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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Feb 16, 2024 • 24min

BLACK HISTORY - Afrikas Ausverkauf auf der Berliner Konferenz

Wer sich die Staatsgrenzen afrikanischer Staaten auf der Landkarte anschaut, sieht, dass manche von ihnen wie mit dem Lineal gezogen wirken. - Und genauso war es auch. Auf der sogenannten Berliner Konferenz oder Kongo-Konferenz von 1884/85 fand der koloniale Ausverkauf Afrikas statt. Februar ist "Black History Month". Von Gerda Kuhn (BR 2009) Credits Autorin: Gerda Kuhn Regie: Dorit Kreissl Es sprachen: Christiane Roßbach, Rainer Buck Technik: Lydia Schön Redaktion: Brigitte Reimer Im Interview: Dr. Thomas Reinhardt Linktipps:Deutschlandfunk Kultur (2020): Europas koloniales Erbe in Afrika Europas Kolonialismus hat den afrikanischen Kontinent geprägt und tut das bis heute. Höchste Zeit, dass Europa sich dekolonisiert, sagen Experten. Dabei geht es um Wirtschaftsbeziehungen ebenso wie um Kultur. JETZT ANHÖREN ARD alpha (2024): Die Erfindung des Rassismus in FarbeEine Pioniertat prägt in jahrzehntelang das Bild von Afrika und den Afrikanern und legt ab dem Jahr 1907 die fotografischen Grundlagen des Rassismus: die Reise des jungen Fotografen Robert Lohmeyer (1879-1959) aus dem westfälischen Gütersloh in die deutschen Kolonien Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) und Deutsch-Ostafrika (heute Tansania). Er soll die Kolonien auf dem Höhepunkt des Imperialismus in Farbe fotografieren, um die Begeisterung der Bevölkerung für die fernen Besitzungen anzuregen. Es handelt sich um eine akribisch geplante PR-Aktion des Kaiserreichs. Es ist auch die "Erfindung" Afrikas und des Rassismus in Farbe, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 03:06 - Geiz und Prestige der europäischen Herrscher TC 05:05 - Mit Stift und Lineal TC 12:26 - Über alle Köpfe hinweg TC 15:35 - Die Flagge folgt dem Handel: Das deutsche Kolonialvorgehen TC 18:53 - Plünderung, Sklaverei und Gräueltaten TC 23:03 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: 00:15 – Intro Musik    (Pathetisch, patriotisch, getragen) ZITATOR [„Im Namen des Allmächtigen Gottes (…)“] ERZÄHLERIN „Artikel 6: Bestimmungen hinsichtlich des Schutzes der Eingeborenen, der Missionare und Reisenden, sowie hinsichtlich der religiösen Freiheit“: ZITATOR „Alle Mächte, welche in den gedachten Gebieten Souveränitätsrechte oder einen Einfluß ausüben, verpflichten sich, die Erhaltung der eingeborenen Bevölkerung und die Verbesserung ihrer sittlichen und materiellen Lebenslage zu überwachen und an der Unterdrückung der Sklaverei mitzuwirken.” ERZÄHLER: So pompös und vermeintlich nächstenliebend gibt sich die Präambel im Schlussdokument der Berliner Afrika-Konferenz 1885 - einer Zusammenkunft, die über das Schicksal von Millionen Menschen gleichsam am Pokertisch entscheidet. Mit dabei sind Deutschland, die USA, das Osmanische Reich sowie Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Portugal, Russland, Spanien und Schweden-Norwegen. Sie alle wollen den Eindruck erwecken, in göttlichem oder doch zumindest in christlichem Auftrag zu handeln. Tatsächlich aber verfolgen sie ausschließlich strategische und wirtschaftliche Eigeninteressen. So ist das eben im ausgehenden 19. Jahrhundert: den Mächtigen dieser Welt fällt es relativ leicht, sich und ihre Staaten als das Zentrum von Kultur und Zivilisation zu sehen, von dem aus der Rest der Welt huldvoll zu beglücken ist – notfalls auch mit Gewalt. Und natürlich im Namen Gottes. MUSIKAKZENT schrill, schräg, anklagend ERZÄHLERIN: Äußerer Anstoß für die Berliner Afrika-Konferenz – oder Kongo-Konferenz - ist die Frage, wer das Kongo-Becken ausbeuten darf: ein riesiges Gebiet entlang des zweitlängsten und wasserreichsten Flusses in Afrika. Europäer halten sich zu diesem Zeitpunkt allenfalls in den afrikanischen Küstenregionen auf; ins Landesinnere stoßen die wenigsten vor. Der Ethnologe Thomas Reinhardt von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität: O-Ton Reinhardt: „Die Kolonisierung hat begonnen kurz nach der Entdeckung des Chinins und der Malaria hemmenden Wirkung des Chinins. Davor war Afrika einfach dieses „Grab des weißen Mannes“.“ TC 03:06 – Geiz und Prestige der europäischen Herrscher ERZÄHLER: Das Interesse am Kongo wird durch den britischen Journalisten und Abenteurer Henry Morton Stanley geweckt. Als Reporter erhält er den Auftrag, den verschollenen Missionar und Afrika-Forscher David Livingstone zu finden. Er entdeckt ihn schließlich halbverhungert am Tanganijka-See. In den folgenden Jahren durchquert Stanley Afrika von Osten nach Westen. Er wird zum selbsternannten Kongoforscher; braucht dafür aber Geldgeber. MUSIK afrikanisch, rhythmisch ERZÄHLERIN: Als sein Heimatland England kein Interesse zeigt, schafft Stanley es, Leopold II. für seine Idee zu begeistern. Der belgische Monarch aus dem deutschen Adelsgeschlecht Sachsen-Coburg und Gotha ist seit langem auf der Suche nach Möglichkeiten, sein Selbstwertgefühl und seine finanziellen Mittel zu vergrößern. Das Kongogebiet, reich an Bodenschätzen, Anbauflächen und wilden Tieren, verspricht ansehnlichen Profit. Doch Leopold ist clever genug, seine kolonialen Gelüste zunächst hinter vermeintlich noblen Zielen zu verstecken. Er wolle zur Erforschung Afrikas und zum Kampf gegen die Sklaverei beitragen, lässt er erklären. ZITATOR: „Es geht darum, den einzigen Teil des Globus, den die Zivilisation noch nicht durchdringen konnte, für sie zu öffnen und die Finsternis zu durchbrechen, die noch ganze Völkerschaften umgibt. Man muss einen Kreuzzug führen, der diesem Jahrhundert des Fortschritts würdig ist.“ ERZÄHLER: Im „Namen des Fortschritts“ wird die Unterjochung der Völker Afrikas vorbereitet. Dem schwarzen, dunklen – sprich: unzivilisierten – Kontinent soll das Licht des aufgeklärten Europa gebracht werden. Soweit die offizielle Lesart. Doch wie so oft in der Geschichte sind Lippenbekenntnisse das eine, Realpolitik das andere. Beim großen Run auf Kolonien geht es vor allem um das Machtgleichgewicht in Europa. Als man in Deutschland beginnt, an ein Kolonialreich zu denken, ist die Welt eigentlich schon vergeben. Engländer, Spanier, Portugiesen und Franzosen haben in Afrika, Asien, Australien und Amerika bereits riesige Gebiete unter ihr Protektorat gestellt. Deutschland, die „späte Nation“, schafft erst 1871 die Reichsgründung, jetzt erst beginnt man in Berlin darüber nachzudenken, wie auch die Deutschen „einen Platz an der Sonne“ – sprich: ein Kolonialreich - ergattern könnten. ERZÄHLERIN: Dabei ist Bismarck, der große Jongleur der Macht, zunächst nicht an Kolonien interessiert. Er zweifelt an ihrer Wirtschaftlichkeit und ihrem strategischen Wert. Aber die weltweite britische Kolonial-Vorherrschaft verfolgt auch er mit Unbehagen. Die alte Seemacht England hat schon früh ihre Einfluss-Zonen gesichert. Vor allem das britische Kolonialreich in Indien weckt den Neid der europäischen Konkurrenten. Der indische Subkontinent gilt als das „schönste Juwel in der britischen Krone“. Kein Wunder, dass sich auch in anderen Ländern gekrönte und ungekrönte Häupter mit derartigen Juwelen schmücken wollen. ERZÄHLER: Über Bismarcks wahre Motive bei der Kongo-Konferenz ist viel spekuliert worden. Immerhin schreibt er in verblüffender Ehrlichkeit an den Rand einer Passage in der Konferenzvorlage das Wort „Schwindel“. Doch 1884 stehen Wahlen vor der Tür und Bismarck muss Rücksicht nehmen auf die mit ihm verbündete Nationalliberale Partei, die bereits deutlich vom „Kolonialfieber“ infiziert ist. Immerhin ist der Besitz von Kolonien inzwischen in ganz Europa zu einer Frage des nationalen Prestiges geworden. TC 06:50 – Mit Stift und Lineal ERZÄHLERIN: Am 15. November 1884 ist es dann soweit: Die Herren treffen erstmals im Reichskanzlerpalais in der Berliner Wilhelmstraße 77 zusammen. Leopold II. hat die Konferenz eingefädelt, bleibt aber selbst im Hintergrund. Der Monarch schickt seinen Vertrauten vor, Baron Gerson Bleichröder, der auch für Bismarck als Bankier und Berater in internationalen Finanzfragen tätig ist. Leopold will den Reichtum des Kongo für sich, sozusagen als private Schatztruhe. Der Ethnologe Thomas Reinhardt: O-Ton Reinhardt: „Leopold II., König von Belgien, ist eine der zentralen Figuren bei dieser Konferenz, obwohl er selbst überhaupt nicht da war. Leopold hat in den 1870er Jahren eng zusammengearbeitet mit Henry Morten Stanley, der den Kongo überhaupt erst einmal kartographiert hatte; es war ja lange Zeit völlig unbekannt, wo der Kongo entspringt, und Leopold hatte vor, so eine Art Privatreich einzurichten im Kongobecken, und das war einer der Punkte, der verhandelt werden sollte: Wie soll mit diesem Riesengebiet umgegangen werden? Soll es in eine Freihandelszone umgewandelt werden? Stanley hat tatsächlich im Auftrag Leopolds an dieser Konferenz teilgenommen.“ ERZÄHLER: Als eher unbedeutender Staat braucht Belgien für seine Kongo-Pläne die Zustimmung oder zumindest die Duldung der großen europäischen Mächte. Immerhin erhebt inzwischen Portugal Anspruch auf die Kongo-Mündung. Dem deutschen Reichskanzler wird die Afrika-Konferenz durch das Versprechen schmackhaft gemacht, er könne sich als „ehrlicher Makler“ profilieren. Welcher Politiker verzichtet schon gerne auf die Chance, das eigene Image kräftig aufzupolieren? Musikakzent: Afrikanische Trommeln ERZÄHLERIN: Die „Kongo-Konferenz“ wird in Berlin wochenlang angekündigt. An vielen Plätzen der Stadt hängen Plakate, die für „Völkerschauen“ mit afrikanischen Tänzern im Berliner Zoo werben. Kitschige Postkarten mit kolonialen Motiven sind in Mode. Auch ideologisch wird in der Presse und in öffentlichen Diskussionen das Terrain bereitet. Die Propaganda behauptet, in Afrika gäbe es noch „Niemandsland“ zu verteilen, sogenannte „weiße Flecken“. Diese müssten vermessen und besiedelt werden. Die einheimische afrikanische Bevölkerung gehört dieser Logik zufolge zur Kategorie „niemand“. ERZÄHLER: Die Delegierten, die drei Monate lang in Berlin konferieren werden, haben wenig Ahnung von Afrika, dafür aber relativ genaue Vorstellungen, welchen Gewinn sie sich für ihr eigenes Land erhoffen. Allerdings macht sich kein Staatsoberhaupt die Mühe, extra zu der Konferenz nach Berlin zu reisen. Thomas Reinhardt: O-Ton Reinhardt: „Es lief wohl so ab, dass das Botschaftspersonal, das in Berlin ohnehin versammelt war, an dieser Konferenz teilnahm. Das war also keineswegs die erste Garde der jeweiligen Diplomatie, sondern es waren die Vertreter der einzelnen Nationen in Deutschland, zum Teil auch durchaus untergeordnetes Botschaftspersonal.“ ERZÄHLERIN: Der Konferenzsaal wird von einer fünf Meter hohen Afrika-Karte dominiert. Zwar fehlt darauf das eine oder andere geographische Detail, doch allzu sehr wollen sich die Versammelten ohnehin nicht in Einzelheiten verlieren. Lord Salisbury, der britische Delegationsleiter, gibt später in einem Interview mit der London Times zu: ZITATOR: „Wir haben Linien auf Karten eingetragen, in Gegenden, die noch nie ein Weißer betreten hat; wir haben uns gegenseitig Berge und Flüsse und Seen zugesprochen, mit dem einzigen kleinen Schönheitsfehler, dass wir niemals genau wussten, wo diese Berge und Flüsse und Seen lagen.