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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Dec 23, 2023 • 23min

WEIHNACHTSGESCHICHTE(N) - Deutsch-tschechische Fernsehmärchen

Nach dem Prager Frühling 1968 liegt das Kulturleben der Tschechoslowakei brach. Ein Genre aber bietet "verbotenen" Autoren, Regisseuren und Schauspielern nach wie vor Lohn und Brot: Der Kinderfilm. Gemeinsam mit öffentlich-rechtlichen Partnern in der BRD oder mit der DEFA in der DDR produzieren Prager Filmstudios eine ganze Reihe Erfolgsserien und -filme. Bis heute gilt: Kein Weihnachten ohne "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel". Autorin: Susi Weichselbaumer (BR 2021)Credits Autorin dieser Folge: Susi WeichselbaumerRegie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Julia Fischer, Friedrich Schloffer, Katja Schild Technik: Susanne HerzigRedaktion: Andrea BräuLinktipps:Deutsches Filminstitut & -museum: Filmgeschichte in ObjektenWelche Geschichte verbirgt sich hinter den roten Haaren aus LOLA RENNT? Wie stellte sich Filmarchitekt Otto Hunte die Zukunftsstadt Metropolis vor? "Filmgeschichte in Objekten" gibt Einblicke in die Ausstellungen, Archive und Sammlungen des DFF – Deutsches Filminstitut und Filmmuseum. In kurzen Beiträgen erzählen Mitarbeiter:innen die spannenden Geschichten hinter den Objekten - von der Anekdote zu ihrem Einsatz beim Filmdreh über ihren mitunter unerwarteten Gegenwartsbezug bis hin zu ihrer bewegten Provenienzgeschichte.Abonniert auch den DFF-Podcast "Alles ist Film"! JETZT ANHÖRENMDR Dok (2023): Drei Haselnüsse und ein Mythos – 50 Jahre AschenbrödelDie MDR-Doku "Drei Haselnüsse und ein Mythos - 50 Jahre Aschenbrödel" ergründet die vielen, immer wieder neu gestellten Fragen zum Film und zu seinen Dreharbeiten: Warum wurde im eisig kalten Winter und nicht im Sommer gedreht, wofür die Kostüme eigentlich geschneidert waren? Wie wurde aus dem armen Aschenbrödel aus dem Märchen im Film eine Figur, die keck und selbstbewusst für ihr Glück kämpft? Wie wurde aus einer tschechischen Filmidee eine Kooperation mit der DEFA? Wo steht die prächtige Kalesche, die einst den großen Mimen Rolf Hoppe als König durch Moritzburg fuhr? Welche Rolle spielten für den Film Kunstschnee und Fischmehl? Und wie ist es dem genialen Komponisten der Filmmusik ergangen? Dafür blickt die Doku im Gestüt Moritzburg und im Moritzburger Schloss hinter für die Öffentlichkeit verschlossene Depottüren und Remisentore. Pavel Trávníček erinnert sich in den Barrandov-Filmstudios Prag an die Dreharbeiten vor 50 Jahren. Zur Doku geht es HIERDeutschlandfunk (2015): Tschechisches Kino – Mehr als Märchen und bittersüße Komödien Kaum internationale Erfolge, bei Festivalmachern mit Vorurteilen belegt: Das tschechische Kino hat auch schon bessere Zeiten erlebt. Dabei hat es weit mehr zu bieten als Märchen und Komödien. Was läuft da falsch? ZUM BEITRAGUnd hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-InteressierteIm Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Aschenbrödels MagieTC 03:41 – Das ZufluchtsgenreTC 05:51– Über die Grenzen von Ost und West hinweg TC 08:12 – Die Erfolge der Achse Köln - PragTC 11:54 – Von inkompetenten Eltern und mutigen KindernTC 14:38 – Tschechische Märchen: Keine Kategorie BTC 18:41 – Völkerverständigung durch Freundschaft und GerechtigkeitTC 21:58 – Outro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Aschenbrödels Magie MUSIK Drei Haselnüsse für Aschenbrödel Z9379692 004 (2.08) ERZÄHLERINSanft fliegen die beiden Schimmel durch die weißverschneite Winterlandschaft. Auf dem einen Aschenbrödel im weißbauschigen Brautkleid, mit blitzendem Diadem in den wehenden braunen Haaren. Daneben reitet der Prinz im Prachtornat. Er greift ihre Hand, sie lächelt zu ihm hinüber. ERZÄHLEREr lächelt zu ihr herüber. ERZÄHLERINBeide lächeln, sie lächeln einander zu. ERZÄHLERUnd lächeln. Und lächeln weiter. Und das jedes Weihnachten. Auf sämtlichen öffentlich-rechtlichen Sendern. ERZÄHLERINSeit der Erstausstrahlung 1973 ist „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ abonniert aufs Adventsprogramm. In Deutschland und im Rest Europas. Generationen von Kindern haben im Fernsehen verfolgt, wie das arme schmutzige Mädchen Tag und Nacht im Gutshaus schuften muss für die böse Stiefmutter und die hinterlistige Stiefschwester. Bis sie schließlich in den Armen des Königssohns landet.  ERZÄHLERAlle Weihnachten wieder… Aus jeder Zaubernuss purzelt ein neues Gewand. 1 ZU (Wally Drei Nüsse 0.00)Erst kriegt sie so einen schicken Jägeranzug, dann kriegt sie ein Kleid für den Ball und dann kriegt sie ein Kleid zum Heiraten. ZITATORIN„Die Wangen sind mit Asche beschmutzt, aber der Schornsteinfeger ist es nicht…“ 2 ZU (Wally Drei Nüsse 0.44)Ich finde so lustig, dass Aschenbrödel so ein kleines Rätsel stellt. Weil sie sagt zum Beispiel, die hat ja immer im Haus gearbeitet: Wer ist so schwarz wie ein Kaminkehrer, ist aber kein Kaminkehrer? ZITATORIN„Ein Hütchen mit Federn, die Armbrust über der Schulter, aber ein Jäger ist es nicht…“ 3 ZU (Wally Drei Nüsse 0.44)Alle, die den Film bis dahin geschaut haben, wissen, das war Aschenbrödel. ERZÄHLERDas weiß jeder, weil alle Jahre Weihnachten... ZITATORIN„Zum Dritten: Ein silbergewirktes Kleid mit Schleppe zum Ball, aber eine Prinzessin ist es nicht, mein holder Herr.“ ERZÄHLERINEs ist kein Wunder, dass das alle immer wieder ansehen, sagt die Berliner Kinderfilmregisseurin und Autorin Katharina Schöde. Für sie sind die tschechischen Märchenfilme und Kinderserien der 1970er und frühen 1980er Jahre Marksteine der Filmgeschichte. Und Inspiration für ihre eigene Arbeit heute: 4 ZU (Schöde 0.13)Das Besondere daran ist, dass es so wahnsinnig phantasiereich ist und die Kinder so abgeholt hat, total auf Augenhöhe erzählt wurde und so eine bestimmte Magie hat, die nicht mit dem Zeigefinger daherkam, sondern Spaß gemacht hat. MUSIK Pan Tau C1228760 216 (0.46) ERZÄHLERIN„Die kleine Meerjungfrau“, „Prinz und Abendstern“, „Der dritte Prinz“, „Der Salzprinz“, „Däumling“ – die tschechische Kinderfilmbranche boomt in jener Zeit. Und bringt Stars hervor wie Aschenbrödel-Darstellerin Libuse Safránková. ERZÄHLERIm Folgejahrzehnt und darüber hinaus Dauerprinzessin auf den Bildschirmen! ERZÄHLERINAuch in den prominent besetzten Reihen für Kinder geht es magisch und märchenhaft zu: „Pan Tau“, „Der Fliegende Ferdinand“, „Luzie, der Schrecken der Straße– die Prager Filmstudios Barrandov produzieren damals einen Hit nach dem anderen. TC 03:41 – Das Zufluchtsgenre ERZÄHLERImmer nur stetig nach oben führt der tschechische Weg zum Erfolg allerdings nicht. Die politischen Umstände sind schwierig. Nach einer Phase der Öffnung scheitern 1968 die Reformbemühungen der Kommunistischen Partei KSC. Der Prager Frühling ist zu Ende. Die Tschechoslowakei nimmt politische Lockerungen wieder zurück. Presse- und künstlerische Freiheit werden beschnitten. Wer als oppositionell eingestuft wird, erhält Berufsverbot oder erlebt zumindest Einschränkungen. 5 ZU (Schöde 0.58) Es gibt Leute, die sagen, dass gerade diese Kinderserien oder Märchenserien aus Tschechien auch so ein Zufluchtsgenre waren, dass viele Regisseure, die damals nicht die Filme machen durften, die sie wollten, sich einfach da ausgetobt haben, und viele tolle Leute diese Filme gemacht haben und das merkt man glaube ich auch. ERZÄHLERINFür etliche Regisseure, Drehbuchschreibende, Schauspielerinnen und Schauspieler, aber auch Kameraleute ist die Karriere nach dem Prager Frühling eigentlich jäh zu Ende. Doch eine Nische öffnet sich, besser: ein Mann schließt sie auf. MUSIK All clued up Z8034434 107 (0.38) TC 05:51 - Über die Grenzen von Ost und West hinweg ERZÄHLER  Ota Hofmann, national gefeierter Kinder- und Jugendbuchautor, der in dieser Rolle sämtlichen politischen Umstürzen trotzt. Seit 1955 arbeitet der Prager als Dramaturg für Kinderfilme in den renommierten Filmstudios Barrandov. Dort wird er Leiter der Kinderfilm-Produktionsgruppe. Auf einem Filmfest Mitte der 60er Jahre lernt er den Kinderfilm-Verantwortlichen des Westdeutschen Rundfunks kennen, Gert Müntefering. Die beiden verstehen sich sofort, tauschen sich über mögliche Kooperationsprojekte aus. Die Telefone zwischen Köln und Prag stehen nicht mehr still.  6 ZU (MÜNTEFERING 28.00)In Prag 65 bis 68, da konnten die Geschichten sich entfalten, den Hintergrund muss man auch wissen, dass in dieser Zeit ein neues Gefühl in Prag war, das wirkte sich eben auch auf die Arbeit sachlich aus, bis die Russen kamen, die kamen 68, die Drehbücher waren fertig und ich hörte dann im Radio, dass die Truppen des Warschauer Paktes sich breitmachten. ERZÄHLERINDrei Wochen bangt Müntefering in Köln um gemeinsam verabredete Drehpläne dies- und jenseits der Grenze. MUSIK All clued up Z8034434 107 (0.43) ERZÄHLERPlötzlich erhält er wieder ein Besuchsvisum. Die Zusammenarbeit zwischen Ost und West im Kinderfilm geht weiter und nimmt nach dem Prager Frühling richtig Fahrt auf. ERZÄHLERINOffenbar gelingt es Ota Hofmann, die Zensur zu umschiffen. ERZÄHLER Vielleicht ist der Kinderfilm und -fernsehbereich auch politisch unverdächtig. Oder man freut sich über das internationale Renommee, das die Kinderproduktionen aus der Tschechoslowakei inzwischen gewinnen. ERZÄHLERIN Auch aus Qualitätsgründen erhält Ota Hofmann die Zusammenarbeit mit Kollegen aufrecht, die er gemäß politischer Weisung nicht mehr beschäftigen dürfte, erzählt die Slavistin Helena Srubar. 7 ZU (Srubar 0.34) Es war ein großes Glück, weil offenbar unter seiner Hand mit den Künstlern oder Filmemachern, die bis dahin beschäftigt waren, möglich war, dass da weitergearbeitet werden konnte. Und es ist dann praktiziert worden unter Ota Hofmann, dass man beispielsweise Drehbücher von verbotenen Autoren unter anderem Namen umgesetzt hat. Zum Beispiel die „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ waren von Franticek Pavlicek geschrieben, und der durfte eben nicht mehr arbeiten. Und es wurde dann unter einem anderen Namen gemacht. ERZÄHLERDieses – bald etablierte – Vorgehen täuscht die Zensurbehörde wohl nur bedingt. Trotzdem schreitet sie nicht ein. ERZÄHLERIN Solange ein anderer Name auf dem Skript steht – ERZÄHLERSchwierig wird es nur bei Darstellern, die eigentlich ganz verbannt sein sollten von den tschechoslowakischen Bildschirmen. ERZÄHLERINAber auch dafür findet sich eine Lösung. Denn die DDR und andere osteuropäische Nachbarländer zeigen großes Interesse daran, die aufwendig inszenierten Märchen- und Fantasyproduktionen anzukaufen. Oder als Co-Produktionen mitzufinanzieren. Und auch Westdeutschland, gerade der Westdeutsche und der Bayerische Rundfunk, mischen bald mit. 8 ZU (Srubar 2:33) Dadurch, dass durch die Co-Produktion Devisen ins Land, ins System gespült wurden und man natürlich auch ein Feigenblatt hatte zu zeigen eben hier die sozialistische tschechoslowakische Kultur liefert auf so hohem Niveau auf die westdeutschen Bildschirme, wurde da sicherlich dann doch durchaus manches toleriert, was man intern, also nur für den tschechoslowakischen Markt, möglicherweise nicht toleriert hätte. MUSIK Vincek und die drei Haselnüsse C1590140 110 (0.44) TC 08:12 – Die Erfolge der Achse Köln - Prag ERZÄHLERIn dieser Gemengelage wird der tschechische Kinderfilm international. Der Tross an Filmschaffenden ist ab den späten 60er Jahren dauernd in Bewegung. Für die „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ wird eine Burg 30 Kilometer von Pilsen umgebaut. Aus der stolzen Anlage mit Wassergraben, mehreren Mauerringen und dicken Türmen entsteht der Gutshof der Stiefmutter mit Scheunen und Wirtschaftsgebäude. Die Kulissengestalter setzen ein zweiflügliges Tor in die Außenmauer ein. ERZÄHLERINDurch das reiten später Aschenbrödel und der Prinz – ERZÄHLERAndauernd ein und aus und hin und her. ERZÄHLERINAm Ende dann gemeinsam… ERZÄHLERDavor braucht es aber noch die Begegnung im Wald und auf dem Ball. ERZÄHLERINDas Drehbuch sieht romantische Szenen im Frühling vor, warme erste Sonnenstrahlen, blühende Wiesen. Für Regisseur Václav Vorlíček muss die Geschichte in der Renaissance spielen. ERZÄHLERZu üppig für das tschechoslowakische Budget. ERZÄHLERINOta Hofmann lässt seine Kontakte zur DEFA spielen. Die Filmgesellschaft der DDR steigt finanziell und personell mit ein, hat aber im Sommer keine Kapazitäten mehr. Aus Aschenbrödel muss ein Wintermärchen werden. Die ideale Fügung, wie sich später herausstellt, der perfekte Weihnachtsfilm. WDR-Kinderfilm-Chef Gert Müntefering sieht die ersten Szenen bei einem Besuch in Prag und kauft sofort an. 9 ZU (MÜNTEFERING 18.33)Entscheidend war dann auch noch, dass wir ein System finden mussten, um nicht nur Käufer zu sein. ERZÄHLERErinnert sich Müntefering. Man wollte mitgestalten, ähnliche Projekte gemeinsam umsetzen. Wieder wird viel telefoniert… 10 ZU (MÜNTEFERING 18.33)Ich habe dann in Prag mit Vorlíček, der diese berühmten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ gedreht hat und wunderbare Märchenfilme, den hab ich dazu gebracht und das tschechische Fernsehen dazu überredet, dass sie dann „Die Märchenbraut“ gedreht haben. Das war ein Auftrag des WDR, der zu einer Coproduktion mit dem tschechischen Fernsehen geführt hat, und das hat gut geklappt.MUSIK Märchenbraut (Rechte geklärt mit WDR, Musik: Luboš Fišer 1981; Dagmar Patrasová – Xenie A Arabela / Co Se Děje V Groteskách; Label: Panton – 8143 0180, Vinyl, 7", 45 RPM, Repress Czechoslovakia; WDR Archimedes 0118248, 17.07.1982, Die Märchenbraut, Folge 01  (1.00) ZITATORIN„Die Märchenbraut“, Serie 1979 bis 1981: Der Schauspieler und Märchenerzähler Karl Majer gerät zufällig an ein magisches Glöckchen, das den Zauberer Rumburak aus dem Märchenreich herbeiruft. Nun geht es hin und her zwischen echter und Märchenwelt. Figuren der Brüder Grimm tauchen auf, genauso Fantomas oder Tarzan. Liebe gibt es auch: Arabella, die jüngere Tochter des Königs, verguckt sich in Peter, den Sohn von Herrn Majer. Rumburak möchte sie für sich und entführt Arabella auf seine Burg. Peter sucht, findet und verliert sie andauernd wieder. Die beiden kommen nie dazu, sich zu küssen. Immer gerät was oder wer dazwischen. Erst in der allerletzten Szene der allerletzten Folge… ERZÄHLERDie Serie läuft in der Tschechoslowakei und in der BRD recht erfolgreich. Die Achse Barrandov in Prag – WDR in Köln wird in der Folgezeit besonders produktiv. Klassiker wie „Pan Tau“, der schweigsame Zauberer mit der schwarzen Melone, dessen Künste meistens wenig helfen und die Lage eher grotesk verschlimmern, entstehen bis 1978 zusammen. Oder 1980 „Luzie, der Schrecken der Straße“. ERZÄHLERINFür die Berliner Kinderfilmregisseurin und Autorin Katharina Schöde ein absoluter Hingucker: TC 11:54 – Von inkompetenten Eltern und mutigen Kindern 11 ZU (Schöde 6.30)„Luzie, Schrecken der Straße“ hat mich damals geprägt, sie war ein Mädchen, das waren ja damals noch nicht so viel in den Serien, sie war cool, hatte schon auch so ihre Probleme mit der Bande und wollte dazugehören, dann hatte sie diese lustigen Friedrich und Friedrich, die sie so begleitet haben. MUSIK Luzie, der Schrecken der Straße (Rechte geklärt mit WDR, Video-Überspielung WDR; Musik: Angelo Michajlov 1980)12.10.1980: Luzie, der Schrecken der Straße, Folge 1: Luzie will nicht allein sein. WDR Archimedes 0113301 (1.25) ERZÄHLERINDie frechen Knetmännchen Friedrich und Friedrich, die alle möglichen Farben und Formen annehmen können und zu jedem Zauberquatsch bereit sind. Sie unterstützen die sechsjährige Luzie im Sommer vor der Einschulung, in dem alle Freundinnen in Urlaub sind, und nur Luzie daheim in der Stadt bleiben muss. ERZÄHLER Luzies unbedingtes, aber hoffnungsloses Ziel: Sie will aufgenommen werden in die Bande des älteren Nachbarsjungen Oswald. Sechs ganze Folgen lang. ERZÄHLERINDie bis heute regelmäßig wiederholt werden: 12 ZU (Luzie/ Wally 0:10)Als Erstes musste eigentlich der Kühlschrank repariert werden und der, der den Kühlschrank repariert hat, hat dann das Kabel aus Versehen durchgerissen und die Tapete kaputt gemacht und dann mussten immer mehr Helfer kommen, weil immer mehr kaputtgegangen ist. // Also da war die Luzie und auf einmal war in ihrem Wohnzimmer eine Schlittschuhbahn, da war alles voller Eis und dann sind sie mit den Freundinnen Schlittschuh gefahren. // Aber am Ende ist dann doch irgendwie alles gut gegangen. ERZÄHLERAuf reichlich magische Art und Weise gut gegangen. ERZÄHLERINDank Friedrich und Friedrich. ERZÄHLERNaja, eher trotz Friedrich und Friedrich. Deren fröhlich überbordende Magie ist selten wirklich zielführend… ERZÄHLERINAber auf jeden Fall gut gegangen, denn das macht viele der damaligen Kinderfilme und Serien aus der Tschechoslowakei aus. Die Kinder finden eine Lösung. Gerne mit zauberhaften Freunden. ERZÄHLERNie mit kompetenten Eltern – ERZÄHLERINDenn die gibt es nicht. 13 ZU (Luzie/ Wally 5:10)Die Mama, als erstes schimpft sie total und dann ist sie wieder total nett, und der Papa ist schon immer nett und ist manchmal auch so unsicher und einmal hat er auch zu der Mama von der Luzie gesagt, das ist nichts für Dich. Also ich finde die Eltern nicht so toll. MUSIK Die Tintenfische aus dem zweiten Stock (Rechte geklärt mit WDR, Video-Überspielung WDR; Musik: Angelo Michajlov 1986) WDR Archimedes 0186301; 19.8.1990; Folge 1: Der Fliegende Ferdinand (0.47) ERZÄHLERINFür die jungen Hauptfiguren heißt das: Sie müssen selber ran. Zum Beispiel „Tintenfische im zweiten Stock“ in der gleichnamigen Serie im Zaum halten. Außerirdische unbemerkt durch den irdischen Alltag lotsen wie in „Die Besucher“. Da wird geflogen und verwandelt, hergezaubert und in Luft aufgelöst.  TC 14:38 – Tschechische Märchen: Keine Kategorie B 14 ZU (Schöde 2.00)Aus heutiger Sicht sieht das alles sehr nostalgisch und niedlich aus, aber für damalige Zeiten waren das unglaubliche Sachen, die da ausprobiert wurden. Mit Special Effects und Knete und Kameratechnik wurden da fantastische Sachen erzählt in Science Fiction und Fantasy-Filmen und Serien, die wegweisend waren. ERZÄHLERSchwärmt die Berliner Kinderfilmerin Schöde. 15 ZU (Schöde 2.50)Vom Technischen sind diese Barrandov-Studios in Prag immer schon toll gewesen und die hatten tolle Leute, die viel ausprobiert haben. ERZÄHLERINSpeziell auch in Produktionen für Kinder. Während die in der BRD in den 1960er, 70er, ja noch 80er Jahren vor allem didaktisch daherkommen und kaum Sendeplätze erhalten, darf sich der tschechoslowakische Kinderfilm thematisch und technisch austoben, erklärt die Slavistin Helena Srubar. 16 ZU (Srubar 3.04)Man muss sagen, dass im tschechoslowakischen Filmschaffen der Kinderfilm nicht eine Kategorie B war. Das galt genauso als künstlerisch anspruchsvoll, schon vor 68 wie hinterher. Das heißt es, es haben Kameraleute wie auch Schauspieler in allen Bereichen gespielt. Deshalb waren auch diese Produktion in der Tschechoslowakei so beliebt, weil die Schauspieler kannte man zum Teil aus dem Nationaltheater und aus den Erwachsenenfilmen. Also, es war nicht, dass man gesagt hat, für Kinder muss man irgendwie ein extra Repertoire haben, oder es sei eben künstlerisch weniger wertvollen. Es hatte den gleichen Anspruch. ERZÄHLERINAnders als in Deutschland steht die Kategorie „Märchen“ im Film gleichauf mit Drama. ERZÄHLERMärchen haben in der tschechischen Kultur einen hohen Stellenwert, waren immer zuhause im Theater und in der Hochliteratur. Abstruses, Unerklärliches – ERZÄHLERINGruseliges – ERZÄHLERZauberhaftes – ERZÄHLERINWunderbares – ERZÄHLEROhne schweren didaktischen Überbau… 17 ZU (Srubar 9:44)Diese Freude daran, Autoritäten zu dekonstruieren und lächerlich zu machen, das zieht sich überall durch. Das gibt es auch ganz stark in der tschechischen Märchentradition, also in der literarischen Märchentradition. Im Film genauso, definitiv, das haben sie ja im Aschenbrödel auch, dass der König, quasi genauso ein kleiner Bub ist, von der Königin gerügt wird, wie sein eigener Sohn, dass er nicht tanzen kann, wenn er ihr auf die Füße getreten ist, und so weiter. MUSIK Sendung mit der Maus Z8034995 213 (0.23) ERZÄHLERFür den ehemaligen WDR-Kinderfilmchef Gert Müntefering das perfekte Programm. Im WDR hatte er die „Sendung mit der Maus“ mitentwickelt. Darin laufen ab 1971 Lach- und Sachgeschichten, die die echte Welt erklären. Mehr ist dem deutschen in erster Linie Bildungsfernsehen für Kinder noch nicht abzuringen. Allerdings: Den Kleinen Maulwurf kauft Müntefering als tschechoslowakischen fantastischen Import dazu, gleich nach einem Treffen mit dessen Zeichner und Erfinder, dem Trickfilmer Zdeněk Miler:MUSIK/ TV Der Kleine Maulwurf (Rechte mit WDR geklärt) Video-Überspielung WDR, WDR Archimedes 0706806, Geschichten vom Maulwurf – Der Angler (0.42) 18 ZU (MÜNTEFERING 44.00)Und nun ja, Maulwurf – wer nicht erkannte, dass das eine liebenswerte Figur mit Überlebensdauer ist, der sollte sich doch einwecken lassen. ZITATORINRotes Spitznäschen, runde schwarze Augen, drei Haare in die Luft – so tapst der Kleine Maulwurf vergnügt durch Wald und Wiesen. Mit seinen besten Freunden Hase, Igel und Maus erlebt er meist unaufgeregte Abenteuer, ein Picknick im Regen, einen Badeausflug an den See. Manchmal trifft er auf Menschen oder wird mit dem so ganz anderen Leben in der Stadt konfrontiert. Damit er überall auf der Welt verstanden wird, spricht der Kleine Maulwurf nicht. Sein glucksendes Lachen ist sein Markenzeichen. 19 ZU (MÜNTEFERING 44.00)Insofern habe ich 65 das gesehen, da habe ich gesagt, wir kaufen gleich die nächsten Filmoptionen, ich habe gesagt, der WDR kauft ihn und der Etat war ja da. Diese Figur entfaltete sich dann und ich habe auch längere Geschichten mit ihm gemacht. ERZÄHLERINHerzige Geschichten – ERZÄHLERTraurige – ERZÄHLERINVersöhnliche Geschichten über ein gutes Miteinander. TC 18:41 – Völkerverständigung durch Freundschaft und Gerechtigkeit ERZÄHLERWie der Kleine Maulwurf bleiben viele Serienfiguren und Kindersujets aus der Tschechoslowakei weitgehend fantastisch-ideologielos. Ihre Macher sind oft Regimekritiker, die nach dem Prager Frühling ins Kindersegment ausweichen. Sozialistische Propaganda zu verbreiten, liegt ihnen fern. ERZÄHLERINWas dagegen für das Publikum daheim, aber auch in den östlichen und westlichen Nachbarländern funktioniert, ist das grundsätzliche Ideal der Freundschaft, die mehr zählt als schnödes Geld. Manch ein Bösewicht in „Pan Tau“ fährt schon mal Mercedes und spricht mit englischem, französischen oder italienischen Akzent, übrigens nur im tschechischen Original. ERZÄHLER Trotzdem erzählen die wenigsten Serien und Filme den Kapitalismus als das Böse. ERZÄHLERINEher den einzelnen Kapitalisten, dem es um Geld und damit um persönliche Macht geht. Beispiel: MUSIK Der Fliegende Ferdinand (Rechte geklärt mit WDR, Musik: Karel Svoboda 1983: Návštěvníci / Létající Čestmír Composer: Karel Svoboda; Label: Supraphon 1985 Vinyl; Type TV Series/TV film; Der Fliegende Ferdinand Folge 1, Der Stein, WDR Archimedes 0127071 (0.46) ZITATORIN„Der fliegende Ferdinand“, Serie 1983/ 84: Der Junge Ferdinand wird von einem Meteoriten verschluckt und auf den Planeten der Blumen befördert. Von dort bringt er Zaubergewächse mit. Riecht er an der einen Blume, kann er fliegen. Schnuppert er an der anderen, wird er erwachsen und sieht aus wie sein Vater. Sein Lehrer will auch solche Blumen – um die Menschheit zu retten. Die Kinder unterstützen das. Der Friseur ums Eck jedoch stiehlt die Blumen, um sie ohne Rücksicht auf nichts und niemanden zu Geld zu machen.    ERZÄHLEREs siegt die Gerechtigkeit, nicht der Egoist, der sich bereichern will. ERZÄHLERINEin Motiv, das Ost und West damals verband, sagt die Slavistin Helena Srubar. Wie überhaupt die tschechoslowakisch-deutschen Kinderserien und Filme der 1970 und 1980er Jahre zur Völkerverständigung beitrugen:  20 ZU (Srubar 14.17)Meine Eltern sind 1969 aus Prag emigriert, und ich bin zweisprachig mit Tschechisch groß geworden und zusätzlich zu der allgemeinen Faszination für diese Serien war das für mich total schön. Wenn im Fernsehen Prag gezeigt wurde oder meine Eltern kamen und sagten, das ist der Schauspieler so und so, das war irgendwie total schön. Wenn quasi von der anderen Seite vom Eisernen Vorhang also einen Gruß kam und auch plötzlich meine Freundinnen damit etwas anfangen konnten, weil über tschechische Kultur war zu dem Zeitpunkt eigentlich ansonsten nicht viel bekannt oder präsent. Und das hat mir natürlich sehr gut gefallen. MUSIK Drei Haselnüsse für Aschenbrödel Z9379692 004 (1.00) ERZÄHLERHeute gefallen diese Serien und Filme immer noch. ERZÄHLERINManche Tricktechnik mutet im Computerzeitalter vielleicht etwas nostalgisch und langsam an. ERZÄHLERDafür besitzen die märchenhaften Geschichten nach wie vor Zauber. „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ zum Beispiel. Wenn Aschenbrödel und der Prinz auf ihren Schimmeln Seite an Seite durch den Schnee reiten. Ihr weißbauschiges Brautkleid flattert im Wind. Sie halten sich reitend an den Händen und lächeln sich an. ERZÄHLERIN Weil sowas in echt nicht geht, mussten die Schauspieler beim Dreh auf dem Bauch eines Kameramanns sitzen. Der wurde auf einem Schlitten gezogen und filmte sie von unten. Nicht so romantisch. ERZÄHLERAber im Film funktioniert es. Der wichtigste Weihnachtsfilm. ERZÄHLERINAuf sämtlichen Sendern. ERZÄHLERIN/ ERZÄHLERAlle Jahre wieder. TC 21:58 - Outro
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Dec 19, 2023 • 23min

