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Alles Geschichte - Der History-Podcast

SINTI UND ROMA - Literatur im deutschsprachigen Raum

Dec 19, 2023
22:57

Jahrhundertelang wurden die Erzählungen der Sinti und Roma mündlich überliefert, doch seit dem 20. Jahrhundert blüht überall in Europa auch eine schriftliche literarische Tradition auf: in Deutschland vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Überlebenden der Konzentrationslager zur Feder greifen, um sich Gehör zu verschaffen in einer Gesellschaft, die sie bis heute an den Rand drängt.Der 19. Dezember ist der jährliche Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2022)

Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Silke von Walkhoff, Thomas Loibl
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz

Linktipps:

Deutschlandfunk (2022): Literaturen von Sinti und Roma – Aber es gibt ein Morgen
Ihre Literatur ist nahezu unbekannt: 2019 waren Sinti und Roma zum ersten Mal mit einem eigenen Stand auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. Ein Blick auf literarische Gegenentwürfe zu einer Welt der Intoleranz und Ignoranz.
ZUM BEITRAG

Deutschlandfunk (2020): Texte von Sinti und Roma – Aufbruch aus dem Verborgenen
Literatur über „Zigeuner“ gibt es zuhauf, viel mehr als über Sinti und Roma. Literatur von der größten ethnischen Minderheit Europas aber gibt es kaum. Erst seit dem Holocaust nimmt die Zahl ihrer Texte zu. Sinti und Roma schreiben zurück.
ZUM BEITRAG

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 00:44 – Papier hat Geduld: Die Schriftstellerin Ceija Stojka
TC 03:25 – Grenzgänge der Menschheit: Der Schriftsteller Jovan Nikolić
TC 05:54 – Eine tiefe Verwobenheit der Kulturen
TC 08:59 – Zivilisation der Liebe: Die Dichterin Philomena Franz
TC 15:15 – Bruch des Schweigens
TC 17:27 – Der Bannstrahl eines Volkes: Die Poetin Papusza
TC 19:56 – Das Ende der Kessel-Ära: Der Schriftsteller Ruždija Sejdović
TC 22:42 – Outro 
TC 00:15 – Intro 

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Ansage:

Sinti und Roma haben ihr reiches kulturelles Erbe jahrhundertelang mündlich überliefert, aber seit dem 20. Jahrhundert erheben sie auch als Literaten ihre Stimme. Im deutschsprachigen Raum mischen sich östliche und westliche Traditionen, die vom Leid der Verfolgung, von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und von dem konfliktreichen, aber auch fruchtbaren Verhältnis zu ihren europäischen Heimatländern erzählen.

MUSIK 1: „Remise“ – C1557040106 – 30 Sek

TC 00:44 – Papier hat Geduld: Die Schriftstellerin Ceija Stojka

ZITATORIN:

„Der Punkt war, dass ich mit jemandem reden wollte. Es war aber niemand da, der mir zugehört hätte, und Papier ist geduldig. Es hat mit dem Schreiben halt recht gehapert, aber wie ich einmal begonnen habe, sind die Erinnerungen nur so herausgeschossen. Danach hat es mir das Gefühl gegeben, es ist vollbracht, das ist jetzt die Wahrheit. 

MUSIK 2: „Föhrenwald“ - C1422880003 – 1:10 Min

ERZÄHLER:

Sagt Ceija Stojka, Schriftstellerin und Malerin, eine Romni aus Österreich. Wenn Sinti und Roma die Bühne der Literatur betreten, müssen sie vielen Schwierigkeiten trotzen, gegen weitverbreitete Klischees anschreiben, gegen Vorurteile und Ahnungslosigkeit, oft auch gegenüber dem Ausmaß ihrer jahrhundertelangen Verfolgung. Sie fand ihren Höhepunkt im Porajmos, so heißt der Holocaust in ihrer Sprache, dem Romanes, übersetzt: das Verschlingen. Hunderttausende Sinti und Roma wurden verfolgt und ermordet. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln. Schätzungen rechnen mit bis zu einer halben Million Todesopfer. Ceija Stojka wurde als zehnjähriges Kind nach Auschwitz deportiert und hat das Grauen überlebt. Bis zu ihrem Tod im Jahre 2013 war sie die engagierteste Stimme der österreichischen Roma. In ihrer Autobiographie „Wir leben im Verborgenen“, in ihren Gemälden und Gedichten sind die Lager immer gegenwärtig. 