“ ERZÄHLERIN: Es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, … O-TON Thomas Reinhardt: … dass die meisten Delegierten der Konferenz von Afrika nicht mehr wussten als auf den Servietten abgedruckt war – nämlich eine Umrisskarte des Kontinents. ERZÄHLER: Doch solche „Schönheitsfehler“ halten die Europäer nicht auf. Vom großen Kuchen Afrika wollen sich alle ein Stück abschneiden. Zwar fallen auf der Konferenz noch keine Entscheidungen über den Verlauf der künftigen Grenzen, aber die Modalitäten für den Ausverkauf Afrikas werden festgelegt. Später wird es auf der Landkarte aussehen, als seien in Afrika manche Ländergrenzen schnurgerade wie mit dem Lineal gezogen worden - quer zu den Lebensräumen der afrikanischen Bevölkerungsgruppen. Zusammengehörende Völker werden auseinandergerissen, verfeindete Gruppen in einem neuen Kunststaat zusammengepfercht. Die Grundlage vieler ethnischer Konflikte, die den afrikanischen Kontinent bis heute erschüttern, ist gelegt. O-TON Thomas Reinhardt: „Es gibt bestimmt Fälle, in denen eine dieser kerzengeraden Grenzen mitten durch das Siedlungsgebiet einer Ethnie verläuft. Ich glaube aber, das viel, viel größere Problem ist, welche Gesellschaften wurden gezwungen, innerhalb von Staatsgrenzen zusammen zu leben. Nehmen wir ein Land wie Nigeria, ein Land, in dem 250 radikal verschiedene Sprachen gesprochen werden, wo es traditionell eine Reihe größerer Staatsgebiete gab, die durch die koloniale Grenzziehung plötzlich gezwungen waren, so etwas wie eine nationale Identität aufzubauen, und das hat ja in den wenigsten Fällen geklappt.“ TC 12:26 – Über alle Köpfe hinweg ERZÄHLERIN: Welche hehren Worte die Vertreter der 14 Konferenz-Teilnehmerstaaten auch offiziell für ihr Vorhaben finden – besonders beliebt ist das Argument, man wolle die Sklaverei bekämpfen – eine Tatsache ist nicht zu übersehen: Kein einziger Afrikaner sitzt am Berliner Konferenztisch. Die, über deren Schicksal entschieden wird, sind nicht präsent. Der britische Botschafter, Sir Edward Malet, in seiner Eröffnungsrede: ZITATOR: „Ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass in unserem Kreis keine Eingeborenen vertreten sind, und dass die Beschlüsse der Konferenz dennoch von größter Wichtigkeit für sie sein werden." MUSIK afrikanisch, rhythmisch ERZÄHLER: Von größter Bedeutung werden die Entscheidungen für die afrikanische Bevölkerung in der Tat sein. Sie sind der Startschuss für die rasche und umfassende Kolonialisierung Afrikas. O-Ton Thomas Reinhardt: „Mitte der 1870er Jahre waren etwa zehn Prozent Afrikas von Europäern offiziell in Besitz genommen, 25 Jahre später war es praktisch der gesamte Kontinent.“ ERZÄHLER: Mit den Kolonialherren kommen die Kolonialsprachen. Ihre Beherrschung ist Voraussetzung für alle, die in Staat und Verwaltung arbeiten wollen. Und natürlich dominieren sie auch an den Schulen – an denen vor allem Geschichte und Kultur der jeweiligen Kolonialmacht vermittelt werden. So lernen Generationen von jungen Afrikanern alles über Shakespeare, ohne jemals auch nur eine einzige Zeile eines einheimischen Schriftstellers gelesen zu haben. Ähnliches gilt für den französischsprachigen Raum: O-Ton Thomas Reinhardt „Aus den französischen Kolonien kennen wir diese Geschichten von den Schulbüchern, den Lesefibeln, die beginnen mit Ausführungen über „Unsere Vorfahren, die Gallier“ – was natürlich absurd ist, wenn man es im Senegal liest oder in Kamerun.“ MUSIK afrikanisch, rhythmisch ERZÄHLERIN: Lange Zeit überlässt die deutsche Politik in Sachen Kolonialismus den Kaufleuten das Feld – auch wenn sich beide Seiten insgeheim die Bälle zuspielen. Reisende und Abenteurer machen die deutsche Regierung auf vermeintlich „herrenlose“ afrikanische Gebiete aufmerksam. Wo immer ein Stück Land entdeckt wird, auf das keine andere Kolonialmacht Anspruch erhebt, wird die eigene Fahne gehisst. ERZÄHLER: Ein auch bei den Deutschen beliebtes Verfahren ist es, mit afrikanischen Stammesführern sogenannte „Schutzverträge“ abzuschließen. Die einheimischen Clanchefs, die meist weder lesen noch schreiben können, wissen in der Regel gar nicht, was sie unterschreiben. Was es beispielsweise bedeutet, sich „unter den Schutz des deutschen Reiches“ zu stellen. Eine der folgenreichsten Klauseln lautet: ZITATOR: "… dass alle Arbeiten, Verbesserungen oder Expeditionen, welche die genannte Association zu irgendwelcher Zeit in irgendeinem Teil dieser Gebiete veranlassen wird, durch Arbeitskräfte oder auf andere Weise unterstützt werden." ERZÄHLERIN: Den Kolonialmächten dienen derartige Formulierungen später als Rechtfertigung, die afrikanische Bevölkerung zur Zwangsarbeit zu verpflichten. TC 15:35 – Die Flagge folgt dem Handel: Das deutsche Kolonialvorgehen ERZÄHLER: Auch der berüchtigte Abenteurer Carl Peters schließt nach diesem Muster einen angeblichen "Vertrag", der ihm weite Gebiete Ostafrikas zugesteht - "für ein paar Flinten", wie Otto von Bismarck spottet. Peters tut sich besonders als Propagandist für ein deutsches Kolonialreich hervor: ZITATOR: „Genau wie Deutschland nach der aktiven, so ist Ostafrika kolonisationsbedürftig nach der passiven Seite hin. Die üppigen Landschaften, verödet durch jahrhundertelange Sklavenjagden, liegen da wie die Obstbäume der Frau Holle und harren der Hand, die bereit ist, den reichen Segen zu ernten. Selbst in den Schwarzen dämmert die Erkenntnis auf, dass es besser mit ihnen werden wird, wenn Weiße als Herren des Landes unter ihnen wohnen.“ (….) MUSIK ERZÄHLERIN: Peters erwirbt in Ostafrika Gebiete ohne offizielle Genehmigung der deutschen Regierung. Für 2000 Reichsmark kauft er ein Gebiet so groß wie ganz Süddeutschland. 1884 gründet er die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“, die deutsche Siedler zur Auswanderung nach Afrika ermuntern soll. In Berlin verhält man sich zunächst abwartend. Doch als Peters droht, mit dem belgischen König Leopold II. zu verhandeln, gerät man unter Druck. O-Ton Reinhardt: „Meine Vermutung wäre, dass doch die Initiative zunächst von privaten Kaufleuten ausging. Also die Gesellschaft für deutsche Kolonien etwa, die relativ große Landgebiete in Afrika schon erworben hatte und die einfach auch geschützt wissen wollte, in militärischer Weise, durch eine offizielle Kolonisierungspolitik.“ MUSIK   preußisch, militärisch ERZÄHLER: Aus Berlin gibt es nun "kaiserliche Schutzbriefe" für die okkupierten Gebiete. Mit Bismarcks berühmtem Telegramm an den deutschen Generalkonsul in Kapstadt am 24. April 1884 beginnt die deutsche Kolonialgeschichte. Er stellt darin die Erwerbungen von Adolf Lüderitz in Angra Pequena, dem heutigen Lüderitzbucht in Namibia, unter den Schutz des Deutschen Reiches. Das Gebiet umfasst 580 000 Quadratkilometer mit rund 200 000 Einwohnern. Die deutsche Herrschaft in der späteren Kolonie Deutsch-Südwestafrika wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Massenmord an den Herero und Nama zu trauriger Berühmtheit gelangen. ERZÄHLERIN: Peters wird übrigens auch später noch Schlagzeilen machen: So erschließt er den Kilimandscharo mit Waffengewalt für Deutschland und empfiehlt dem Auswärtigen Amt, die dort ansässigen Warombo … ZITATOR: … „auszurotten wie die Rothäute Amerikas, um ihr breites und fruchtbares Gebiet der deutschen Kultivation zu gewinnen“. Musikakzent bitter, anklagend ERZÄHLERIN: Bismarck, der an der Kongo-Konferenz lediglich zu Beginn und zum Abschluss teilnimmt, tritt dafür ein, dass Afrika zur Freihandelszone wird. Im Klartext bedeutet das: Es soll keine Hindernisse geben für die Ausbeutung von Rohstoffen und Bodenschätzen. Der Hunger nach diesen Gütern ist durch die Industrialisierung in Europa immens gewachsen. TC 18:53 – Plünderung, Sklaverei und Gräueltaten  ERZÄHLER: Am Ende der Konferenz - man schreibt inzwischen den 26. Februar 1885 – haben sich die 14 Teilnehmerstaaten weitgehend geeinigt: O-Ton Thomas Reinhardt „In politischer Hinsicht das wichtigste Ergebnis war, das wirklich festgelegt wurde, auf welche Weise kann, darf, soll die Kolonisierung Afrikas künftig erfolgen? Das war durchaus ein dringendes Bedürfnis, denn in den späten 1870er, frühen 1880er Jahren begann die Kolonisierung im großen Stil. Hier war es einfach nötig – um Konflikte in Europa zu vermeiden - sich zu überlegen: welche Kriterien sind nötig, um ein britisches Kolonialreich zu etablieren, was gehört zum französischen Kolonialismus dazu, wie können wir das schaffen, dass dieser Wettlauf um Afrika vonstatten gehen kann, ohne dass es in Europa zu einem Krieg zwischen den beteiligten Nationen kommt.“ ERZÄHLER: Darüber hinaus wird vereinbart: O-Ton Thomas Reinhardt „Handelsfreiheit war das zweite, große Ergebnis. Man hat sich darauf verständigt, zwischen dem 5. Breitengrad nördlich und dem Sambesi ein riesiges Freihandelsgebiet einzurichten, in dem prinzipiell natürlich die Vertreter aller Nationen Handel betreiben durften.“ ERZÄHLERIN: Zudem wird Afrika für die christliche Mission freigegeben. Auch wenn sich nicht wenige Geistliche aus Idealismus zu ihrem Einsatz entschließen, so ist ihre Anwesenheit doch auch eine Demonstration des kolonialen Machtanspruchs der Weißen. ERZÄHLER: Großbritannien erhält in der Folge die wichtigsten Teile Ost- und Südafrikas sowie Ghana und vor allem das bedeutende Nigeria. Frankreich kann künftig über einen nahezu geschlossenen Raum verfügen, der die Sahara, die Sahelzone und Teile des Kongos umfasst. Deutschland wird Kolonialmacht und bekommt Togo und Kamerun, Südwestafrika, Tanganjika und die Insel Sansibar. Letztere tauscht es später gegen Helgoland ein. Auch Gebiete in Asien und Ozeanien werden den Deutschen zugesprochen. ERZÄHLERIN: Vor allem aber wird der Kongo-Freistaat, die private Kolonie des belgischen Königs Leopold II., von den europäischen Mächten anerkannt. Der Ethnologe Thomas Reinhardt: O-Ton Reinhardt „Der Kongo war reich, unglaublich reich an Bodenschätzen, das gilt ja heute nach wie vor, und es war offenbar ein Gebiet, auf das niemand Anspruch erhob. Das Erstaunliche ist ja auch, dass die Besitzansprüche Leopolds im Rahmen dieser Konferenz weitgehend anerkannt wurden. Man verständigte sich zwar darauf, dass der Kongo eine Freihandelszone sein solle, dass also Angehörige anderer Nationen ebenfalls den Fluss dort befahren dürfen, und Handel betreiben dürfen, aber letztendlich hat man Leopold dieses riesige Gebiet – vermutlich in Unkenntnis dessen, was für ein enormer Reichtum dort zu finden ist - einfach überlassen.“ MUSIK   düster, moll ERZÄHLER: Der Monarch hat damit sein ursprüngliches Ziel erreicht. Er hat nun freie Hand, um durch den Verkauf von Elfenbein, Palmöl und Kautschuk den größtmöglichen Profit herauszuschlagen, ein Handel, der auf Blut gegründet ist. Denn Leopold wird in seiner Privatkolonie ein Regiment führen, das an Grausamkeit kaum zu überbieten ist. Die Einheimischen werden versklavt, um Kautschuk im Urwald zu zapfen. Ist die Ausbeute der Arbeiter zu gering, werden ihnen die Hände abgeschlagen. Männer, Frauen, Kinder, werden verschleppt, verstümmelt, ermordet. Unter Leopold II. wird der Kongo zum Schlachthaus. Historiker schätzen, dass während der belgischen Kolonialherrschaft rund zehn Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner gewaltsam den Tod finden. Musikakzent moll ERZÄHLERIN: Die Kongo-Konferenz macht den Weg frei für die ungehemmte Plünderung Afrikas. Was die Europäer als vermeintlich selbstlose Mission im Namen von Fortschritt und Humanität ausgeben, wird sich in den kommenden Jahrzehnten als Albtraum für den gesamten Kontinent erweisen. TC 23:03 - Outro
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Jan 27, 2024 • 22min

HOLOCAUST-GEDENKTAG - Anita Lasker-Wallfisch, die Cellistin von Auschwitz