SINTI UND ROMA - Literatur im deutschsprachigen Raum

Jahrhundertelang wurden die Erzählungen der Sinti und Roma mündlich überliefert, doch seit dem 20. Jahrhundert blüht überall in Europa auch eine schriftliche literarische Tradition auf: in Deutschland vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Überlebenden der Konzentrationslager zur Feder greifen, um sich Gehör zu verschaffen in einer Gesellschaft, die sie bis heute an den Rand drängt.Der 19. Dezember ist der jährliche Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2022) Credits Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Christian Baumann, Silke von Walkhoff, Thomas Loibl Technik: Fabian Zweck Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: Deutschlandfunk (2022): Literaturen von Sinti und Roma – Aber es gibt ein MorgenIhre Literatur ist nahezu unbekannt: 2019 waren Sinti und Roma zum ersten Mal mit einem eigenen Stand auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. Ein Blick auf literarische Gegenentwürfe zu einer Welt der Intoleranz und Ignoranz. ZUM BEITRAG Deutschlandfunk (2020): Texte von Sinti und Roma – Aufbruch aus dem VerborgenenLiteratur über „Zigeuner“ gibt es zuhauf, viel mehr als über Sinti und Roma. Literatur von der größten ethnischen Minderheit Europas aber gibt es kaum. Erst seit dem Holocaust nimmt die Zahl ihrer Texte zu. Sinti und Roma schreiben zurück. ZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 00:44 – Papier hat Geduld: Die Schriftstellerin Ceija StojkaTC 03:25 – Grenzgänge der Menschheit: Der Schriftsteller Jovan NikolićTC 05:54 – Eine tiefe Verwobenheit der KulturenTC 08:59 – Zivilisation der Liebe: Die Dichterin Philomena FranzTC 15:15 – Bruch des SchweigensTC 17:27 – Der Bannstrahl eines Volkes: Die Poetin PapuszaTC 19:56 – Das Ende der Kessel-Ära: Der Schriftsteller Ruždija SejdovićTC 22:42 – Outro  TC 00:15 – Intro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Ansage: Sinti und Roma haben ihr reiches kulturelles Erbe jahrhundertelang mündlich überliefert, aber seit dem 20. Jahrhundert erheben sie auch als Literaten ihre Stimme. Im deutschsprachigen Raum mischen sich östliche und westliche Traditionen, die vom Leid der Verfolgung, von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und von dem konfliktreichen, aber auch fruchtbaren Verhältnis zu ihren europäischen Heimatländern erzählen. MUSIK 1: „Remise“ – C1557040106 – 30 Sek TC 00:44 – Papier hat Geduld: Die Schriftstellerin Ceija Stojka ZITATORIN: „Der Punkt war, dass ich mit jemandem reden wollte. Es war aber niemand da, der mir zugehört hätte, und Papier ist geduldig. Es hat mit dem Schreiben halt recht gehapert, aber wie ich einmal begonnen habe, sind die Erinnerungen nur so herausgeschossen. Danach hat es mir das Gefühl gegeben, es ist vollbracht, das ist jetzt die Wahrheit.  MUSIK 2: „Föhrenwald“ - C1422880003 – 1:10 Min ERZÄHLER: Sagt Ceija Stojka, Schriftstellerin und Malerin, eine Romni aus Österreich. Wenn Sinti und Roma die Bühne der Literatur betreten, müssen sie vielen Schwierigkeiten trotzen, gegen weitverbreitete Klischees anschreiben, gegen Vorurteile und Ahnungslosigkeit, oft auch gegenüber dem Ausmaß ihrer jahrhundertelangen Verfolgung. Sie fand ihren Höhepunkt im Porajmos, so heißt der Holocaust in ihrer Sprache, dem Romanes, übersetzt: das Verschlingen. Hunderttausende Sinti und Roma wurden verfolgt und ermordet. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln. Schätzungen rechnen mit bis zu einer halben Million Todesopfer. Ceija Stojka wurde als zehnjähriges Kind nach Auschwitz deportiert und hat das Grauen überlebt. Bis zu ihrem Tod im Jahre 2013 war sie die engagierteste Stimme der österreichischen Roma. In ihrer Autobiographie „Wir leben im Verborgenen“, in ihren Gemälden und Gedichten sind die Lager immer gegenwärtig.  ZITATORIN: „du hast angst vor der finsternis? ich sage dir, wo der weg menschenleer ist,  brauchst du dich nicht zu fürchten.  ich habe keine angst.  meine angst ist in auschwitz geblieben  und in den lagern. auschwitz ist mein mantel,  bergen-belsen mein kleid  und ravensbrück mein unterhemd.  wovor soll ich mich fürchten?“ ERZÄHLER: Z 6399, diese Nummer wird dem kleinen Mädchen auf den Unterarm tätowiert und geht lebenslang nicht weg. Z für Zigeuner. Die meisten Sinti und Roma können das Wort nicht mehr ertragen. Andere wollen es wieder positiv besetzen und bezeichnen sich immer noch so. Denn die ursprüngliche Bedeutung ist zwar unklar, aber nicht negativ, mit „Gauner“ hat es jedenfalls nichts zu tun. In dieser Sendung wird das Wort „Zigeuner“ auch zu hören sein – in historischen Kontexten oder wenn die Autoren sich selbst so nennen. Ansonsten sprechen wir von Sinti und Roma, das sind traditionelle Eigenbezeichnungen. Rom heißt „Mensch“. MUSIK 3: „The Struggle within – C1595040106 - 55 Sek TC 03:25 – Grenzgänge der Menschheit: Der Schriftsteller Jovan Nikolić Und „Roma“ ist der Oberbegriff für eine sehr unterschiedliche Gruppe von Gemeinschaften im ost- und südosteuropäischen Raum, auch in Österreich. Sinti sind hauptsächlich in West- und Mitteleuropa zu Hause, vor allem in Deutschland. Im Laufe des Kosovo-Krieges kamen viele Roma als Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland, darunter auch zwei bedeutende Schriftsteller, Ruždija Sejdović und Jovan Nikolić. Nikolić, ein serbischer Rom, ist 1999 nach Deutschland emigriert und wohnt in Köln. Meistens schreibt er in serbischer Sprache. In „Weißer Rabe, schwarzes Lamm“, einer 2011 erschienenen Sammlung von Kurzprosa aus dem Drava-Verlag, gibt er zu erkennen, was es als Kind für ihn bedeutet hat, als „Zigeuner“ wahrgenommen zu werden. ZITATOR:  „Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie in ihm, vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, etwas zu brennen beginnt. Er ahnt, dass dieses Wort, voll einer unbekannten Gefahr, einen verhängnisvollen Einfluss nehmen wird auf sein künftiges Leben; dass es, den Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten, nach ihm schnappen und sein Herz mit den scharfen Zähnen des Spotts und der Verachtung heimsuchen wird.“ MUSIK 4: Sonate für Zymbal solo -71086750Z00 – 35 Sek ERZÄHLER: Jovan Nikolić zählt heute zu den wichtigsten Autoren aus der Gruppe der Roma, sein Werk wurde in 10 Sprachen übersetzt. Seine Dramen, Gedichte und Prosastücke entführen in surreale Bilderwelten zwischen Traum und Wirklichkeit, Vernunft und archaischer Magie. Grenzgänge, die zum Menschen gehören, nicht nur zu den Sinti und Roma. Auch wenn diese möglicherweise besonders viel davon verstehen. ZITATOR:  Hab ich dir gesagt, dass deinem Zimmer die Räder fehlen? Während im Gespräch die Gespenster entschweben Und die Körper in Schüben erbeben, während uns im Nabel  der Schlaf einholt, reitet das Zimmerchen bis ans Ende der Nacht. Denk dir die Dämmerung Im Mittelpunkt Des Unwahrscheinlichen: Die Erde umrundend Kehren wir zurück,  woher wir gekommen.  MUSIK 5:  „Melodie“ – C1399000104 - 50 Sek TC 05:54 – Eine tiefe Verwobenheit der Kulturen  ERZÄHLER: Niković stammt aus einer Musikerfamilie. Musik, Tanz, Instrumentenbau, Kunsthandwerk, Puppenspiel, Schaustellerei, das sind Tätigkeiten, die sich mit Wanderschaft gut vertragen und in diesen Volksgruppen eine lange Tradition haben. Sinti und Roma haben ihren reichen Schatz an Liedern, Märchen und Erzählungen über Jahrhunderte mündlich überliefert. „Zigeunerbilder“ gibt es trotzdem in Hülle und Fülle, sie stammen allerdings aus der Kunst- und Kitschproduktion der Mehrheitsbevölkerung: dunkle, glutäugige Männer, verführerische Mädchen und dämonische alte Frauen, Tänzer, Sänger, Wahrsagerinnen, Zauberinnen, Messerstecher, Arbeitsscheue, Kindsräuber und Diebe, die die Wäsche von der Leine klauen.  Die ersten schriftlichen literarischen Zeugnisse von Sinti und Roma selbst entstehen erst im 20. Jahrhundert, doch es werden schnell mehr. Ihre Literatur ist ein vielgestaltiges, europaweites, ja weltweites Phänomen, im deutschen Sprachraum noch viel zu wenig bekannt. Viele Menschen wissen gar nicht, wie tief die Kultur der Sinti und Roma und die europäischen Kulturen ineinander verwoben sind, sagt Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma:  01 O-TON 14.45 ROSE Die europäische Klassik von Beethoven, Liszt, Händel usw., da haben die Roma in Ungarn einen hohen Beitrag geleistet. Das ist auch von den großen Komponisten anerkannt worden. Das wollen wir stärker in die Öffentlichkeit stellen. Zum Beispiel: Wer weiß schon, dass der Flamenco in Spanien seinen Ursprung bei der Minderheit hatte, die ihn aus ihrer ursprünglichen Heimat Indien vor 1000 Jahren den Kathak, das war ein Fußtanz gewesen, nach Europa, nach Spanien gebracht haben, und dass das heute zum europäischen Kulturerbe gehört. Weiß niemand. Wissen Sie, die Erfahrungen der Geschichte, das Negative, ist eine Sache. Zur Versöhnung müssen jetzt die kulturellen Leistungen der Minderheit kommen. ERZÄHLER: Das Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, hat viel Ähnlichkeit mit dem Sanskrit und weist Indien als ihre ursprüngliche Heimat aus. Vor 900 Jahren brachen sie unter dem Druck von Kriegen und sozialen Konflikten von dort auf, vor etwa 600 Jahren kamen sie in deutschen Gebieten an. Erst seit kurzer Zeit gibt es Bemühungen, das Romanes zur Schriftsprache zu entwickeln, doch erweist sich das als eine echte Herausforderung. In jedem Land hat es viele Wörter der jeweiligen Landessprache in sich aufgenommen und sehr unterschiedliche Dialekte herausgebildet. Umgekehrt funktioniert die Bereicherung ebenso, wenn auch schwächer. Wörter wie „Zaster“, „Kaschemme“, „Kaff“ und der Ausdruck „Null Bock haben“ kommen aus dem Romanes.  Sinti leben seit 600 Jahren in Deutschland. Das ist ihr Land, und sie fühlen sich ihm eng verbunden.  ATMO Veranstaltung Philomena Franz TC 08:59 – Zivilisation der Liebe: Die Dichterin Philomena Franz  Am 21. Juli 2022 hat die Dichterin Philomena Franz, eine deutsche Sintezza, ihren 100sten Geburtstag gefeiert. Es gab einen Dankgottesdienst, eine Tagung mit Vertretern der Bundesregierung, des Europaparlaments, der Wissenschaft, ein Konzert, ausgerichtet vom Philomena-Franz-Forum in Rösrath in der Nähe ihres Wohnorts Bergisch Gladbach. Die Jubilarin nimmt an allem teil. Der Dichter und Essayist Matthias Buth, Leiter des Forums, kennt Philomena Franz seit Jahrzehnten. 03 O-TON BUTH 013 Philomena Franz ist für mich die Mutter Courage Deutschlands. Sie steht für mich für die Zivilisation der Liebe. Sie hält am Lied fest. Und am Gebet. Das sind beides Projektionen auf eine andere Welt, auf eine andere Zukunft. Deswegen ist es mir gar nicht so wichtig, ob sie eine Sintezza ist oder eine Roma oder was auch immer. Sie ist ein umfassender, liebenswürdiger Mensch, ein mütterlicher Mensch. 04 O-TON PHILOMENA FRANZ 003 1.40 Die Muttergottes ist immer unsere Schutzpatronin gewesen. Früher haben sie immer gesagt, die Sinti glauben nicht an Gott, die sind gottlos, aber nein: Die Sinti waren die richtigen Christen. Die Sinti sind zu ihrem Herrgott hingegangen und haben mit ihm geredet. Nicht nur gebetet. Geredet. Lieber Gott. Zeig, dass du da bist. Dass wir deine Kinder sind. Und dann ist wirklich mal ein Wunder geschehen.  ERZÄHLER: Bis heute kommt es Philomena Franz wie ein Wunder vor, dass sie drei Konzentrationslager überlebt hat. Nach dem Krieg geht sie in Schulen, später auch in Volkshochschulen, in die Universitäten, in die Medien, um Aufklärungsarbeit zu leisten. „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich“, das ist ihr Lebensmotto, das sie vor allem Kindern ans Herz legen will. 05 O-TON PHILOMENA FRANZ 005: Ich hab ja für die Kinder zuerst Märchen geschrieben. Das war für mich wichtig. Denn ich hab gedacht, das ist die Generation, die einmal hier regiert.  ERZÄHLER: Philomena Franz‘ Zigeunermärchen sind in Buchform erhältlich. Zwischen den einzelnen Geschichten gewährt die Dichterin Einblicke in die Bräuche und Lebensweise ihrer Volksgruppe. Das Wort Zigeuner findet sie bis heute nicht anstößig. Musik 6: „Hamburg“ – C1546450112 – 30 Sek ZITATORIN:  „Philomena: diesen Namen tragen viele Zigeunermädchen, und dieser Name bedeutet bei uns so viel wie Nachtigall. Bei uns Zigeunern bekommen Kinder sehr oft Namen von Vögeln und anderen Tieren; von Blumen, Früchten und andren Dingen, die die Natur uns schenkt. Ich kenn zum Beispiel einen Spatzo – das ist, wie du natürlich sofort gemerkt hast, unser Spatz“. 06 O-TON PHILOMENA FRANZ 3.00 Und dann hab ich denen von Auschwitz erzählt. Das waren dann schon die 14- und 15Jährigen, die Abgänge. Wie die Kinder gelitten haben. Und dann diese Angst. Kommen wir jetzt ins Krematorium, sind wir heute dran. Ich hätte nie gedacht, dass das die Kinder so angreift. Selbst der Rektor hat mitgeweint. Und hat gesagt: Frau Franz. Sie bringen das so weich und so ohne Anklage. Aber Sie bringen es den Kindern bei.“ ERZÄHLER: Philomena Franz veröffentlicht ihre Erinnerungen im Jahr 1984 unter dem Titel „Zwischen Liebe und Hass“. Sie erzählen von einer glücklichen Jugend im Schoß einer großen, traditionsreichen, sehr erfolgreichen und sehr wohlhabenden Musikerfamilie, sie erzählen von der qualvollen Zeit in den Konzentrationslagern. ZITATORIN „Wenn ich einiges über die Liebe niederschreiben darf, was für manche vielleicht schlicht klingt, dann deshalb, weil ich das System des Nationalsozialismus in krassem Gegensatz dazu erlebte.“ ATMO Veranstaltung Philomena Frank (Musik, 50 Sek)  Schon als Kind tanzt und singt Philomena auf den großen europäischen Unterhaltungsbühnen, im Wintergarten in Berlin, im Lido in Paris. Philomena liebt das sommerliche Reisen im großen, prachtvollen Wohnwagen durch die lieblichen Landschaften Baden-Württembergs. ATMO Frühlingswiese ZITATORIN: „Ich sitze unter einer Linde, die voller Vögel und Bienen ist. In der Stille wird die milde Hitze des Maimorgens spürbar: die Bienen, die Schmetterlinge. Ein schweigender und ein glühender Tag. Ich singe mit. Und aus dem großen Lindenbaum braust mir der Beifall der Vögel entgegen. Ach ja, das war eine schöne Zeit. Wir leben mitten in der Natur. Wir sind ein Stück von ihr.“ MUSIK 8: Terror drone - Z8031293117 – 50 Sek ERZÄHLER: Dann folgt der Sturz in die Hölle. Nazi-Deutschland, das bedeutet für die kaum 18-Jährige: drei Jahre härteste Zwangsarbeit, danach zwei Jahre Konzentrationslager, Auschwitz, Ravensbrück, Oranienburg. Hunger, Demütigung, Schläge. Der Foltertod der Schwester. Scheinhinrichtung, acht Tage Stehbunker nach einem gescheiterten Fluchtversuch. Philomena muss die Asche vergaster und verbrannter Menschen mit bloßen Händen auf einen Lastwagen schütten. In diesen Jahren verliert sie ihre gesamte Familie, Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, sieben Geschwister. Nur ein Bruder überlebt.  07 O-TON PHILOMENA 2.35 Wir halten unsere Toten sehr in Ehren. Die leben ja weiter. Es kann ja sein, dass sie bei uns sind, sehen, was wir machen. Ob wir was Schlechtes oder was Gutes machen. Machen wir was Gutes, freuen sie sich. Einfache Worte, aber sie wiegen sehr viel. MUSIK 9: „Föhrenwald“ –  C1422880003 – 40 Sek ZITATORIN: Als ich ein Kind war,  sah ich die Steine als Blumen, bunt waren die Tränen der Hoffnung.  Rot und blau und gelb Blühten sie lächelnd im Beete der Kindheit. Um meine Schultern den Mantel der Farben, weiß ich heute, dass es ein Traum war,  ein Traum, der mich zum Leben zwang. Trunken vom Leben steh ich heute farblos Und halte Ausschau nach dem wirklichen Sein. Mein taubes Lächeln Zeigt nur in steinige Gärten, ich sehe den Schein zu vieler Narben. TC 15:15 – Bruch des Schweigens ERZÄHLER: 1982 erkennt die Bundesrepublik den Völkermord an den Sinti und Roma endlich an. Dank der Bürgerrechtsbewegung um den jungen Romani Rose wird die Öffentlichkeit auf ihr Schicksal aufmerksam. Ein Resonanzraum für ihr Schreiben entsteht, in dem die Überlebenden Gehör finden. Latscho Tschawo, Alfred Lessing, Walter Winter, Lolo Reinhardt, Otto Rosenberg, Krimhilde Malinowski, Hugo Höllenreiner und, in Österreich, die Romni Ceija Stojka schreiben über die erlittenen Qualen.  Auch Entschädigungsansprüche können jetzt nicht mehr so einfach abgeschmettert werden wie früher, als die Behörden der jungen Bundesrepublik behaupteten, Sinti und Roma seien nicht rassistisch verfolgt, sondern kriminell und wegen Verbrechensbekämpfung im Lager gewesen. Für diese Lüge gab es Gründe, sagt der Historiker Frank Reuter, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg. 08 O-TON REUTER 3.30  Im Grunde war die Kriminalisierung der Opfer Voraussetzung dafür, dass sich die Tätergesellschaft selbst entlasten konnte. Die Deportation zum Beispiel. Da sind ja nicht nur ein paar SS-Leute beteiligt. Da ist die komplette kommunale Verwaltung involviert. Und gerade auch die Funktionseliten der Kriminalpolizei waren zutiefst involviert in die Deportation auch von Kindern und Säuglingen. Um das zu verdrängen, um sich davon reinzuwaschen, mussten die Überlebenden kriminalisiert werden. ERZÄHLER: Es ist schwer für die Überlebenden, das Schweigen zu brechen. Die Angst sitzt tief, die Schulbildung ist unter den Bedingungen der Nazizeit bruchstückhaft geblieben. Sie wissen oft auch nichts von den literarischen Leistungen anderer Roma in anderen Ländern. Nichts von Mateo Maximoff, der 1939 als erster Rom einen Roman verfasst hat, in Frankreich im Gefängnis. Dort sitzt der 22-Jährige ein, weil er an blutigen Auseinandersetzungen zwischen zwei Roma-Stämmen beteiligt gewesen war.  Buchstaben hat Maximoff als Kind vom Vater gelernt, der als Kesselschmied ein paar Grundkenntnisse hatte, und gelesen hat er seither alles, was ihm in die Finger kam.  TC 17:27 – Der Bannstrahl eines Volkes: Die Poetin Papusza Der Roman „Die Ursitory“, das sind die drei Schicksalsparzen der Roma-Mythologie, gewährt Einblick in die Normen, Regeln und Werte der Roma. Der Text entführt den Leser in eine archaische Welt mit blutigen Stammesfehden und strengen Regeln, durchdrungen von uralten Mythen. Freundliche Begegnungen mit der Mehrheitsbevölkerung sind möglich, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Wer dem eigenen Stamm untreu wird oder ihm schadet, den trifft der Bannstrahl.  Papusza, die große Poetin der polnischen Roma, hat so einen Bann zu spüren bekommen. Ihre Eltern und ihr Stamm sind sehr dagegen, dass sich das um 1910 geborene Mädchen selbst lesen und schreiben beibringt. Sie sind auch beunruhigt, als ein polnischer Dichter ihre Begabung entdeckt und ihr Publikationsmöglichkeiten verschafft. Papusza schreibt über die Schönheiten der Natur und des Zigeunerlebens, später über die Schrecken der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Sie weiß genau, dass ihr Erscheinen auf der literarischen Bühne sie unerbittlich von ihrem Volk entfremdet ZITATORIN: Längst entschwunden sind die Zeiten der Zigeuner, die gewandert. Ich aber seh sie, hurtig wie Wasser, stark und durchscheinend. Man kann es hören, wie's wandert, wie's Lust hat zu reden. Aber das Arme – es kennt keine Sprache außer dem Rauschen und Silbergeplätscher. ERZÄHLER: Papusza will nicht gespensterhaft durchsichtig sein wie das Wasser. Sie will gesehen und verstanden werden, sie will schreiben. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Nach dem Krieg wendet sich ihr eigener Stamm gegen sie. Man wirft ihr vor, Geheimnisse verraten zu haben, Polizei und Behörden in die Hände zu arbeiten. Papusza wird vom Ältesten des Clans für rituell unrein erklärt und aus dem Clan ausgestoßen. Sie muss psychiatrisch behandelt werden und wird sich bis zu ihrem Tod im Jahre 1987 nie völlig erholen. ZITATORIN:  „Ich aber schreibe, wie ich kann Auch wenn ich oftmals Tränen weine Und hinterlasse ‚was‘ den Menschen Die Welt erkennt mich und erinnert sich…“ MUSIK 10: „The struggle within“ – C1595040106 – 1 Min. TC 19:56 – Das Ende der Kessel-Ära: Der Schriftsteller Ruždija Sejdović ERZÄHLER: In den osteuropäischen Ländern hat sich viel früher als im Westen eine Intellektuellenschicht unter den Roma herausgebildet, denn die kommunistischen Länder hatten effiziente Förderungsprogramme. Von ihnen profitierte auch Ruždija Sejdović aus Montenegro, Sohn eines Kesselschmieds. Er hat Literaturwissenschaft studiert, bevor er 1998 vor dem Kosovo-Krieg nach Deutschland floh. Heute lebt er wie Jovan Nikolić in Köln. Sejdović beschäftigt sich viel mit der Verschriftlichung des Romanes und schreibt auch oft in dieser Sprache. Der Erzählband „Der Eremit“ aus dem Jahre 2017, enthält eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Lord Byron und die Kessel“. Darin erinnert sich der Autor an seine Kindheit, als eine Leidenschaft von ihm Besitz ergriff, die in den Traditionen seiner Familie keinen Platz hat.  ZITATOR:  „Waren es Bücher, auf die ich Hunger hatte? Diese Frage hämmerte auf mich ein wie eine Faust auf einen Betrunkenen. Ja, ich war hungrig auf Bücher! (…). Bücher, die Revolutionen auslösten, die zur Liebe inspirierten und Bücher, aus denen man etwas über mein Volk, meine Sprache, mein Dasein erfahren konnte. Bücher, über die man weinte, Bücher, die man verbrannte.“ ERZÄHLER: Die Szene spielt auf einem Schrottplatz. Der Vater, der Kesselschmied, sucht dort nach verwertbarem Metall. Sein kleiner Sohn aber interessiert sich mehr für den Büchercontainer, wühlt begeistert darin herum. Eines der Bücher nimmt er mit. Was ist das für ein Buch, will der Vater wissen. Der Junge schlägt mit zitternden Händen die Titelseite auf und liest es ihm vor. George Gordon Byron. Ein für beide noch unbekannter Name, aber die ultimative Verführung. ZITATOR:  „Bei unserer Rückkehr nach Hause wusste ich, dass sich die Ära der Kessel meiner Vorfahren Lord Byrons wegen dem Ende zuneigte. Die Hände auf den Magen gepresst, weinte ich in meiner Ecke die ganze Nacht im Schlaf.“ MUSIK 11: „The struggle within“ – C1595040106 – 40 Sek ERZÄHLER: In Montenegro ist Ruždija Sejdović ein angesehener Schriftsteller, dessen Werke auf Serbisch und Romanes erscheinen. In Deutschland wird es wohl noch eine Weile dauern, bis diese neue Literatur aus ihrer Nische herausfindet. Es wäre ihr zu wünschen. Denn diese Texte erzählen, jenseits aller Folklore, vom kulturellen Erbe der Sinti und Roma, das tief in die europäische Kultur verwoben ist, und sie entwickeln diese konfliktreiche, aber auch fruchtbare Beziehung weiter.  MUSIK aus. TC 22:42 – Outro 
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Dec 19, 2023 • 23min