ZITATORIN:

„du hast angst vor der finsternis?

ich sage dir, wo der weg menschenleer ist, 

brauchst du dich nicht zu fürchten. 

ich habe keine angst. 

meine angst ist in auschwitz geblieben 

und in den lagern.

auschwitz ist mein mantel, 

bergen-belsen mein kleid 

und ravensbrück mein unterhemd. 

wovor soll ich mich fürchten?“

ERZÄHLER:

Z 6399, diese Nummer wird dem kleinen Mädchen auf den Unterarm tätowiert und geht lebenslang nicht weg. Z für Zigeuner. Die meisten Sinti und Roma können das Wort nicht mehr ertragen. Andere wollen es wieder positiv besetzen und bezeichnen sich immer noch so. Denn die ursprüngliche Bedeutung ist zwar unklar, aber nicht negativ, mit „Gauner“ hat es jedenfalls nichts zu tun. In dieser Sendung wird das Wort „Zigeuner“ auch zu hören sein – in historischen Kontexten oder wenn die Autoren sich selbst so nennen. Ansonsten sprechen wir von Sinti und Roma, das sind traditionelle Eigenbezeichnungen. Rom heißt „Mensch“.

MUSIK 3: „The Struggle within – C1595040106 - 55 Sek

TC 03:25 – Grenzgänge der Menschheit: Der Schriftsteller Jovan Nikolić

Und „Roma“ ist der Oberbegriff für eine sehr unterschiedliche Gruppe von Gemeinschaften im ost- und südosteuropäischen Raum, auch in Österreich. Sinti sind hauptsächlich in West- und Mitteleuropa zu Hause, vor allem in Deutschland. Im Laufe des Kosovo-Krieges kamen viele Roma als Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland, darunter auch zwei bedeutende Schriftsteller, Ruždija Sejdović und Jovan Nikolić. Nikolić, ein serbischer Rom, ist 1999 nach Deutschland emigriert und wohnt in Köln. Meistens schreibt er in serbischer Sprache. In „Weißer Rabe, schwarzes Lamm“, einer 2011 erschienenen Sammlung von Kurzprosa aus dem Drava-Verlag, gibt er zu erkennen, was es als Kind für ihn bedeutet hat, als „Zigeuner“ wahrgenommen zu werden.

ZITATOR: 

„Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie in ihm, vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, etwas zu brennen beginnt. Er ahnt, dass dieses Wort, voll einer unbekannten Gefahr, einen verhängnisvollen Einfluss nehmen wird auf sein künftiges Leben; dass es, den Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten, nach ihm schnappen und sein Herz mit den scharfen Zähnen des Spotts und der Verachtung heimsuchen wird.“

MUSIK 4: Sonate für Zymbal solo -71086750Z00 – 35 Sek

ERZÄHLER:

Jovan Nikolić zählt heute zu den wichtigsten Autoren aus der Gruppe der Roma, sein Werk wurde in 10 Sprachen übersetzt. Seine Dramen, Gedichte und Prosastücke entführen in surreale Bilderwelten zwischen Traum und Wirklichkeit, Vernunft und archaischer Magie. Grenzgänge, die zum Menschen gehören, nicht nur zu den Sinti und Roma. Auch wenn diese möglicherweise besonders viel davon verstehen.

ZITATOR: 

Hab ich dir gesagt, dass deinem Zimmer die Räder fehlen?

Während im Gespräch die Gespenster entschweben

Und die Körper in Schüben erbeben,

während uns im Nabel 

der Schlaf einholt,

reitet das Zimmerchen bis ans Ende der Nacht.

Denk dir die Dämmerung

Im Mittelpunkt

Des Unwahrscheinlichen:

Die Erde umrundend

Kehren wir zurück, 

woher wir gekommen. 

MUSIK 5:  „Melodie“ – C1399000104 - 50 Sek

TC 05:54 – Eine tiefe Verwobenheit der Kulturen 

ERZÄHLER:

Niković stammt aus einer Musikerfamilie. Musik, Tanz, Instrumentenbau, Kunsthandwerk, Puppenspiel, Schaustellerei, das sind Tätigkeiten, die sich mit Wanderschaft gut vertragen und in diesen Volksgruppen eine lange Tradition haben. Sinti und Roma haben ihren reichen Schatz an Liedern, Märchen und Erzählungen über Jahrhunderte mündlich überliefert. „Zigeunerbilder“ gibt es trotzdem in Hülle und Fülle, sie stammen allerdings aus der Kunst- und Kitschproduktion der Mehrheitsbevölkerung: dunkle, glutäugige Männer, verführerische Mädchen und dämonische alte Frauen, Tänzer, Sänger, Wahrsagerinnen, Zauberinnen, Messerstecher, Arbeitsscheue, Kindsräuber und Diebe, die die Wäsche von der Leine klauen. 