Ihr Überleben verdankte Anita Lasker-Wallfisch wohl nur der Tatsache, dass sie Cello spielen konnte. Als Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz überlebte sie das NS-Vernichtungslager. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Carola Zinner (BR 2014) Credits Autor/in dieser Folge: Carola Zinner Regie: Martin Trauner Es sprachen: Christoph Jablonka, Caroline Ebner, Peter Weiß, Anita Lasker-Wallfisch Technik: Cordula Wanschura, Monika Gsänger Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: ARD alpha: Zeuge der Zeit Was bleibt, wenn die letzten Zeitzeuginnen und -zeugen nicht mehr am Leben sind? Wie können ihre Erlebnisse der Nachwelt zugänglich gemacht werden? Die Porträtreihe "Zeuge der Zeit" versteht sich als filmisches Gedächtnis. In den intensiven Interviews der Filmschaffenden Andreas Bönte und Michaela Wilhelm-Fischer im Sinne einer "Oral History" berichten Zeitzeugen teilweise zum ersten Mal ausführlich über ihr Leben und machen auf diese Art Geschichte begreifbar. JETZT ANSEHEN BR2 (2023): Die Quellen sprechen Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von Tätern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ergänzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv für die Dokumente, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUM PODCAST BR: Die Rückkehr der Namen Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15: IntroTC 02:46 – Klopapierrollen statt CellobogenTC 06:24 – Mit dem Gesetz im KonfliktTC 08:30 – Deportation nach AusschwitzTC 09:55 – Musik ist MusikTC 14:40 – Ein Abschied für immerTC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erbenTC 20:36 – Brücken bauen zwischen VerschiedenheitenTC 21:19 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15: Intro MUSIK CD 018520 W01Benjamin Britten Simple Symphony English Chamber Orchestra ERZÄHLERDie „Simple Symphony“ von Benjamin Britten. In dieser Aufnahme aus dem Jahr 1968 dirigiert der Komponist selbst das English Chamber Orchestra, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet.  MUSIK hoch ERZÄHLERZum Orchester gehören mehrere Frauen - das ist für ein Spitzenensemble in jener Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch gehört sogar zu den Gründern des Londoner Orchesters, das Ende der 40er-Jahre entstand. Zu dieser Zeit hatte die gebürtige Deutsche bereits ein bewegtes Schicksal hinter sich: Sie hatte das Konzentrationslager überlebt - als Mitglied des „Mädchenorchesters von Auschwitz“.   MUSIK hoch und wegMUSIK CD 701140 003 (Gerichtsaussage nach Protokoll:) ZITATOR (= Col Backhouse)Ihren vollen Namen, bitte. ZITATORIN (= Anita Lasker)Anita Lasker. ZITATORWo haben Sie bis zu Ihrer Verhaftung gewohnt? ZITATORINIn Breslau, Straße der SA 69. ZITATORWann gingen Sie nach Auschwitz? ZITATORINIch war eineinhalb Jahre im Gefängnis und ging von da im Dezember 1943nach Auschwitz. ZITATORIn welchem Block lebten Sie, als Sie nach Auschwitz kamen? ZITATORINIch lebte in Block 12, mit der Kapelle. ERZÄHLERLüneburg, 1. Oktober 1945 - Tag 13 im ersten Gerichtsverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher. Mangels geeigneter Räume hat das britische Militärgericht eine Turnhalle zum Gerichtssaal umfunktioniert. Hier macht die 20-jährige Anita Lasker nun ihre Zeugenaussage. (wie oben) ZITATORHaben Sie Selektionen für die Gaskammer gesehen? GERÄUSCH beginnt unter nachfolgendem Text ZITATORINJa, ich habe viele Selektionen gesehen. Ich spielte im Lagerorchester, und wir mussten am Tor spielen. Das Tor lag genau gegenüber der Eisenbahnstation. Dort kamen die Transporte an, und wir konnten alles beobachten. Der Transport kam an, die SS führte die Selektionen durch, und wir waren nur knapp 50 Meter entfernt. MUSIK/GERÄUSCH GEHT UNTER ZUSPIELUNG 1 ZU ENDE ZUSPIELUNG  1„Man hat sozusagen in einen Abgrund geschaut, wo nicht alle Leute reinschauen. Wir sind da in einer Welt gewesen, die nicht hierher gehört im Grunde, nicht wahr.“ TC 02:46 – Klopapierrollen statt Cellobogen ERZÄHLERLondon im Herbst 2013. Anita Lasker-Wallfisch sitzt im Wohnzimmer ihres Reihenhauses im Stadtteil Kensal Rise. Ein gemütlicher Raum, etwas abgewohnt:  Auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher und ein halbleeres Päckchen Zigaretten, an der Wand Fotos aus längst vergangenen Zeiten: Schwarz-weiße Illustrationen zur Geschichte, die Anita Lasker-Wallfisch erzählt. Es ist keine schöne Geschichte, denn sie führt zurück ins Deutschland der 30er- und 40er-Jahre, wo Menschen jüdischer Herkunft beschimpft, bedroht, angegriffen, weggesperrt, gequält und umgebracht wurden - darunter auch Anitas Familie. ZUSPIELUNG 2„Der Tod war immer um die Ecke. Ich habe immer gehofft, dass ich es überleben werde irgendwie.“ ERZÄHLERAnita, Jahrgang 1925, wuchs in Breslau auf. Der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter eine talentierte Musikerin. Die Familie führte ein gutbürgerliches Leben - ein glückliches Leben, wie sich Anita und ihre beiden Schwestern später erinnern. Doch ab 1933 wurde alles anders: Die staatlich verordnete Drangsalierung von Menschen jüdischer Herkunft nahm immer mehr zu. Der Mob bekam freie Hand für Gemeinheiten aller Art. MUSIK – und unter nachfolgendem Text zu Ende CD 921900 005 ERZÄHLERAnita, die begeistert Cello spielt, findet im Jahr 1938 in ganz Breslau keinen Lehrer mehr, der sie unterrichten darf oder will. So schicken die Eltern ihre begabte Jüngste nach Berlin zum berühmten Cellisten Leo Rostal. Anita ist glücklich in Berlin - doch als die organisierte Gewalt gegen Juden mit den November-Pogromen einen ersten Höhepunkt erreicht, kehrt sie zurück zur Familie nach Breslau. Die älteste Schwester, Marianne, ist zu diesem Zeitpunkt bereits nach England emigriert, wo die überzeugte Zionistin nun auf die Weiterreise nach Palästina wartet. Währenddessen bemüht sich der Vater zuhause verzweifelt darum, auch den Rest der Familie im sicheren Ausland unterzubringen. ZUSPIELUNG 3 *„Man fragt immer, warum seid ihr nicht früher weggegangen - man kann sich nicht vorstellen wie schwierig das war, auszuwandern. Man hat gemeint, man geht irgendwo hin auf ein Konsulat, man holt sich… - es war eine große Schwierigkeit – und wer will schon von Flüchtlingen überrannt werden, nicht wahr? England, Amerika, da gab’s eine Quote - es ist uns nicht gelungen. Wir sind einfach steckengeblieben.“ ERZÄHLER1941 beendet Anita die Schule und wird zusammen mit ihrer Schwester Renate zum Arbeitsdienst in eine Papierfabrik beordert. Seite an Seite mit Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern aus Polen und Frankreich steht die 16-Jährige nun von morgens bis abends an der Werkbank. ZITATORINIch entwickelte eine geradezu märchenhafte Geschwindigkeit im Etikettenkleben. Später durfte ich auch an der Maschine arbeiten. Ich habe wohl Millionen von Klopapierrollen fabriziert. ERZÄHLERSo schreibt Anita Lasker-Wallfisch in ihrer 1996 erschienenen Autobiographie, wo sich neben den eigenen Erinnerungen auch die ihrer Schwester Renate finden, dazu amtliche Schreiben und Auszüge der Briefe, mit denen die Familie die in England lebende Schwester so lange wie möglich auf dem Laufenden hielt. Hier ist nachzulesen, wie die Eltern im April 1942 abtransportiert wurden, wie die beiden Mädchen allein in der Wohnung zurückblieben - und mit welcher Energie und Tapferkeit sie den Kampf ums Überleben antraten.TC 06:24 – Mit dem Gesetz im Konflikt ZUSPIELUNG 4 * „Wir waren ziemlich freche Kinder, meine Schwester und ich. Ich meine, es hat uns nie gepasst, dazusitzen und zu warten bis uns jemand abholt und ermordet, wissen Sie, das war kein sehr angenehmer Gedanke. Wir haben immer versucht irgendwas zu machen, nicht einfach zu sitzen und zu warten.“ ERZÄHLEREines der Verbote, gegen die die Mädchen sich auflehnen, betrifft den Kontakt zwischen den jüdischen Arbeitern und den Franzosen, die in der Papierfabrik arbeiten. ZUSPIELUNG 5 *„In der Wand von der jüdischen Toilette war ein Loch, und auf der anderen Seite war der Aufenthaltsraum von den französischen Kriegsgefangenen, und dieses Loch war sozusagen unser Briefkasten.“ERZÄHLERNeben kleinen Botschaften wandern durch dieses Loch bald auch amtlich aussehende Formulare: Die Lasker-Schwestern haben begonnen, Urlaubsscheine zu fälschen und verhelfen damit einigen der Franzosen zur Freiheit. ZUSPIELUNG 6 *„Aber ich bin wahrscheinlich zu oft auf die Toilette gegangen, denn eines Tages war dieses Loch zugemauert. Wir haben gewusst, dass man uns auf der Spur ist. Und dann haben wir, Kinder wie wir waren, gesagt, jetzt laufen wir weg. Und haben auch mit gefälschten Papieren versucht, in die unbesetzte Zone von Frankreich zu gelangen. Das war natürlich eine, wenn ich jetzt zurückdenke, eine vollkommen wahnsinnige Idee - aber alles war besser als zu sitzen und zu warten, bis so ein Mistkerl kommt und einen verhaftet, nicht wahr?“ ERZÄHLERNoch auf dem Bahnsteig - die Koffer sind bereits im Zug nach Paris - werden die beiden verhaftet und festgesetzt. Dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, wird sich im Nachhinein als Glück erweisen. ZUSPIELUNG 7 *„Wenn wir einfach als Juden geschnappt worden wären, wären wir sofort durch den Schornstein gegangen. Aber wir waren dann quasi Verbrecher: Urkundenfälschung, Feindesbeihilfe und Fluchtversuch.“ ERZÄHLERDas heißt: Gefängnis statt Konzentrationslager. Und es heißt: Justiz statt Gestapo. ZUSPIELUNG 8 *„Zu unserem Glück war eine schlechte Atmosphäre zwischen diesen beiden Instanzen, und das ist uns offensichtlich zum Glück geworden. Wir wollten eine lange, lange Strafe haben, wenn möglich. Das klingt wahnsinnig… Es war nicht angenehm im Gefängnis, aber wenigstens wird man nicht ermordet.“ TC 08:30 – Deportation nach Ausschwitz ERZÄHLERMit dem Urteilsspruch jedoch ist die Zeit in der Untersuchungshaft zu Ende. Die beiden Mädchen werden getrennt voneinander und ohne vom Schicksal der anderen zu wissen ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Allerdings nicht, wie sonst üblich, im Rahmen eines Sammeltransportes, sondern in einem Gefängniszug speziell für Straftäter.   ZUSPIELUNG 9„Das hieß auch, dass wir nicht mit so einem Riesentransport von Juden angekommen sind. Wir sind einfach direkt ins Lager rein mit anderen Verbrechern. Wir haben keine Selektion gehabt.“ MUSIK CD 701140 002 ERZÄHLERDie üblichen entwürdigenden Aufnahmezeremonien aber werden auch ihnen nicht erspart. Ausziehen, Rasur, Tätowierung. ZITATORINIch weiß heute nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, dem Mädchen, das mich tätowierte, zu erzählen, dass ich Cello spielte. Unter den vorherrschenden Bedingungen schien das nicht gerade von welterschütternder Bedeutung zu sein. Die Reaktion war umso erstaunlicher: „Das ist ja phantastisch. Stell dich abseits, bleib dort stehen und warte. Du wirst gerettet werden!“ Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, tat aber, was sie mir sagte, stellte mich abseits von allen anderen und wartete - ohne Vorstellung, worauf ich eigentlich wartete.Endlich kam die Erklärung, und zwar in Gestalt einer gutaussehenden Dame in Kamelhaarmantel und Kopftuch. Sie begrüßte mich und stellte sich vor. Alma Rosé.MUSIK geht unter Zuspielung 10 zu EndeTC 09:55 – Musik ist Musik ZUSPIELUNG 10 *„Das war die Tochter von Arnold Rosé, der war jahrelang Konzertmeister bei den Wiener Philharmonikern gewesen. Und ihr Onkel war Gustav Mahler, ich meine, die kam aus einem musikalischen Background, der geradezu kolossal war, nicht wahr.“ ERZÄHLERAlma Rosé hatte sich in den 20er- und 30er-Jahren als Geigerin einen Namen gemacht und ein Damenorchester gegründet und geleitet. Nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager war das bald publik geworden. Prompt spannten Aufseherinnen die „Neue“ für ihre Zwecke ein. ZUSPIELUNG 11 *„Was ich erst viel später gelernt habe, dass es in jedem Lager ein - man kann es nicht Orchester nennen - eine Kapelle gab. Außer im Frauenlager. Das war anscheinend so eine Art „Competition“ zwischen den Lagern: Wir wollen auch Musike haben! Die haben Musik, wir wollen auch, verstehen Sie. So war das ein bisschen.“ MUSIK – setzt unter den letzten Worten des nachfolgenden Textes einC 500008 W02 ERZÄHLERAlma Rosé übernahm im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau die Leitung des Orchesters, das kurz zuvor „auf Befehl von oben“ gegründet worden war. ZITATORINEines Tages kam ein SS-Offizier in den Block und rief nach der „Cellistin“. Er brachte mich zum Orchester-Block, und da sah ich Alma Rosé wieder - und neben ihr viele Leute, alle mit Instrumenten in der Hand. Meine Aufnahmeprüfung begann. Alma gab mir ein Cello und sagte: „Spiel mir was vor.