SINTI UND ROMA - Geschichte einer Minderheit

Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie über viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunächst geduldet, erklärte man die "Fremden" bald zu Vogelfreien. Danach kam es immer wieder zu Tötungen und Vertreibungen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma offiziell registriert. Auf diese Akten griffen später die Nationalsozialisten zurück, als sie sie verfolgten und massenhaft ermordeten.Der 19. Dezember ist der jährliche Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma. Autorin: Maike Brzoska (BR 2022)CreditsAutor/in dieser Folge: Maike BrzoskaRegie: Sabine KienhöferEs sprachen: Hemma Michel, Christian BaumannTechnik: Roland BöhmRedaktion: Nicole Ruchlak Linktipps: RESPEKT (2023): Geschichte der Sinti und RomaIn Europa leben ca. 12 Millionen Sinti und Roma. Damit sind sie die größte ethnische Minderheit auf dem Kontinent. Sie erleben laufend Diskriminierung und Vorurteile. Woher kommt das? Über die Geschichte der Sinti und Roma in Europa.JETZT ANSEHEN  Planet Wissen (2022): Ausgegrenzt und benachteiligt – Vorurteile gegen Sinti und RomaSinti und Roma leben seit mehr als 600 Jahren in Deutschland und trotzdem denken viele, dass sie nicht dazugehören. Der Blick auf sie ist immer noch getrübt durch Vorurteile, die mit der heutigen Lebensrealität der Menschen nichts zu tun haben. Im Schulunterricht wird die Geschichte und der Völkermord an diesen Volksgruppen im Nationalsozialismus kaum erwähnt.JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 00:43 – Im HungerstreikTC 02:01 – Die Ursprünge der Sinti und RomaTC 03:36 – Ein Volk mit vielen NamenTC 04:48 – Mittelalterliche Handelsbeziehungen und GeleitbriefeTC 07:04 - VogelfreiTC 09:40 – Systematische Diskriminierung im KaiserreichTC 11:58 - Im Nationalsozialismus: die lebensgefährliche „Rassenfrage“TC 13:53 - Im VernichtungslagerTC 15:41 – „Porajmos“ – Ein vertuschter VölkermordTC18:42 – Eine gebrochene GenerationTC 20:37 – Angst trotz AnerkennungTC 22:42 – Outro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  Podcast-Ansage: Hier ist radioWissen. Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie über viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunächst geduldet, erklärte man die „Fremden“ bald zu Vogelfreien. Zuerst wurden sie ausgrenzt, dann vertrieben und getötet. Im Nationalsozialismus wurden sie systematisch ermordet. Dieses Unrecht wurde lange geleugnet. Musik: Z8020108141 In der Finsternis 0‘30 TC 00:43 – Im Hungerstreik  SPRECHERIN April 1980 in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau. Die Männer liegen auf einfachen Pritschen, ein Kissen im Nacken, manche haben sich mit einer Decke zugedeckt. In ihren Blicken: feste Entschlossenheit. Es sind zwölf Sinti, die an diesem geschichtsträchtigen Ort im Hungerstreik sind. Darunter auch Überlebende des Porajmos, wie der Völkermord durch die Nationalsozialisten auf Romanes genannt wird, bei dem Hunderttausende Roma und Sinti getötet wurden. 01 O-TON (Rose) Es waren fünf Überlebende beteiligt, von Auschwitz, von Dachau, und mit Mauthausen war einer beteiligt, der hat die Zwangssterilisation erfahren, der wurde unfruchtbar gemacht. Musik: Z8020108141 In der Finsternis 0‘29 SPRECHERIN Sagt Romani Rose im Interview mit dem Historiker Jan Selling für das Dokumentationszentrum RomArchive (englisch ausgesprochen). Rose gehört zu den Jüngeren des Hungerstreiks. Er hat 13 Familienangehörige im Holocaust verloren. Mit der Protestaktion wollen sie auf anhaltendes Unrecht aufmerksam machen. Ihre Forderung: die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten.   02 O-TON (Rose) Dieses Verbrechen musste im Sinne des Strafrechts und des internationalen Rechts durch die Bundesregierung anerkannt werden. (13) Musik: Z8019016129 Dark figures 0‘31 TC 02:01 – Die Ursprünge der Sinti und Roma SPRECHERIN Es war der traurige Höhepunkt einer mindestens 600 Jahre langen und sehr wechselhaften Geschichte der Minderheit auf deutschem Boden. Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Nordwestindien. Von dort zogen sie vermutlich zunächst nach Persien und dann nach Südeuropa, sagt die Historikerin Karola Fings. Sie leitet die „Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“ der Universität Heidelberg. 03 O-TON (Fings) Es gibt verschiedene Theorien, aber die für mich plausibelste ist die, dass es so eine relativ kohärente Auswanderung gegeben hat einer Gruppe aus Nordwestindien dann bis nach Persien, und die sich relativ lange im Byzantinischen Reich aufgehalten hat. Und erst mit dem Vordringen der osmanischen Truppen so ab dem 15. Jahrhundert begann dann die Migration nach Westeuropa.  SPRECHERIN Diese Migrationsroute belegen vor allem sprachwissenschaftliche Forschungen. 04 O-TON (Fings) Das Romanes hat sehr alte Wortbestandteile, und da gibt es sehr viele Wortbestandteile zum Beispiel aus dem Griechischen, woraus man dann schließen kann, dass es dort lange Aufenthaltszeiten gegeben hat.  SPRECHERIN Viele Sinti und Roma sprechen noch heute Romanes, auch Marcella Reinhardt.  05 O-TON (Reinhardt) Latscho Diewes lautrenge. Miro Lab hi Marcella Reinhardt me hum i Sintezza me hum i Vorsitzende vom Regionalverband Deutscher Sinti und Roma in Augsburg, Schwaben. SPRECHERIN Übersetzt bedeutet das: 06 O-TON (Reinhardt)  Schönen guten Tag an alle, ich bin eine Sintizza, mein Name ist Marcella Reinhardt. Ich bin Vorsitzende vom Regionalverband Deutscher Sinti und Roma Schwaben.  TC 03:36 – Ein Volk mit vielen Namen  SPRECHERIN Die Bezeichnungen „Sinti und Roma“, oder „Sintizze und Romnja“ in der weiblichen Form, sind von der Minderheit selbst gewählt. Den Begriff „Zigeuner“ lehnen sie ganz klar ab. 07 O-TON (Reinhardt) Der Name Zigeuner ist für uns eine Fremdbezeichnung. Mit diesem Namen sind unsere Verwandten in die Gaskammern getrieben worden und grausam ermordet und ich möchte mit dieser Fremdbezeichnung nicht genannt werden.  SPRECHERIN Mittlerweile haben sich die Bezeichnungen Sinti und Roma weitgehend durchgesetzt, auch wenn es immer noch Erklärungsbedarf gibt. So deutet der Doppelname bereits an, dass es sich keineswegs um eine einheitliche Gruppe handelt.  08 O-TON (Fings) Das sind einmal die deutschen Sinti, die haben eine ganz eigene Geschichte, weil das diejenigen sind, die tatsächlich in den deutschsprachigen Landen seit dem Mittelalter leben. Sie haben einen eigenen Romanes-Dialekt, das ist die eine große Gruppe, die in Deutschland lebt und eben sehr lange ansässig ist. Und die andere Gruppe, die mit Roma bezeichnet wird, das sind diejenigen, die meist so aus Südosteuropa kamen. Und der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma hat sich damals dafür entschieden, diese beiden größten Gruppen als namenführende Begriffe zu verwenden.  TC 04:48 – Mittelalterliche Handelsbeziehungen und Geleitbriefe SPRECHERIN Als die Sinti im späten Mittelalter in die deutschsprachigen Länder einwanderten, wurden sie zunächst überwiegend positiv aufgenommen.  09 O-TON (Fings) Es entstanden Handelsbeziehungen und auch zum Teil persönliche Beziehungen. Es gab Schutzbriefe, das war ja damals üblich, dass es einen Schutzherren gab; einen Grafen, einen Herzog, einen Kaiser oder einen König, die eben in der Lage waren, bestimmte Gruppen unter ihre Fittiche zu nehmen.  Musik: Z8036179109 Servants and farmhands B  0‘45 SPRECHERIN Einen solchen Geleitbrief gewährte zum Beispiel König Sigismund 1423 – in diesem Fall nicht für einen Sinto, sondern für den Rom Ladislaus Waywoda. ZITATOR (förmlich vorgetragen) Sooft daher dieser Ladislaus Waywoda und sein Stamm in unser Herrschaftsgebiet gelangt, vertrauen wir fest auf die von euch geleisteten Treuegelübde und tragen Euch auf, daß Ihr eben diesen (…) vor jedem Grenzhindernis und jeder Schwierigkeit schützen und bewahren sollt.  10 O-TON (Fings) In den Genuss kamen Sinti eben auch zum Teil, weil man die Handelsbeziehungen schätzte oder weil es eine gewünschte Migration war. Aber natürlich waren diese mittelalterlichen Gesellschaften sehr brüchig und sehr schwierig und es gab ja zivilisatorisch sehr starke Umbrüche.  SPRECHERIN Immer wieder kämpften Regenten um Besitztümer und Herrschaftsgebiete. Wandernde Gruppen waren irgendwann nicht mehr geduldet.  11 O-TON (Fings) Man versuchte staatliche Macht herzustellen und man sonderte dabei diejenigen aus, die man als nicht passend ansah. Und es gab ja in den deutschen Landen damals ein großes Heer an mobilen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und nach Brot ihre Territorien wechselten und das wollte man eben gerade unterbinden. Man wollte die Leute an ein Territorium festbinden, man wollte dafür sorgen, dass bestimmte Regeln durchgesetzt werden. Und in diese Mühlen gerieten dann auch Sinti und Roma.  Musik: Z8036179130 After the battle 0‘33 TC 07:04 – Vogelfrei  SPRECHERIN 1498 erklärte der Freiburger Reichstag Sinti und Roma reichsweit zu Vogelfreien. Das bedeutete, jedermann konnte gegen sie vorgehen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es kam zu brutalen Übergriffen; es gab Hinrichtungen, Männer wurden gerädert und gevierteilt. Allerdings – das zeigen neuere Forschungen – war das eher die Ausnahme als die Regel.  12 O-TON (Fings) Also Sinti haben sich in den 300 Jahren in den deutschen Landen angesiedelt und etabliert. Man kann anhand der Quellen eine große Bandbreite an Berufen feststellen, also im Handel und im Handwerk. Das wichtigste Gewerbe für Sinti in der frühen Neuzeit was das Militär, viele stiegen auch in hohe Offiziersränge auf.  SPRECHERIN Einen ersten größeren Wendepunkt stellte die Zeit der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert dar.  13 O-TON (Fings) Die Aufklärung brachte für Sinti und Roma nichts Gutes, weil sich da der Rassismus ausgeprägt hat. Es war die Zeit auch des Kolonialismus und man fing an die Menschen zu sortieren. Es wurde die Rasse erfunden und in dem Zusammenhang interessierten sich dann auch auf einmal Forscherinnen und Forscher sehr stark für Sinti und Roma, weil man sie als die Fremden im eigenen Land identifizierte.  SPRECHERIN Der Kulturhistoriker und Statistiker Heinrich Grellmann etwa publizierte Ende des 18. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Werk und beschrieb darin ihre Sitten und Gebräuche. 14 O-TON (Fings) Sie gelten auf einmal als Naturvölker, die unzivilisiert sind, die nicht in der Lage sind sozusagen am Prozess der europäischen Zivilisation teilzunehmen, die sich nicht verändern können, die nicht lernen können.  SPRECHERIN Diese Eigenschaften seien der Minderheit von Geburt an gegeben, meinte Grellmann.  15 O-TON (Fings) Und das war das Verheerende, weil damit jede Individualität negiert wurde und den Menschen auch kein angemessener Platz mehr in dieser Gesellschaft zugewiesen wurde, sondern im Gegenteil: Da entstand dann das ständige Aussortieren und Ausgrenzen. Musik: Z8015897120 Frühling 0‘20 SPRECHERIN Wandernde Sinti und Roma bekamen vielerorts keine Arbeitsgenehmigungen mehr, durften nur außerhalb der Stadtmauer siedeln, wenn sie nicht gleich vertrieben wurden. Gleichzeitig gab es aber auch viele Angehörige der Minderheit, die etabliert waren, auch im 1871 neu gegründeten Deutschen Reich.  TC 09:40 – Systematische Diskriminierung im Kaiserreich  16 O-TON (Fings) Viele gingen im Ersten Weltkrieg für den Kaiser an die Front. Man fühlte sich durch und durch deutsch. Man kennt ja die Fotos in bayerischer Lederhose, in Uniformrock oder im Kommunionkleid, es gab bürgerliches Ambiente, es gab natürlich auch Armut, aber es gab eben eine ganz breite Palette an Lebensformen und ökonomischen Situationen.  Musik: Z8019017135 Passing landscapes 0‘47 SPRECHERIN Von staatlicher Seite hatte allerdings schon im Kaiserreich eine diskriminierende Sonderbehandlung begonnen. Die Ausländerpolitik verschärfte sich, die Frage, wer eine Reichsangehörigkeit bekommt und wer nicht, spielte eine zunehmend größere Rolle. Sinti und Roma versuchte man auszusondern, dasselbe galt für Polen und Juden. 1899 war in München bereits eine sogenannte „Zigeunerzentrale“ eingerichtet worden. Mit modernsten Methoden erfasste die Behörde alle, die sie als „Zigeuner“ klassifizierte, in einer Datenbank. Auf diese Weise registrierte man sonst nur Serienstraftäter.  17 O-TON (Fings) Und in Bayern wurde dann auch 1926 das sogenannte Zigeuner- und Arbeitsscheuen-Gesetz erlassen. Dieses Gesetz wurde schon zur Weimarer Zeit kritisiert, weil es rechtlich im Grunde genommen nicht zulässig war, und trotzdem hat dieses Gesetz einen sehr breiten Konsens gefunden.  SPRECHERIN Die Folge dieses Gesetzes war, dass viele Angehörige der Minderheit aus Bayern flohen, zum Beispiel ins Rheinland. 18 O-TON (Fings) Ich kenne selber einige Familien, deren Großeltern zu dieser Zeit dann ins Rheinland geflohen sind, weil es in Bayern nicht möglich war, einen Wandergewerbeschein zu bekommen, also die wirtschaftlichen Existenzen waren dadurch auch bedroht.  SPRECHERIN Die Zeit im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik war einerseits geprägt von behördlicher Diskriminierung, andererseits konnten sich aber weiterhin viele Sinti und Roma gesellschaftlich behaupten oder zumindest ihre Situation verbessern, indem sie in andere Teile Deutschlands wanderten. Das änderte sich dramatisch, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen.  TC 11:58 – Im Nationalsozialismus: Am Rande der Existenz die lebensgefährliche „Rassenfrage“ 19 O-TON (Fings) 1933 war dann in der Tat ein ganz massiver Einbruch auch für Sinti und Roma, weil jetzt war ja ein Staat gebildet worden, bei dem die sogenannte Rassenfrage an erster Stelle auf der Tagesordnung stand. Und natürlich zielten die Nationalsozialisten vor allem auf die jüdische Bevölkerung, das war die größte Gruppe im Reich, die man als Fremdrasse markierte. Aber eben auch Sinti und Roma merkten recht früh, dass sie nun stark unter Druck gerieten und in ihrer Existenz bedrängt wurden.  Musik: Z8023845106 War is coming 0‘19 SPRECHERIN Mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 erklärten die Nationalsozialisten Sinti und Roma zur „fremden Rasse“. Für die etwa 20.000 Angehörigen der Minderheit im Reich hatte das gravierende Folgen.  20 O-TON (Fings) Sie wurden dann nicht nur von der Polizei total erfasst, sondern auch von der sogenannten rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle, an deren Spitze ein Arzt und Psychiater, Dr. Robert Ritter, stand. Diese rassenhygienische Forschungsstelle hatte sich dann zur Aufgabe gesetzt, alle Sinti und Roma im Deutschen Reich rassistisch zu erfassen, zu katalogisieren, zu vermessen, Stammbäume wurden angelegt ab 1936. Und die rassenhygienische Forschungsstelle war auch maßgeblich verantwortlich für die Radikalisierung der Verfolgung während des Nationalsozialismus. Also sie entschieden mit, wenn irgendwelche Gesetze vorbereitet wurden oder Erlasse, sie fertigten Guthaben an, ob jemand ein sogenannter „Zigeuner“ oder „Zigeunermischling“ war. Und diese ganze Arbeit hatte dann natürlich auch gravierende Auswirkungen im Hinblick auf das Verfolgungsgeschehen.  TC 13:53 – Im Vernichtungslager SPRECHERIN Mit Kriegsbeginn 1939 durften Sinti und Roma ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. Das war gewissermaßen das Vorspiel für die späteren Deportationen in die Konzentrationslager.  21 O-TON (Fings) Es war schon relativ früh klar, dass Sinti und Roma aus dem Reich deportiert werden sollten und es fand dann auch tatsächlich die erste Deportation im Mai 1940 statt, das waren etwa zweieinhalb Tausend Menschen, eher aus dem Westen und Nordwesten des Reiches, die dann in das besetzte Polen deportiert wurden. SPRECHERIN Aber auch den anderen Angehörigen der Minderheit setzten die Nationalsozialisten immer mehr zu. Oft mussten sie ihre Arbeit aufgeben und stattdessen Zwangsarbeit leisten.  22 O-TON (Fings) Und im Dezember 1942 ordnete dann Heinrich Himmler an, dass alle Sinti und Roma im Deutschen Reich in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden.  SPRECHERIN Systematisch wurden alle Sinti und Roma in die Vernichtungslager verschleppt. Frauen, Kinder, Männer – selbst, wenn diese gerade für die Nationalsozialisten an der Front kämpften.  23 O-TON (Fings) Die wurden direkt mit der Uniform ins Lager eingewiesen. Und im Lager selber waren entsetzliche Zustände, so dass im Lager viele verstarben, entweder an Gewaltverbrechen, vor Hunger, an Krankheiten, die nicht behandelt wurden. Oder sie fielen den medizinischen Experimenten des berüchtigten Arztes Josef Mengele zum Opfer. Und nur einige wenige wurden dann selektiert und zur Zwangsarbeit in andere Lager überstellt, Ravensbrück oder Buchenwald beispielsweise. Und alle anderen wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordet.  Musik: C1587770106 Thoughtful gloom (reduziert) 1‘01 TC 15:41 – “Porajmos” – Ein vertuschter Völkermord  SPRECHERIN Von den etwa 20.000 Sinti und Roma, die im Deutschen Reich lebten, wurden etwa drei Viertel ermordet. Insgesamt wurden im deutsch besetzten Europa und in den Ländern, die mit NS-Deutschland kollaborierten, Hunderttausende verfolgt und ermordet. Bis heute lässt sich eine annähernd genau Zahl der gesamten Todesopfer unter den europäischen Sinti und Roma nicht ermitteln. Schätzungen gehen von bis zu einer halben Million aus. Der Völkermord - auf Romanes „Porajmos“ genannt - war eine Grausamkeit unvorstellbaren Ausmaßes – die dennoch in der Nachkriegszeit so gut wie keine Beachtung fand. Stattdessen standen Sinti und Roma weiterhin unter Generalverdacht. Die Polizei erfasste sie immer noch in ihren Sonderabteilungen, sagt die Historikerin Yvonne Robel. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg. 24 O-TON (Robel)  Die berühmteste eigentlich in München, aber in Hamburg gab es eine Sonderabteilung innerhalb der Kriminalpolizei, die „Dienststelle für Landfahrer“ oft hieß, die gezielte Verfolgung von Personen, die irgendwie als Angehörige der Minderheit kenntlich geworden waren, betrieben.  SPRECHERIN Auch in anderen staatlichen Institutionen, Ämtern und Behörden, stießen Sinti und Roma oft auf Ablehnung. Vielerorts arbeiteten noch dieselben Personen, die die Angehörigen der Minderheit während der NS-Zeit als „Zigeuner“ klassifiziert hatten und somit für Deportationen verantwortlich waren. Ähnliches konnte man in der Wissenschaft beobachten. 25 O-TON (Robel) Es gibt die Akteure, die im Nationalsozialismus unter anderem in der rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle unter Robert Ritter gearbeitet haben, die auch in der Nachkriegszeit dann weiterarbeiteten, ihre Studien betrieben, die an Personen forschten, weiter ihr Wissen verbreiteten – und als Experten wahrgenommen wurden, da gab es überhaupt gar keinen Bruch. SPRECHERIN Schuldeingeständnisse, gar eine Anerkennung des Völkermords gab es von diesen sogenannten Experten nicht. Stattdessen hieß es beispielsweise, Sinti und Roma wären in Konzentrationslager gebracht worden, weil sie Kriminelle gewesen seien. Auch ein Urteil des obersten deutschen Gerichtes spiegelte das wider.  26 O-TON (Robel) Es gab 1956 dieses Grundsatzurteil beim Bundesgerichtshof, das besagte, dass alle Verfolgung von Sinti und Roma vor 1943 nicht aus rassistischen Gründen erfolgt sei und deshalb nicht entschädigungsrelevant war […]. Das ist ein fatales Urteil für viele Überlebende gewesen, die auf Hilfe angewiesen wären, weil sie aus Verfolgungsgründen arbeitsunfähig waren; körperlich versehrt, Hilfe brauchten für ihre Familien und so weiter.  SPRECHERIN: Wegen der fehlenden Aufarbeitung wirkten auch in der Bevölkerung die alten Vorurteile und Stereotype fort.  SPRECHER Zitat aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs 1956: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist." 27 O-TON (Robel) Diese nationalsozialistische Schuldzuweisung, asozial zu sein, aus der Norm der Volksgemeinschaft aus sozialen Gründen auszuscheren, diese Zuweisung war extrem wirkmächtig in der Nachkriegszeit. Und die war so wirkmächtig, dass sie sich in die Entschädigungsgesetzgebung eingeschrieben hat.   Musik: Z8032962101 Aufbruch und Z8032962103  Aufbruch (reduced 2)   0‘39 TC 18:42 – Eine gebrochene Generation  SPRECHERIN Die Situation änderte sich erst in den 1970er, 80er Jahren. Vor allem weil nun auch Angehörige der Minderheit selbst für ihre Rechte kämpften.  ZITATOR Aufruf! An alle deutschen Sinti! Es ist langsam an der Zeit, auf Ungerechtigkeiten, die die Sinti heute schon wieder erdulden müssen, aufmerksam zu machen! SPRECHERIN In Heidelberg veröffentlichte das Zentral-Komitee der Sinti Westdeutschland einen Aufruf. In der DDR gab es nur ein paar hundert Angehörige der Minderheit. In Heidelberg mit dabei war auch Romani Rose.  28 O-TON (Rose) Sie müssen wissen, die älteren Leute, die Generation meiner Eltern, die waren durch die Erfahrung des Nationalsozialismus gebrochen. (....) Und erst die Nachkriegsgeneration, die mit einem anderen Bewusstsein in Staat und Gesellschaft aufgewachsen ist, konnte sich mit diesem Kapitel des Unrechts durch die Nationalsozialisten auseinandersetzen. (10) SPRECHERIN  Der Hungerstreik und andere Protestaktionen zeigten Wirkung. Im März 1982 empfing Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des kurz zuvor gegründeten Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Anschließend sagte er die Worte, auf die viele Angehörige der Minderheit lange gewartet hatten:  ZITATOR Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermordes erfüllt. SPRECHERIN Die Erklärung Schmidts war ein Wendepunkt im Umgang mit Sinti und Roma in der Bundesrepublik, sagt Yvonne Robel.  29 O-TON (Robel) Das war jetzt nicht nur Symbolpolitik, sondern das war auf einer moralischen Ebene extrem wichtig dieser Schritt. Musik: Z8014761143 New beginning 0‘58 TC 20:37 – Angst trotz Anerkennung SPRECHERIN 1995 wurden die deutschen Sinti und Roma als eine der vier alteingesessenen Minderheiten in Deutschland anerkannt, neben Friesen, Sorben und der dänischen Minderheit. Aber trotz alledem lebten und leben die alte Stereotype und Vorurteile in der Bevölkerung fort. Das wurde deutlich, als sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele osteuropäischen Staaten neuformierten. Alte Nationalismen flammten auf, es kam zu Vertreibungen und Fluchtwellen, vor allem während des Kosovo-Kriegs Ende der 1990er. Viele Sinti und Roma leugneten deshalb ihre Zugehörigkeit zur Minderheit. Das machen viele auch heute noch. Auch Marcella Reinhardt hat das lange Zeit getan – aus Angst, sie könnte ihren Job verlieren.  31 O-TON (Reinhardt) Ich hatte, als ich meinen Job angefangen habe, gesagt, ich bin Italienerin. Musik: Musik: Z8020108141 In der Finsternis 1‘09 SPRECHERIN Denn immer noch sind Vorurteile und negative Stereotype weit verbreitet.  32 O-TON (Reinhardt) Die Diskriminierung gibt es immer noch, das hat sich leider in den Generationen nicht verändert. Wir haben Jugendliche, die sich sehr schwer tun mit diesen Vorurteilen, gerade auf dem Bildungsweg ist es sehr schwer.  SPRECHERIN Aber Marcella Reinhardt sieht auch viel Positives, insbesondere die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung und des Zentralrats habe hierzu beigetragen. 33 O-TON (Reinhardt) Wenn ich bedenke, dass unsere Leute früher sich nie getraut haben, in der Mitte der Gesellschaft sich zu zeigen oder auch andersrum gesehen, wir waren in der Mitte der Gesellschaft nicht erwünscht und heute begrüßt man uns, wir machen zusammen Veranstaltungen, wir gedenken zusammen an die Opfer des Holocaust und wir arbeiten zusammen gegen Rassismus, da muss ich sagen, wir haben sehr große Erfolge erreicht.  TC 22:42 – Outro 
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Dec 8, 2023 • 24min