Die ersten schriftlichen literarischen Zeugnisse von Sinti und Roma selbst entstehen erst im 20. Jahrhundert, doch es werden schnell mehr. Ihre Literatur ist ein vielgestaltiges, europaweites, ja weltweites Phänomen, im deutschen Sprachraum noch viel zu wenig bekannt. Viele Menschen wissen gar nicht, wie tief die Kultur der Sinti und Roma und die europäischen Kulturen ineinander verwoben sind, sagt Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma: 

01 O-TON 14.45 ROSE

Die europäische Klassik von Beethoven, Liszt, Händel usw., da haben die Roma in Ungarn einen hohen Beitrag geleistet. Das ist auch von den großen Komponisten anerkannt worden. Das wollen wir stärker in die Öffentlichkeit stellen. Zum Beispiel: Wer weiß schon, dass der Flamenco in Spanien seinen Ursprung bei der Minderheit hatte, die ihn aus ihrer ursprünglichen Heimat Indien vor 1000 Jahren den Kathak, das war ein Fußtanz gewesen, nach Europa, nach Spanien gebracht haben, und dass das heute zum europäischen Kulturerbe gehört. Weiß niemand. Wissen Sie, die Erfahrungen der Geschichte, das Negative, ist eine Sache. Zur Versöhnung müssen jetzt die kulturellen Leistungen der Minderheit kommen.

ERZÄHLER:

Das Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, hat viel Ähnlichkeit mit dem Sanskrit und weist Indien als ihre ursprüngliche Heimat aus. Vor 900 Jahren brachen sie unter dem Druck von Kriegen und sozialen Konflikten von dort auf, vor etwa 600 Jahren kamen sie in deutschen Gebieten an. Erst seit kurzer Zeit gibt es Bemühungen, das Romanes zur Schriftsprache zu entwickeln, doch erweist sich das als eine echte Herausforderung. In jedem Land hat es viele Wörter der jeweiligen Landessprache in sich aufgenommen und sehr unterschiedliche Dialekte herausgebildet. Umgekehrt funktioniert die Bereicherung ebenso, wenn auch schwächer. Wörter wie „Zaster“, „Kaschemme“, „Kaff“ und der Ausdruck „Null Bock haben“ kommen aus dem Romanes. 

Sinti leben seit 600 Jahren in Deutschland. Das ist ihr Land, und sie fühlen sich ihm eng verbunden. 

ATMO Veranstaltung Philomena Franz

TC 08:59 – Zivilisation der Liebe: Die Dichterin Philomena Franz 

Am 21. Juli 2022 hat die Dichterin Philomena Franz, eine deutsche Sintezza, ihren 100sten Geburtstag gefeiert. Es gab einen Dankgottesdienst, eine Tagung mit Vertretern der Bundesregierung, des Europaparlaments, der Wissenschaft, ein Konzert, ausgerichtet vom Philomena-Franz-Forum in Rösrath in der Nähe ihres Wohnorts Bergisch Gladbach. Die Jubilarin nimmt an allem teil. Der Dichter und Essayist Matthias Buth, Leiter des Forums, kennt Philomena Franz seit Jahrzehnten.

03 O-TON BUTH 013

Philomena Franz ist für mich die Mutter Courage Deutschlands. Sie steht für mich für die Zivilisation der Liebe. Sie hält am Lied fest. Und am Gebet. Das sind beides Projektionen auf eine andere Welt, auf eine andere Zukunft. Deswegen ist es mir gar nicht so wichtig, ob sie eine Sintezza ist oder eine Roma oder was auch immer. Sie ist ein umfassender, liebenswürdiger Mensch, ein mütterlicher Mensch.

04 O-TON PHILOMENA FRANZ 003 1.40

Die Muttergottes ist immer unsere Schutzpatronin gewesen. Früher haben sie immer gesagt, die Sinti glauben nicht an Gott, die sind gottlos, aber nein: Die Sinti waren die richtigen Christen. Die Sinti sind zu ihrem Herrgott hingegangen und haben mit ihm geredet. Nicht nur gebetet. Geredet. Lieber Gott. Zeig, dass du da bist. Dass wir deine Kinder sind. Und dann ist wirklich mal ein Wunder geschehen. 