“ Es war ungefähr zwei Jahre her, seit ich zuletzt ein Cello in der Hand gehabt hatte! Ich übte also ein paar Minuten - und spielte… MUSIK hoch – und unter nachfolgendem Text zu Ende …oder besser: versuchte, den langsamen Satz aus dem Boccherini-Konzert zu spielen. Nachdem ich das hinter mir hatte, wurde ich Mitglied des Orchesters. Eigentlich hat keinerlei Gefahr bestanden, nicht aufgenommen zu werden. Bis zu meiner Ankunft bestand das Orchester aus nichts als Sopran-Instrumenten. Da gab es einige Geigen, Mandolinen, Gitarren, Flöten und zwei Akkordeons. ZUSPIELUNG 12„Das war mein großes Glück, denn ich war einzigartig im Lager. Wenn da schon jemand gewesen wäre, der Cello spielt, hätte man mich nicht unbedingt gebraucht, nicht wahr. Man konnte mich nicht entbehren, denn dann hätte man wieder keine tiefen Noten gehabt, nicht wahr.“ MUSIK Militärmarsch Schubert D-Dur, Bearbeitung für Orchester  E 0002140 004  (Aufnahme von 1955) ZITATORINAlma war begeistert. Endlich hatte sie einen Bass im Orchester. So fing meine „Karriere“ als die einzige Cellistin des Lager-Orchesters an - oder richtiger: der „Kapelle“. Und zugleich mein Leben in dieser kleinen Gemeinschaft, in der rührende Kameradschaftlichkeit, bleibende Freundschaften und giftiger Hass in gleichem Maße nebeneinander gediehen. ZUSPIELUNG 13 *„Es war ein vollkommen verrücktes Orchester, war das natürlich, aber immerhin: Es hat existiert.“ ZITATORINEin typischer Tag in unserem „Kommando“ - wie man es nannte - sah wie folgt aus: Wir standen eine Stunde vor Tagesanbruch auf, und einige von uns hatten die Aufgabe, Notenständer und Stühle „nach vorne“ zu tragen. Wenn wir alle wieder im Block waren, kam der Zählappell. Danach gab es etwas zu trinken; man aß, was einem gelungen war, sich vom vorigen Abend aufzusparen. Dann marschierten wir zum Tor und spielten. Denn unsere Hauptaufgabe war es, uns jeden Morgen und jeden Abend am Haupteingang aufzustellen und Märsche für die Tausende von Häftlingen zu spielen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. (ironisch) Natürlich war es von allergrößter Wichtigkeit, dass diese Kolonnen fein säuberlich und im Gleichschritt ausmarschierten! Dafür lieferten wir die Musik. Wir saßen da, unzulänglich bekleidet, manchmal bei Temperaturen unter null, und spielten. Danach wurden Stühle und Ständer zurückgebracht und wir fingen im Block mit unseren Proben an. Unser Repertoire bildeten deutsche Schlager, die gerade in Mode waren, verschiedene Stücke aus Operetten, „An der schönen blauen Donau“, und so weiter. MUSIK „Das gibt’s nur einmal…“ 7705707 000 ZUSPIELUNG 14„Die Alma, glaub ich, hat nie realisiert, oder nie gezeigt, dass sie weiß, wo sie eigentlich sich befindet. Man hat das Gefühl gehabt, dass sie das ignoriert. Hier wird Musik gemacht, nicht wahr. Und wir haben sie nicht besonders geliebt, sie war irrsinnig streng. Aber viele Jahre nachher haben wir alle kapiert, dass eigentlich die Alma die wichtigste Person war in unserem Leben. Denn mit ihrer Disziplin hat sie uns sozusagen auf einem Niveau gehalten, das gar nichts damit zu tun gehabt hat, was da eigentlich los war in dem Lager, nicht wahr…Und sie hat immer von ihrem Vater gesprochen, von dem Arnold, die haben eine sehr enge Beziehung gehabt, und ihr größtes Lob war: „Das könnten wir meinem Vater vorspielen!“ Sie war also vollkommen fixiert auf ihren Vater, und dass man hier anständig Musik macht. Weil Musik ist Musik und das lassen wir uns nicht kaputtmachen. Das war so ihre Methode.“ MUSIK hoch und unter dem Anfang des nachfolgenden Textes zu EndeTC 14:40 – Ein Abschied für immer ERZÄHLERDer kurze Höhenflug des Orchesters endete mit dem plötzlichen Tod von Alma Rosé im April 1944. Bis heute sind die Umstände umstritten. War es eine Infektion? Hatte eine Neiderin sie vergiftet? Oder handelte es sich um eine Lebensmittelvergiftung? MUSIK CD 701140 001 ZITATORINWelche Sonderstellung Alma im Lager innehatte, zeigte sich an der Tatsache, dass wir nach ihrem Tod ins Revier gerufen wurden, wo wir an ihrem auf einem weißen Tuch aufgebahrten Leichnam vorbeidefilierten. Selbst die SS schien über diesen Verlust erschüttert. MUSIK geht unter nachfolgendem Text zu Ende ERZÄHLERIm Oktober 1944 löste sich das Orchester auf - die Häftlinge wurden von Auschwitz nach Bergen-Belsen transportiert. Anita gelingt es, mit ihrer Schwester Renate zusammenzubleiben, die sie im Lager wiedergetroffen hat - zu zweit, wissen die Mädchen, haben sie eine deutlich bessere Chance, den Winter zu überstehen. Und tatsächlich gelingt es ihnen, unter unmenschlichen Bedingungen.  Am 15. April 1945 endet der Alptraum: Britische Truppen rücken in Bergen- Belsen ein und befreien die halb verhungerten Gefangenen.  Ein halbes Jahr später macht Anita ihre Aussage vor dem britischen Tribunal in Lüneburg. Dann verlässt sie Deutschland. Es soll, so nimmt sie sich vor, ein Abschied für immer sein: von allem, was deutsch ist.  TC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erben ZUSPIELUNG 15„Ja, wir waren sehr kritisch, meine Schwester und ich. Ich erinnere mich noch, wir haben über Leute sofort irgendwie… ‚Ach, der würde sich sehr schlecht benehmen – und der wäre ok‘ und so weiter. Wir haben sozusagen einen 6. Sinn bekommen für Menschen. Aber das haben wir uns bald abgewöhnt, denn das ist eine sehr negative - man kann nicht so kritisch sich alle Leute anschauen.“ ERZÄHLERTrotz der bitteren Erfahrungen gelingt es Anita, sich in England ein neues Leben aufzubauen, zu dem neben der Gründung einer Familie auch die Karriere im English Chamber Orchestra gehört. ZUSPIELUNG 16„Das war Glückssache alles: Als ich nach England gekommen bin, hab ich bald viele Leute kennengelernt, und Musiker kennengelernt; und dann bin ich in das gleiche Haus gezogen, wo Musiker waren. Es ist alles so von alleine irgendwie passiert, per Zufall, yes. Ich mein, ich hab verpasst, acht Jahre verpasst, die man im Grunde braucht. Also, ich hab viel Glück gehabt hier in England. Sozusagen ich bin zufällig am richtigen Platz gewesen.“ ERZÄHLERAus der in den 50er-Jahren geschlossenen Ehe mit dem Pianisten Peter Wallfisch gingen zwei Kinder hervor, eine Tochter und ein Sohn, Raffael Wallfisch, heute selbst ein namhafter Cellist. Raffael war es auch, der in den 90er-Jahren den Anstoß gab, dass seine Mutter die Erinnerungen an die Vergangenheit schriftlich festhielt.  ZUSPIELUNG 17„Denn eines Tages hat sich herausgestellt, dass wir eigentlich nie über diese Zeit gesprochen haben. So ist das entstanden. Dann hab ich das für meine Kinder gemacht - und habe also sehr amateurhaft etwas zusammengestellt. Und die Geschichte war so, dass jemand von der BBC ist zu mir gekommen ist, die ein Programm über Theresienstadt gemacht hat. Und die hat gemeint, dass ich ihr dabei helfen kann. Ja, nein, das kann ich nicht, denn ich war nicht dort, aber ich habe für meine Kinder blablabla Auschwitz, Belsen und so weiter. Da hat sie das mitgenommen und sich‘s angesehen und hat gesagt, weißt du, wenn du nichts dagegen hast, könnten wir das vielleicht in 20 Minuten einteilen und du liest das dann im Radio. Und das ist auch geschehen - so fing das Ganze an.“ ERZÄHLER1994 veröffentlichte Anita Lasker-Wallfisch ihr Buch „Inherit the Truth“, das zwei Jahre später unter dem Titel „Ihr sollt die Wahrheit erben“ auf Deutsch erschien. Mit der schriftlichen Aufarbeitung des Geschehenen wird es ihr langsam wieder möglich, Kontakt zu Deutschland aufzunehmen -  und zu ihrer Muttersprache zurückzukehren, von der sie einst schwor, sie nie mehr zu verwenden. Weil sie erleben musste, wie in dieser Sprache Unmenschliches ausgesprochen, angeordnet und akzeptiert wurde.  ZUSPIELUNG 18„Zum Beispiel, als meine Eltern abgeholt worden sind, hat man versiegelt alles, einen Kuckuck draufgemacht, ja, auf alles, inklusive Kopfkissen. Und wir konnten keine Schublade mehr aufmachen und nichts. Dann bin ich zur Gestapo gegangen, unverschämt wie ich war. Und ich hab also einen Brief hier - die haben nicht mal eine Schreibmaschine: ‚Ungebeten kommt Anita Sarah Lasker auf die Gestapo, Beruf Arbeiterin, und bittet, dass man eine Schublade aufmacht. Abgelehnt!‘ Der Clou war - diese Wohnung ist also dann einem Deutschen gegeben worden: Wir waren im Gefängnis, alle waren weg, und der zieht in die Wohnung ein und der Koch-Ofen ist nicht mehr da. Da ist doch die Gestapo zu mir ins Gefängnis gekommen, und hat mich verhört: Was mit dem Ofen passiert ist!? Sag ich, mein Vater hat ihn nicht abmontiert und sich auf dem Rücken geschnallt und ist deportiert worden mit dem Ofen. Das wollten die wissen. Der Ofen gehört… Aber die ganze Idee: Dass also alles, was uns gehört hat, gehört jetzt mir. Und das war akzeptiert. Ich meine, es ist sehr schwer das heute nachzuvollziehen, was das für eine Mentalität war.“ ERZÄHLERUmso wichtiger ist es ihr, davon zu berichten - vor Schulklassen, in Seminaren, in Fernseh- und Radiosendungen wie in der dokumentarischen BR-Produktion "Die Quellen sprechen", aus der auch in dieser Sendung einige Ausschnitte zu hören waren. Die Menschen sollen daran erinnert werden, wozu der Mensch fähig ist - nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.   MUSIK CD 70114 002 TC 20:36 – Brücken bauen zwischen Verschiedenheiten ZUSPIELUNG 19„Ich meine, die Welt sieht nicht so wunderbar aus, auch heute, nicht wahr, man stürzt sich wieder auf andere Gruppen und so weiter. Was ich den Leuten mitgeben will: Dass es wichtig ist, wichtiger denn je, Brücken zu bauen zwischen den Verschiedenheiten, die wir haben als Menschen. Es ist ja geradezu eine irrsinnige Idee - wenn wir alle gleich wären, wäre es ja furchtbar langweilig, nicht. Wir sind nun mal sehr verschiedene Menschen. Da gibt es Juden, da gibt es Türken, da gibt es Deutsche - bevor sie sich totschlagen, sollen sie miteinander Kaffee trinken gehen. (Lacht) Das erzähle ich der Jugend, verstehen Sie?“ MUSIK hoch, bis Ende ZUSPIELUNG 20„Jetzt mach ich Ihnen eine Tasse Kaffee, ja? Wenn Sie wirklich fertig sind mit…“ (Schritte)TC 21:19 - Outro
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Jan 27, 2024 • 21min

HOLOCAUST-GEDENKTAG - Das Tagebuch der Anne Frank

Das Tagebuch der Anne Frank hat Millionen Menschen bewegt. Mit 13 Jahren beginnt das Mädchen unter dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung seine Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen. Trotz aller Ängste lässt sie sich ihre Neugier gegenüber dem Leben nicht rauben. Doch zwei Jahre später wird ihr Versteck entdeckt. Anne Frank stirbt mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2022) Credits Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn Regie: Axel Wostry Es sprachen: Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse, Adela Florow, Ilse Neubauer Redaktion: Hildegard Hartmann Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2022): Die Deutschen waren erschüttert – aber ohne Schuldgefühle Mitte der Fünfziger begann die Erfolgsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank. Eine populäre Theaterumsetzung sorgte dafür, dass sich die Deutschen mit dem Buch beschäftigten. Doch von echter Vergangenheitsbewältigung konnte noch keine Rede sein. JETZT ANHÖREN BR2 (2023): Die Quellen sprechen Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von Tätern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ergänzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv für die Dokumente, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUM PODCAST BR: Die Rückkehr der Namen Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:51 – Liebe Kitty: Anfänge des weltbekannten TagebuchesTC 05:24 – Das Leben im VerborgenenTC 08:07 – Zwischen Todesangst und DepressionTC 09:57 – Ein Mädchen voller Inspiration, Träume und HoffnungTC 11:44 – Wie wird man in einem Versteck erwachsen?TC 14:25 – Glaube ist stärkerTC 16:08 – Das Vermächtnis von Anne FrankTC 19:10 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro SPRECHER: Freitag, 4. August 1944. In der Amsterdamer Firma "Opekta" an der Prinsengracht 263 beginnt ein ganz normaler Arbeitstag. Gerade hat die Sekretärin Miep Gies ihr Büro betreten. Aber sie setzt sich nicht sofort an den Schreibtisch. Sie schiebt ein Regal beiseite und öffnet die Tür, die sich dahinter verbirgt. Hinter dieser Tür leben acht Menschen, von denen niemand wissen darf. Es sind Juden. Und Juden werden von der deutschen Besatzungsmacht verfolgt, in Konzentrationslager getrieben, umgebracht. SPRECHERIN: Die Jüngste der acht heißt Anne Frank. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Ihr Vater Otto Frank war früher der Chef der Firma. Seine Mitarbeiter beschützen und versorgen die Versteckten, riskieren ihr Leben für sie. Miep Gies ist eine von den Helfern. SPRECHER: An jenem Freitagmorgen wartet Anne schon ungeduldig auf sie. Besuch ist ihre einzige Abwechslung. Miep erinnert sich:   ZITATORIN Miep: „Anne hatte wie üblich unzählige Fragen auf Lager und drängte mich, ein bisschen mit ihr zu reden. Wenn ich am Nachmittag die Lebensmittel heraufbrächte, bliebe ich zu einem ausführlichen, gemütlichen Schwatz, versprach ich. Bis dahin müsse sie sich gedulden. Ich ging zurück ins Büro und fing an zu arbeiten." SPRECHERIN: Miep und Anne begegnen sich hier zum letzten Mal. Denn wenig später steht ein Gestapo-Beamter vor Mieps Schreibtisch – mit gezückter Pistole. SPRECHER: Irgendjemand hat der Polizei das Versteck verraten. Und nun geht alles sehr schnell: Die Gestapo-Leute treiben die Menschen aus ihren Zimmern. Wenig später werden sie in einem Auto abtransportiert. SPRECHERIN: Miep bleibt zurück. Fassungslos steht sie in den verwüsteten Räumen.  ZITATORIN Miep:"Sie hatten wie die Wandalen gehaust. [...] Auf dem Fußboden, inmitten von Papierbergen und Büchern, entdeckte ich einen rot-orange-grau karierten Leineneinband – Annes Tagebuch, das sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte." SPRECHERIN:Miep weiß auch, was den Verhafteten bevorsteht. Trotzdem hofft sie, Anne einmal wiederzusehen. Sie legt das Tagebuch ungelesen in eine Schublade und schließt sie ab. ZITATORIN Miep:  "Ich werde alles sicher aufbewahren für Anne, bis sie zurückkommt." SPRECHER:Anne kam nie zurück. Von den acht Untergetauchten überlebte nur der Vater Otto Frank. Das Tagebuch seines toten Kindes überwältigte ihn. Er habe, so sagte er nach dem Krieg, keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt. TC 02:51 – Liebe Kitty: Anfänge des weltbekannten Tagebuches SPRECHERIN:  Wie sollte er auch. Das Tagebuch war Annes eigene Welt. Erwachsene hatten hier keinen Zutritt. Anne redete in ihrem Tagebuch mit Kitty, einer Freundin, die nur in ihrer Fantasie existierte. ZITATORIN Anne:"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe.“ SPRECHER:So beginnt Annes Tagebuch am 12. Juni 1942, Annes dreizehntem Geburtstag. Anne ist ein ganz normales Mädchen: hübsch, gesellig, fröhlich. Sie liebt Schwatzen, Geheimnisse und Filmstars. Aber ihr Leben steht von Anfang an unter dem Schatten der Verfolgung. Anne erzählt: ZITATORIN Anne:"Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich je getroffen habe, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging dann mein Vater 1933 in die Niederlande."SPRECHER: Amsterdam, das bedeutet unbeschwerte Kinderjahre: bis die Nazis im Mai 1940 auch die Niederlande besetzen. Die Schlinge zieht sich zu für die Juden dort. Eine antisemitische Verordnung jagt die andere. Anne beobachtet die Situation genau: ZITATORIN Anne: "Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3-5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach 8 Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. So ging unser Leben weiter, und wir durften dies nicht und das nicht." SPRECHER: Auch das Tragen eines gelben Sterns mit der Aufschrift "Jude" wird zur Pflicht. Immer häufiger treibt die SS große Gruppen von Menschen mit dem gelben Stern an der Kleidung durch Amsterdams Straßen. Es sind Kinder darunter, alte Menschen, schwangere Frauen. Ihr Weg führt zum Bahnhof, wo die Waggons der Deutschen Reichsbahn stehen: bereitgestellt, um Menschen in den Tod zu fahren. TC 05:24 – Das Leben im Verborgenen SPRECHERIN: Als auch Margot, Annes Schwester, den Befehl zum Abtransport in ein Konzentrationslager erhält, flieht die Familie in ihr Versteck, zusammen mit dem Ehepaar van Daan und deren sechzehnjährigen Sohn Peter. Später kommt noch der Zahnarzt Dr. Albert Dussel dazu. Anne hat die Namen erfunden. Die van Daans heißen eigentlich van Pels. Und Dussel heißt in Wirklichkeit Fritz Pfeffer. SPRECHER: Doktor Dussel und Anne müssen sich ein Zimmer teilen. Das Pseudonym spricht Bände: Die quirlige Dreizehnjährige hat für den strengen, einsamen älteren Herrn wenig übrig. ZITATORIN Anne: "Ich glaube, bei Herrn Albert Dussel zu Hause ist alles, was er sagt, Gesetz. Aber Anne Frank passt solches ganz und gar nicht!" SPRECHERIN:Sie vermisst ihre Freundinnen und ihre Flirts mit Jungen. Sie darf nie nach draußen und muss tagsüber, solange der Bürobetrieb im Vorderhaus läuft, ganz leise sein. Aber Anne ist abenteuerlustig, und am Anfang nimmt sie die neue Lebenslage nicht allzu schwer. ZITATORIN Anne: "Ich fühle mich wie in einer sehr eigenartigen Pension, in der ich Ferien mache. Eine ziemlich verrückte Auffassung vom Untertauchen, aber es ist nun mal nicht anders. Das Hinterhaus ist ein ideales Versteck. Obwohl es feucht und ein bisschen schief ist, wird man wohl in ganz Amsterdam, ja in ganz Holland, kein so bequem eingerichtetes Versteck finden." SPRECHER: Anne hat Recht. Rund 27.000 der 140.000 in den Niederlanden lebenden Juden sind untergetaucht. Viele hausen in winzigen Dachkammern, in feuchten Kellern. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist sehr groß. Rund ein Drittel aller untergetauchten Juden werden von ihren Landsleuten verraten. Die Deutschen zahlen für jeden entdeckten Juden eine Belohnung. SPRECHERIN: Aber auch im Hinterhaus ist es bedrückend eng. Ständig gibt es Streit. Für die aufmüpfige Jüngste hagelt es Standpauken von allen Seiten. Anne will sich abgrenzen, besonders von der Mutter. Auf Edith Frank lasten die quälenden Sorgen am meisten, während Anne vorlaut und selbstbewusst einer strahlenden Zukunft entgegen träumt ZITATORIN Anne:„Ich bin keinesfalls auf ein solche beschränktes Leben aus wie Mutter und Margot sich das wünschen. Ich will was sehen und was erleben von der Welt“ SPRECHER:Doch Anne macht das Leben im Hinterhaus auch leichter – mit ihrem Humor. ZITATORIN Anne: "Peter kann ab und zu recht witzig sein. Eine Vorliebe, die alle zum Lachen bringt, hat er jedenfalls mit mir gemeinsam, und zwar Verkleiden. Er in einem sehr engen Kleid seiner Mutter, ich in seinem Anzug, so erschienen wir, mit Hut und Mütze geschmückt. Die Erwachsenen bogen sich vor Lachen, und wir hatten nicht weniger Spaß." TC 08:07 – Zwischen Todesangst und Depression SPRECHERIN: Aber die Todesangst ist allgegenwärtig. Wenn nachts die Bomber über Amsterdam fliegen, kriecht Anne außer sich vor Panik in Vaters Bett. Otto Frank nimmt sie dann in den Arm, erzählt ihr Geschichten. Mehr kann er nicht tun. Miep Gies erinnert sich: ZITATORIN Miep: "Sie konnten nirgends hin, es gab für sie kein Entkommen. Die ohrenbetäubenden Detonationen erschienen viel näher, als sie es tatsächlich waren. Das steigerte den Horror derart, dass sie sich tagelang nicht davon erholen konnten.“ SPRECHER:Außerdem ist ganz Amsterdam gelähmt vom Lärm der nächtlichen Razzien. Nachts werden die Juden aus den Wohnungen geholt. Miep hat es miterlebt.ZITATORIN Miep: "Durch die ganze Gegend hallten die durchdringenden Trillerpfeifen, und dann dröhnten schwere Stiefelschritte die Treppen hinauf, Gewehrkolben hämmerten an die Türen, schrilles, endloses Klingeln, die raue, Furcht einflößende deutsche Stimme, die befahl: 'Aufmachen! Beeilung! Beeilung!' " SPRECHER: Anne weiß, was in den Lagern geschieht. ZITATORIN Anne: "Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben." SPRECHER: Der erste Winter im Hinterhaus ist eine Zeit schwerer Depression. Anne schluckt Baldriantabletten zur Beruhigung, aber sie helfen nicht viel. ZITATORIN Anne "Ich irre von einem Zimmer zum anderen, die Treppe hinunter und wieder hinauf, und habe ein Gefühl wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen worden sind und der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe eines engen Käfigs fliegt. 'Nach draußen, Luft und Lachen!' schreit es in mir. Ich antworte nicht mal mehr, lege mich auf die Couch und schlafe, um die Zeit, die Stille und auch die schreckliche Angst abzukürzen, denn abzutöten sind sie nicht." TC 09:57 – Ein Mädchen voller Inspiration, Träume und Hoffnung SPRECHER: Aber Anne will leben. Sie gibt nicht auf. Wenn sie an ihrem Tagebuch schreibt, spürt sie ihre schöpferische Begabung. Unermüdlich feilt sie an ihren Formulierungen, verbessert ihren Stil. Nach dem Krieg will sie ein Buch über das Hinterhaus herausgeben. Ihr Tagebuch soll die Grundlage sein. Im Fluss des Schreibens hält sie die Hoffnung auf Zukunft lebendig. ZITATORIN Anne "Ich will fortleben nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir bei meiner Geburt schon eine Möglichkeit mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist." SPRECHER:Anne will später als Schriftstellerin arbeiten. Oder als Journalistin. Sie freut sich darauf, eine Frau zu werden. Die Nazis wollen ihren Tod, aber ihr Körper ist jung und lebendig. ZITATORIN Anne "Ich finde es so sonderbar, was da mit mir passiert, und nicht nur das, was äußerlich an meinem Körper zu sehen ist, sondern das, was sich innen vollzieht. [...] Immer, wenn ich meine Periode habe, (...), habe ich das Gefühl, dass ich trotz der Schmerzen, des Unangenehmen und des Ekligen ein süßes Geheimnis in mir trage. Deshalb, auch wenn es mir immer nur Schwierigkeiten macht, freue ich mich in gewisser Hinsicht immer wieder auf diese Zeit, in der ich es wieder fühle." SPRECHERIN: Miep spürt, wie schwer es für Anne ist, mit all diesen Gefühlen allein zu sein. SPRECHER:Die Helfer besuchen das Versteck täglich. Das gibt den Eingeschlossenen Sicherheit. Auch ein geregelter Tagesplan ist wichtig. Für Anne, Margot und Peter stehen alle Schulfächer auf dem Programm. Anne lernt gern – es vertreibt die Zeit. TC 11:44 – Wie wird man in einem Versteck erwachsen? SPRECHERIN: Auch der Schlaf gibt neue Kraft, und helle Träume spenden Trost. Anne träumt von ihrer Kinderliebe, einem Jungen namens Peter Schiff. Der Traum fasst ihre Sehnsucht nach Nähe in zarte, erotische Bilder. ZITATORIN Anne "Und dann fühlte ich seine weiche, o so kühle und wohl tuende Wange an meiner, und alles war so gut, so gut ...." SPRECHERIN: Anne wünscht sich die Nähe eines Jungen, der ihr nah sein, der sie berühren will. Das macht ihr der Traum bewusst. Aber Peter Schiff ist nicht da. SPRECHER: Peter van Daan aber schon. Er ist ein stiller Junge, und eigentlich findet Anne ihn langweilig. Ermutigt durch ihren Traum, beginnt sie, genauer hinzusehen. Sie wirbt um sein Vertrauen. Ein Abenteuer beginnt. ZITATORIN Anne "Mir wurde ganz seltsam zumute, als ich in seine dunkelblauen Augen schaute und sah, wie verlegen er bei dem ungewohnten Besuch war. Ich konnte an allem sein Inneres ablesen, ich sah in seinem Gesicht noch die Hilflosigkeit und die Unsicherheit, wie er sich verhalten sollte, und gleichzeitig einen Hauch vom Bewusstsein seiner Männlichkeit. Ich sah seine Verlegenheit und wurde ganz weich von innen." SPRECHERIN:Die beiden beginnen sich zu mögen. Erst wie Freunde, dann wird mehr daraus. Sie sprechen über Sexualität, über ihre Sehnsüchte, über ihre Zukunftshoffnungen. Sie liegen einander in den Armen. ZITATORIN Anne:"Er ruhte nicht eher, bis mein Kopf auf seiner Schulter lag und der seine darauf. Als ich mich nach ungefähr fünf Minuten etwas aufrichtete, nahm er meinen Kopf in seine Hände und zog ihn wieder an sich. Oh, es war so herrlich! Ich konnte nicht sprechen, der Genuss war zu groß. ... Das Gefühl, das mich dabei durchströmte, kann ich dir nicht beschreiben, Kitty. Ich war überglücklich, und ich glaube, er auch." SPRECHERIN: Annes zarter, magerer Körper, geschwächt durch Bewegungsmangel, schlechte Ernährung und ständige Angst, in den Armen eines liebevollen Jungen: Das war eine überwältigende Erfahrung für sie. Aber das Glück flaut bald ab. Mit dem, was Anne alles auf dem Herzen hat, ist Peter einfach überfordert. Nur schmusen, das reicht ihr nicht. Langsam und vorsichtig löst sie sich von Peter. Aber sie gibt ihm keine Schuld und versucht nicht, ihn zu verändern. Die beiden bleiben Freunde.TC 14:25 – Glaube ist stärkerSPRECHERIN:Anne weiß, dass sie ihr Schicksal allein bestehen muss. Sie entdeckt Kraftquellen, die ihr Unabhängigkeit geben: die Natur zum Beispiel, die draußen grünt und blüht, ohne sich um Krieg und Vernichtung zu kümmern. Einmal, die Nacht ist sehr dunkel, riskieren es die Eingeschlossenen, ein Fenster zu öffnen, und Anne schaut bezaubert ins Freie: ZITATORIN Anne:"Der dunkle, regnerische Abend, der Sturm, die jagenden Wolken hielten mich gefangen. Nach anderthalb Jahren hatte ich zum ersten Mal wieder die Nacht von Angesicht zu Angesicht gesehen." SPRECHER: Wenn sie in den Himmel sieht, spürt sie, dass Gott auf ihrer Seite steht. Annes Gott stiftet Beziehung und Leben, er ist eine Quelle des Glücks. ZITATORIN Anne:"Abends, wenn ich im Bett liege und mein Gebet mit den Worten beende: Ich danke dir für all das Gute und Liebe und Schöne, dann jubelt es in mir. Dann denke ich an das Gute: das Verstecken, meine Gesundheit, mein ganzes Selbst.