AN DIE ARBEIT! Die Arbeitsmoral

Keine Arbeitsmoral! Wieso kommt das Paket nicht wie versprochen an? Wo bleibt denn der Installateur? Wo sind die Werte geblieben wie Fleiß und Disziplin? - Überhaupt: Sagte nicht schon Paulus im Neuen Testament: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen? - Doch so einfach ist es nicht. Die Verknüpfung von Arbeit mit Moral ist eine Erfindung der Neuzeit. Das aufstrebende Bürgertum fing an, sich durch Arbeit von der Aristokratie abzuheben, die nicht arbeiten musste. Der Beginn einer spannungsreichen Verbindung: der Arbeitsmoral. Von Martin Trauner (BR 2022)CreditsAutor dieser Folge: Martin TraunerRegie: Martin TraunerEs sprachen: Rahel Comtesse, Benedikt SchregleTechnik: Susanne HerzigRedaktion: Iska Schreglmann Linktipps: Panorama (2023): Arbeitsmoral – Sind Junge faul?Immer öfter ist von Seiten der Wirtschaft zu vernehmen, Jüngere hätten weniger Lust auf Arbeit. Panorama hat mit jungen Menschen in unterschiedlichen Branchen gesprochen.Arbeitsmoral: Sind Junge faul? | Das Erste - Panorama - Sendungsarchiv - 2023 (ndr.de) Radioeins (2023): Generationsunterschiede zur Arbeitsmoral widerlegtGeneration Y und Z sind faul und die Babyboomer arbeiten sich zu Tode. Diese Klischees sind im Alltag häufiger zu hören. Doch geben sie auch die Faktenlage wieder? Dies untersuchte die Studie von Prof. Martin Schröder, Soziologie und Professor an der Universität des Saarlandes. Das Ergebnis widerspricht diesen Klischees: Wie jemand zur Arbeitswelt steht, ist keine Frage des Geburtsjahres. Viel entscheidender sind sogenannte Alters- und Periodeneffekte.Die Profis · Generationsunterschiede zur Arbeitsmoral widerlegt · Podcast in der ARD Audiothek Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast · Podcast in der ARD Audiothek Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 03:53 – Von Arbeitsmoral, Arbeitsethik und ArbeitsethosTC 05:16 – Eine Frage der Ehre: Arbeitsmoral im MittelalterTC 08:34 – Der Weg zum ReichtumTC 14:07 – Adolf Kolping und die soziale FrageTC 16:08 – Teamfähigkeit und andere TugendensTC 18:17 – Früher war alles besser?TC 20:38 – Das Bild der fleißigen DeutschenTC 22:32 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK – „Did this really happen?“ – C125059#003 (0:50) ERZÄHLERIN Irgendwo im Westen Europas. Ein ärmlich gekleideter Fischer liegt in seinem Boot und döst. Ein Tourist spricht ihn an. Ob er nicht noch mal herausfahren möge mit seinem Boot, fragt er ihn. Um noch mehr Fische zu fangen?  - Der Fischer verneint. Er habe genug gefangen. - Und nun erklärt der Tourist ihm das Erwerbsleben: Er könnte mehrmals am Tag fischen, dann könnte er seinen Betrieb vergrößern, Leute anstellen. Und letztlich hätte er dann genug verdient, um sich gemütlich in die Sonne zu legen und zu dösen. MUSIK und Atmo weg ERZÄHLERIN Nun, die Antwort des Fischers dürfte wohl klar sein... Also: Er liegt ja schon in der Sonne und döst, was sollte er da verändern? - Eine schöne, aber leider erfundene Geschichte von Heinrich Böll, aus dem Jahre 1963. Sie heißt „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Der Fischer hätte, wie wir modern sagen, seine „Work-Life-Balance“ bereits gefunden. Freilich: was seine Arbeitsmoral betrifft, na, die scheint ein bisschen reduziert… MUSIK „Travel to Edinburgh“ – Z8000433#103 (0:30) TC 01:43 - ERZÄHLERIN Im Jahr 2019 befragte man deutsche Führungskräfte über die Arbeitsmoral der jüngeren Generation. Der Grundtenor der Antworten: Zu wenig Arbeitsmoral, zu viel Work-Life-Balance! - Viel Geld wolle der Führungsnachwuchs schon verdienen, aber nicht in einer dann zu erwartenden 50-Stunden Woche. Also, wo ist sie geblieben, die viel bemühte Arbeitsmoral? ATMO Autocenter München Nord 001 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Ich mach es ja jetzt seit 1998 und da hat sich ganz viel verändert… ERZÄHLERIN Zu Besuch bei Günter Friedl. Er betreibt das Autocenter Nord in München. - Eine Tankstelle und ein kleines Autohaus. 002 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Also, man erkennt sehr, sehr deutlich, dass bei jungen Menschen die Arbeitsmoral lange nicht mehr die ist, die sie in meiner Generation -1968 - ja mal war. Das sieht man sehr deutlich… ERZÄHLERIN Günter Friedl ist Chef von 25 Angestellten, die in der Werkstatt oder im Verkauf arbeiten. Ein mittelständisches Unternehmen. Aber: Auch er hat ein Problem mit einer etwas veränderten „Arbeitsmoral“, etwa wenn er neue Auszubildende sucht… 003 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Neuerdings sagen die immer, die „Work-Life-Balance“. Aber dieser Anglizismus, der geht mir ja schon auf den Sack, Entschuldigung, aber das muss ich schon mal so deutlich sagen, man kann das ja auf Deutsch ausdrücken… Aber denen ist also die Balance zwischen Arbeit und Leben offensichtlich sehr, sehr wichtig… ERZÄHLERIN Aber was heißt das überhaupt, Arbeitsmoral? Für sich selbst definiert das Günter Friedl glasklar: 004 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Das heißt, was gemacht werden muss, muss man halt ganz einfach machen. Und man muss auch bereit sein, seine persönlichen Befindlichkeiten und seine persönlichen Liebhabereien zurückzustecken und seine Pflicht zu erfüllen und seiner Verantwortung als Arbeitgeber gerecht zu werden. MUSIK „Travel to Edinburgh“ – Z8000433#103 (0:28) TC 03:53 – Von Arbeitsmoral, Arbeitsethik und Arbeitsethos ERZÄHLERIN Pünktlichkeit, Disziplin und Arbeitsamkeit. Also Tugenden. Die Tugenden der Arbeitsmoral, der Arbeitsethik oder des Arbeitsethos? Schwierige und schwerwiegende Begriffe. Mal nachgefragt bei einem Philosophen und Wirtschaftsethiker, wie das so ist, mit der Arbeit und der Moral … 005 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Na ja, Moral bezeichnet normalerweise, die für unser Leben bestimmenden Werthaltungen, Normen, Tugenden, nach denen wir uns im Alltag richten… ERZÄHLERIN Sagt Michael Aßländer, Professor für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität Dresden. 006 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Zu unterscheiden davon wäre die Ethik. Die Ethik versucht sozusagen diese Moral zu begründen und stellt die Frage, ob eine bestimmte Moral legitimierbar ist oder legitimiert ist. Also, wenn man so will, kann es bestimmte moralische Praktiken geben, die ethisch eben nicht legitimiert sind… [Ein einfaches Beispiel: Natürlich hat auch die Mafia eine Moral, aber die ist natürlich in weiten Teilen unethisch] ERZÄHLERIN Und dann gibt es noch den Begriff „Ethos“ 007 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Aber „Ethos“, wie auch so in den Begriffen: „Berufsethos oder Standesethos“ ja schon ausgedrückt wird, entspricht sozusagen einer Ständeordnung, bestimmter Tugendpflichten, bestimmter Normen, die für einen bestimmten Stand gelten und sie auch so einen bestimmten Anspruchskatalog formulieren, das heißt nicht notwendigerweise, dass jeder Arzt auch seinem ärztlichen Standesethos immer Folge leistet. MUSIK „Juttas Beerdigung“ – Z9367647#011 (0:17) TC 05:16 – Eine Frage der Ehre: Arbeitsmoral im Mittelalter ERZÄHLERIN Ja, aber woher kommt das dann überhaupt, Begriffe wie: Arbeitsethos,  Arbeitsethik, oder gar die Arbeitsmoral?  - Gab es so etwas etwa schon, mal weit zurückgedacht, gab es so etwas schon vielleicht im Mittelalter? 008 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Das ist schwierig. Das hängt weniger am Begriff der Moral als am Begriff der Arbeit… ERZÄHLERIN Sagt Michael Aßländer. Denn das, was wir heute unter Arbeit verstehen würden, das gab es im Mittelalter einfach noch nicht. Man arbeitete nicht in der Industrie, nicht in einer Fabrik, man hatte keinen Nine-to-Five-Bürojob. Und natürlich trennte man nicht zwischen Freizeit und Arbeit. Den Begriff der „Arbeitsmoral“ gab es selbstverständlich auch noch nicht, aber man kannte immerhin so etwas in der Art… 009 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) … Was wir aber natürlich hatten im Mittelalter war ein vielleicht gleich lautender Begriff wie: die „Ehre“, - also die Handwerkerehre zum Beispiel oder auch der ehrbare Kaufmann. Das verwies natürlich auch auf bestimmte Tugendpflichten, auf bestimmte moralische Normen und Vorstellungen, die in diesen Berufen dann letztendlich zum Ausdruck gebracht werden sollten oder zum Ausdruck gebracht wurden. Und das ging weit über Arbeit in dem Sinne hinaus, sondern betraf auch die Lebensführung eines Meisters oder die Gehorsampflichten eines Gesellen beispielsweise … ERZÄHLERIN Die Gesellschaft im Mittelalter folgte einer Ständeordnung. Also Bauern und Handwerker ganz unten, dazwischen der Adel. Und ganz oben: der Klerus. - Ein jeder Stand hatte die ihm von Gott zugedachte Arbeit zu verrichten. Freilich: Körperlich arbeitete eigentlich nur der unterste Stand, während der Adel für die Sicherheit sorgen sollte und der Klerus:  der betete… MUSIK „Juttas Beerdigung“ – Z9367647#011 (0:53) ZITATOR (Hrabanus Maurus) Multiplica ergo pio praecepta talenta labore, maxima quod coelo praemia percipias - Vervielfache durch Arbeit deine von Gott gegebenen Talente und du wirst vom Himmel die größte Belohnung erhalten! ERZÄHLERIN Schreibt Hrabanus Maurus, ein deutscher Mönch aus dem 9. Jahrhundert. - Eine wichtige oder sogar die einzige Rolle für Moralvorstellungen spielte im ganzen mittelalterlichen Leben die Religion, das Christentum. Ein Leben in Armut wurde zwar durchaus toleriert, um ein tugendhaftes Leben führen zu können, aber mit dem biblischen Gleichnis von den Talenten oder mit dem Leitspruch „Ora et labora“ ließ sich auch ein wenig für Arbeitseifer argumentieren – Etwa in den Klöstern. 010 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Die Klöster bilden insofern eine Ausnahme und auch der Satz „ora et labora“ – „Bete und Arbeite“ ist so zu lesen. Aber da dient Arbeit sozusagen als asketisches Bußideal. (…) ERZÄHLERIN Also bete und arbeite, um gottgefällig zu sein. Etwa in den benediktinischen Klöstern… 011 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer)  (…) Und das geht soweit, dass zum Beispiel in den „Regulae Benedicti“, also in den Regeln des heiligen Benedikt, Benediktinerorden, klar vorgegeben wird, wie viele Stunden am Tag der einzelne Bruder sich dem Gebet zu widmen hat, in welcher Reihenfolge Gebet und Arbeit aufeinander folgen sollen et cetera, das hat aber so einen religiösen Anspruch und ist nicht so in dieser, ja eher, ich arbeite um Geld zu verdienen, ja, die Frage, was arbeitest du, womit verdienst du dein Geld, also in dieser Konnotation eben nicht gedacht. MUSIK „cinetic“ – C1165170#017 (0:18) TC 08:34 – Der Weg zum Reichtum ZITATOR (Benjamin Franklin) - Kein Gewinn ohne Schmerzen! - Ein Leben in Muße und ein Leben in Faulheit, das sind zwei Dinge! - Wenn du etwas morgen zu tun hast, erledige es heute! - Nimm was du kriegen kannst! MUSIK aus ERZÄHLERIN Nein, das sind keine benediktinischen Regeln, nein, das sind auch keine Sprüche aus einem heutigen Karriereratgeber, ja, es sind einige Leitsätze des Amerikaners Benjamin Franklin. Aus dem 18. Jahrhundert, Zeit der Aufklärung -  Benjamin Franklin, das ist der mit dem Blitzableiter. Aber Franklin war nicht nur Erfinder, sondern auch Politiker und Unternehmer. Seine Lebensmaximen: Sparsamkeit, Aufrichtigkeit und Strebsamkeit. - Aber was ist seit dem Mittelalter passiert, wie kam es zu dieser ganz anderen Art der Arbeitsauffassung? 012 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Das hat mehrere Aspekte: Einmal fällt natürlich mit der Aufklärung diese Vorstellung einer Gott gewollten Ordnung weg. Also spätestens mit den Religionskriegen. Dann aber auch mit der französischen Revolution wird dieses System: „Katholische Kirche und wir erklären die Welt“ - brüchig. Das bedeutet, dass wir verschiedene Dinge, also Eigentumsordnung neu erklären müssen. Und John Locke war es dann der gesagt hat: Ja gut, Arbeit begründet Eigentum. Was du mit deiner Hände Kraft umgeformt hast, was du dem ursprünglichen Zustand, indem die Natur es belassen hat, entreißt, das wird dein Eigentum (…) ERZÄHLERIN Sagt Michael Aßländer, Professor für Wirtschaftsethik. Auch Adam Smith oder Jean Jacques Rousseau folgen der Auffassung von John Locke: Eigentum entsteht durch Arbeit… 013 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Und ein zweiter Aspekt ist natürlich, dass wir sozusagen Arbeit auch ein Stück weit positiv konnotieren, diese Entwicklung war schon von der Antike bis ins Mittelalter, aber mit der Neuzeit taucht die Vorstellung auf, dass derjenige, der „müßig geht“, eben ein Betrüger sei. So heißt es wörtlich bei Rousseau.- Jeder Bürger, ob arm oder reich, schuldet der Gesellschaft seine Leistung. Und wer diese Leistung für die Gesellschaft nicht erbringt, zumindest nicht so viel Leistung erbringt, das sich selbst erhält, der ist ein Sozialschmarotzer, der lebt auf Kosten der Gemeinschaft, der stiehlt der Gemeinschaft etwas, das taucht schon bei Luther auf, und deswegen ist er ein Betrüger… ERZÄHLERIN Die „neue“ Arbeitsethik oder besser gesagt, die neu geschaffene Verbindung von Arbeit und Moral, die Arbeitsmoral, sie richtet sich vor allem gegen die alten Stände des Mittelalters, die nicht arbeiten mussten. Also der Adel und der Klerus. - Der unterste Stand, die Bauern und Handwerker, und jetzt auch die Bürger, legitimieren sich geradezu durch ihre Arbeit. 014 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Und damit gewinnt Arbeit dann an Stellenwert. Die wird dann aufgewertet über Sekundärtugenden: Pünktlichkeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Enthaltsamkeit und so weiter und wird dann auch als Instrument verstanden, sein eigenes Glückes Schmied sozusagen zu werden … ERZÄHLERIN Also Tugenden oder Ratschläge, wie sie Benjamin Franklin formuliert hatte. Seinen Ratgeber übertitelte Franklin übrigens mit „The way to wealth“ – auf Deutsch: „der Weg zum Reichtum“. So wie er, Sohn eines Seifenmachers, könne jeder den sozialen Aufstieg schaffen, wenn man nur genügend Arbeitsmoral zeigt. 015 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Und damit wird Arbeit, sich selbst etwas durch Arbeit zu schaffen, sozusagen positiv konnotiert. Mit gewissen Nachteilen auch, denn derjenige, der arm ist, der ist jetzt nicht mehr arm, weil es sein Schicksal ist oder von Gott gewollt ist, sondern der ist deswegen arm, weil es ihm eben an Arbeitsmoral fehlt (…) MUSIK „Alteration“ – C1432360#033 (0:32) ZITATOR (Gotthold Ephraim Lessing) Faulheit, jetzo will ich dir auch ein kleines Loblied bringen! ERZÄHLERIN So schreibt der Dichter Gotthold Ephraim Lessing Mitte des 18. Jahrhunderts… Ein Lob der Faulheit. ZITATOR (Gotthold Ephraim Lessing) Höchstes Gut, wer dich nur hat, dessen ungestörtes Leben. Ach! – ich – gähn’ – ich – werde matt – Nun – so – magst du – mir’s vergeben Dass ich dich nicht singen kann. Du verhinderst mich ja daran. ERZÄHLERIN Lessing konnte es sich erlauben, sich ironisch mit der Faulheit auseinandersetzen. - Aber auch er musste einem Brotberuf nachgehen, er war Bibliothekar, um nebenher als Dichter glänzen zu können. - Für denjenigen Zeitgenossen dagegen sah es düster aus, für denjenigen, der nicht arbeiten konnte oder wollte… Oder dem schlichtweg die Arbeitsmoral fehlt… 016 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Und damit wird er natürlich so ein bisschen zum gesellschaftlichen Antitypen. Also er ist derjenige, der auf Kosten der Gemeinschaft lebt und in der praktischen Konsequenz schickt man den dann in ein Arbeitshaus. Im Englischen so schön genannt „Houses of correction“. Da muss man etwas geradebiegen, was schief gewachsen ist, und muss man korrigieren. Und da muss man diesen Leuten, mit zum Beispiel drakonischen Maßnahmen, Arbeitsfleiß anerziehen… MUSIK – „Can i forgive“ – C125059#008 (0:31) ERZÄHLERIN Arbeitshäuser gab es in England bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Idee dahinter: Man wollte den Nichtarbeitenden und vor allem den Armen einbläuen, mit Arbeit und Moral könnten sie ihr Leben verbessern. Freilich: Auch in Deutschland war Armenunterstützung an Bedingungen gekoppelt, man musste sich um Arbeit bemühen. Und irgendwie gilt das bis heute… MUSIK aus TC 14:07 – Adolf Kolping und die soziale Frage 017 ZUSPIELUNG (Albrecht Schnabel) Wir sind eine Jugendberatungsstelle für 16- bis 25 jährige im Großraum München … ERZÄHLERIN Zurück in der Gegenwart. Zu Besuch bei Albrecht Schnabel. Er ist Diplompsychologe und arbeitet in der Kolping Bildungsagentur in München. Hier setzt er sich für junge Erwachsene ein. 018 ZUSPIELUNG (Albrecht Schnabel) Da unterstützen wir schon ganz konkret beim Bewerbungsprozess, bei der Praktikumssuche. Aber auch bei allen anderen Themen, die die berufliche Orientierung hemmen oder stören, das nennt man „vermittlungstechnische Handicaps“ – Es kann sein, schwächere Leistungsfähigkeit, oder Probleme, die zwischen mir und der beruflichen Passung oder Erfüllung stehen. So wie: Schulden, drohende Obdachlosigkeit, schwieriges Umfeld (…) Armut kein Geld… Da muss man schauen, dass man Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II beantragt – („diese Sachen, die hemmen mich“). ERZÄHLERIN Die Kolping Bildungsagentur geht letztlich zurück auf Adolph Kolping, ein katholischer Priester aus dem 19. Jahrhundert. Dem die „soziale Frage“ wichtig war… 019 ZUSPIELUNG (Albrecht Schnabel) Das kommt ja schon von Adolf Kolping, diese Werte oder diese These: Wenn du Arbeit und Unterkunft hast, dann kann sich die Persönlichkeit entwickeln. Und du kannst empor wachsen als junger Mensch. Also sozusagen wertvoller werden für dich und für die Gemeinschaft… MUSIK – „Can i forgive“ – C125059#008 (0:38) ERZÄHLERIN Kolping sah die Auswüchse der Industrialisierung. Ihn berührte das Schicksal vieler Handwerksgesellen, die unter teil prekärsten Umständen ihr Leben fristeten. Kolpings Ziel: Man muss sich für diese Menschen einsetzen, ihnen Religion, familiären Halt und vor allem Bildung vermitteln. - Heute hilft die Kolping Bildungsagentur Heranwachsenden, sich im Arbeitsmarkt etablieren zu können. Und da spielt natürlich auch „Arbeitsmoral“ eine Rolle. Aber was bedeutet Arbeitsmoral heute, etwa aus Sicht eines Psychologen. Albrecht Schnabel: TC 16:08 – Teamfähigkeit und andere Tugenden 020 ZUSPIELUNG (Albrecht Schnabel) Ich würde sagen, hängt zusammen mit der Motivation. Je eher ich die Tätigkeit, also die Inhalte der Arbeit mag, an sich, umso besser ist, glaube ich, meine Arbeitsmoral. Würde ich sagen. Je intrinsischer ich motiviert bin, umso besser ist meine Arbeitsmoral. Je extrinsischer, sagen wir, normaler aber auch ein bisschen mittelmäßiger ist die Arbeitsmoral. ERZÄHLERIN „Intrinsisch“ und Extrinsisch“ sind Begriffe aus der Motivationspsychologie. „Intrinsisch“ heißt, man kann sich selbst begeistern, man ist von sich aus mit Freude bei der Sache. „Extrinsisch“, das heißt, die Motivation soll von außen kommen. In der Arbeit etwa vom Chef, Also: 021 ZUSPIELUNG (Albrecht Schnabel) Begeistere mich! – Und das ist aber schwierig. Bei erwachsenen Menschen, auch bei jungen Erwachsenen, wenn sie das immer benötigen, die Begeisterung von außen, das geht ins extrinsische, dann muss man immer Energie zuführen als Vorgesetzter, Unternehmer oder Inhaber, und das ist schon ein anstrengender Prozess (…) MUSIK „Travel to Edinburgh“ – Z8000433#103 (0:33) ERZÄHLERIN Heutzutage hängt die Arbeitsmoral von vielen Faktoren ab. Natürlich sind da immer noch die Sekundärtugenden aus der Zeit der Aufklärung, oder sogar des Mittelalters, wie Pflicht, Pünktlichkeit und Disziplin, die man erwartet, aber es kommen auch neue Tugenden, neue „Skills“ dazu. Etwa die „Teamfähigkeit“ - Nachgefragt bei Günter Friedl, Chef eines mittelständischen Betriebs in München: 022 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Teamfähigkeit bedeutet natürlich auch, dass man sich halt überlegt, mach ich die Arbeit noch fertig, bevor ich zum Doktor gehe. (…) -  Und da verschiebt es sich halt immer mehr weg von der Arbeit, von dem was man lebt, hin zu Freizeitgestaltung und Social Media. 023 ZUSPIELUNG (Albrecht Schnabel) Ja. Dieter Frey, für den ich lange Zeit an der Uni gearbeitet habe, der hat’s manchmal noch überspitzter gesagt „Freizeit orientierte Schonhaltung“ – was so ein bisschen ist, wie Kollege kommt gleich, Dienst nach Vorschrift… TC 18:17 – Früher war alles besser? ERZÄHLERIN Sagt Albrecht Schnabel. - Bei den Jüngeren mag das ja so sein. Eine Freizeit orientierte Schonhaltung. - Aber bei den Älteren? Bei denen, die vor der Generation X-Y-Z geboren worden sind? Wie sieht es da aus? Mit der Arbeitsmoral? 024 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Meine Erfahrung ist, dass die älteren Mitbürger noch eine andere Arbeitsmoral besitzen als die jüngeren. ERZÄHLERIN Ist das nicht das Jahrhunderte alte Klagelied einer älteren Generation über die Jüngeren, die das Althergebrachte, die alten Werte nicht mehr zu schätzen wissen? Günter Friedl: 025 ZUSPIELUNG (Günter Friedl) Denk ich nicht. Ich denke es deswegen nicht, weil die Anforderungen sich nicht wesentlich geändert haben. Noch immer, also zumindest in dem Bereich, in dem wir hier arbeiten – wenn du natürlich heute einen Computerprogrammierer oder sonst irgendwen hast, einen, der kreativ arbeitet (…) da ist es relativ egal, wann der seine Leistung erbringt – in dem klassischen Beruf, den wir betreiben, das ist ja Handwerk, (das ist ja ein Handelsberuf, im Autohaus ist es Handwerk, in der Tankstelle ist es Verkauf,) da sind die Anforderungen an die Grundsozialität des Menschen, die haben sich ja nicht verändert … ERZÄHLERIN Auch der Wirtschaftsethiker Michael Aßländer sieht eine Veränderung der Arbeitsmoral in den letzten Dekaden… 026 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer)  (…) Was also sozusagen die Arbeitsteams, sag ich jetzt mal, der 60er und 70er Jahre auszeichnet, waren drei Dinge: nämlich eine verdiente Autorität, das heißt, der Meister war Meister, weil er mehr konnte, weil er mehr Erfahrung hatte, weil er mehr Verantwortung trug, und das hat man respektiert. Das Zweite war so eine starke Gruppensolidarität, die auch etwas mit Respekt zu tun hatte, also man respektierte sich in der Gruppe, man hatte Achtung vor dem, was der andere mehr konnte, aber man hat sich auch unterstützt… ERZÄHLERIN Etwa wenn einer das Wochenende zu stark genossen habe. Man habe den Schwächeren im Team geholfen. Oder sogar den Chef oder die Chefin unterstützt, wenn der oder die Fehler gemacht hatten. Weil man sich natürlich auch privat kannte. Nur, dieser Gruppenzusammenhalt scheint heute nicht mehr in dem Maße wie einst zu existieren… 027 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Der wird nämlich brüchig, wenn wir sozusagen ein Management haben, das permanent ausgetauscht wird, also im Sinne von, ich mache Karriere, ich geh zu einer anderen Firma, dann habe ich morgen wieder einen neuen Vorgesetzten – und wird natürlich brüchig, wenn ich nur noch temporäre Arbeiter habe, wenn ich nur noch Leiharbeiter habe… MUSIK – „Did this really happen?“ – C125059#003 (0:34) TC 20:38 – Das Bild der fleißigen Deutschen ERZÄHLERIN Zurück an die Westküste Europas. Ja. Zu dem von Heinrich Böll erfundenen Fischer, der alles scheinbar im Griff hat, also seine „Work-Life-Balance. Der sich von einem Touristen, vermutlich war es ein Deutscher, maßregeln musste, wegen seiner lässigen Arbeitsmoral. - Kann man wenigstens da noch behaupten, dass wir Deutsche, trotz aller Defizite, eine höhere Arbeitsmoral besitzen, als zum Beispiel die Südländer? 028 ZUSPIELUNG (Michael Aßländer) Ja das stimmt so nicht. Ich hatte mal eine Diskussion mit einer elsässischen Kollegin.(….) und wenn man das tatsächlich rausrechnet, arbeitet ein französischer Arbeitnehmer auch nicht anders. Er arbeitet nicht weniger, gilt auch für die Italiener, die haben, glaube ich, sogar höhere Arbeitsstunden als die Deutschen, also dieses Bild der fleißige Deutsche ist da nicht mehr ganz so haltbar, und man sieht in all diesen Nationen, dass sich die Arbeitsmoral verändert hat. (….) Also, da ist ein Druck nicht nur in Deutschland, eben auch in allen Industrieländer, angewachsen, der letztendlich Arbeit straffer organisiert, effizienter gestaltet, bestimmter Termindruck, Terminfristen et cetera… das wirkt sich alles auf die Art, wie wir arbeiten aus und hat natürlich berufliche Anforderungen entsprechend verändert… MUSIK – „Did this really happen?“ – C125059#003 (0:36) ERZÄHLERIN Arbeitsmoral ist heute wohl oft weniger eine Frage der inneren Einstellung als eine Frage des Termin- und Karriere-Drucks in der modernen Arbeitswelt. Das richtige Maß zwischen nötigem Arbeitseinsatz und gesundheitsfördernder Entspannung zu finden - wie es dem Fischer in Bölls Geschichte offenbar gelang - ist heute sicher nicht nur an den Küsten Europas um einiges schwieriger geworden. MUSIK hoch und aus -ENDE TC 22:32 – Outro        
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Dec 8, 2023 • 22min