ERZÄHLER:

Bis heute kommt es Philomena Franz wie ein Wunder vor, dass sie drei Konzentrationslager überlebt hat. Nach dem Krieg geht sie in Schulen, später auch in Volkshochschulen, in die Universitäten, in die Medien, um Aufklärungsarbeit zu leisten. „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich“, das ist ihr Lebensmotto, das sie vor allem Kindern ans Herz legen will.

05 O-TON PHILOMENA FRANZ 005:

Ich hab ja für die Kinder zuerst Märchen geschrieben. Das war für mich wichtig. Denn ich hab gedacht, das ist die Generation, die einmal hier regiert. 

ERZÄHLER:

Philomena Franz‘ Zigeunermärchen sind in Buchform erhältlich. Zwischen den einzelnen Geschichten gewährt die Dichterin Einblicke in die Bräuche und Lebensweise ihrer Volksgruppe. Das Wort Zigeuner findet sie bis heute nicht anstößig.

Musik 6: „Hamburg“ – C1546450112 – 30 Sek

ZITATORIN: 

„Philomena: diesen Namen tragen viele Zigeunermädchen, und dieser Name bedeutet bei uns so viel wie Nachtigall. Bei uns Zigeunern bekommen Kinder sehr oft Namen von Vögeln und anderen Tieren; von Blumen, Früchten und andren Dingen, die die Natur uns schenkt. Ich kenn zum Beispiel einen Spatzo – das ist, wie du natürlich sofort gemerkt hast, unser Spatz“.

06 O-TON PHILOMENA FRANZ 3.00

Und dann hab ich denen von Auschwitz erzählt. Das waren dann schon die 14- und 15Jährigen, die Abgänge. Wie die Kinder gelitten haben. Und dann diese Angst. Kommen wir jetzt ins Krematorium, sind wir heute dran. Ich hätte nie gedacht, dass das die Kinder so angreift. Selbst der Rektor hat mitgeweint. Und hat gesagt: Frau Franz. Sie bringen das so weich und so ohne Anklage. Aber Sie bringen es den Kindern bei.“

ERZÄHLER:

Philomena Franz veröffentlicht ihre Erinnerungen im Jahr 1984 unter dem Titel „Zwischen Liebe und Hass“. Sie erzählen von einer glücklichen Jugend im Schoß einer großen, traditionsreichen, sehr erfolgreichen und sehr wohlhabenden Musikerfamilie, sie erzählen von der qualvollen Zeit in den Konzentrationslagern.

ZITATORIN

„Wenn ich einiges über die Liebe niederschreiben darf, was für manche vielleicht schlicht klingt, dann deshalb, weil ich das System des Nationalsozialismus in krassem Gegensatz dazu erlebte.“

ATMO Veranstaltung Philomena Frank (Musik, 50 Sek) 

Schon als Kind tanzt und singt Philomena auf den großen europäischen Unterhaltungsbühnen, im Wintergarten in Berlin, im Lido in Paris. Philomena liebt das sommerliche Reisen im großen, prachtvollen Wohnwagen durch die lieblichen Landschaften Baden-Württembergs.

ATMO Frühlingswiese

ZITATORIN:

„Ich sitze unter einer Linde, die voller Vögel und Bienen ist. In der Stille wird die milde Hitze des Maimorgens spürbar: die Bienen, die Schmetterlinge. Ein schweigender und ein glühender Tag. Ich singe mit. Und aus dem großen Lindenbaum braust mir der Beifall der Vögel entgegen. Ach ja, das war eine schöne Zeit. Wir leben mitten in der Natur. Wir sind ein Stück von ihr.“

MUSIK 8: Terror drone - Z8031293117 – 50 Sek

ERZÄHLER:

Dann folgt der Sturz in die Hölle. Nazi-Deutschland, das bedeutet für die kaum 18-Jährige: drei Jahre härteste Zwangsarbeit, danach zwei Jahre Konzentrationslager, Auschwitz, Ravensbrück, Oranienburg. Hunger, Demütigung, Schläge. Der Foltertod der Schwester. Scheinhinrichtung, acht Tage Stehbunker nach einem gescheiterten Fluchtversuch. Philomena muss die Asche vergaster und verbrannter Menschen mit bloßen Händen auf einen Lastwagen schütten. In diesen Jahren verliert sie ihre gesamte Familie, Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, sieben Geschwister. Nur ein Bruder überlebt. 

