Mitteldeutschland in den Süden ab. Siemens verlegt seine Konzernzentrale nach München, BMW gibt den Standort Eisenach auf und produziert Autos in Bayern. Die sächsische Auto Union schlägt in Ingolstadt Wurzeln.
Erzähler
Der Umbau der bayerischen Wirtschaft braucht Zeit, das „Wirtschaftswunder“ setzt daher erst mit Verspätung ein.
Aber eine andere Folge des Koreakriegs, die Wiederbewaffnung, ist purer Kraftdünger für eine ökonomische Sondersparte: Rüstung und Wehrtechnik. Schon der Bundesgrenzschutz braucht Standorte, Dienststellen, Fahrzeuge und Bekleidung, dann in weit größerem Ausmaß die Bundeswehr. Das bringt großen Unternehmen und kleinen Betrieben Aufträge und schafft Arbeitsplätze.
Erzählerin
In Teilen des Freistaats, vor allem im Süden, ist die Rüstungsinfrastruktur aus der NS-Zeit noch intakt. Alles was sie braucht, ist eine kleine Aufbauspritze. Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte:
Zuspielung Schlemmer 5
Des is eine Mischung aus dem, was schon da ist, beispielsweise Oberpfaffenhofen, das ist ein Luftfahrterprobungszentrum von Hitlers Luftwaffe schon, Messerschmitt in Augsburg und in Regensburg, BMW in München, BMW kennt man heute hauptsächlich eben aufgrund seiner Kraftfahrzeuge, is aber der führende mit Daimler Benz zusammen Flugzeugmotorenhersteller der Luftwaffe; aus dem dann MTU auch hervorgeht, die ja bis heute in dieser Sparte aktiv sind. Hat a so a bissel verkehrsstrategische Gründe auch – die Autobahn nach Berlin, die Donau als Wasserstraße, das spielt für Ingolstadt ne gewisse Rolle, Nürnberg immer schon ein Standort der elektrotechnischen Industrie gewesen, die ja auch wehrmäßig wichtig ist, optische Industrie in München – Rodenstock – spielt da eine ganz große Rolle. Also das sind ja keine neuen Firmen, die man dann hier hochzieht, sondern das ist die Entwicklung des Bestandes, der sich hier tatsächlich vor 1945 auch schon hier im südbayerischen Raum konzentriert hat mit einigen Ablegern eben auch in Nürnberg und Fürth.
Erzählerin
Vor allem ein Politiker treibt die Entwicklung unermüdlich voran: Franz Josef Strauß, zunächst Atomminister, dann von 1956 bis 1962 Bundesverteidigungsminister.
Zuspielung Schlemmer 6
Franz Josef Strauß setzt bewusst auf die Förderung der heimischen Rüstungsindustrie, weil er sich davon struktur- und rüstungspolitische Effekte erhofft.
Erzählerin
Strauß will sich nicht nur auf die Schutzmacht USA verlassen. Er setzt auf eine eigenständige europäische Rüstungs- und Verteidigungspolitik, von der deutsche Unternehmen profitieren sollen. In erster Linie aber will Strauß, dass seine bayerische Heimat ein großes Stück vom Kuchen abbekommt. Seine Standortpolitik reicht vom Kasernenbau in strukturschwachen Gebieten bis zum Flugzeugkauf bei bayerischen Firmen. Mit lukrativen Aufträgen greift das Bonner Verteidigungsministerium auch kriselnden Unternehmen unter die Arme.
Zuspielung Schlemmer 7
Einen erhält beispielsweise die Auto Union, später Audi. Der erste Kübelwagen, der Munga, stammt aus Ingolstädter Produktion. Es ist ein ganz wichtiges Zwischenprodukt, der die Firma in einer schwierigen Zeit am Leben hält.
Zitator
Franz Josef Strauß, heißt es anerkennend in Bonn und München, kümmert sich um alles – vom Atomsprengkopf bis zum Uniformknopf.
MUSIK
Erzähler
Der Koreakrieg endet 1953. Er fordert drei bis vier Millionen Tote, darunter knapp 40.000 Amerikaner und 400.000 Chinesen. Bei uns ist er heute fast vergessen, doch er hat wichtige wirtschaftliche und politische Entwicklungen angeschoben. Er hat den Westdeutschen ein unerwartet rasches „Wirtschaftswunder“ beschert und der Bundesrepublik geholfen, nach der totalen Niederlage 1945 als souveräner Staat in den Kreis der Völkerfamilie zurückzukehren.
Aber er hat auch die Gräben zwischen Ost und West vertieft und die deutsche Teilung verfestigt – bis hin zum Mauerbau 1961, dessen Folgen wir heute noch spüren.
Zuspielung Schlemmer 8
Ich würd sagen, der Koreakrieg ist ein wichtiger Katalysator. Er beschleunigt etwas. Und er beschleunigt vor allem die drei großen W, die diese 50er Jahre ausmachen: Er beschleunigt den Wiederaufbau, er beschleunigt das Wirtschaftswunder und er beschleunigt die Westintegration. Und ein viertes W könnte man noch nennen, subsummierend unter die Westintegration, die Wiederbewaffnung. Diese vier Punkte werden alle schneller durch den Koreakrieg.