AN DIE ARBEIT! Die Bewerbung

Was für eine Gratwanderung! Wer sich um eine Arbeitsstelle bewirbt, muss eigene Ansprüche formulieren und zugleich versuchen, mögliche Erwartungen des Gegenübers zu erfüllen. Außerdem gilt: bloß nicht bedürftig wirken! Das war vor 200 Jahren noch ganz anders. Damals schrieben Jobsuchende noch richtiggehend Bettelbriefe. Von Justina Schreiber (BR 2023) Credits Autorin dieser Folge: Justina Schreiber Regie: Irene Schuck Es sprachen: Berenike Beschle, Florian Schwarz Technik: Ruth-Maria Ostermann Redaktion: Susanne Poelchau Linktipps: ARD alpha (2021): Tutorial – so überzeugst du Personalmanager Bewerben als Werkstudent oder für eine richtige Stelle - wie geht das? Alessandro Bongiorno holt sich Rat von einem Bewerbungscoach. Der zeigt ihm, wie Anschreiben und Lebenslauf zu formulieren sind und welche Zeugnisse in die Bewerbung gehören. Bewerbung schreiben: Tutorial - so überzeugst du Personalmanager | Campus | ARD alpha | Fernsehen | BR.de ARD alpha: Ich mach’s! Mehr als 400 Berufe im Dualen System, dazu kommen Lehrstellen bei Behörden und der Bahn. Doch welche Ausbildung ist für wen richtig? „Ich mach’s!“ stellt jede Woche einen Beruf ausführlich vor. Ich mach's! - Videos der Sendung | ARD Mediathek Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 00:38 – In tiefster Untertänigkeit: Bewerben im 19. Jahrhundert TC 02:40 – Die moderne Selbstvermarktung – Neugier statt Mitleid TC 05:49 – Eigenlob hat früher noch gestunken TC 08:29 – Die DNA einer Bewerbung TC 09:40 -  Der Ton macht die Musik und der Weg ist das Ziel TC 14:05 – „Ich bewerbe mich für den Bekannten meiner Schwester Neffen“ TC 16:36 – Die Headhunter-Maschine KI TC 17:37 – Top oder Flop: Der erste Eindruck zählt TC 19:32 – Woran hat’s gelegen? TC 19:13 – Outro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 0:15 - Intro Podcast-Ansage: Eine neue Arbeit suchen, sich um einen Job bewerben, das kann echt anstrengend sein: Wie präsentiere ich mich richtig? Was erwähne ich, was nicht? Klar, dafür gibt es Trainings und Ratgeber. Aber die nutzen ja auch andere. Wie also nimmt man potentielle Arbeit-“Geber“ für sich selbst ein? Bewerber und Bewerberinnen vergangener Zeiten gingen die Sache noch ganz anders an als wir.   MUSIK 1 "Andante Con Moto: Strings in E-Flat Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Succession: Season 1 (HBO Original Series Soundtrack) - Länge: 1'26 TC 00:38 – In tiefster Untertänigkeit: Bewerben im 19. Jahrhundert ZITATOR: Euer königlichen Majestät nahet sich in tiefster Unterthänigkeit der Sohn des seit 50 Jahren in Stuttgart angestellt gewesenen Scharfrichters Näher als Waise, und erinnert die von seinem, in voriger Nacht durch einen Schlagfluß plötzlich hinweggerafften 75jährigen Vater, im Juli vorigen Jahrs, allerunterthänigst vorgebrachte Bitte, seinem einzigen Sohn sein Amt, das schon über hundert Jahre durch seine Voreltern begleitet worden, übertragen zu dürfen. SPRECHERIN: Ein Bewerbungsschreiben aus dem Jahr 1806. Das feudale Ständesystem weist jedem noch seinen gesellschaftlichen Platz zu: „Kaiser, König, Edelmann. Bürger, Bauer, Bettelmann. Schuster, Schneider, Leineweber. Bäcker, Kaufmann, Totengräber.“ Der alte Abzählvers beschreibt die festgefügten Hierarchien. Spielräume, sprich: Auf- oder Quereinstiegschancen deuten sich an, aber nicht für einen Henkerssohn. Irgendjemand muss die unehrenhafte Arbeit schließlich tun. Der junge Bewerber wird also vermutlich zu einer Art Vorstellungsgespräch geladen. Der Historiker Timo Luks erklärt, wie das damals ablief: O-TON 01: (Luks) „Da ging es um eine Inaugenscheinnahme, ob da jemand körperlich überhaupt fit ist, ob jemand einen gesunden Eindruck macht und dann im Grunde vielleicht zwei, drei Sätze, um jemanden kennenzulernen, also das hatte quasi nicht den Zweck über den Bewerber noch irgendwelche grundsätzlichen Sachen zu erfahren.“ SPRECHERIN: Aber ist er tatsächlich so treu ergeben wie sein Bewerbungsschreiben nahelegt? Da steht er nun im Raum, der Anwärter auf den Job des königlichen Henkers. Er hat den Blick gesenkt, die Schultern hängen, er stammelt ein paar Worte und knetet den Hut in den Händen. ZITATOR: Allerunterthänigst … Bitte … sein Amt… schon über hundert Jahre durch seine Voreltern begleitet worden… übertragen… zu dürfen. Musik 2 "Smells Like Sheep" - Komponist: Nichoals Britell - Album: The Big Short (Music from  the Motion Picture) - Länge: 1'00 TC 02:40 – Die moderne Selbstvermarktung  - Neugier statt Mitleid SPRECHERIN: Wie sich die Verhältnisse ändern! Mehr als 200 Jahre später wäre eine solche Performance ein „absolutes No-Go“. Bewerber und Bewerberinnen müssen immer selbstbewusst auftreten, sagt der Karriere-Coach Klaus-Dieter Böse. Auch wenn sie es eigentlich nicht sind. O-TON 02: (Böse) „Das kann man aber lernen. Das mache ich auch mit meinen Klienten, wo ich sage: komm einfach mal in den Raum rein. Wie wirkt das? Ich übe mit denen Bewerbungsgespräche, wo man sagt: okay, wie sitzt jemand? Fällt der zusammen? Ist der nervös? Wo guckt jemand hin? Also, all das kann man lernen und darauf achten, wie stelle ich mich hin, dass ich schulterbreit stehe, dann habe ich einen besseren Halt in meinen Körper. Das sind so diese Kleinigkeiten, die man selber sehr gut machen kann.“ SPRECHERIN: Das Individuum hat in der modernen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen. Sich selbst zu optimieren, um die Chancen auf eine Stelle zu verbessern, das kam Bewerbern zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht in den Sinn. Vielleicht, dass sie sich vor dem Gespräch mit einem Kamm durch die Haare gefahren sind. Im Grunde aber hofften sie auf die Güte der Herren Brotgeber. Der Historiker Timo Luks hat sich in Archiven durch unzählige Bewerbungsschreiben gelesen: O-TON 03: (Luks) „Die Bewerber appellieren ganz oft an die „wohlmeinenden väterlichen Stadtmagistrate oder Stadträte“, die ihnen dann eine Schreiber-Stelle verleihen sollen. Also das ist so eine Idee von Obrigkeit, die sich sorgt und die sich kümmert. Und bei modernen Bewerbungen, die ganz entschieden auf Konkurrenz abheben, wird tatsächlich eher auf den eigenen Vorteil abgehoben. Wenn man mich einstellt, dann bringe ich dem Unternehmen was und das Unternehmen hat Vorteile von mir sozusagen. Die ältere Haltung kommt über so eine väterliche-verantwortliche Idee noch stärker und das ist ein anderer Aspekt des Menschen, der da betont wird.“ Musik 3 "Smells Like Sheep" - Komponist: Nichoals Britell - Album: The Big Short (Music from the Motion Picture) - Länge: 1'07 O-TON 04: (Böse) „So eine schöne Selbstpräsentation baut man auf, wo man sagt: wer bin ich? Was hat mich in meiner Vergangenheit geprägt? War es der Job? Waren es die Eltern? Was habe ich über meinen beruflichen Werdegang Wichtiges gelernt? Dann gibt es immer die Regel, dass man die drei wichtigsten Kompetenzen sagt, die ich habe, die drei wichtigsten Stärken, die ich habe.“ SPRECHERIN: Moderne Bewerber und Bewerberinnen müssen auf Zack sein, sagt der Laufbahn-Trainer Klaus-Dieter Böse. Ihre Selbstdarstellungen sollen bei potentiellen Arbeitgebern kein Mitleid, sondern Neugier wecken. Wie? Die war mit 23 Jahren schon Projektleiterin für Strategieprojekte? Und was steckt wohl hinter ihrem „3-monatigen Erwerb sozialer Kompetenzen auf Ibiza“? Lücken, Pausen, Müßiggang haben in einem Lebenslauf so wenig zu suchen wie leere Seiten in einem Krimi. Aber bitte nicht übertreiben! Die Herausforderung lautet: vage zu bleiben, ohne profillos zu wirken. Dazu später mehr. O-TON 05: (Böse) „Der Lebenslauf ist das Interessanteste, was der potenzielle Arbeitgeber sich zuerst nimmt, sich anschaut, und dies muss fesseln. Das muss Informationen rübergeben und animieren zum Weiterlesen. Das heißt, ich brauche eine gute erste Seite, wo ganz klar hervorkommt, warum ich zu diesem Unternehmen, warum ich zu diesen Positionen, dieser Rolle, dieser Funktion auch tatsächlich passe.“ TC 05:49 – Eigenlob hat früher noch gestunken Musik 4 "Andante Con Moto: Strings in E-Flat Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Succession: Season 1 (HBO Original Series Soundtrack) - Länge: 0'40 ZITATOR: Daß ich zu diesem Posten, der in meiner Wiege als meine Bestimmung angegeben wurde, geeignet seye, müßen meine seit mehreren Jahren im Namen meines Vaters geleisteten Dienstverrichtungen von jeder Art bestimmt darthun… SPRECHERIN: Der Anwärter auf den Stuttgarter Henkersposten weist in seinem Schreiben eher nebenbei auf die persönliche Eignung hin. Eigenlob stank damals nämlich noch gewaltig. Doch sollte der junge Mann seine Fähigkeiten deshalb unerwähnt lassen? Eine Bewerbung glich von Anfang an einem Balanceakt, sagt Timo Luks. O-TON 06: (Luks) „Die Bewerbung hat eine Eigendynamik des Redens von sich selbst, und das kann man bremsen und das kann man laufen lassen… Und das drängt aber tatsächlich immer in diese Richtung der Selbstdarstellung.“ SPRECHERIN: „In eigener Sache“ lautet denn auch der Titel des Buches, das der Historiker 2022 veröffentlicht hat. Timo Luks beschreibt, wie sich aus der unterwürfigen Bewerbung ein kompliziertes Instrument im Leistungswettkampf des Jeder gegen Jede entwickelt hat. Es ging immer schon zwei Schritte vor und einen zurück. O-TON 07: (Luks) „Sehr schön kann man das in frühen Bewerbungen, in frühen Ratgebern ablesen: Die beinhalten immer noch die Entschuldigung, dass man jetzt von sich selbst redet, das wäre ja heute nicht mehr vorstellbar: „Entschuldigung, dass ich meine Vorteile hier zur Schau stelle!“ würden wir nicht schreiben in der Bewerbung.“ SPRECHERIN: Nein. Bloß nicht, mahnt der moderne Karrierecoach: O-TON 08: (Böse) „Bewerbung ist Eigenmarketing, was man betreibt.“ MUSIK 5 "Lamentoso - Clarinets, Piano, Pizzicato Strings" - Album: Succession: Season 4 (HBO Original Series Soundtrack) - Komponist: Nicholas Britell - Länge: 0'50 SPRECHERIN: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trieb pure Not die Menschen dazu, sich gezielt und schriftlich um Anstellungen zu bewerben. Es gab noch keinen Sozialstaat. Und die Kommerzialisierung nahm zu, der Markthandel löste die Tauschgeschäfte ab. Man brauchte Geld, bares Geld in die Hand. Aus dem Militär entlassene Soldaten, gescheiterte Kaufleute und verzweifelte Familienväter mussten jetzt tatsächlich „in eigener Sache“ werben, auch wenn sie ihre Dienste eben nicht wie Kartoffeln oder Gemüse feilbieten wollten. Die frühen Bewerbungen folgen dem Muster klassischer Bittschreiben, sagt der Historiker Timo Luks. Zwar kursierte seit alters her auch der Begriff der Bewerbung: O-TON 09: (Timo Luks) „Der meint aber nichts, was sich irgendwie auf eine Stelle bezieht oder jedenfalls nicht nur. Wenn man sich bewirbt, dann bewirbt man sich um Freundschaft, um einen Gunstbeweis, um die Hand einer Frau oder einer Dame. Und in diesem breiten Feld kann man sich eben auch um eine Anstellung bewerben. Und der zweite Strang, der dann für die Stellenbewerbung wichtig ist, kommt tatsächlich eher aus der Tradition der Bittschreiben und Bittschriften. Dass man da gewissermaßen eine Obrigkeit oder ein höherstehendes Gegenüber bittet, um irgendeine Gunst oder irgendeine Gnade. Und in dem Zusammenhang kann man den eben auch um die Verleihung einer Stelle bitten.“ TC 08:29 – Die DNA einer Bewerbung O-TON 10: (Böse) „Wir brauchen den roten Faden, nicht nur in dem Anschreiben oder einem Motivationsschreiben, auch den roten Faden im Lebenslauf, was die DNA des Bewerbers darstellt.“ SPRECHERIN: Die „DNA“ eines Bewerbers oder einer Bewerberin hat nichts mit Erbinformationen zu tun. Die moderne Coaching-Sprache meint damit den „Markenkern“ einer Person. Meist muss dieser für eine gute Bewerbung erst herausgeschält werden. Dazu ist es nötig, die eigene Biographie nach verwertbaren Details zu durchforsten. Ob dann der Trainerschein in rhythmischer Sportgymnastik zum „unique selling point“, also zum Alleinstellungsmerkmal wird, oder das Praktikum in Südostasien, ist im Grunde egal: Hauptsache, das Ego gewinnt an Kontur, sagt Klaus-Dieter Böse. O-TON 11: (Böse) „Ich steh mit jeder Bewerbung mit anderen Bewerbern im Wettbewerb. Und ich kann mich nur mit meiner Persönlichkeit, die ich besitze, was mich ausmacht, meine Individualität kann ich mich nur hervorheben. Und das ist das, was die Bewerber sich immer vor Augen halten müssen, gute Vorbereitung: zu wissen: Wer bin ich? Was kann ich? Und wo sind vielleicht auch meine Schwächen, die ich aber trotzdem gut integrieren kann und was motiviert mich?“ TC 09:40 – Der Ton macht die Musik und der Weg ist das Ziel MUSIK 6 "Andante Con Moto: Strings in E-Flat Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Succession: Season 1 (HBO Original Series Soundtrack) - Länge: 0'50 ZITATOR: Eine so zahlreiche Familie wie die von meinem Vater hinterlassene ist, erfordert zu viel, als daß meine Mutter sich nicht mit Recht auf die Stütze ihres einzigen Sohnes verlassen sollte, und als Stütze kann ich ihr nur dann dienen, wenn ich in die Stelle meines Vaters eingesetzt werde. SPRECHERIN: Der junge Henker betont nicht nur die Bedürftigkeit seiner Familie. Er vermittelt auch, dass er seiner Mutter eine Stütze sein will. Unter Christen gibt es hier 100 Punkte. Umso mehr hat der gute Sohn die „Verleihung“ dieser Stelle verdient, nicht wahr? Das kurze Bewerbungsschreiben aus dem Jahr 1806 erhöht geschickt Zeile für Zeile den moralischen Druck, ein Argument ergibt sich aus dem nächsten. Folgende Frage stellt sich Arbeitgebern sicher öfter: O-TON 12: (Böse) „Hat der die Bewerbung denn selber geschrieben oder hat das jemand anderes gemacht?“ MUSIK 7 "Andante Con Moto: Strings in E-Flat Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Succession: Season 1 (HBO Original Series Soundtrack) - Länge: 0'40 SPRECHERIN: Nun, nicht jeder Handwerkersohn ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts des Schreibens mächtig. Professionelle Schreiber werden gern in Anspruch genommen, sofern man sie bezahlen kann. Sie beherrschen die notwendige Rhetorik aus dem FF, also auch die stilistische Zuspitzung eines Briefes, der dann in herabfallender Kurve förmlich auf den Knien endet. ZITATOR: Euer königlichen Majestät bitte ich in tiefster Unterthänigkeit um allergnädigste Übertragung dieses durch den Tod meines Vaters erledigten Postens. SPRECHERIN: „Ich freue mich auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch.“ Schreiben diese Floskel nicht alle? Kommt der Lebenslauf ein- oder zweispaltig besser? Und weil wir gerade dabei sind: Empfiehlt es sich eigentlich, das Anschreiben als Fließtext zu verfassen oder wirken eingerückte, mit Aufzählungszeichen versehene Blöcke dynamischer? Heute hilft auf die Schnelle das Internet weiter. Außerdem gibt es ja Karriere-Coaches wie Klaus-Dieter Böse. O-TON 13: (Böse) „Ich empfehle immer einfache Schlichtheit und nicht so Verspieltheit mit Haken oder mit Pfeilen. Leute können dort sehr kreativ werden, und ich finde immer, man muss immer dem Motto feiern so schlicht wie möglich. Auffallen soll im Endeffekt die Leistung und das Können des einzelnen Bewerbers.“ SPRECHERIN: Der Weg ist nicht das Ziel, sondern eine Bewerbung soll den geschätzten Leser, die sehr geehrte Leserin zum Handeln bewegen: Lad mich ein! Gib mir die Stelle oder wenigstens eine Chance! Bewerbungen folgen grundsätzlich dem teleologischen Prinzip. Man stellt die eigenen Bedürfnisse, Leistungen und Bemühungen so dar, als liefen sie zwangsläufig auf die angestrebte Stelle zu. Im Laufe der Zeit hat sich allerdings der Bezugsrahmen verschoben. ZITATOR: Und ich glaube, im Vertrauen auf die allerhöchste Gerechtigkeitsliebe gerechte Ansprüche darauf machen zu können. SPRECHERIN: Der potentielle Chef muss nur noch zustimmen. Schließlich hat die zukünftige Einzelhandelskauffrau schon als Kind gern mit dem Kaufladen gespielt. Das echte Leben mag von Zufällen und Gelegenheiten beherrscht sein, ein perfekter Lebenslauf besteht aus stringenten biographischen Etappen. Einiges fällt logischerweise unter den Tisch, das krachend gescheiterte Projekt xy zum Beispiel. Anderes muss aufpoliert oder umfrisiert werden. Außer man hat eh schon immer alles nur unter Karriere-Gesichtspunkten betrieben: Studium, Auslandsaufenthalte, Freundschaften, Hobbys… umso besser, vermutlich! Denn eine Bewerbung ist eine Erzählung über die eigene Person, die sich an den vermuteten Erwartungen des Gegenübers ausrichtet. Ein bisschen zu pokern, gehört also dazu. Vor 200 Jahren setzten die Bewerber noch ganz klar aufs Herz. O-TON 14: (Timo Luks) „Mich hat's teilweise sehr beeindruckt, wie dann kleine Handwerker auf der Suche nach einer Schreiberstelle im Grunde so Mini-Autobiografien sind das fast, wenn man das mit heutigen Bewerbungsschreiben vergleichen würde, das heißt, die machen sehr viel deutlicher und plausibler, warum sie sich in einer bestimmten Lebenssituation für eine bestimmte Stelle bewerben. Dann werden die Familienverhältnisse ausgeführt, dann wird ausgeführt, was sie für Schicksalsschläge hatten, wie die Familie leidet, wie das Einkommen schwindet, wie die Preise steigen, also das Gesamtpaket von Lebenslage wird da erzählerisch aufbereitet und darin flechten die einfach ein, was sie wann wie an Ausbildungen und Qualifikationen haben. Und das ist überhaupt nicht der Kernbereich, sondern es geht im Grunde darum, die Person eingebettet in die Familie und in die sozialen Verhältnisse irgendwie verständlich zu machen.“ TC 14:05 – „Ich bewerbe mich für den Bekannten meiner Schwester Neffen“ MUSIK 8 "Fatherhood" - Album: The Tree Of Life (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Alexandre Desplat - Länge: 1'00 SPRECHERIN: Bevor sich mit der Industrialisierung die moderne Arbeitsgesellschaft herausbildet, läuft vieles über Mundpropaganda. Einer hört von der schweren Erkrankung des Polizeidieners und empfiehlt sich sofort für dessen Amt, obwohl der Mann noch lebt. Bevor eine Sterbeanzeige erscheint, ist oft schon ein richtiggehendes Stellenkarussell in Gang gesetzt: Man bewirbt sich auf die vermutlich freiwerdende Position des vermutlich aufrückenden Nachfolgers des vermutlich bald dahinscheidenden Marktaufsehers oder Torsperrers. Oder ein Verwandter versucht stellvertretend, einen Fuß in die Tür zu kriegen. ZITATOR: Und übrigens dafür bürgen zu können glaube, dass mein Sohn sich dieser Höchsten Gnade durch seinen angewöhnten strengen Fleiß und bisher stets bezeigten Nüchtern- und Untadelhaftigkeit würdig zu machen sich thätigst beeifern werde. O-TON 15: (Luks) „Über dieses Weitergeben von Informationen und vor allem das Weitergeben von Bewerbern, wenn man so will, kommt man oft an die Stellen. Das heißt, da bewirbt sich gar nicht der Interessent selbst, sondern der Vater, ein wohlmeinender Onkel oder ein früherer Arbeitgeber oder dergleichen, schreibt im Grunde eine Art Empfehlung, die vom Tonfall total ähnlich ist wie das, was man selbst als Bewerbung schreiben würde, nur, dass sich eben der Bewerber nicht selbst bewirbt, sondern er wird beworben von jemandem anders.“ SPRECHERIN: Um 1900 etabliert sich ein allgemeiner, dem heutigen vergleichbarer Arbeitsmarkt. Es gibt Berufsberatungen und Vermittlungsagenturen. In den Zeitungen erscheinen Stellenanzeigen sowie Gesuche. Viele Unternehmen verfügen inzwischen über eigene Personalabteilungen. Buchhandlungen verkaufen spezielle Ratgeberliteratur für Arbeitssuchende, etwa den Titel “Wie erzwinge ich mein Glück?“. Die Botschaft heißt jetzt, dass es an jeder einzelnen Person liegt, ob sie weiterhin zur Masse der Arbeitslosen gehört oder endlich einen Job findet. Nach dem Motto: aufpassen beim Löschen der Tinte mit Sand! Nicht, dass dem Direktor beim Öffnen des Bewerbungsschreibens ein halber Mittelmeerstrand auf den Anzug rieselt. Was können Arbeitssuchende seither nicht alles verkehrt machen! Nehmen wir als aktuelles Beispiel nur einmal die Sache mit der Suchmaschinenoptimierung. Kaum jemand schickt seine Unterlagen heute ja noch per Post oder radelndem Boten. Das Portfolio mit allem Pipapo wird auf den Bewerbungsportalen der Unternehmen digital hochgeladen. So sparen Jobsuchende Papier und Arbeitgeber menschliche Arbeitskraft ein. TC 16:36 – Die Headhunter-Maschine KI O-TON 16: (Böse) „Wir müssen immer davon ausgehen, dass im Hintergrund mittlerweile die KI, die künstliche Intelligenz, diese Dokumente liest und entscheidet, anhand von vorgegebenen Stichwörtern: sind die vorhanden? Ja oder nein. Das heißt, ich muss gucken, dass ich die Fachbegriffe, die auch in der Stellenausschreibung gestanden haben, wie Stakeholder, Projektmanagement, Teamfähigkeit, Führungsverhalten, Kommunikationsstärke, das wären so Klassiker, die man in einer Stellenausschreibung findet. Und diese Begrifflichkeiten müssen sich dann wiederfinden in dem Anschreiben oder in dem Lebenslauf oder am besten in beiden Sachen.“ SPRECHERIN: Ansonsten sortiert eine Maschine die „falsche“ Bewerbung gnadenlos aus. Egal, wie viele „unversorgte Kinder“ der arme Absender zu Hause haben mag. Musik 9 "Lamentoso - Clarinets, Piano, Pizzicato Strings" - Album: Succession: Season 4 (HBO Original Series Soundtrack) - Komponist: Nicholas Britell - Länge: 0'25 ZITATOR: Indem ich noch 8 unversorgte, sich sämtlich zu Haus befindliche Kinder, deren das älteste erst 15 Jahre alt ist, nebst einer Ehefrau zu ernähren habe. TC 17:37 – Top oder Flop: Der erste Eindruck zählt  SPRECHERIN: Die Bewerbung versucht eine Brücke zwischen Individuum und Arbeitswelt zu schlagen. Unter dem Druck der kapitalistischen Wirtschaftsordnung entwickelt sie sich zu einer komplexen Kulturtechnik der Selbstdarstellung: nur der oder die Beste kann gewinnen! Denkste. Zugleich erweist sich die hochformalisierte, standardisierte Textsorte als rigides Disziplinierungsinstrument. Dem wachsenden, sich stetig wandelnden bürokratischen Aufwand müssen die Bewerber eben auch gewachsen sein. Anfangs genügt noch ein Schreiben, dann wird die persönliche Handschrift wichtig. Ein Foto kommt hinzu. Zeugnisse müssen beigelegt, Referenzen genannt, Anschreiben und Lebenslauf voneinander getrennt werden. Nicht zuletzt kommt es auch noch auf den Auftritt beim Vorstellungsgespräch an. O-TON 17: (Timo Luks) „Im späten 19. und um 1900 spielt das eine Rolle, dass Sie dann wirklich eigene Kapitel haben in Ratgebern, die sagen: „okay, den Hut absetzen, aber in der Hand behalten. Niemandem Zeit stehlen, wenn man persönlich hinkommt, immer bereit sein, sofort zu gehen, wenn der Gegenüber scheinbar genug gefragt hat!“, also solche Ratschläge für das Verhalten im Kennenlernen, im Gespräch werden dann häufiger. Und in den Archivunterlagen selbst habe ich tatsächlich auch in der gleichen Zeit so im späten 19. Jahrhundert auch einige Verfahren gefunden, ich glaube, da ging es um so Aufsichtspersonen bei einem Armenhaus und also auch so halboffizielle Stellen. Und da gab es dann häufiger mal in so Bewerbereinschätzungen, in so vergleichenden Gutachten, die Bemerkung: ja, der sah noch ganz passabel aus in der Bewerbung, aber machte persönlich keinen günstigen Eindruck.“ MUSIK 10 "Smells Like Sheep" - Komponist: Nichoals Britell - Album: The Big Short (Music from the Motion Picture) - Länge: 1'16 O-TON 18: (Böse) „Diejenigen, die aus den Universitäten rauskommen, die haben ja ein Career Coaching, was Universitäten heutzutage anbieten: wie bewerbe ich mich draußen? Die kriegen Kurse: wie präsentiere ich mich auf diesen sozialen Netzwerken? Was habe ich alles für Möglichkeiten? Die sind wirklich sehr gut darin. Die große Masse, die Probleme eigentlich hat, sind die, die sich lange nicht mehr beworben haben. Oder die sich fragen: warum kriege ich immer nur Absagen? Warum nimmt mich keiner? Warum werde ich nicht eingeladen?“ TC 19:32 – Woran hat’s gelegen? SPRECHERIN: Lag es am Alter? Oder am fremd klingenden Nachnamen? Hätte man besser nicht nach einem Teilzeitjob fragen sollen? Oder war es ein Fehler, das Thema Work-Life-Balance anzuschneiden? Brauchen sich Frauen gar nicht erst um traditionelle Männerberufe zu bemühen? War das Foto zu hübsch oder zu hässlich? Oder überhaupt fehl am Platz? Das Rätselraten findet kein Ende. Heute muss man wohl eh zur Dauerbewerbenden mutieren und ständig in digitalen Karriere-Netzwerken aktiv sein, etwa bei Xing und LinkedIn liken, Neues posten, kommentieren. Ob du dort dann aber wirklich von Headhuntern gefunden wirst, steht ebenfalls in den Sternen. O-TON 19: (Timo Luks) „Das ist tatsächlich immer so ein bisschen diese heikle Geschichte, die ja auch bei Ratgebern bisschen das Problem darstellt, ist: die guten Ratschläge, die vermeintlich zum Erfolg führen, werden dann ja von ganz, ganz vielen Leuten gelesen und umgesetzt. Und dann hat man dann einfach 50 perfekt optimierte Bewerbungen. Aber damit hat sich die Zahl der Stellen ja nicht vermehrt.“ SPRECHERIN: Auch Fachkräftemangel führt in den betroffenen Branchen nicht zwangsläufig dazu, dass sich der Spieß umdreht. Also, dass sich die Unternehmen im Sinne potentieller Arbeitnehmer optimieren und zum Beispiel sehr viel höhere Löhne oder total familienfreundliche Bedingungen anbieten. Vielleicht finden sie ja doch noch andere Bewerber und Bewerberinnen, die keine „überzogenen“ Forderungen stellen. Das Machtgefälle zwischen denen, die Arbeit vergeben, und denen, die sie nehmen müssen, bleibt bestehen. Deshalb, sagt der Historiker Timo Luks, ganz ehrlich, dass eine optimale Bewerbung den Stich macht, ist eine Illusion. O-TON 20: (Timo Luks) „Es wird immer so getan, dass das hochkompetitiv ist, und am Ende gibt es nur einen Mann, der der allerbeste für diese Stelle ist. Aber faktisch ist in jedem Verfahren auch im neunzehnten Jahrhundert, ich habe mich das ja auch gefragt, wen würde ich nehmen, und dann kommt man immer zu dem Ergebnis: das sind mindestens zehn oder 15 Leute, die genauso gut und gleich gut diese Stelle als Magistratsschreiber oder als Polizeidiener ausfüllen könnten.“ SPRECHERIN: Bewerbern und Bewerberinnen bleibt also auch im 21. Jahrhundert vermutlich nichts Anderes übrig, als den Zufall oder irgendeine für berufliche Fragen zuständige Schicksalsgöttin „untertänigst“ um Bevorzugung zu bitten. Insgeheim natürlich nur, versteht sich. TC 21:47 – Outro
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Dec 8, 2023 • 23min