“ SPRECHER: Annes Gott ist nicht weit weg. Er ist in das Seiende eingesenkt, in die Natur und in die menschliche Seele. Anne findet ihn in sich selbst, im Zentrum ihrer eigenen Kraft. Mit ihrer Gottesbeziehung wächst auch ihr Stolz auf ihr jüdisches Erbe, ihr Vertrauen in die Stärke ihres Volkes und in seine historische Mission. ZITATORIN Anne "Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, und es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet. [...]“ TC 16:08 – Das Vermächtnis von Anne Frank SPRECHERIN:Bis zuletzt empfindet Anne das Untertauchen als Abenteuer und als Herausforderung, die Metamorphose zum Guten an sich selbst zu vollziehen. Eine schwere Aufgabe für ein so junges Mädchen. Aber Anne gewinnt ihre inneren Kämpfe. ZITATORIN Anne: "Ich weiß, was ich will, habe ein Ziel, habe eine eigene Meinung, habe einen Glauben und eine Liebe. [..] Ich weiß, dass ich eine Frau bin, eine Frau mit innerer Stärke und viel Mut!" SPRECHER: Doch in den Lagern Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen hat sie keine Chance mehr. Wir wissen nicht, ob ihr der Himmel über Auschwitz noch Trost spenden konnte. Ob sie, die rauchenden Schlote der Krematorien vor Augen, Gott noch gesucht hat. Es gibt nur bruchstückhafte Erinnerungen Überlebender, die Anne flüchtig begegnet sind: Bruchstücke, die sich zusammenfügen zu einem Bild, das schwärzer ist als der schwärzeste Traum. SPRECHERIN: Annes letzter Blick zum Vater, der auf der Rampe von Auschwitz von seiner Familie getrennt wird. Anne, die sieht, wie Kinder vor der Gaskammer auf ihr Ende warten. Anne und Margot im Oktober 1943 auf dem Transport nach Bergen-Belsen: drei Tage im überfüllten Viehwaggon, fast ohne Wasser und Essen, ohne ihre Eltern. Edith Frank stirbt einige Wochen nach der Trennung von ihren Töchtern in Auschwitz. SPRECHER: Gaskammern gibt es in Bergen Belsen nicht. Aber die Zustände in dem überfüllten Lager sind mörderisch genug. Hunger, Kälte und Regen begünstigen den Ausbruch von Seuchen unter den geschwächten Gefangenen. Auch Margot und Anne erkranken an Typhus. Margot stirbt zuerst, kurz danach Anne. SPRECHERIN: Es ist April 1945, kurz vor Kriegsende. Als man die Leichen der Mädchen in einem Massengrab verscharrt, ist Otto Frank in Auschwitz bereits befreit worden. Anne wusste nicht, dass ihr Vater noch lebte und nach ihr suchte. Und sie ahnte auch nicht, dass ihr Tagebuch sicher in Mieps Schublade lag und ihr den schriftstellerischen Ruhm sichern würde, den sie sich immer gewünscht hat. SPRECHER:Nach dem Krieg sorgte Otto Frank für die Veröffentlichung. Anne Franks Stimme eroberte die Welt. Ihr Buch hat sich bis heute ungefähr sechzehn Millionen Mal verkauft. Fast eine halbe Million Menschen besuchen jährlich das Hinterhaus in Amsterdam, das heute von einer Stiftung unterhalten wird. SPRECHER: Miep Gies ist heute eine alte Frau. Sie beschließt ihre Erinnerungen an Anne mit folgenden Worten: ZITATORIN Miep: "Doch immer, an jedem Tag meines Lebens, habe ich mir gewünscht, dass es anders gekommen wäre. Dass Anne und die anderen wie durch ein Wunder gerettet worden wären, auch wenn dann Annes Tagebuch der Welt verloren gegangen wäre. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um sie trauere."TC 19:10 - Outro
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Jan 27, 2024 • 23min

HOLOCAUST-GEDENKTAG - Von der Entrechtung zur Ermordung

Es begann mit Diskriminierungen und endete in der Ermordung. Über Jahre hinweg betrieb das NS-Regime die Ausgrenzung der jüdischen Deutschen, isolierte sie gesellschaftlich, vernichtete sie wirtschaftlich, deportierte sie dann während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Osten und ermordete sie dort. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2021) Credits Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Burchard Dabinnus Technik: Daniela Röder Redaktion: Thomas MorawetzIm Interview: Ernst Grube (Zeitzeuge), Dr. Edith Raim (Historikerin) Linktipps: ARD alpha (2023): Was ist der Holocaust? Was ist der Holocaust und wie konnte es dazu kommen? JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2021): 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – „Eine einseitige Liebeserklärung“ Aus dem Jahr 321 stammt der erste Beleg für eine jüdische Gemeinde im heutigen Deutschland. Für Jüdinnen und Juden ist das ein Anlass zum Feiern und zum Erinnern. Ein Grund zum Jubeln sei das Jubiläum aber nicht: zu traurig sei die jüdisch-deutsche Geschichte – und oft auch die Gegenwart. ZUM BEITRAG BR: Die Rückkehr der Namen Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:40 – Die Anfänge der RassenpolitikTC 04:30 – Raub der ExistenzgrundlageTC 06:48 – Das Schicksal vom Überlebenden Ernst GrubeTC 08:41 – Auftakt des HolocaustTC 10:46 – Ausgestoßen aus Gesellschaft und WirtschaftTC 11:47 – Das grausame SystemTC 18:55 – MassenmordeTC 22:48 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK Nostalgia motif 1 M0010633 037 (0.50) O1 Ernst GrubeUnd die Grundsatzfrage war, werden wir uns wiedersehen. Immer wieder: Werden wir uns wiedersehen, ohne mehr zu wissen. Aber wir hatten natürlich über die Ausgrenzungserlebnisse schon erfahren, dass man uns nicht wollte. ERZÄHLERIN: Ernst Grube war 8 Jahre alt und lebte in einem jüdischen Kinderheim in München, als die nationalsozialistischen Machthaber 1941 begannen, jüdische Deutsche Richtung Osten zu verschleppen – in die Gebiete, die sie seit Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzt hatten. Aus München ging am 20. November die erste Deportation weg. Am Güterbahnhof im Stadtteil Milbertshofen wurden etwa 1000 Menschen unter dem Vorwand der "Evakuierung" in einem Zug abtransportiert. Unter ihnen auch Kinder aus dem jüdischen Kinderheim, Spielkameraden von Ernst Grube. O2 Ernst Grube Es war eine Zeit der der Trauer, und wir haben also nicht gewusst, wo es hingeht. Und wir haben nicht gewusst, ob wir uns wiedersehen werden, und wir haben nach dem Krieg erfahren, dass sie alle fünf Tage nach der Deportation in Kaunas, Litauen, umgebracht wurden. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.20) TC 01:40 – Die Anfänge der Rassenpolitik ERZÄHLERIN:Sofort nach der Machtübernahme 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Abschaffung der Weimarer Demokratie, der Errichtung von Konzentrationslagern, der Verfolgung von politisch Andersdenkenden und der Umsetzung ihrer Rassenpolitik. Über Zeitungen, Radio, Kinofilme propagierten sie das Feindbild der "jüdischen Rasse", des "niederträchtigen Juden", der die nichtjüdische, die sogenannte "arische Volksgemeinschaft" unterwandern, ausbeuten, zerstören wolle. Angehörige der jüdischen Gemeinden wurden per Volkszählung erfasst, jüdische Geschäftsleute durch Boykottaufrufe und Schlägertrupps der SS und SA terrorisiert, jüdische Beamte aus dem Staatsdienst gedrängt.  MUSIK Prisma CD847090 001 (0.27) SPRECHER: Juden, so hieß es in den Nürnberger Gesetzen von 1935, haben kein Stimmrecht mehr in politischen Angelegenheiten, dürfen keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, sie dürfen Nichtjuden nicht heiraten und auch keine sexuellen Beziehungen mit ihnen haben. ERZÄHLERIN:Die Nürnberger Gesetze lieferten eine diffuse Theorie, welche Menschen in der NS Ideologie als Juden galten. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Anzahl der jüdischen Großeltern. Die Betroffenen gerieten ins Visier der Nationalsozialisten als sogenannte Voll-, Dreiviertel-, Halb- oder Vierteljuden, Mischlinge 1. oder 2. Grades … Mit einer Vielzahl von antisemitischen Gesetzen und Verordnungen schufen die Nationalsozialisten eine pseudolegale Basis für die schrittweise Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus vielen Lebensbereichen. MUSIK Structor Part 1 C1524640 (1.00) ERZÄHLERINAuf immer mehr Parkbänken fanden sich Schilder "Nur für Arier" und an immer mehr Eingängen von Geschäften oder Restaurants: "Juden unerwünscht". Jüdische Kinder wurden aus öffentlichen Schulen rausgemobbt. Jüdischen Ärzten und Juristen die Berufsausübung erschwert. Jüdische Geschäftsleute wurden zum Billig-Verkauf ihrer Firmen gezwungen. Diese Verdrängung der jüdischen Bevölkerung nannte sich im NS-Jargon "Arisierung", abgeleitet von dem Begriff "Arier", und ging in der Regel einher mit materiellen Vorteilen für die nichtjüdischen Deutschen – so die Historikerin Edith Raim, die sich intensiv mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in NS-Deutschland auseinandergesetzt hat. O3 Edith RaimDas ist teilweise 'ne Maßnahme der Partei, teilweise ist's auch staatlich gelenkt, und teilweise geht es auch von privaten Initiativen im Grunde aus, also dass bestimmte, besonders attraktive Grundstücke oder Geschäfte oder sowas, dass da einfach die Juden unter Druck gesetzt werden, dass die diese Sachen verkaufen. TC 04:30 – Raub der Existenzgrundlage ERZÄHLERIN:Viele wanderten aus. Denjenigen, die blieben oder bleiben mussten, wurde Schritt für Schritt die Existenzgrundlage entzogen. Im April 1938 bereiteten die Nationalsozialisten mit der systematischen Erfassung der jüdischen Vermögen die späteren flächendeckenden Enteignungen vor. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.30) SPRECHER:Jeder Jude im Sinne der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz – also der sogenannten Nürnberger Gesetze – und ebenso sein nichtjüdischer Ehegatte habe sein gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden, hieß es in der "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden". Ausgenommen seien Gegenstände des persönlichen Gebrauches, die keine Luxusgüter seien. MUSIK Tango defect 1 C1482730 024 (0.40) ERZÄHLERIN:Anfang Juni 1938 riss die Baufirma Leonhard Moll die Münchner Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße im Stadtzentrum ab. Der neuromanische Prachtbau war Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. in der Nähe des Karlsplatzes errichtet worden. Offiziell wurde der Abbruch als städtebauliche Maßnahme begründet. Die jüdische Gemeinde musste die Synagoge und die angrenzenden Verwaltungs- und Wohngebäude gegen Zahlung einer Entschädigung der Stadt München überlassen. Allen Mietern der Wohngebäude wurde gekündigt. Sie mussten ausziehen. Auch Ernst Grube lebte mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in einem der Gebäude, die der jüdischen Gemeinde gehörten. O4 Ernst Grube Nur bei uns war das so, dass eben der Vater nicht gegangen ist, dass er sich um die Kündigung also nun nicht so gekümmert hat und gesagt hat, ich bleib drin, ich geh nicht raus, die sollen uns eine Wohnung geben, so dass wir nach wenigen Wochen die einzigen waren, die in diesen zwei Häusern noch gewohnt hatten. Wir hatten damals 'ne Drei- oder Vierzimmerwohnung und man hat uns dann Licht gesperrt, Gas gesperrt, Wasser gesperrt. Und diese Situation war natürlich nicht haltbar, so dass uns dann die Eltern in das Kinderheim in München Schwabing gebracht haben.TC 06:48 – Das Schicksal vom Überlebenden Ernst Grube ERZÄHLERIN:Ernst Grube war damals sechs Jahre, sein Bruder Werner acht und die kleine Ruth nur ein paar Monate alt. Der Vater kam aus Ostpreußen und war überzeugter Kommunist. Die Mutter stammte aus einer jüdischen Familie und arbeitete im jüdischen Krankenhaus in München – so dass das jüdische Kinderheim eine naheliegende Lösung für das Wohnproblem war. O5 Ernst Grube Es war ein schönes Heim mit einem Garten und mit einer guten Betreuung. Und das eigentlich wichtige ist das Kennenlernen jüdischen Lebens. Bei uns zuhause gab es das nicht. Die Mutter hat zwar gebetet, hat ihre Feste gefeiert und ihre Kerzen angezündet und wir standen so ein bisschen rum. Aber das war kein jüdisches Familienleben. Der Vater war von seiner Einstellung her Kommunist. Er hat das alles zwar sehr toleriert, aber jüdisches Leben, das war dann im Kinderheim. ERZÄHLERIN:Für die drei Geschwister begann eine schöne Zeit. Sie waren gut versorgt und lernten die jüdischen Feste kennen, Chanukka, Pessach, Purim, Laubhüttenfest. Und sie mochten ihre Betreuerinnen sehr gerne. O6 Ernst Grube Ich hab sie so positiv in Erinnerung, ohne dass ich jetzt die einzelnen Namen heute noch nennen kann, außer der Alice Bendix, der Leiterin,  und der Hedwig Jacobi. Sie waren einfach immer da und haben uns geholfen, als wir außerhalb des Heimes von Nachbarskindern öfters angepöbelt wurden, angeschrien wurden, als Judensau beschimpft. Sie haben das ganz super verstanden, uns darüber hinweg zu helfen. MUSIK Structor Part 1 C1524640 011 (0.40) TC 08:41 – Auftakt des Holocaust ERZÄHLERIN:Kurz nachdem Ernst Grube und seine Geschwister in das jüdische Kinderheim gekommen waren, brannten deutschlandweit Hunderte von Synagogen. Ende Oktober 1938 hatten die NS Machthaber polnische Juden aus dem Reichsgebiet abgeschoben, unter ihnen die Familie von Herschel Grynszpan, der daraufhin einen deutschen Diplomaten in Paris erschoss. Dieses Attentat diente als Vorwand für Gewaltaktionen im ganzen Land, organisiert von der NS Führung, getarnt als spontaner Ausbruch des Volkszorns gegen die jüdischen Nachbarn: In Zivil gekleidete Mitglieder von NS Organisationen zerstörten Synagogen, jüdische Geschäfte, Wohnungen, verprügelten die Bewohner, töteten viele und verschleppten Tausende in Konzentrationslager. Die Historikerin Edith Raim zur Bedeutung des inszenierten Gewaltausbruches. O7 Edith RaimDie Pogromnacht vom November 1938 ist der Auftakt eigentlich des Holocaust, weil es der Schritt in die Gewalt ist. Also vorher sind es Maßnahmen, Verordnungen, Gesetze, der Versuch, einfach die Juden aus Deutschland zu vertreiben. Es hat – das muss man auch sagen – bereits vorher natürlich gewalttätige Maßnahmen gegeben. Also es gibt, diese sogenannten Prangermärsche, wo zum Beispiel Juden, die Beziehungen zu nichtjüdischen Frauen, hatten durch den Ort geführt worden sind, geschlagen, bespuckt und verhaftet worden sind. Die Gewalt hat's natürlich vor 1938 auch gegeben, aber diese massive und umfassende Gewalt reichsweit – das ist wirklich was ganz ganz Neues gewesen. ERZÄHLERIN:Viele der jüdischen Männer, die in der Pogromnacht in Konzentrationslager gebracht wurden, überlebten die Haft nicht, andere kamen erst frei, nachdem sie eine Auswanderungserklärung unterschrieben hatten. Die Kosten für die Schäden der Novemberpogrome musste die jüdische Bevölkerung selbst übernehmen und eine Geldbuße in Höhe von einer Milliarde Reichsmark leisten. Die jüdischen Vermögen waren ja bereits im Frühjahr 1938 qua Gesetz erfasst worden. Nun mussten alle, die mehr als 5000 Reichsmark besaßen, 20 Prozent davon an ihr Finanzamt abführen. Wieder gab es eine Flut von diskriminierenden Regelungen. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.35) TC 10:46 – Ausgestoßen aus Gesellschaft und Wirtschaft SPRECHEREine der wichtigsten war die sogenannte "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938. Juden durften keinen Handel, kein Handwerk, kein Gewerbe mehr treiben. Sie durften keine Theater, Museen, Kinos, Freibäder und sonstige öffentliche Einrichtungen mehr betreten. Jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Juden durften keine Autos mehr besitzen und keinen Führerschein mehr haben. O8 Edith RaimUnd es gibt noch jede Menge Schikanen, die dann da kommen. Also die dürfen dann keine Fotoapparate mehr, keine Radio Apparate und so weiter, sogar Fahrräder, dürfen sie nicht mehr haben, Führerscheine nicht mehr haben. Und ab dem 1.1.1939 werden sie gezwungen, diese Zwangsvornamen anzunehmen, also Israel und Sarah, und das wird auch in die Pässe vermerkt. Also sie sind sozusagen damit als Juden gekennzeichnet. MUSIK Scarfaced C1568790 120 (1.05) TC 11:47 – Das grausame System ERZÄHLERIN:Anfang September 1939 begann die NS Diktatur mit dem Einmarsch in Polen den Zweiten Weltkrieg, einen rassenideologischen Vernichtungskrieg – mit dem Ziel, die osteuropäischen Gebiete bis zum Ural zu erobern, dort sogenannte "arische" Deutsche anzusiedeln, die einheimische slawische Bevölkerung teils zu vertreiben, teils zu versklaven oder zu töten und die jüdische Bevölkerung auszulöschen. Dazu wurde in Berlin das Reichssicherheitshauptamt gegründet, in dem nachrichten- und sicherheitsdienstliche Organisationen von SS, Gestapo und Kripo zusammengeführt wurden. Dieses RSHA stellte ideologisch geschulte Spezialeinheiten auf, sogenannte Einsatzgruppen, die in den besetzten Gebieten Führungseliten und Widerstandsgruppen verfolgten, die jüdische Bevölkerung in Ghettos zwangen und verantwortlich für Massenmorde waren. Währenddessen spitzte sich die Situation der jüdischen Deutschen im Reichsgebiet bedrohlich zu. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.25) SPRECHER:Für die in München noch ansässigen Juden würden zur Zeit in Milbertshofen Baracken gebaut, schrieb im Oktober 1941 der Münchner Stadtrat Harbers in einem Bericht betreffend "Umsiedlung der hiesigen Juden". Damit würden dann rund 300 Wohnungen frei, die an Wohnungssuchende vergeben werden könnten. ERZÄHLERIN:Bereits ab Mai 1939 hatten die Nationalsozialisten die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und Häusern gesetzlich vorbereitet und betrieben. NS Organisationen wie die Gestapo arbeiteten dabei eng mit den örtlichen Wohnungsämtern zusammen. Tausende Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen, in engen Sammelunterkünften hausen, ab Mitte September 1941 schließlich den Gelben Stern tragen. Zum Teil waren die Menschen in normalen Wohnhäusern zusammengepfercht, die im NS Verwaltungsapparat "Judenhäuser" hießen. Teilweise wurden auch größere Anlagen von jüdischen Gemeinden wie Altersheime oder Synagogen umfunktioniert und teilweise wurden auch Barackenlager wie im Münchner Stadtteil Milbertshofen gebaut. Die jüdische Bevölkerung war sozial völlig isoliert. Den Deportationen stand nichts mehr im Wege. Sie wurden zentral vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin organisiert. O9 Edith RaimUnd vor Ort ist es dann jeweils die Gestapo, die die Federführung bei den Deportationen hat. Gleichzeitig sind die Deportationen ein wahnsinnig arbeitsteiliger Prozess. Also, man kann nicht sagen: ja, die Gestapo organisiert jetzt alles, sondern das sind natürlich Dutzende von Ämtern beteiligt: Steuerbehörden, Finanzämter und teilweise natürlich auch der Zoll, die Reichsbahn. Also, es kommen sehr viele andere Behörden mit ins Spiel, die benötigt werden. ERZÄHLERIN:Auf Anweisung der Gestapo mussten die jüdischen Gemeinden Listen mit den Namen der Menschen erstellen, die unter dem Vorwand der "Evakuierung" oder "Umsiedlung" abtransportiert werden sollten – und die Betroffenen dann auch darüber informieren. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.45) SPRECHER:Unter dem Betreff "Evakuierung" informierte die Israelitische Kultusgemeinde München im Vorfeld der ersten Deportation im November 1941 die Betroffenen brieflich darüber, dass zufolge einer Anordnung der Geheimen Staatspolizei die Personen, die zum Transport eingeteilt worden sind, sich in ihren Unterkünften bereitzuhalten hätten. Jeder Versuch, sich der Umsiedlung zu widersetzen oder zu entziehen, sei zwecklos und könne für die Betroffenen schwere Folgen haben. Jeder Transportteilnehmer darf 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, Kleidung und Bedarfsgegenstände. Außerdem muss jeder ein ausgefülltes Vermögensverzeichnis mitbringen. ERZÄHLERIN:Das Barackenlager in Milbertshofen diente als Sammelunterkunft. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft der Siedlung am Hart, wurde unter Beteiligung von jüdischen Zwangsarbeitern errichtet, bestand aus zwölf großen und sechs kleinen Holzbaracken und war für etwa 800 Personen geplant, hatte aber zeitweise weit über 1000 Insassen. MUSIK Tango defect 2 C1482730 025 (1.10)  ERZÄHLERINWenige Wochen vor der ersten Deportation aus München wurden alle Betroffenen, die noch nicht im Lager waren, aus ihren Unterkünften nach Milbertshofen gebracht. Alle wurden bei Ankunft durchsucht, nicht erlaubte Gegenstände wurden abgenommen, ebenso Ausweispapiere und Lebensmittelmarken. Jeder musste 50 Reichsmark für die Transportkosten bar bezahlen. Der Rest des Bargeldes musste mit eventuell vorhandenen Wertpapieren, Depotscheinen abgegeben werden, ebenso Vermögenserklärungen, Formulare, in denen detailliert Auskunft über Vermögens- und Besitzverhältnisse verlangt wurde. Damit waren alle Unterlagen für eine spätere Enteignung komplett. Vom Güterbahnhof in Milbertshofen aus wurden dann in den frühen Morgenstunden des 20. November 1941 etwa tausend Menschen in die besetzten Ostgebiete gebracht – unter ihnen auch Kinder aus dem jüdischen Kinderheim in Schwabing. Sie wurden direkt mit dem Bus zum Bahnhof gebracht. Ernst Grube erinnert sich. O10 Ernst Grube In dem Heim waren etwa 40, 50 Kinder, Jugendliche, und davon sind, ich weiß nicht, wieviel, aber so ein gutes Drittel, wenn nicht mehr auf Transport gekommen. Wir wussten natürlich nicht, was das sollte und wohin das ging. Aber allein dieser Zwang der Trennung. Wir haben alle geweint. ERZÄHLERIN:"Verzogen, unbekannt wohin" vermerkten die Einwohnermeldeämter in den Akten der Deportierten. Mit dem Abtransport in die besetzten Ostgebiete wurde die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes wirksam. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.15) SPRECHER:Diese besagte: Juden verlieren die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn sie das Reichsgebiet verlassen. Eigentum und Vermögen fällt an das Deutsche Reich.  