07 O-TON PHILOMENA 2.35

Wir halten unsere Toten sehr in Ehren. Die leben ja weiter. Es kann ja sein, dass sie bei uns sind, sehen, was wir machen. Ob wir was Schlechtes oder was Gutes machen. Machen wir was Gutes, freuen sie sich. Einfache Worte, aber sie wiegen sehr viel.

MUSIK 9: „Föhrenwald“ –  C1422880003 – 40 Sek

ZITATORIN:

Als ich ein Kind war, 

sah ich die Steine als Blumen,

bunt waren die Tränen der Hoffnung. 

Rot und blau und gelb

Blühten sie lächelnd im Beete der Kindheit.

Um meine Schultern den Mantel der Farben,

weiß ich heute, dass es ein Traum war, 

ein Traum, der mich zum Leben zwang.

Trunken vom Leben steh ich heute farblos

Und halte Ausschau nach dem wirklichen Sein.

Mein taubes Lächeln

Zeigt nur in steinige Gärten,

ich sehe den Schein zu vieler Narben.

TC 15:15 – Bruch des Schweigens

ERZÄHLER:

1982 erkennt die Bundesrepublik den Völkermord an den Sinti und Roma endlich an. Dank der Bürgerrechtsbewegung um den jungen Romani Rose wird die Öffentlichkeit auf ihr Schicksal aufmerksam. Ein Resonanzraum für ihr Schreiben entsteht, in dem die Überlebenden Gehör finden. Latscho Tschawo, Alfred Lessing, Walter Winter, Lolo Reinhardt, Otto Rosenberg, Krimhilde Malinowski, Hugo Höllenreiner und, in Österreich, die Romni Ceija Stojka schreiben über die erlittenen Qualen. 

Auch Entschädigungsansprüche können jetzt nicht mehr so einfach abgeschmettert werden wie früher, als die Behörden der jungen Bundesrepublik behaupteten, Sinti und Roma seien nicht rassistisch verfolgt, sondern kriminell und wegen Verbrechensbekämpfung im Lager gewesen. Für diese Lüge gab es Gründe, sagt der Historiker Frank Reuter, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg.

08 O-TON REUTER 3.30 

Im Grunde war die Kriminalisierung der Opfer Voraussetzung dafür, dass sich die Tätergesellschaft selbst entlasten konnte. Die Deportation zum Beispiel. Da sind ja nicht nur ein paar SS-Leute beteiligt. Da ist die komplette kommunale Verwaltung involviert. Und gerade auch die Funktionseliten der Kriminalpolizei waren zutiefst involviert in die Deportation auch von Kindern und Säuglingen. Um das zu verdrängen, um sich davon reinzuwaschen, mussten die Überlebenden kriminalisiert werden.

ERZÄHLER:

Es ist schwer für die Überlebenden, das Schweigen zu brechen. Die Angst sitzt tief, die Schulbildung ist unter den Bedingungen der Nazizeit bruchstückhaft geblieben. Sie wissen oft auch nichts von den literarischen Leistungen anderer Roma in anderen Ländern. Nichts von Mateo Maximoff, der 1939 als erster Rom einen Roman verfasst hat, in Frankreich im Gefängnis. Dort sitzt der 22-Jährige ein, weil er an blutigen Auseinandersetzungen zwischen zwei Roma-Stämmen beteiligt gewesen war. 

Buchstaben hat Maximoff als Kind vom Vater gelernt, der als Kesselschmied ein paar Grundkenntnisse hatte, und gelesen hat er seither alles, was ihm in die Finger kam. 

TC 17:27 – Der Bannstrahl eines Volkes: Die Poetin Papusza

Der Roman „Die Ursitory“, das sind die drei Schicksalsparzen der Roma-Mythologie, gewährt Einblick in die Normen, Regeln und Werte der Roma. Der Text entführt den Leser in eine archaische Welt mit blutigen Stammesfehden und strengen Regeln, durchdrungen von uralten Mythen. Freundliche Begegnungen mit der Mehrheitsbevölkerung sind möglich, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Wer dem eigenen Stamm untreu wird oder ihm schadet, den trifft der Bannstrahl. 

Papusza, die große Poetin der polnischen Roma, hat so einen Bann zu spüren bekommen. Ihre Eltern und ihr Stamm sind sehr dagegen, dass sich das um 1910 geborene Mädchen selbst lesen und schreiben beibringt. Sie sind auch beunruhigt, als ein polnischer Dichter ihre Begabung entdeckt und ihr Publikationsmöglichkeiten verschafft. Papusza schreibt über die Schönheiten der Natur und des Zigeunerlebens, später über die Schrecken der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Sie weiß genau, dass ihr Erscheinen auf der literarischen Bühne sie unerbittlich von ihrem Volk entfremdet

ZITATORIN:

Längst entschwunden sind die Zeiten

der Zigeuner, die gewandert.