AN DIE ARBEIT! Die Gewerkschaften

Die Gewerkschaften haben sich in den letzten 150 Jahren zu wichtigen wirtschaftlichen und politischen Akteuren entwickelt. Doch Antworten auf die herausfordernde Transformation von Arbeit wie Gesellschaft scheinen sie schwer zu finden. Können sie den Wandel mitgestalten - und gleichzeitig selber zukunftsfähig werden? Von Lukas Grasberger (BR 2023) Credits Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Irene Schuck Es sprachen: Katja Bürkle, Benjamin Stedler Technik: Adrian Thalhammer Redaktion: Nicole Ruchlak Linktipps: planet wissen (2023): Gewerkschaften – Warum sie jetzt neu gefordert sind Sie haben eine lange Geschichte und sie haben viel für uns erreicht – die Gewerkschaften. Rund 70 Prozent aller Deutschen halten starke Gewerkschaften für wichtig in unserer Gesellschaft, aber nur 18 Prozent sind auch dort organisiert. Vielen erscheinen sie veraltet, verkrustet, zu sehr mit sich beschäftigt. Dabei sind sie in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung, der Leiharbeiter und Minijobber ganz neu gefordert und wichtiger denn je. Wo stehen die Gewerkschaften heute und wie haben sie sich gewandelt? Wie arbeiten sie und wie sind sie für die Zukunft aufgestellt? Gewerkschaften – Warum sie jetzt neu gefordert sind - Planet Wissen - Sendungen A-Z - Video - Mediathek - WDR (planet-wissen.de) Carolin Denise Fulda (2022): Gewerkschaften – Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite? Im Jahr 2021 lag der gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad in Deutschland bei 17,4 Prozent. Damit ist, ähnlich wie 2018, jeder sechste Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied. Während sich die Konstellation des Arbeitsmarktes jedoch stetig verändert, entwickelt sich die Mitgliederstruktur der Arbeitnehmerverbände nicht immer im Einklang dazu. Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite? - Institut der deutschen Wirtschaft (IW) (iwkoeln.de) planet Wissen (2023): Der längste Streik Deutschlands Das stärkste Mittel, das Gewerkschaften im Arbeitskampf haben, ist der Streik. Der längste Streik in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zog sich ab 1956 mehrere Monate lang hin. Am Ende hatten die Metallarbeiter in Schleswig-Holstein durchgesetzt, dass sie ihren Lohn auch bei Krankheit weiter bekamen und dass Arbeiter und Angestellte rechtlich gleichgestellt wurden. Der längste Streik Deutschlands - Planet Wissen - Sendungen A-Z - Video - Mediathek - WDR (planet-wissen.de) Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 02:41 – Ein historisches Momentum: Die Revolution 1848 TC 03:24 – Meister gegen Gesellen TC 05:19 – Unter Verfolgung zur „Partei der Arbeiter“ TC 08:29 – Der deutsche Sonderweg TC 10:35 – Gesellschafspolitischer Einfluss blitzt auf TC 11:44 – Das widerständige Rädchen im Kapitalismus TC 12:51 – Fremdeln im Wandel der Arbeitswelt TC 16:00 – Sind Gewerkschaften überhaupt noch legitimiert? TC 22:11 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro Musik 1 "Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'6 Atmo Streiks O-Ton 1 Frank Deppe, em Prof. für Politikwissenschaft, Uni Marburg „Das Jahr 2023 ist ein Jahr, in dem in Europa so viel gestreikt wurde wie seit den 70-er Jahren nicht mehr.“ Atmo Streiks nochmal hoch O-Ton 2 Deppe „Und wer streikt da? Das sind: Pflegepersonal, die, die arbeiten im Gesundheitssystem, Lehrer, Polizisten: Die ganzen Berufsgruppen, die da von England bis Portugal hinunter in Streik treten. (…) und sich zusammenschließen! Das ist untypisch. Auch Menschen, die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten...“ Sprecherin …die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten, wie der Politikwissenschaftler Frank Deppe sagt. Ja, früher waren die Gewerkschafter die Fließbandarbeiter, ganz früher die Handwerker – jetzt, knapp 200 Jahre später organisieren sich Arbeitnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Und trotzdem trifft auf sie zu, was der Historiker Dr. Jürgen Schmidt für die Mitglieder der frühen Gewerkschaftsbewegung beschreibt. Damals, im 19. Jahrhundert, entstand die Gewerkschaft dort, wo Beschäftigte sich nicht nur selbst als politisches Subjekt, sondern auch in einer Gemeinschaft wahrnahmen. O-Ton 3 Dr. Jürgen Schmidt „...Man wollte als Arbeiter wahrgenommen werden, und dann eben auch verbunden mit Würde, Respekt und `ner Arbeiter-Identität. (…) Und so das Wissen: Unsere körperliche Arbeit trägt zum Wohlstand - und auch zum Aufblühen von Wirtschaft, Handwerk und Industrie bei.“ Musik 2 "Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'10 Sprecherin Mitte des 19. Jahrhunderts organisierten sich die ersten Arbeiter. O-Ton 4 Schmidt „Es gab einerseits so soziale Bedingungen, könnte man das im weitesten Sinne bezeichnen, um sich zusammenzuschließen. Das waren eben überlange Arbeitszeiten von zwölf, 14 Stunden am Tag. Das waren schlechte Löhne. Es war aber eben auch diese Missachtung als Arbeiter, die Unterordnung unter den Arbeitgeber.“ Musik 3 "Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'28 TC 02:41 –Ein historisches Momentum: Die Revolution 1848 Sprecherin Dazu kam ein historisches Momentum: Die Revolution des Jahres 1848. O-Ton 5 Schmidt „...und durch die Revolution ergaben sich eben Möglichkeiten der Teilhabe und Partizipation. Die neuen Freiheiten haben dann eben Arbeiter und Handwerker genutzt, um sich zusammenzuschließen.“ Sprecherin Den Boden für die „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“ – die Keimzelle der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung – hatten Handwerker bereitet. Vor allem Handwerksgesellen sahen ihre Arbeit durch den zunehmenden Einsatz neuer Maschinen wie Dampfmaschine oder mechanischen Webstuhl gefährdet, ihre handwerkliche Qualifikation entwertet. TC 03:24 – Meister gegen Gesellen Gegen die industrielle Herstellung von Waren, gegen die neue Konkurrenz des Marktes und gegen die Gewerbefreiheit hatten Handwerks-Meister und -Gesellen anfangs noch gemeinsam aufbegehrt. Aber sie wurden immer mehr zu Kontrahenten, die Interessen entwickelten sich immer mehr in gegensätzliche Richtungen. Konnten sich die Gesellen früher ziemlich sicher sein, zum selbstständigen Handwerksmeister aufzusteigen, war das nun für die meisten unerreichbar geworden. Sie blieben abhängig beschäftigte Arbeitnehmer – im Gegensatz zu den Meistern, die Unternehmer und Arbeitgeber waren. Allerdings wussten sich die Handwerker-Gesellen zu organisieren: Jahrhunderte alte Erfahrungen aus den Zünften kamen ihnen dabei zu Gute. Sie waren die treibende Kraft bei einem Zusammenschluss der Beschäftigten, die in den neuen Industrie-Betrieben arbeiteten. Gemeinsam sollten sie nun eine neue Klasse des „Arbeiters“ bilden. Mit der so genannten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“ verschafften sie sich gemeinsam in großem Umfang Gehör. O-Ton 6 Schmidt „Die Arbeiter-Verbrüderung hatten eben den Anspruch, nicht mehr einzelne Berufe zu repräsentieren, sondern die Arbeiter an sich. Und das bedeutete eben auch eine Aufwertung des Arbeiterbegriffs.“ Musik 4 "Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'44 ZITATOR „Wir Arbeiter waren einem großen Teile der deutschen Bürgerklasse fremde, unbekannte Wesen....an welche man die dunklen Begriffe von Rohheit und Feigheit, Unbildung und Demut, Dummheit und wilder Zerstörung knüpfte; konnten wir erwarten, dass man uns in einer geschichtlichen Bewegung sah? Dass man uns als eine Klasse in der Gesellschaft betrachtete, die ihre eigene selbständige Entwicklung durchmacht?“ Sprecherin ...schrieb 1848 Stephan Born, der Gründer der Arbeiterverbrüderung. Und weiter: ZITATOR „Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hände - und niemand soll sie uns wieder entreißen!“ TC 05:19 – Unter Verfolgung zur „Partei der Arbeiter“ Sprecherin Die Regierenden waren alles andere als angetan von dieser Selbstermächtigung und dem wachsenden Selbst-Bewusstsein der „neuen“ Arbeiter. Ab 1850 reagierten die Machthaber des deutschen Staatenbundes mit Repression. Die Arbeiterverbrüderung wurde verboten. Vor allem die Forderung der Arbeiter nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung galt als unbotmäßig. O-Ton 7 Schmidt „Sie forderten ja Demokratie, Republik, politische Teilhabe... und stattdessen wurden sie ausgegrenzt und sogar verfolgt. Und gerade so eine Situation schweißt natürlich zusammen - und markiert eine klare Trennungslinie zwischen denen und uns.“ Sprecherin Trotz – oder gerade wegen ihrer Verfolgung und Unterdrückung: die Arbeiter ließen sich nicht einschüchtern. Sie schlossen sich 1863 zum „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ zusammen, der bald die Gründung einer „Partei der Arbeiter“ beschloss: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Diese neue sozialdemokratische Partei wuchs und wuchs - Hand in Hand mit den Gewerkschaften ¬-, ungeachtet der Durchsuchungen und Verhaftungen, mit denen Kanzler Otto von Bismarck im neu gegründeten Kaiserreich die Arbeiterbewegung zu unterdrücken versuchte. Nach und nach erkannten Unternehmen die Gewerkschaften als Vertragspartner an: Erste Tarifverträge, also Vereinbarungen mit den Arbeitgebern auf bestimmte Löhne und Arbeitsbedingungen schlossen zunächst einige wenige Branchen - wie die Buchdrucker, Maler oder Maurer: Dann folgte der nächste Schritt und mit ihm ein Zuwachs an Macht: die Arbeitnehmerorganisationen gründeten einen Dachverband, die „Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands“. Erster Vorsitzender war Carl Legien – der entscheidende Weichen für die Entwicklung des deutschen Gewerkschaftswesens bis zum heutigen Tag stellen sollte: Musik 5 "Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'32 Sprecherin Er nutzte die Novemberrevolution 1918 für die Sache der Arbeiter. Unter der Drohung der Enteignung und Verstaatlichung von Industrie und Banken rang er dem Großindustriellen Hugo Stinnes die offizielle Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft ab. Dies bedeutete die flächendeckende Ausbreitung und die allgemeine Verbindlichkeit von Tarifverträgen. Ein Zugeständnis mit Hintergedanken, sagt Frank Deppe. O-Ton 8 Deppe „Ziel war die Niederschlagung der Revolution. Das war sozusagen der Kern dieser Vereinbarung, der dann aber Zugeständnisse der Arbeitgeberseite an die Gewerkschaften beinhaltete.“ Sprecherin Dazu einigte man sich auf die Bildung von Arbeiterausschüssen – dem Vorläufer der heutigen Betriebsräte. Statt revolutionärer Konfrontation schrieb man also ein konstruktives Miteinander von Kapital und Arbeit im Betrieb fest. Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen war der Grundstein für das deutsche Modell von Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung gelegt. In den frühen Jahren der Bundesrepublik wurde diese Sozialpartnerschaft dann in Gesetzesform gegossen. TC 08:29 – Der deutsche Sonderweg O-Ton 9 Deppe „Betriebsräte und Unternehmen müssen zusammenarbeiten zum Wohle des Unternehmens.“ Sprecherin Die Gewerkschaften liefen jedoch Sturm gegen das Gesetz: Sozialpartnerschaft ja, aber nur, wenn die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gleichberechtigt vertreten sind. Dies war allerdings nicht vorgesehen. Und so kam es 1952 zum letzten legalen politischen Streik in der Bundesrepublik - und einer doppelten Niederlage für die Gewerkschaften: Denn weder der Ausstand der IG Druck und Papier, noch Massenkundgebungen der Gewerkschaften verhinderten, dass das Betriebsverfassungsgesetz zu ihrem Nachteil beschlossen wurde. Zum anderen verbot das Bundesarbeitsgericht 1954 Streiks aus politischen Gründen - sowie solche, die spontan abgehalten werden. Demnach dürfen bis heute... O-Ton 10 Deppe „...in der Bundesrepublik Deutschland nur Streiks durchgeführt werden (...), die sozial adäquat sind, also die sich auf soziale Belange des Betriebes richten oder der auch der Tarifpolitik richten, und die gleichzeitig nur von Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden in der Auseinandersetzung geführt werden können.“ Sprecherin Und nicht vom Staat, der Regierung. Damit waren die Weichen für einen deutschen Sonderweg in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Nicht die Fundamentalopposition gegen einen Kapitalismus, nicht die revolutionäre Umgestaltung eines als ausbeuterisch wahrgenommenen Systems prägte fortan die Arbeit der Gewerkschaften – sondern die Kooperation mit den Arbeitgebern: mit Regeln für Tarifverhandlungen und Streiks; mit Posten in Aufsichtsräten, in denen Arbeitnehmer nicht mehr direkt als Gewerkschafter, sondern indirekt als gewählte Betriebsrats-Vertreter neben den Managern ihrer Unternehmen Platz nahmen. Dennoch: Außerhalb der Konferenzräume und Besprechungszimmer von Unternehmen ließen sich viele Gewerkschafter ihr gesellschaftspolitisches Engagement nicht nehmen. Der linke Flügel verknüpfte die Forderung nach Mitbestimmung - O-Ton 11 Deppe „...mit einer Perspektive noch weitergehender gesellschaftlicher Veränderungen.“ Musik 6 "48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 1'29 TC 10:35 – Gesellschafspolitischer Einfluss blitzt auf Sprecherin Dieser Anspruch der Gewerkschaften auch gesellschaftspolitisch Einfluss zu nehmen, sagt Frank Deppe, blitzte in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder auf. Im Engagement gegen die atomare Wiederbewaffnung, später in der Friedensbewegung. Besonders aber in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um das Jahr 1968: Die geplanten Notstandsgesetze berührten die ureigenen Interessen der Gewerkschaften – sahen sie doch anfangs auch Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Beschäftigten und Arbeitnehmervertretern vor. Eine Schutzklausel, die die Anwendung des Notstands bei Arbeitskämpfen ausschloss, brachte die Gewerkschaften schließlich dazu, die Gesetze doch mitzutragen. Intellektuelle und Studierende wandten sich daraufhin enttäuscht von den Gewerkschaften ab: Sie hatten in ihnen einen Bündnispartner für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel oder gar einen Systemsturz gesehen. Die zunehmend radikalen Proteste gegen den Vietnamkrieg oder das Schah-Regime im Iran bestritten die 68er schließlich ohne Unterstützung der großen Gewerkschaften. TC 11:44 – Das widerständige Rädchen im Kapitalismus Damit schienen die Gewerkschaften ihre Rolle im Gefüge der Bundesrepublik endgültig gefunden zu haben: Als selten widerständiges oder gar blockierendes Rädchen in einem – wie gut geölt laufenden – Kapitalismus funktionierten sie in Zeiten des Wirtschaftswunders – und bis weit darüber hinaus. Musik 7 "I" - Album: Equilirium - Ausführender: PRSZR - Komponist: Peter Votava - Länge: 0'43 Sprecherin Aber dann kamen die 1970er – die Ölkrise, Wirtschaftskrise und Inflation. Die Inflation schürte die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen, mit denen die Gewerkschaften trotz massiver Kritik seitens der Wirtschaft Lohnerhöhungen von über zehn Prozent durchsetzen konnten. In dieser Zeit strömten Massen an neuen Mitgliedern in die Gewerkschaften. In den Augen von Klaus Dörre, der sich im wissenschaftlichen Beirat von Attac engagiert, ist Konfliktfähigkeit nicht nur eine Bedingung für die Durchsetzung der Interessen, sondern auch für eine sinnvolle Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer. O-Ton 12 Klaus Dörre, Professor für Soziologie, Uni Jena  „Wenn Sie nicht das Schwert an der Wand haben, also eine große gewerkschaftliche Organisationsmacht mit Bereitschaft zum Konflikt, bekommen Sie keine Sozialpartnerschaft.“ TC 12:51 – Fremdeln im Wandel der Arbeitswelt Sprecherin Diese „große gewerkschaftliche Organisationsmacht“, von der Klaus Dörre spricht, schwindet seit Beginn der 90er-Jahre langsam, aber stetig. Auch der kurzfristige Mitgliederzuwachs aus den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit hat letztlich nichts daran geändert. Mitgliederverluste... O-Ton 13 Carolin Denise Fulda „...vor allem natürlich aufgrund des demografischen Wandels. Sprecherin ...sagt die Ökonomin Carolin Denise Fulda, Autorin der Studie „Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?“ O-Ton 13 Fulda Teil 2 „...das heißt, die Babyboomer-Generation geht in Rente. Es kommen aber nicht entsprechend viele junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach. Und noch dazu sind diese jüngeren Beschäftigten dann auch noch seltener in der Gewerkschaft organisiert.“ Sprecherin Doch warum lassen diese Beschäftigen Vertreter ihrer ureigenen Interessen lieber links liegen? Ein Grund liege wohl nicht bei der Gewerkschaft selbst – sondern am zunehmenden Individualismus in der Gesellschaft, glaubt Fulda. Sie ist Expertin für Lohn- und Tarifpolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln.  O-Ton 14 Fulda   „...Also Gewerkschaften sind ja nicht die einzigen Organisationen, die Mitglieder verlieren. Das Gleiche trifft für Sportvereine zu, aber zum Beispiel auch für die Kirche. Und auf dem Arbeitsmarkt konkret bedeutet das, dass viele Beschäftigte sich einfach lieber selbst vertreten und ihr Gehalt und ihre Arbeitsbedingungen individuell mit ihrem Arbeitgeber verhandeln.“ Sprecherin Möglicherweise, sagt die Forscherin, habe das zunehmende Fremdeln von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit der Gewerkschaft auch mit einem Wandel der Arbeitswelt zu tun:  Mit neuen Jobs in Büros, die weit weg sind von der klassischen „Malocher“-Arbeit in der industriellen Fertigung – einer traditionellen Domäne der Gewerkschaften. O-Ton 15 Fulda „Das liegt zum Beispiel daran, dass Angestellte und Akademiker zum Beispiel sich einfach in einem ganz anderen Arbeitsumfeld bewegen als das traditionelle Gewerkschaftsmitglied, also eine Person mit Ausbildungsberuf, die in der Industrie arbeitet.“ Sprecherin Auch das Profil „älterer Arbeitnehmer“, „weiß“ und „männlich“ sei in den Gewerkschaften überrepräsentiert. Dagegen gebe es dort anteilsmäßig zu wenige Junge, zu wenige Frauen, zu wenige Akademiker. Nicht allein die Demographie – auch der Strukturwandel hat Klaus Dörre zufolge dazu beigetragen... O-Ton 16 Dörre „...dass die Branchen, wo die Gewerkschaften ihre Hochburgen hatten und auch die großem betrieblichen Strukturen, wo sie sie hatten, einfach von der Beschäftigung her geschrumpft sind, und die Beschäftigung expandiert in Bereichen, wo die Gewerkschaften traditionell schwach sind. Also nur, um ein Beispiel zu nennen: der ganze Bereich prekärer Beschäftigung, der ja im Zuge der Hartz-Reformen eine dramatische, kann man sagen, Expansion erlebt: Niedriglohnsektor, Leiharbeit, Zeitarbeit, ungewollte Teilzeitarbeit, und so weiter… Also ein Leiharbeiter wechselt im Durchschnitt alle drei Monate den Betrieb. Wie wollen Sie den organisieren?“ Sprecherin Die Gewerkschaften, meint Klaus Dörre, müssten auch dieses schwierige Terrain beackern – sie wären schlecht beraten, sich auf die eingespielte Arbeit in den gut organisierten, „alten“ Industriebetrieben zurückzuziehen. O-Ton 17 Dörre „Mit bloßem Besitzstandswahren wird man nicht weit kommen in Zukunft“ TC 16:00 – Sind Gewerkschaften überhaupt noch legitimiert? Sprecherin Zumal eine Stagnation oder ein weiterer Mitglieder-Rückgang die Legitimation der Gewerkschaften in Lohnverhandlungen mehr und mehr in Frage stellt. Die Gefahr, es sich im etablierten Miteinander der Mitbestimmung zu gemütlich zu machen – sie ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Frank Deppe in der strukturellen Ausrichtung der deutschen Gewerkschaften auf die Sozialpartnerschaft hin angelegt. Der Marburger Professor zeichnet das Negativbild, in dem die Gewerkschafter immer wieder mal eher „Genossen der Bosse“ sind, die sich mit Managern gemein machen – statt auf Augenhöhe mit „ihren“ Beschäftigten zu agieren. Wozu das führen kann, zeigt der VW-Skandal: O-Ton 18 Deppe „Dass das eine Deformation von Machtpositionen ist, die die Gewerkschaften dort in den Betrieben haben, bis heute! Es ist eine Deformation, wenn die Vertreter [wie bei VW] korrupt sind. Oder sie schaffen es nicht, sich den Zwängen zu entziehen, die ihnen angeboten werden. (…) Wenn Kollegen aus den Gewerkschaften erzählen, dass sie Aufsichtsratsmitglieder sind von großen Unternehmen...und wenn solche Sitzungen sind, dass am Ende der Sitzung gesagt wird: wir gehen jetzt in diese und diese Bar. Dann ist das die primitivste Variante, wie Sozialpartnerschaft dann auch kulturell ausgreift. Musik 8 "48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'38 Sprecherin Mit der 2005 aufgeflogenen VW-Affäre stellte sich auch eine alte Frage neu: Was macht das Wesen von Gewerkschaft eigentlich aus? Ist es genug, wenn sich Teilhabe für Arbeitnehmer darauf beschränkt, betrieblichen Anliegen an hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre zu delegieren? Müssen sie weniger als der Sozialpartnerschaft dienen, sondern sich mehr als soziale Bewegung organisieren? Der Jenaer Professor Klaus Dörre glaubt, dass manchen Gewerkschaften gar nichts anderes übrig bleibt, als gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen. O-Ton 19 Dörre „Ganz sicher müssen die Gewerkschaften auch mit Blick auf die Gesellschaft aktiv werden. (…) Das eine Beispiel ist sicherlich der ökologische Gesellschaftskonflikt, allem voran der Klimawandel... Da ist es ja so, dass die Gewerkschaften gar nicht anders können als gewissermaßen die klassischen Kämpfe um Verteilungsgerechtigkeit, um Löhne, Arbeitsbedingungen zu verbinden mit der Transformation in Richtung nachhaltige Arbeitsweisen und Produktionssysteme. Sprecherin Besonders für die als „Autogewerkschaft“ geltende IG Metall oder die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie würde dies einen langen und schmerzhaften Prozess bedeuten und radikale Veränderungen. Musik 9 "48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'55 Sprecherin Ein fundamentaler Zielkonflikt, der besonders die Metall-Gewerkschaft vor eine Zerreißprobe stellt. Dem Ausstieg aus der Verbrennertechnologie widersetzt sich die IG Metall zwar nicht mehr. Aber Uneinigkeit herrscht in der Frage: Wie soll der Ausstieg erfolgen? Wie kann die Situation für Arbeitnehmer gut gestaltet und eine sichere Zukunft ermöglicht werden? Die Auseinandersetzungen um die so genannte Antriebswende, vom Verbrenner zum E-Motor, die Sorgen um Zehntausende zur Disposition stehende Arbeitsplätze, insgesamt die Umstellung auf eine CO2-arme oder -freie Produktion: das alles bedeute einen tiefgreifenden Wandel für Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt – und eine Zunahme von Unsicherheiten insgesamt. Auch wenn es in einzelnen Werken zunächst Beschäftigungsgarantien gibt. Klaus Dörre sieht hier die Gewerkschaften stark in der Pflicht.   O-Ton 20 Dörre „Die Frage ist ja, was Gesellschaften leisten müssen, um ähnliche Sicherheitsgarantien geben zu können. Und das ist eine offene Frage, die die Gewerkschaften aber beeinflussen müssen.“ Sprecherin Dabei betrifft die umfassende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft auch die Gewerkschaften selbst. Frank Deppe erinnert sich an eine Begegnung, gemeinsam mit IG-Metall-Funktionären, in Stuttgart. O-Ton 21 Deppe „Und wir fuhren durch die Stadt, und fuhren offenbar an einer Kita vorbei, wo ein Transparent ist, und Menschen davorstanden. Und das waren die Pflegefrauen, die haben gestreikt dort. Und da sagt der Kollege von der Bezirksleitung der IG Metall: „Das ist doch gar kein richtiger Streik, was die machen! Die haben doch auch nur einen Organisationsgrad von unter 10 Prozent! Wenn wir beim Daimler sagen: ,Geht raus, Kollegen!´ - Dann stehen da 30.000 vor dem Werkstor! Sehen sie, das ist ein auch kultureller, riesiger Unterschied jetzt in den Gewerkschaften...und dass jetzt praktisch der Neuaufbau von Gewerkschaften in Rahmen von Verdi passiert...“ Sprecherin An mancher Stelle erschüttert die Transformation also Selbstgewissheiten organisierter Arbeitnehmer – anderswo schafft sie neues Selbstbewusstsein: Da ist die stolze IG Metall, die größte Gewerkschaft der Welt, die sich gezwungenermaßen auf die Umstellung der Produktion auf Elektromobilität einlässt: Werkschließungen, Produktionsverlagerung und Abbau von Arbeitsplätzen inklusive - Ausgang ungewiss. Da ist Verdi, deren Mitglieder nicht Jobverluste fürchten, sondern die – im Gegenteil - an einem Mangel an Personal und permanenter Überlastung leiden. Die die fehlende, auch finanzielle Wert-Schätzung der Care-Arbeit beklagen - und die sich um die Zukunft des Sozialwesens insgesamt sorgen. Schließlich ist da etwa die Eisenbahnergewerkschaft EVG, die den Schulterschluss mit Verdi und den jungen Klimaaktivisten von Fridays For Future übt: Die nicht nur höhere Löhne für ihre Mitglieder im Blick hat, sondern sich mit Klimastreiks für einen nachhaltigen Aus- und Umbau des Verkehrssystems einsetzt. Musik 10 "Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0`29 Sprecherin Hat im 18. Jahrhundert die industriellen Revolution die Gewerkschaften erst  hervorgebracht - so könnten sich die multiplen Krisen der heutigen Zeit für sie als Chance für eine Erneuerung entpuppen: Gelingt es den Arbeitnehmerorganisationen, an Herausforderungen zu wachsen und zu gestaltenden Kräften zu werden, die die ihren im Fortschritt mitnimmt: So könnten sie wieder zu einer authentischen „Arbeiter-Bewegung“ werden. TC 22:11 - Outro
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Nov 30, 2023 • 23min

HENRY KISSINGER – Ein Leben für die Macht

Der Politiker und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger ist gestorben. Wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts war er zugleich umjubelt und umstritten. 1923 in Fürth geboren, als Jude 1938 in die USA emigriert, wurde er unter Richard Nixon 1969 erst Nationaler Sicherheitsberater und später Außenminister der USA. Durch seine Verhandlungen mit China, der UdSSR und Vietnam gilt der Friedensnobelpreisträger den einen als Meister-Diplomat. Andere sehen ihn als Blender und Machtmenschen mit medialer Dauerpräsenz. Autor: Florian Kummert (BR 2023)Credits Autor/in dieser Folge: Florian Kummert Regie: Martin Trauner Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview:Professor i.R. Dr. Bernd Greiner, Universität Hamburg Linktipp: Interview mit Henry Kissinger19.08.1962 ∙ SWR Retro – Report Chronik ∙ SWRInterview mit dem Politikwissenschaftler und Politikberater Henry Kissinger zu Fragen der amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik 1962.JETZT ANHÖREN Literaturtipp: Bernd Greiner, Henry Kissinger – Wächter des Imperiums, München 2020 Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Nov 23, 2023 • 37min

Wie war das damals…? Als Deutschland zum Einwanderungsland wurde

Im Sommer 1973 legen tausende ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter in den Kölner Ford-Werken die Arbeit nieder. Sie fordern "Eine Mark mehr" - aber ihnen geht es nicht allein um mehr Lohn, sondern um Gleichbehandlung gegenüber ihren deutschen Kollegen. Es bleiben nicht die einzigen "wilden Streiks" in diesem Jahr, die von Betriebsräten und Gewerkschaften nicht unterstützt werden und denen meist die Polizei ein Ende setzt. 1973 ist aber auch ein Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik, denn in diesem Jahr stoppt die Bundesregierung die Anwerbung von sogenannten "Gastarbeitern", Männern und Frauen aus der Türkei, Italien, Griechenland oder Jugoslawien. Sie kamen seit den 1950er Jahren als billige Arbeitskräfte, viele von ihnen blieben - obwohl daran bei Abschluss der Anwerbeabkommen kaum jemand gedacht hat. Autoren: Michael Zametzer & Christian SchaafCreditsAutoren dieser Folge: Christian Schaaf, Michael Zametzer Redaktion: Heike Simon, Eva Kötting, Nicole Hirsch  Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN
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Nov 17, 2023 • 21min

VERSCHWÖRUNG? - Das Haberfeldtreiben

Brauchtum oder nackte Selbstjustiz? - Mit vermummten oder geschwärzten Gesichtern zogen Gruppen von jungen Männern nachts vor das Haus eines oder einer Beklagten. Dort trugen sie in Versform angebliche moralische Vergehen vor. Oft kam das "Haberfeldtreiben" einem Rufmord gleich. Im 18. und 19 Jahrhundert wurde es in Teilen Bayerns als folgenschwerer Rügebrauch praktiziert und von der Obrigkeit verfolgt. Autor: Herbert Becker (BR 2007) Credits Autor/in dieser Folge: Herbert Becker Regie: Eva Demmelhuber Es sprachen: Julia Fischer, Peter Weiß, Stephan Zinner, Andreas Borcherding, Alexander Duda Redaktion: Hildegard Hartmann Linktipp: BR24 Thema des TagesBR24 / Podcast / ARD AudiothekEin Thema, das gerade die Nachrichten beherrscht. Im Thema des Tages von BR24 erfahren Sie täglich, was dahintersteckt. Von Politik über Wirtschaft bis hin zu Kultur sprechen wir in jeder Folge mit unseren Korrespondentinnen und Korrespondenten im In- und Ausland oder Expertinnen und Experten. Wir bringen Sie auf den neuesten Stand, Sie erfahren die Hintergründe und was die Nachricht für Sie bedeutet. An jedem regulären Werktag in der Früh und am Abend bei BR24 im Radio und hier als Podcast. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Weitere Folgen zur Staffel: VERSCHWÖRUNG? - Die Illuminaten VERSCHWÖRUNG? - Die Tempelritter Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:55 – Der Ursprung der Haberer TC 03:22 – Selbstjustiz mit Ziegenfell? TC 04:43 – Ein Schwur zur Verschwiegenheit TC 06:40 – Gericht mit Gedicht TC 08:21 – Ein Treiben ohne Strafe… TC 12:21 -  … oder doch sündhafter Unfug? TC 17:48 – Die Bayern habern heute noch TC 19:13 – Outro   Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 0:15 - Intro  Atmo:  Geschrei und Lärm. (Band G 619, Take Nr. 1 und/oder Take bei 6´00´) Haberer He, Bauer! Schick´s aussi, dei´ Hur´. noch Atmo: Der Krach nimmt zu Haberer Schick´s aussi! Mir wollen ihrer ´s Haberfeld treiben! Sprecherin:  Ein Haberfeldtreiben! Vor einem Bauernhaus im bairischen Oberland haben sich zwanzig oder dreißig Männer versammelt: die Haberer. Wahrscheinlich sind es junge Burschen – ganz sicher sagen kann man es nicht, denn sie haben sich Bärte aus Rosshaar umgebunden und ihre Gesichter schwarz angemalt. Sie verlangen vom Bauern, dass er seine Tochter vor die Tür schickt. Sie soll sich unsittlich benommen haben. Haberer Aussi mit ihrer, sonst zünd´ ma dir an Hof oo!  Sprecherin:  Die Haberer machen einen Höllenlärm. Außer Ratschen und Trommeln kommen Kuhglocken und Trompeten zum Einsatz, es wird auf Bretter geschlagen, mit Peitschen geschnalzt, gejohlt und geklatscht. Kein Wunder, dass es ihr Opfer mit der Angst zu tun bekommt. Aber es nützt nichts. Der Bauer fürchtet um seinen Hof, und so muss die Ärmste aus dem Haus. noch Atmo + Geschrei (Band G 619, Take bei 8´10´) Sprecherin:  Jetzt gibt einer der Versammelten – der Habermeister - ein Zeichen (mit der Hand). Es wird ruhig. Haberer Handelts recht und bleibts dabei g´scheit Des woll´n am Kaiser Karl vom Untersberg seine Leit. 1. Zuspielung (Ende) Sprecherin:  Dass er sich auf den Kaiser Karl im Untersberg beruft, gehört zum Ritual. Aber der Ursprung dieser Anrufung ist ebenso unklar der des Haberfeldtreibens insgesamt. TC 01:55 -  Der Ursprung der Haberer Sprecher: Der zeitgeschichtliche Hintergrund legt gewisse Vermutungen nahe: Die ersten Haberfeldtreiben, von denen wir wissen, haben im frühen 18. Jahrhundert stattgefunden. In dieser Zeit überzog der so genannte Spanische Erbfolgekrieg ganz Europa. Bayern, das von kaiserlich-österreichischen Truppen besetzt war, hatte schwer zu leiden. Aufstände wurden blutig niedergeworfen und feindliche Söldner traten Recht und Gesetz mit Füßen.  Sprecherin:  Die Menschen waren verzweifelt - und flüchteten sich in die Erinnerung an bessere Zeiten. Die Wundergläubigkeit blühte und alte Mythen erwachten zu neuem Leben.  Sprecher: Einer Sage zufolge residierte der "große Kaiser Karl des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" mit seinen Getreuen im Untersberg und wartete darauf, den Unterdrückten als Retter und Befreier zu Hilfe zu kommen. Der Untersberg liegt im Berchtesgadener Land, ganz im Südosten Bayerns. Sprecherin:  Es lässt sich ohne weiteres ausmalen, was in diesen Zeiten der äußersten Not, der Bedrängnis und Gesetzlosigkeit in den Herzen rechtschaffener, patriotischer Männer vorging.  Atmo: (Trompete auf Band G 619, Take Nr. 3) Haberer: Manner, so geht´s nimmer weiter. Mir derf ma ned dulden, dass´s bei uns a jeder Haderlump ostellt, was eahm grad gfoid, ohne, dass er dafür gstraft werd´. Mir miass ma uns auf d´ Hinterfiaß stellen! Und wenn uns sonst koaner huift, dann der Kaiser Karl im Unterschberg!  Zustimmendes Raunen.  Sprecherin: Sie taten sich zusammen - zum so genannten Habererbund.  TC 03:22 – Selbstjustiz mit Ziegenfell? Sprecher: Woher die Begriffe "Haberer" und "Haberfeld" kommen, ist unklar. Als "Haber" bezeichnete man einst eine Ziege, mit "Feld" war vielleicht ein Fell gemeint. Das könnte bedeuten, dass bei den frühesten Treiben der Beschuldigte ein Ziegenfell übergezogen bekam. Sprecherin: Rätsel gibt auch der Habererbund auf.  Sprecher: Es gibt Stimmen, denen zufolge er eine verschworene Gemeinschaft war, die zu ihrer Blütezeit rund 2000 Mitglieder zählte; andere neigen zu der Ansicht, dass er nie existierte.  Sprecherin: In dem Fall hätte es sich bei den Teilnehmer an den Haberfeldtreiben um nichts anderes gehandelt, als um eine Zusammenrottung von ein paar Dutzend jungen Burschen, die sich einbildeten, die Bestrafung eines Übeltäters oder einer Übeltäterin selbst in die Hand nehmen zu können. Denn ein Gericht schalteten sie nicht ein – noch gaben sie ihrem Opfer die Möglichkeit, sich zu verteidigen.  Sprecher: Etwas Neues wäre das nicht gewesen. So genannte Rügebräuche sind schon aus weit zurück liegenden Zeiten bekannt. Bei den Germanen sollen Ehebrecherinnen dadurch bestraft worden sein, dass man ihnen das Haar abschnitt und sie dann nackt und unter den Schmährufen der ganzen Sippe aus dem Haus jagte. In Bayern kam es vor, dass sexuelle Vergehen angeprangert wurden, indem man dem oder der Beschuldigen Sägespäne vor das Haus streute oder dieses gar mit Kot beschmierte.  Atmo: (Trompete auf Band G 619, Take Nr. 3) TC 04:43 – Ein Schwur zur Moral   Sprecherin: Auch bei den Haberfeldtreiben wurden oft sexuelle Vergehen bestraft. Was heißt Vergehen? Bestimmt sind die Treiben oft von Burschen angezettelt worden, die selber keine Gelegenheit gehabt hatten, den geahndeten Fehltritt zu begehen. Während aber das Sägespänestreuen oder das Kotverschmieren spontan erfolgen konnten, erforderte das Haberfeldtreiben eine gewisse Organisation. Egal, ob es den Habererbund gegeben hat oder nicht: Ehe ein Treiben stattfand, mussten sich die Mitwirkenden treffen, um ihr Opfer auszuwählen und einen Zeitpunkt für das Losschlagen festzulegen; sie wählten einen der ihren zum Habermeister und sie schworen die unbedingte Geheimhaltung ihrer Aktivitäten.   Haberer: Manna, auf zum Schwur! Sprecherin: ... sagt der Habermeister in Ulrich Ragers Erzählung "Aufstand der Haberer", die auf wahren Begebenheiten beruht. Dann liest er, zum Mitsprechen für die anderen, den Haberereid vor.  Haberer: Ich schwöre bei meinem Leben unverbrüchliches Schweigen zu wahren über den Habererbund und über das heutige Treiben. Nicht List, nicht Gewalt, nicht Zuchthaus, nicht Tod soll mich bewegen, diesen Schwur zu brechen, so wahr mir Gott helfe. Amen. Sprecher: Nachdem sie diesen Eid abgelegt haben, marschieren die Haberer zum Treibplatz und stellen sich auf. Das Ziel des Treibens könnte ebenso ein betrügerischer Händler, ein meineidiger Bauer, ein bestechlicher Beamter oder ein Bierpantscher sein.  Sprecherin: In unserem Fall ist die junge Frau mit der angeblich lockeren Moral aus dem Haus gekommen. Nach der Anrufung des Kaisers Karl steigt der Habermeister unter dem Johlen und Lärmen der anderen auf ein Fass oder einen Leiterwagen.  Atmo: (Geschrei auf Band G 619, Take bei 6´00´) TC 06:40 – Zu Gericht durch ein Gedicht  Sprecher: Das eigentliche Gericht beginnt. Es besteht im Wesentlichen aus dem Aufsagen oder Absingen von Versen. Sie sind alles andere als anspruchsvoll. Meistens stimmt das Versmaß nicht, dafür ist die Sprache umso derber.  Sprecherin: Der Journalist und Brauchtumsforscher Georg Queri hat in seinem Buch "Bauernerotik und Bauernfehme in Oberbayern" viele der Verse gesammelt. Sie gehen ungefähr so:    Zitator:  Der Fanni, der kimmt so guad wie a jeder recht, ich glaub', dass die die ganze Woch  Tag und Nacht immer möcht´, Mit ihrane Burschen kennt sie si´ scho lang nimmer aus, die liefern ihr das ganze Jahr stehende Mittel ins Haus. Sprecher: Nach jedem dieser Verse folgt das gleiche Frage- und Antwortspiel. Der Habermeister fragt:  Habermeister:  Is des wahr? Atmo: (Geschrei auf Band G 619, Take bei 6´00´ und/oder Take Nr. 1) Sprecher: Woraufhin ihm die Haberer lauten Halses bestätigen, dass es wahr ist, und er sie auffordert:   Habermeister:  Dann treibts es gscheid! Sprecher: Jetzt machen die Haberfeldtreiber mit ihren Lärminstrumenten ordentlich Krach - so lange, bis der Haberermeister ein Handzeichen gibt und einen weiteren Vers vorträgt. Zum Schluss droht er damit, im nächsten Jahr wieder zu kommen, falls sich die - oder der - Angeklagte nicht bessert. Noch einmal wird Krawall geschlagen, dann ziehen sich die Haberer zurück. Der Spuk ist zu Ende.   Sprecherin: Allerdings nicht unbedingt für die Person, der das Treiben gegolten hat. Gerade in kleineren Gemeinden ist diese Art der Volksjustiz schon fast eine soziale Hinrichtung. Zur Polizei oder zum Gericht zu gehen, weil man sich zu Unrecht angeschuldigt fühlt, kann man kaum.  TC 08:21 – Ein Treiben ohne Strafe Sprecher: Das erste Haberfeldtreiben, das amtlich beurkundet ist, fand 1716 in Vagen, einem Dorf im Mangfalltal, statt. Es galt einer jungen Frau. Ursula Steindl hieß sie, und ihr Vater wollte die Schmähung seiner Tochter auf gar keinen Fall auf sich sitzen lassen. Er zeigte siebzehn Vagener an, von denen er behauptete, sie hätten ... Zitator:  ...allerhand iniuriosen, gschray, schnalzen und stain werfen sambt anderen Romorereyen veriebet.  Sprecher: Keiner der Haberer wurde bestraft - jedenfalls nicht wegen der Schädigung des Rufes von Ursula Steindl. In dem Protokoll ist ausdrücklich vermerkt, dass es sich beim Haberfeldtreiben um einen von Justiz und Geistlichkeit tolerierten Volksbrauch handle. Das bedeutet: Der Brauch war zu dieser Zeit in der Gegend zwischen Isar und Inn längst bekannt und verbreitet.  Sprecherin:  Dass trotzdem sechzehn Haberer zu je zwei und ein gewisser Georg Sauerlacher sogar zu vier Schillingen Strafe verurteilt worden ist, kam daher, dass bei dem Treiben der Schuppen der Steindls beschädigt worden ist.  Haberer:  Wegen dem bläden Schupfa!  Wahrscheinlich wer´n s´ hoid ein paar Brettln braucht ham, zum Draufhauen, damit´s a bissl an Krach gibt.  Sprecher: Nur wegen des Schadenersatzes findet sich in den Akten ein Vermerk. Wäre nichts zu Bruch gegangen, hätten wir von dem Treiben nie erfahren. Fünfzig Jahre später sah es schon ein wenig anders aus. Nach einem Treiben in Parsberg bei Miesbach im Jahr 1766 nämlich behandelte die Obrigkeit die Haberer weit weniger nachsichtig.  Haberer:  Ei´gsperrt ham s´ es! Eine soichane Gemeinheit!  Sprecher: Ihr Beschwerdebrief ist erhalten. Zitator:  Da des Sterzls Tochter sich fleischlich vergangen und ein Kind zur Welt geboren, ... so verfügten wir uns nach dem in hiesiger Gegend altherkömmlichen Brauch ... zu gedachtem Sterzl und verrichteten mit Pritschen, Kuhschellen und Ketten, dann Abschießung einiger Terzerolen die gewöhnliche Musik, ohne jedoch dem Sterzl nur den mindesten Schaden in dessen Zaun, Fenstern oder anderem zuzufügen, sondern begnügten uns lediglich mit dieser für junge Burschen ausgesehenen Lustbarkeit, worauf uns aber das löbliche Pfleggericht Miesbach sogleich bei Wasser und Brot ... in die tiefste Malefizkeuche warf, sodann öffentlich durch den Amtmann in dem Markt herumführen und einen jeden ... um neun Gulden hat abstrafen lassen. Haberer: Und dass eahna die ungerechten Strafgelder restituiert wer´n, da drum ham s´  bitt´. Aber nix war´s. Sprecherin:  Die Regierung hat anscheinend gar nicht recht verstanden, was die 23 Bestraften überhaupt angestellt haben sollten. Jedenfalls hat sie von dem Miesbacher Gericht eine Erklärung verlangt. Sprecher: Die Antwort erfolgte in einer zwar altmodischen, aber sehr deutlichen Sprache. In dem mehrere Seiten langen Schreiben wurde zunächst der Ablauf eines Haberfeldtreibens geschildert, und sodann erläutert, warum es sich dabei um einen unbedingt strafwürdigen Akt handelt. Haberer:  Ah, gäh, strafwürdig! Zitator:  Villfältig geschieht es, daß einige von diesen Purschen die mit Schindl belegte häußer abdeckhen, die fenster einschlagen vnd die zäun zusammen reissen. iederzeit aber springen sye in einem Creiß herumb, vnd tretten dieweils nit anderst auf, als wan ein hexen tanz daselbst Vorbeygegangen were." Haberer:  Is´ dees vielleicht verboten, dass man im Kreis rumspringt? Sprecher: Das Miesbacher Gericht jedenfalls sah in einem Treiben, bei dem sich die Mitwirkenden wie Räuber und Diebe vermummen, durchaus keine für junge Burschen geeignete Lustbarkeit. Und die Regierung befahl, alles zu tun, ... Zitator: ... das derley unzulässige Mißbräuche gänzlich außgerottet ... werden. Haberer:  Aber do ham sa si brennt! Es ist weitergehabert wor´n, da ham de ganzen Erlasse nix gnutzt. Bis die Obrigkeit wos von am Treiben erfahren hod, war´s sowieso scho lang vorbei. Und dass dene Hanswurschten vom Landg´richt oaner was verraten häd – gäh! Des häd si´ gor koaner traut.  TC 12:21 - …oder doch sündhafter Unfug? Sprecher: Also breitete sich die Sitte – oder Unsitte – des Haberfeldtreibens weiter aus. Nicht nur das: Die Zahl der Männer, die an den einzelnen Treiben teilnahmen, wurde immer größer und immer öfter waren sie mit Gewehren bewaffnet. Längst beschränkten sie sich nicht mehr darauf, jungen Frauen und kleinen Betrügern Angst einzujagen. Nicht selten wurden nun die Gehaberten verprügelt, und in zunehmendem Maß wurden die Träger von Ämtern und Würden zum Gegenstand der Anschuldigungen. Sprecherin:  Einer der von Georg Queri zitierten Verse geht – in einigermaßen verständliches Bairisch übersetzt – so:  Atmo: (Geschrei auf Band G 619, Take bei 8´10´) Haberer:  Weils halt der Pfarrer, der Stier, duad gar a so treibn, so sind wir halt heut kemma zum Haberfeldtreibn.  Die oafältign Bauern dan si beklagn, weil da Pfarra nach eahnerne Weiba duad jag´n; wenn oane krank is, hat s´ Sorgen beim Beichten, weil er ihr allwei duad zwischen d'  Fiaß einigreifen. Das is a Graus! Moant er denn, es fahrt d' Seel zwischn de Fiass raus? Is´s ned a Schand für an Pfarrvorstand?  Sprecherin:  Diese Anwürfe hat 1841 der Pfarrer von Irschenberg über sich ergehen lassen müssen. Anscheinend beruhte das, was man gegen ihn vorbrachte, durchaus nicht auf Erfindungen, denn der gehaberte Pfarrer wurde tatsächlich seines Amtes enthoben.   Musik: Die Interpreten: "Schlegellied" (auf: "Stollen 4"; # 10) Sprecher: Aber nun hatten die Haberer nach der Staatsgewalt auch die Geistlichkeit gegen sich. Erzbischof Gregor von Scherr nannte das Haberfeldtreiben... Zitator:  ... einen Unfug, der den Ruhm, den sich die Bewohner des Bayrischen Hochlandes durch ihr entschiedenes Festhalten am heiligen Glauben und durch ihre treue Anhänglichkeit an Fürst und Vaterland erworben haben, nicht wenig verdunkelt.  Sprecher: Und er drohte, es sei... Zitator:  ...über alle Anstifter und Teilnehmer dieses als schwer sündhaft ... bezeichneten Unterfangens der größere Kirchenbann auszusprechen. Sprecherin: Die Haberer leisteten sich wirklich allerhand. Kurz nachdem die Polizei ein paar Burschen verhaftet hatte, die bei dem Treiben gegen den Pfarrer dabei gewesen sein sollen, ging beim Miesbacher Gericht ein anonymes Schreiben ein. Darin drohten die anderen Haberer mit dem Niederbrennen des Gerichtsgebäudes, ja sogar mit der Ermordung eines Gerichts-Assessors, für den Fall, dass man ihre Freunde nicht frei lasse. Haberer:  Des war bloß a Drohung.  Sprecherin: Aber eine, die man sehr Ernst nehmen musste. Zwar äscherten sie nicht das Miesbacher Gerichtsgebäude ein, dafür verübten sie in Rosenheim eine Brandstiftung.  Sprecher: Nun reagierte der Staat mit Härte: In mehreren Dörfern, in denen es zu Treiben gekommen war, wurden Soldaten einquartiert.   Musik: Die Interpreten: "Peter Reindl" (auf: "Stollen 4"; # 14) Sprecherin: Und die Stationierung musste von den Bauern bezahlt werden! Die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden versuchten alles Mögliche, um diese Last abzuwenden. Sie bemühten die Gerichte und wandten sich mit Eingaben und Bitten an die Behörden, ja sogar an den König. Derweil ging das Habern in anderen Gemeinden fröhlich weiter.  Sprecher: Die Zahl der Treiben nahm sogar zu, und die Zahl derer, die daran mitwirkten, ebenfalls. Bis zu dreihundert Mann sollen es mitunter gewesen sein. Sie schossen scharf und sie zündeten Feuerwerkskörper. In einigen Fällen kam es zwischen den Haberern und der Polizei zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.  Zitator:  Vergangene Nacht eineinhalbstündiger Kampf mit Haberfeldtreibern bei Rosenheim. Mehrere Verhaftungen worunter einige Leichtverwundete, ein Mann todt. Unsererseits kein Verlust. Sprecher: ...heißt es in einem Telegramm des Bezirksamts von 1866. Sprecherin: Bei dem Gefecht hatten die Haberfeldtreiber nicht nur einen Mann verloren – sie büßten allmählich auch den Rückhalt bei der Bevölkerung ein. Nach und nach verkamen ihre Aktionen zu Besäufnissen mit Volksfestcharakter, bei denen es um alles Mögliche ging, aber gewiss nicht um die Aufrechterhaltung von Sitte und Moral.  Sprecher: Dafür gewannen Polizei und Gericht an Ansehen. Das Verständnis für ihr Einschreiten wuchs.  Sprecherin: Alte Haberer erzählten bereits voller Stolz von den großartigen Treiben in früheren Tagen, da entschloss sich in Miesbach eine Gruppe von Männern, an die alte Habererherrlichkeit anzuknüpfen. Ihren Anführer, den Daxer von Wall, bewunderte man dafür, dass er der Obrigkeit ab und zu eins auswischte. Leider war er von zweifelhaftem Charakter. Schon bei den Anklagen, die er in seinen Habererversen erhob, handelte es sich um reine Verleumdungen. Außerdem waren die Teilnehmer untereinander zerstritten; einer von ihnen verriet das Vorhaben, die Polizei schritt ein, es kam zu einer Schießerei.  Sprecher: Das Haberfeldtreiben von Miesbach, in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1893 gilt als das letzte von Bedeutung. Bereits am 12. Oktober verpflichtete die Königliche Regierung von Oberbayern die Gemeindebehörden, ... Zitator:  ... in Vorbereitung befindliche Haberfeldtreiben zu verhindern und die in der Ausführung begriffenen zu unterdrücken; ... sie stellen einen Landfriedensbruch dar, welcher an den Teilnehmern mit Gefängnisstrafe bis zu 5 Jahren und an den Rädelsführern mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren zu ahnden ist.  Sprecherin: Die Bevölkerung zeigte Verständnis. Sie fühlte sich von den Staatsorganen besser vertreten als von den Rügerichtern, die offensichtlich in erster Linie Freude am Radau hatten.  TC 17:48 – Die Bayern habern heute noch  Sprecher: Es kam noch zu ein paar kleineren Treiben, alles in allem aber schlief der Brauch ein... Sprecherin: ... um später – viel später – wieder entdeckt zu werden.  Sprecher: Von den Gegnern des Flughafens im Erdinger Moos zum Beispiel, die der bayerischen Staatsregierung und den Betreibern der Flughafengesellschaft die Leviten lasen, von Demonstranten, die vor dem Landwirtschaftsministerium aufmarschierten, um gegen die Genmanipulation zu protestieren.  Sprecherin: Und von Vereinen wie "D´Haberer e.V." in Miesbach. Ein Haberer alten Schlages allerdings würde sich wundern, wenn er deren Satzung lesen könnte.  Zitator:  Die Haberer sehen es als ihre wichtigste Aufgabe an, daß sie das altbayerische bäuerliche Trachtenbrauchtum des Haberfeldtreibens bewahren. Deshalb wirkt man bei Faschingszügen oder beim Bürgerfest mit, wo man in gewohnter derber Weise Haberfeld treibt.  Haberer:  Beim Faschingszug? ... Wos san denn des für oa?  Zitator:  Die Miesbacher Haberer bieten Gewähr, daß es sich bei ihrer Vereinigung um eine lustige Gesellschaft entsprechend der Oberlandler Sitte, aber auch um einen bodenständigen Brauchtums-Erhaltungs-Verein mit dem notwendigen ernsten Hintergrund handelt.  Haberer:  Soso. Brauchtums-Erhaltungs-Verein. Ja mei. Es hod hoid ois sei Zeit. Und die von uns Haberer, die is scheint´s vorbei. Musik: Die Interpreten: "Andachtsjodler" (auf: "Stollen 4"; # 4); (anfängliches Glockengeläut unter den vorangegangenen Text gelegt)  TC 19:13 – Outro 
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Nov 17, 2023 • 22min