Ich aber seh sie, hurtig wie Wasser,

stark und durchscheinend.

Man kann es hören,

wie's wandert,

wie's Lust hat zu reden.

Aber das Arme – es kennt keine Sprache

außer dem Rauschen und Silbergeplätscher.

ERZÄHLER:

Papusza will nicht gespensterhaft durchsichtig sein wie das Wasser. Sie will gesehen und verstanden werden, sie will schreiben. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Nach dem Krieg wendet sich ihr eigener Stamm gegen sie. Man wirft ihr vor, Geheimnisse verraten zu haben, Polizei und Behörden in die Hände zu arbeiten. Papusza wird vom Ältesten des Clans für rituell unrein erklärt und aus dem Clan ausgestoßen. Sie muss psychiatrisch behandelt werden und wird sich bis zu ihrem Tod im Jahre 1987 nie völlig erholen.

ZITATORIN: 

„Ich aber schreibe, wie ich kann

Auch wenn ich oftmals Tränen weine

Und hinterlasse ‚was‘ den Menschen

Die Welt erkennt mich und erinnert sich…“

MUSIK 10: „The struggle within“ – C1595040106 – 1 Min.

TC 19:56 – Das Ende der Kessel-Ära: Der Schriftsteller Ruždija Sejdović

ERZÄHLER:

In den osteuropäischen Ländern hat sich viel früher als im Westen eine Intellektuellenschicht unter den Roma herausgebildet, denn die kommunistischen Länder hatten effiziente Förderungsprogramme. Von ihnen profitierte auch Ruždija Sejdović aus Montenegro, Sohn eines Kesselschmieds. Er hat Literaturwissenschaft studiert, bevor er 1998 vor dem Kosovo-Krieg nach Deutschland floh. Heute lebt er wie Jovan Nikolić in Köln. Sejdović beschäftigt sich viel mit der Verschriftlichung des Romanes und schreibt auch oft in dieser Sprache. Der Erzählband „Der Eremit“ aus dem Jahre 2017, enthält eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Lord Byron und die Kessel“.

Darin erinnert sich der Autor an seine Kindheit, als eine Leidenschaft von ihm Besitz ergriff, die in den Traditionen seiner Familie keinen Platz hat. 

ZITATOR: 

„Waren es Bücher, auf die ich Hunger hatte? Diese Frage hämmerte auf mich ein wie eine Faust auf einen Betrunkenen. Ja, ich war hungrig auf Bücher! (…). Bücher, die Revolutionen auslösten, die zur Liebe inspirierten und Bücher, aus denen man etwas über mein Volk, meine Sprache, mein Dasein erfahren konnte. Bücher, über die man weinte, Bücher, die man verbrannte.“

ERZÄHLER:

Die Szene spielt auf einem Schrottplatz. Der Vater, der Kesselschmied, sucht dort nach verwertbarem Metall. Sein kleiner Sohn aber interessiert sich mehr für den Büchercontainer, wühlt begeistert darin herum. Eines der Bücher nimmt er mit. Was ist das für ein Buch, will der Vater wissen. Der Junge schlägt mit zitternden Händen die Titelseite auf und liest es ihm vor. George Gordon Byron. Ein für beide noch unbekannter Name, aber die ultimative Verführung.

ZITATOR: 

„Bei unserer Rückkehr nach Hause wusste ich, dass sich die Ära der Kessel meiner Vorfahren Lord Byrons wegen dem Ende zuneigte. Die Hände auf den Magen gepresst, weinte ich in meiner Ecke die ganze Nacht im Schlaf.“

MUSIK 11: „The struggle within“ – C1595040106 – 40 Sek

ERZÄHLER:

In Montenegro ist Ruždija Sejdović ein angesehener Schriftsteller, dessen Werke auf Serbisch und Romanes erscheinen. In Deutschland wird es wohl noch eine Weile dauern, bis diese neue Literatur aus ihrer Nische herausfindet. Es wäre ihr zu wünschen. Denn diese Texte erzählen, jenseits aller Folklore, vom kulturellen Erbe der Sinti und Roma, das tief in die europäische Kultur verwoben ist, und sie entwickeln diese konfliktreiche, aber auch fruchtbare Beziehung weiter. 

MUSIK aus.

TC 22:42 – Outro 

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