VERSCHWÖRUNG? – Die Tempelritter

Eigentlich wollten die Tempelritter nur das Grab Christi in Jerusalem und die Pilger schützen. Doch bald wurden die Templer Polit-Strategen und Bankiers. Ihr dramatisches Ende machte sie zu Stars in Mystery-Romanen. Wer hatte ein Interesse an ihrer Ausrottung? Haben sie in Form von Geheimgesellschaften überlebt? Und was haben die Templer mit dem heiligen Gral zu tun? Autor: Christian Feldmann (BR 2010) Credits Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Stefan Wilkening, Detlef Kügow Technik: Cordula Wanschura Redaktion: Brigitte Reimer Linktipp: Archivradio - Geschichte im OriginalSWR2 / Podcast / ARD AudiothekDas Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte.ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Weitere Folgen zur Staffel: VERSCHWÖRUNG? - Die Illuminaten VERSCHWÖRUNG? - Das Haberfeldtreiben Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:00 – Intro TC 02:10 – Die Tempelritter – der Beginn TC 04:27 – Zwischen Tapferkeit und Frömmigkeit TC 07:23 – Die Macht der Tempelritter TC 09:00 – Der König und die Scheiterhaufen TC 15:10 – Justizskandal TC 16:52 – Legenden und Verschwörungen TC 18:51 – Outro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:00 – Intro  ATMO nächtliche Verhaftung: Pferdetrippeln und –wiehern, Kommandos, eingeschlagene Türen, Schreie (?) Erzählerin: An einem Freitag, dem Dreizehnten, brach die Katastrophe über die Tempelritter herein. Im Morgengrauen des 13. Oktober 1307 schwärmten in ganz Frankreich Verhaftungstrupps aus. In zahlreichen Burgen dasselbe Spiel: Man überrumpelte die Wachen, holte die schlaftrunkenen Ritter aus den Betten, legte sie in Ketten und führte sie ab. Genauso hatte es der König in versiegelten Briefen an die Justizbeamten befohlen, die bei Todesstrafe erst am Morgen dieses Tages geöffnet werden durften. ATMO kurz hoch Erzählerin: Wie viele Tempelritter an diesem schwarzen Freitag in die Kerker des Königs geworfen wurden, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Verhört hat man in den folgenden Monaten jedenfalls an die neunhundert. Aber was heißt da verhört; die Krone hatte angeordnet: Erster Zitator: Die Wahrheit ist genau und nötigenfalls mit der Folter zu erforschen. Erzählerin: Was das bedeutete, lässt sich erahnen, wenn man die Aussagen der so Behandelten im späteren Gerichtsverfahren liest.  ATMO Folter: Mörderische Schreie, hallend (?) Zweiter Zitator: Man hat mir die Hände so auf den Rücken gebunden, dass das Blut aus den Nägeln lief. Dann warf man mich in eine Grube, für ungefähr eine Stunde. Erzählerin: So der Ritter Ponsard de Gisy. Sein Mitbruder im Orden, Gérard du Passage, berichtet, man habe seinen Körper hochgezogen und an die Gliedmaßen und Geschlechtsteile Gewichte gehängt, bis er ohnmächtig geworden sei.  Erzähler: Weshalb diese Torturen? Was sollten die Ritter gestehen? Gotteslästerliche Handlungen, die Anbetung von Götzen, Kontakte zu Geheimbünden und muslimischen Bruderschaften und – besonders pikant – homosexuelle Praktiken. Wozu sich unter der Folter tatsächlich nicht wenige bekannten. Erzählerin: Götzendienst, Ketzerei, Sodomie? Ausgerechnet die Tempelritter, der Elite-Orden des Mittelalters, dessen Mitglieder im Heiligen Land zu Hunderten für ihren Glauben gestorben waren? Es ist eine sonderbare und traurige Geschichte. Melancholische, vielleicht fremdländische Musik (Flöte? Laute?) TC 02:10 – Die Tempelritter – der Beginn Erzähler: Diese Geschichte beginnt im Jahr des Herrn 1120 in Jerusalem. Da sprechen neun Ritter aus Burgund und der Champagne unter der Führung eines gewissen Hugue de Payens bei König Baudoin II. vor. Sie erläutern ihm ihre Absicht, eine Gemeinschaft zu gründen, um die Pilger auf ihrem Weg zu den heiligen Stätten vor Räubern und Wegelagerern zu schützen. Eine bewaffnete Truppe, die aber nach dem Vorbild frommer Stiftsherren in Armut, Keuschheit und Gehorsam zusammenleben soll.  Erzählerin: König Baudoin ist begeistert. Er schenkt den Franzosen spontan einen Teil seines Palastes in Jerusalem, der auf den Fundamenten des salomonischen Tempels steht.  Dort baut die Gemeinschaft ihre erste Niederlassung, neben dem Felsendom, der heutigen Al-Aksa-Moschee, und von daher bekommt sie ihren Namen: die Ritter vom Tempel Salomons, die Templer. Erzähler: Neun Jahre später erhalten die Tempelritter auf der Synode von Troyes ihre kirchliche Anerkennung. Bald sind sie nicht nur in Palästina, sondern in allen Teilen Europas präsent, in England, Norditalien, Deutschland, Böhmen, Ungarn, Polen.  Erzählerin: Anfang des 14. Jahrhunderts, als die große Verhaftungswelle durch Frankreich rollt, dürfte es im ganzen Abendland an die viertausend Templer gegeben haben. Sie sind berühmt für zwei Dinge: für ihren Kampfgeist und ihre disziplinierte, asketische Lebensweise. In Palästina schützen sie längst nicht mehr nur die Pilgerwege, sondern führen Kriege mit islamischen Truppen. 1167 heißt es in einem für Pilger bestimmten Traktat: ATMO Schlacht: Pferdegetrappel, Hornsignale, Kommandorufe, Schwertergeklirr, Todesschreie Erster Zitator: „Die Templer sind ausgezeichnete Ritter, die in der Schlacht einen weißen Mantel mit rotem Kreuz tragen. Sie sind die Ersten, die in die Schlacht gehen, und die Letzten, die zurück kommen. Erklingt die Trompete, um den Befehl zum Vorrücken zu geben, singen sie fromm diesen Psalm Davids: „Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib die Ehre!“, legen die Lanzen ein und stürzen sich auf den Feind. Einen Rückzug erlauben sie sich nie. Entweder werfen sie den Feind ganz nieder, oder sie sterben.“ TC 04:27 – Zwischen Tapferkeit und Frömmigkeit  Erzählerin: Sie müssen tatsächlich ausgesprochen tapfere Krieger gewesen sein. Als sie 1187 bei Hattin in Galiläa eine Niederlage erleiden, stellt Sultan Saladin 230 gefangene Templer vor die Alternative, zum Islam überzutreten oder zu sterben. Alle 230 Ritter ziehen es vor, sich köpfen zu lassen.  Um 1219 entert eine sarazenische Übermacht vor Damiette ein Schiff der Templer: Kurz entschlossen schlagen sie das eigene Schiff leck und gehen zusammen mit den Feinden unter.  Zweiter Zitator: „Wilder als Löwen und sanfter als Lämmer – Erzählerin: – nennt sie der mystische Theologe und Kreuzzugsprediger Bernhard von Clairvaux und trifft damit die andere Seite des Templer-Lebens. In ihren burgähnlichen Abteien leben sie wie Mönche, wenn sie sich auch mehr um ihre Waffen und Pferde kümmern müssen als um die Landwirtschaft oder das Abschreiben der Bibel, wie es andere Ordensleute tun. Das Chorgebet pflegen sie genauso intensiv, und ihre Armut beeindruckt viele Beobachter. Zweiter Zitator: „Jeder bekam ein gleiches Maß Wein; je zwei aßen von einem Teller, um sich gegenseitig zur Mäßigkeit anzuhalten. Freitags fastete jeder, mit Ausnahme der Kranken.“ Erzähler: In diesen Zusammenhang gehört auch das Siegel der Templer, das zwei Ritter hintereinander auf einem Pferd sitzend zeigt. Als man ihnen den Prozess macht, führt man diese Darstellung als Beweis für homosexuelle Verirrungen an. Die Forschung ist sich aber ziemlich sicher, dass das Siegel die Armut der Tempelritter illustrieren soll, von denen sich zwei jeweils ein Pferd teilen. Geistliche Autoren wie Petrus Venerabilis haben ihnen jedenfalls ins Stammbuch geschrieben, sie sollten nicht nur gegen Heiden und Strauchdiebe kämpfen, sondern auch gegen die Versuchungen des eigenen Blutes: Erster Zitator: „Ihr seid Mönche in euren Tugenden, Ritter in euren Taten!“ Erzählerin:  In dieser ungewöhnlichen Doppelrolle des Mönchs und Kriegers liegt die Faszination des neuen Ordens, aber auch sein Verhängnis:  die Templer sind immer ein wenig anders als der kirchliche Mainstream, wenn man so sagen will, sie pflegen ihre Eigenheiten und scheinen unberechenbar. Das vermutet zumindest der Journalist und Buchautor Franjo Terhart, der die Geschichte des Ordens erforscht hat: Zuspielung Terhart 3 (1’24“; bitte die beiden Streichungen noch vornehmen): „Kämpfende Mönche, die, man kann schon fast sagen, die so ausgebildet sind wie Ninja-Krieger im japanischen Mittelalter, das ist schon sehr ungewöhnlich. Also das ist die eine Geschichte des Templerordens, die andere ist, dass sie das Christentum doch sehr anders gesehen haben. Wenn man Texte liest, dass sie, ja, auch bestimmte Stellen des Neuen Testamentes, Stellen aus dem Alten Testament völlig anders ausgelegt haben, eben nichtchristlich, ketzerisch. Das find ich sehr spannend, dass sie sich das getraut haben! Denn im Mittelalter traute sich niemand, freiheitlich zu denken.“ TC 07:23 – Die Macht der Tempelritter Erzählerin: Der Templerorden baut eine gewaltige Macht auf, sammelt Grundbesitz und Privilegien, rüstet eine eigene Flotte aus, betreibt Geldgeschäfte im großen Stil – doch damit beginnt auch sein Untergang. Die frommen und zugleich wehrhaften Mönche, die die Pilgerwege und Handelsstraßen im Heiligen Land schützen, fördern die politischen Mächte eine Zeit lang gern. Als die Templer aber zu Kaufherren und Bankiers werden, erscheinen sie als gefährliche Rivalen.  Zuspielung Terhart 7 (36“): „Sie haben sich über ganz Europa ausgebreitet, haben eine Struktur geschaffen, auch eine logistische Struktur, die es ihnen ermöglichte, Nachrichten damals in sehr kurzer Zeit über mehrere Länder hinweg zu transportieren. Sie haben den Scheck erfunden, wenn man so will, den Euroscheck; das heißt: Wenn ein Kaufmann in England sagte, ich reise ins Heilige Land, aber ich will mein Geld nicht mitnehmen, aber ich will doch trotzdem was kaufen, was mach ich denn nun, da haben die Templer gesagt, hier hast du einen Brief von uns, einen Scheck, darauf zahlst du dein Geld ein, sagen wir mal die und die Summe, und wenn du dort in Jerusalem bist, dann kannst du sie vorlegen und dann zahlen wir dir das Geld wieder aus.“ Erzähler: Zum Verhängnis wird den Templern auch, dass ihr Orden international agiert, von einer Art christlichem Völkerbund träumt und sich der Kontrolle durch die Nationalstaaten und ihre Könige mehr und mehr entzieht. Die Tempelritter machen so ziemlich alle Fehler, die man machen kann: Sie treten arrogant auf, zeigen ihre Schätze her, weil sie meinen, dass man sich an eine so reiche Truppe nicht heran wagen würde. Statt sich mit den anderen Ritterorden zu verbünden, verstricken sie sich in Rivalitäten und führen blutige Bruderkriege. Das bringt ihnen viele Feinde. ATMO Königshof: Fanfaren, Trompetengeschmetter, Glocken, Stimmengewirr  TC 09:00 – Der König und die Scheiterhaufen Erzählerin: In unmittelbarer Nachbarschaft der Pariser Templerburg residiert der Mann, dem diese Entwicklung ausgesprochen gelegen kommt: König Philipp „der Schöne“, fromm, aber eiskalt und mit allen Anlagen zum Tyrannen, hat sich für seine vielen Kriege hoch verschuldet – unter anderem bei den Tempelrittern. Die Steuern hat er schon erhöht, die Währung abgewertet, den Besitz der französischen Juden konfisziert; jetzt bietet sich eine Gelegenheit, den sagenhaften Templerschatz in die Finger zu bekommen. Philipps engster Berater Guillaume de Nogaret sammelt seit Monaten eifrig belastende Aussagen käuflicher Denunzianten und aus dem Orden verstoßener Tempelritter. Am 13.10.1307 ist seine Stunde gekommen. Erzähler: Die Macht der Kirche haben Nogaret und sein König nicht zu fürchten. Papst Clemens V. ist ein verzagter Charakter und abhängig von Philipp. Außerdem kann man Papst Clemens, dessen Privatleben nicht gerade sauber ist, mit einem Konzil drohen, das ihn absetzen könnte. Schwach wie er ist, stellt er sich nicht entschieden genug gegen den König.  Melancholischer Musikakzent wie oben Erzählerin: Hat sie denn niemand gewarnt vor der großen Verhaftungsaktion? Haben die Templer keine Freunde am Königshof? Oder sind sie so blind, arrogant oder auch treuherzig, dass sie die drohende Gefahr nicht sehen wollen? Zwei Tage nach der Massenverhaftung soll König Philipp dem Ordensgroßmeister Jacques de Molay einen Deal vorgeschlagen haben: Er werde Molay entkommen lassen, seine Flucht freilich als Schuldeingeständnis an die große Glocke hängen. Molays Ordensbrüder raten ihm, die Chance zu nutzen, ausländische Monarchen und den Papst zu Hilfe zu rufen; doch der Großmeister antwortet ebenso redlich wie naiv: Erster Zitator: „Es liegt kein Grund zur Flucht vor, denn wir sind ohne Schuld, und der Orden ist gut und ehrenhaft. Verzweifelt nicht, Brüder!“ Erzählerin: Währenddessen läuft in den Gefängnissen bereits die Foltermaschinerie an. König Philipp lässt die Ordensschätze inventarisieren. Scheinheilig ernennt er sich selbst zum Treuhänder aller Templergüter in seinem Reich, behauptet, man werde sie für den nächsten Kreuzzug verwahren. Papst Clemens braucht Wochen, um gegen die offensichtlichen Verstöße gegen kirchliches und weltliches Recht zu protestieren – und wird brüskiert: Seine Legaten werden am Pariser Königshof gar nicht vorgelassen. Als Papst Clemens den französischen Großinquisitor absetzt, der sich als Philipps willfähriges Werkzeug erwiesen hat, kanzelt ihn ein königlicher Minister beim Reichstag in Tours unverschämt ab: Zweiter Zitator: „Dem König verdankt die Kirche mehr als Euch. Wenn also König, Prälaten und Barone, dazu das ganze Volk auf rasche Erledigung dieses Geschäfts drängen, dann beeilt Euch gefälligst. Sonst müssen wir mit Euch eine andere Sprache reden.“ Dramatischer, peitschender Musikakzent Erzähler: So verschwinden die Templer in den Folterkellern des Königs. Erst nach mehr als zwei Jahren rafft sich der Papst auf: Er appelliert an die Templer, sich vor seiner Kommission zu verteidigen. Überraschenderweise öffnen sich die Gefängnisse, Hunderte von Folteropfern strömen nach Paris, um endlich für die Wahrheit Zeugnis abzulegen: Zweiter Zitator: „Die Anklagen sind sinnlos, schändlich, ehrlos und unerhört. Sie sind eine Lüge. (…) Alle Brüder des Tempels, die solche Lügen anerkannt haben, sagten aus Angst vor dem Tode aus.“ Erzähler: Obwohl die Professoren der berühmten Sorbonne dem König das Recht bestreiten, über die Ordensritter zu urteilen, obwohl ähnliche Verfahren im Ausland, in Mainz, in Zypern, in Ravenna mit der glänzenden Rehabilitierung der Templer zu Ende gehen, verurteilt eine eilends einberufene Bischofssynode unter dem Vorsitz Marignys in Paris 54 Tempelritter zum Feuertod. Begründung: Mit dem Widerruf ihrer Geständnisse hätten sie sich als rückfällige Ketzer erwiesen.  Peitschender Musikakzent oder ATMO Feuertod: prasselnde Flammen, Glocken, Schreie (?) Erzählerin: Die übrigen Templer kommen zurück in ihre Gefängnisse. Noch einmal zwei Jahre päpstlichen Schweigens, dann erklärt Clemens am 3. April 1312 in der Bulle „Vox in excelsis“ den Orden für aufgehoben. Die gerade zum Konzil von Vienne versammelten Kardinäle und Bischöfe stimmen zu: Die Vorwürfe gegen den Orden seien zwar unbewiesen, aber sein Ruf habe durch den langen Prozess so gelitten, dass man ihn im Interesse der Kirche lieber aufheben solle.  König Philipp höchstpersönlich ist mit einer schwer bewaffneten Truppe in Vienne erschienen, um auf die Kirchenväter Druck auszuüben. Eine interessante Nuance: Die päpstliche Bulle enthält keine Verurteilung. Der Orden wird nicht einmal aufgelöst, sondern lediglich – per Verwaltungsakt – suspendiert.  Erzähler: Den Besitz der Templer überschreibt der Papst zwar dem Konkurrenzorden der Johanniter. Doch Philipp und seine Berater wissen sich Rat: Sie stellen eine astronomische Rechnung für den Unterhalt der gefangenen Tempelritter auf und kassieren nach einigem Feilschen und Schachern tatsächlich fast das ganze Eigentum des in Ungnade gefallenen Ordens. Verstörender Musikakzent Erzählerin: Noch einmal zwei Jahre unwürdiger Prozesse. Der Großmeister der Templer, Jacques de Molay, hat alle Folterorgien überlebt. Am 18. März 1314 soll der Schuldspruch fallen, öffentlichkeitswirksam vor dem Portal von Notre Dame.  ATMO Feuertod: prasselnde Flammen, Glocken, Schreie Erzählerin: Als man ihn zum Scheiterhaufen auf einer kleinen Seine-Insel schleppt, bittet er seine Henker, ihn mit dem Gesicht gegen Notre Dame anzubinden. Die Gottesmutter soll das Letzte sein, das seine Augen sehen.  Wenige Wochen danach stirbt Papst Clemens, ein umstürzender Leuchter steckt seinen Katafalk – also das schwarz verhängte Gerüst, auf dem sein Sarg steht - in Brand. Im November fällt König Philipp einem Jagdunfall zum Opfer. Für das abergläubische Volk lauter Anzeichen eines Gottesurteils. Verstörender Musikakzent TC 15:10 -  Justizskandal  Erzähler: Die Liquidierung des Templerordens war ein Justizskandal, ein durchsichtiger Trick, seine Macht zu brechen und an seine Schätze zu kommen, da sind sich viele Forscher, wie Andreas Beck sicher. Und deswegen sollten sie nachträglich rehabilitiert werden, meint Andreas Beck: Zuspielung Beck 2 (1’08“; bitte den Schluss rausstreichen!): „Das Urteil stand von vornherein fest: Ich will euer Geld; der Papst war zu schwach, sich dagegen zu wehren, die Templer selbst waren innerlich ausgehöhlt und konnten sich auch nicht wehren; wenn sie zusammengehalten hätten, hätten sie den Philipp den Schönen ohne weiteres das Fürchten lehren können. Aber man sollte diesen Templerprozess wieder aufrollen, weil er Unrecht war. Papst Johannes Paul II. hat sich bei allen möglichen Menschen entschuldigt, bei den Zwangsbekehrungen, bei den Inquisitionen, bei allen möglichen, aber nicht bei den Templern.“ Erzählerin: Dem Papst könnte es die Rehabilitierung der Opfer erleichtern, dass die Historikerin Barbara Frale 2007 im vatikanischen Geheimarchiv hochbrisantes Aktenmaterial entdeckt hat: Aufzeichnungen mehrerer Kardinäle über den Prozess und vor allem ihre abschließende Entscheidung, die ausdrücklich im Namen und mit der Autorität des Papstes erfolgte. Daraus geht hervor: Die Templer hatten ihre Treue zur Kirche bekannt und für alles, was man ihnen vorgeworfen habe, Vergebung erbeten. Zweiter Zitator: „Daher ordnen wir an, dass sie losgesprochen und wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden.“ Erzählerin: Warum Papst Clemens das entlastende Dokument damals nicht veröffentlicht hat, das kann Barbara Frale allerdings auch nicht erklären. Sie vermutet, König Philipp habe ihn eingeschüchtert und bedroht. Immerhin ließ der Papst dem Orden ein Hintertürchen offen, indem er ihn nur suspendierte, nicht auflöste. Markanter Musikakzent TC 16:52 – Legenden und Verschwörungen Erzähler: Was wurde aus den überlebenden Templern? Aus denen, die nach einem erzwungenen Widerruf aus den Gefängnissen entlassen wurden oder die sich der Verhaftung durch Flucht entzogen hatten? Franjo Terhart hat eine ganz bestimmte Vermutung: Zuspielung Terhart 1 (1’17“, den ersten Satz bitte streichen): „Wenige Tage vor diesem berühmten Freitag 1307 hat sich eine Flotte von Schiffen von La Rochelle, das war damals der größte Hafen am Atlantik, der größte Hafen der  Templer, abgesetzt, und diese Flotte wurde nie mehr gesehen. Also da ist die Frage: Wo ist diese Flotte geblieben, sind da Schiffe untergegangen? Nein, also ich denke, die werden nach Schottland gesegelt sein, denn es gibt dort etwas sehr Faszinierendes, ich hab mir das angeschaut, auf der Mall of Kentaire, einer großen Halbinsel, von dort aus kann man wunderbar nach Nordirland rüber schauen, da finden sich Gräber dieser Templer, die damals dorthin geflohen sein müssen. Also es ist schon davon auszugehen, dass die Schotten die Templer aufgenommen haben und dass sich einige Templer dorthin flüchten konnten.“ Erzählerin: Die These vom Weiterleben der Templer in Schottland wird von etlichen durchaus seriösen Historikern vertreten. In Portugal und Spanien soll der Orden ebenfalls überlebt und bei der Reconquista, der Zurückeroberung christlichen Territoriums von den Mauren, hervorragende Arbeit geleistet haben. Das rote Templerkreuz leuchtete von den Schiffen von Vasco da Gama und Christoph Kolumbus.  All die anderen spannenden Theorien von Geheimgesellschaften und im Untergrund agierenden Ritterbünden, von einem mysteriösen Orden namens Prieuré de Sion [gespr.: Sión], von verschütteten Krypten und erpresserischen Abbés, all diese Geschichten gehören vermutlich ins Reich der Phantasie. Ebenso wie die immer wieder auflebenden Spekulationen, die Templer hätten esoterisches und magisches Geheimwissen gehütet, und deshalb habe man sie liquidieren müssen.  Stoff auf jeden Fall genug für hartnäckige Verschwörungstheorien und Legenden. TC 18:51 – Outro 

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