ERZÄHLERIN:Es waren die Oberfinanzpräsidien, die mit der „Verwaltung und Verwertung jüdischen Eigentums“ beauftragt wurden. So die Sprache der NS-Bürokratie. Alle Bankkonten und alle Wertpapierdepots wurden zugunsten des Reiches eingezogen ebenso Wertgegenstände wie Schmuck, Teppiche oder Gemälde, die dann bei öffentlichen Versteigerungen unters Volk gebracht wurden. Dazu Edith Raim. O11 Edith Raim 25''Also man hat dann zum Beispiel Mobiliar von Wohnungen genommen, und es wurde dann auf Auktionen versteigert, also der ganze Hausrat, also Töpfe und Geschirr, und was man sich alles an Trivialitäten noch vorstellen mag, das wurde alles versteigert zugunsten des Reiches, und das Interessante ist das natürlich, da viele viele Deutsche sich daran auch bereichert haben, also das war so ein bisschen 'ne Schnäppchenjagd. MUSIK Scarfaced C1568790 120 (0.55)TC 18:55 – Massenmorde ERZÄHLERIN:Die erste Deportation aus München sollte ins lettische Riga gehen, wurde aber kurzfristig umgeleitet in die litauische Stadt Kaunas. Dort hatte der SS-Standartenführer Karl Jäger als Führer des Einsatzkommandos 3 im Juli 1941 die sogenannten „sicherheitspolizeilichen Aufgaben“ übernommen. Mit Hilfe von einheimischen Kollaborateuren waren bis November 1941 bereits Tausende von litauischen Juden ermordet worden. Nach ihrer Ankunft mussten die aus München Deportierten in ein Fort aus der Zarenzeit marschieren, das etwas außerhalb der Stadt lag. Zwei Tage später wurden sie dort zusammen mit Deportierten aus Berlin und Frankfurt am Main von Angehörigen des Einsatzkommandos 3 ermordet. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.35) SPRECHER:Die Durchführung solcher Aktionen sei in erster Linie eine Organisationsfrage, schrieb SS Standartenführer Karl Jäger am 1. Dezember 1941 in seinem Abschlussbericht. Die Juden mussten an einem Ort gesammelt, Plätze für die erforderlichen Gruben ausgesucht und ausgehoben und die Juden an den Exekutionsplatz transportiert werden. ERZÄHLERIN:Auf sechs Seiten präsentierte Karl Jäger eine brutale Todesbilanz. Er listete alle Massenmorde tabellarisch auf: Datum, Ort, Anzahl der ermordeten Männer, Frauen und Kinder, schließlich Gesamtzahl der Ermordeten. Unter Monat November sind die Männer, Frauen und Kinder erfasst, die bei der ersten Deportation aus München verschleppt wurden. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.25) SPRECHER: Am 25.11.41 sind unter Kaunas, Fort IX – 1159 Juden aufgeführt, 1600 Jüdinnen, 175 Judenkinder – insgesamt 2934 Umsiedler aus Berlin, München und Frankfurt am Main. ERZÄHLERIN:Die deutschen Besatzer bauten in den Ostgebieten ein dichtes Netz an Lagern auf: Ghettos, Arbeitslager, Durchgangslager, Vernichtungslager … Die meisten der deportierten Deutschen wurden bei Ankunft im Osten nicht sofort getötet, sondern kamen zuerst in Arbeitslager oder Ghettos, wo sie gemeinsam mit der ostjüdischen Bevölkerung und Deportierten aus ganz Europa auf engstem Raum eingesperrt waren. Wer die schlechten Lebensbedingungen überlebte, wurde später in Vernichtungslager gebracht wie Sobibor, Treblinka oder Auschwitz – und dort ermordet. Bei der zweiten Deportation aus München im April 1942 wurden 774 Menschen ins ostpolnische Piaski verschleppt, einem ehemaligen jüdischen Schtetl, das in ein Ghetto umfunktioniert worden war. Auch von ihnen hat keiner überlebt. Während der nächsten Jahre gingen noch 42 Deportationen aus München weg, die meisten von ihnen ins tschechische Theresienstadt. Ernst Grube und seine Geschwister blieben lange von der Deportation verschont. MUSIK Nostalgia motif 1 M0010633 037 (0.50) O12 Ernst Grube Der Vater als Nichtjude war für uns die Garantie, die vorläufige Garantie des Überlebens. Er hat sich nicht scheiden lassen. Er hat dem Druck standgehalten, den er immer wieder hatte, von der Gestapo durch Vorladung, sich doch von der Saujüdin scheiden zu lassen. Er hat das nicht gemacht. ERZÄHLERIN:Trotzdem wurden die Kinder mit ihrer Mutter im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert. Sie haben überlebt und kehrten nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach München zurück. TC 22:48 - Outro
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Jan 17, 2024 • 37min

Wie war das damals? Als Deutschland eine Diktatur wurde

Kann eine Demokratie sich selbst zerstören? Genau das passierte im Laufe des Jahres 1933 in Deutschland, als Adolf Hitler erst Kanzler wurde und dann die Demokratie mit Terror, Gewalt, aber eben auch mit Verordnungen und Gesetzen zur Diktatur machte. Parteien, Verbände und Vereine, Kultur und Kunst wurden in kurzer Zeit auf die Linie der NSDAP gebracht. Wie konnte das passieren? Und: Kann das in Deutschland noch einmal geschehen? Dieser Frage geht diese Folge von "Wie war das damals?" nach. Von Christian Schaaf & Michael Zametzer Autoren dieser Folge: Christian Schaaf und Michael ZametzerInterviewpartner: Dr. Thomas Schlemmer, Institut für Zeitgeschichte MünchenRedaktion: Nicole Hirsch, Eva Kötting und Heike Simon Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Jan 12, 2024 • 24min

MENSCH UND MEER - Geschichte der Hochseefischerei

Sie sind auf riesenhaften Fabrikschiffen auf allen Weltmeeren unterwegs: Hochseefischer, die in großem Stil Meerestiere auf offener See fangen. Mit der Dampfschifffahrt und der modernen Kühltechnik begann der Aufstieg dieses Metiers, das Fisch zum günstigen und stets verfügbaren Grundnahrungsmittel machte. Inzwischen ist es mitverantwortlich für die Überfischung der Meere. Autor: Lukas Grasberger (BR 2022) Credits Autor dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Thomas Birnstiel, Peter Vet, Karin Schumacher Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview:Ingo Heidbrink (Professor für Maritime History, Old Dominion University, Norfolk);Ole Sparenberg (Forscher am Karlsruher Institut für Technologie);Johanna Sackel (Forscherin an der Uni Paderborn);Celia Ojeda (Meeresbiologin bei Greenpeace) Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Schutz der Hochsee – Kein Erfolg in SichtEs ist bereits das sechste Mal, dass die Vereinten Nationen versuchen, für die Hohe See eine Art Verfassung zu erarbeiten. Doch die Verhandlungen über das Meer außerhalb nationaler Gebiete drohen wieder zu scheitern:Schutz der Hochsee - Kein Erfolg in Sicht (deutschlandfunk.de) BR (2022): Was das Angeln über die Nachhaltigkeit lehrtAngeln hat Einfluss auf Gewässer und ihre Fischbestände. Wie weit Angler:innen tatsächlich nachhaltig in die Gewässerbewirtschaftung eingreifen, das erklärt der Fischereiwissenschaftler Prof. Dr. Robert Arlinghaus von der HU Berlin: Prof. Dr. Robert Arlinghaus, Fischereiwissenschaftler: Was das Angeln über die Nachhaltigkeit lehrt | Campus | ARD alpha | Fernsehen | BR.de Deutschlandfunk (2018): Ausbildung in der Fischerei – Knochenjob auf hoher SeeDie Zahl der Schiffe und Meeresfischer ist in den letzten Jahrzehnten stark gesunken: Schwankende Fangquoten und strenge Auflagen machen den Fischern das Leben schwer. Trotz der schwierigen Bedingungen entscheiden sich jedes Jahr junge Menschen für den Beruf auf hoher See: Ausbildung in der Fischerei - Knochenjob auf hoher See (deutschlandfunk.de) Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:22 – Hunger treibt auf die See TC 03:31 – Wie Dampfmaschine und Urbanisierung die Fischerei beeinflussten TC 05:29 – Die Fisch Propaganda TC 09:12 – Deutschland wird wieder ‚Klar Schiff‘ TC 10:51 – Das Ende der Freiheit der Meere TC 14:56 – Spanische Fischergeschichte(n) TC 17:34 – Was der globale Heißhunger auf Fisch anrichtet TC 21:42 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  Beginn mit MUSIK 1: Kat’s gut - C1537750103 – 50 Sek ATMO Fischerboot fährt ein, legt an SPRECHER Bedächtig schiebt sich die „Juanito Uno“ an die Mole im Hafen von Agaete auf Gran Canaria. Während seine Kollegen den Fischkutter vertäuen, schlingt Estebán ein Kunststoffseil um die meterbreite Schwanzflosse eines Thunfischs im Heck des blau-weißen Bootes.  ATMO Thunfisch wird an Seilwinde hochgezogen Alleine schafft es der schlaksige Fischer nicht, den silbriggrau glänzenden Raubfisch aus dem Boot zu hieven. Am Ende ziehen drei Männer in gelbem Ölzeug an der Seilwinde. Zentimeter für Zentimeter bewegt sich der mehrere hundert Kilo schwere Blauflossenthun nach oben, nach und nach offenbart sich das ganze Ausmaß des Fangs. O-TON 1 Estebán, Fischer im Hafen von Agete, span,  OVERVOICE männlich „Wir wissen mittlerweile, wo wir sie finden: Dazu brauchst du Erfahrung – und Gespür. Und du musst auch schon mal Seemeilen machen - weit raus auf hohe See. Manchmal fahren wir rüber bis nach La Gomera - oder wir fischen vor Fuerteventura.“  ATMO Schiff auf See TC 01:22 – Hunger treibt auf die See SPRECHER Seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden wagen sich Menschen wie Estebán hinaus auf die hohe See, auf der Jagd nach nahrhaftem Meerestier wie Thunfisch, Wal oder Kabeljau. Bereits vor 42.000 Jahren hätten sich die Bewohner von Timor zu Hochseefischern entwickelt, erklärt die australische Archäologin Sue O´Connor, die in einer Höhle von Ureinwohnern Thunfisch-Gräten entdeckte, in einer 2011 veröffentlichten Studie. Da es auf der Insel im indischen Ozean außer Ratten und Fledermäusen kein essbares Tier gegeben habe, seien sie gezwungenermaßen hinaus aufs offene Meer gefahren, um dort Thunfisch zu angeln.  MUSIK 2: THE DECISION TO TURN AROUND - C1108980 005 – 59 SEK SPRECHER Hochseefischerei als organisiertes Unterfangen und betrieben in großem Maßstab – die gibt es seit dem 15. Jahrhundert. Als erste stellten damals die Niederländer Fangflotten zusammen, die wochenlang auf See bleiben konnten. Versorgt wurden diese Fangboote von so genannten „Ventjagers“ - Frachtschiffen, die den Fisch übernahmen und in die Häfen transportierten. Die Fische und andere Meerestiere sammelten die niederländischen Fischfangflotten mit Hilfe langer Schleppnetze ein. Dieses Schleppnetzfischen gelangte aber erst im 19. Jahrhundert zu großer Blüte. Zusammen mit vor allem einer technischen Neuerung brachte der Fang mit Hilfe von Schleppnetzen die Entwicklung einer Hochseefischerei auf breiter Front voran, erklärt der Historiker Ole Sparenberg.  O-TON 2 Ole Sparenberg, Forscher am Karlsruher Institut für Technologie „Also es muss eine Reihe von technischen und anderen Innovationen zusammenkommen, erst mal natürlich der Einsatz der Dampfmaschine. Die ist natürlich schon länger bekannt, aber in der Fischerei begann der Einsatz von Dampfmaschinen tatsächlich erst in den 1880er Jahren.Eine andere technische Innovation, die auch schon ab den späten 1860 er Jahren so langsam begann, war die Lagerung von Fisch auf Eis. Dann das Grundschleppnetz: Das wurde vorher schon eine Zeit lang für Segelfahrzeuge eingesetzt, aber mit einem Dampfer-Fahrzeug kann mit viel mehr Geschwindigkeit und damit effizienter und auch wetterunabhängiger ein Netz über dem Boden schleppen und damit effizienter fischen. […]. Eine andere technische Innovation, die auch schon ab dem späten 1860er Jahren so langsam begann, war die Lagerung von Fisch auf Eis “ TC 03:31 – Wie Dampfmaschine und Urbanisierung die Fischerei beeinflussten SPRECHER Dampfantrieb und Eis-Kühlung in Kombination machten die Fischer also unabhängig von Zeit und Raum. Darin sieht Ingo Heidbrink, Professor für Maritime Geschichte, den eigentlichen Beginn der modernen Hochseefischerei.  O-TON 3 Ingo Heidbrink, Prof für Maritime History, Old Dominion University in Norfolk „In dem Moment, wenn Sie den Fisch bereits an Bord schlachten und auf Eis lagern, haben Sie natürlich eine größere See-Ausdauer. Sie können ungefähr Fahrzeiten bis zu drei Wochen nach dem ersten Fangtag damit erzielen und damit erhalten sie die Möglichkeit, auch einmal die Küstengewässer zu verlassen und weiter entfernte Fanggründe anzulaufen.“  ATMO Raddampfer-Fahrt SPRECHER Der Fischfang, sagt die Paderborner Geschichtswissenschaftlerin Johanna Sackel, wurde zudem von der Dynamik der Industrialisierung erfasst – und in diese eingebunden. Die Möglichkeit, große Mengen an Waren schnell über weite Strecken zu transportieren, veränderte die Fischerei grundlegend. O-TON 4 Johanna Sackel, Forscherin an der Uni Paderborn + Autorin „Wem gehört das Meer?“ „Durch die die Etablierung und den Ausbau der Eisenbahn wurde es letztlich möglich, den Seefisch dann eben auch im Binnenland zu vermarkten. Das heißt, die verderbliche Ware konnte nun schneller zu den Verbrauchern transportiert werden und war das dann einmal etabliert, mussten natürlich diese neue geschaffenen Absatzmärkte auch bedient werden.“ O-TON 5 Sparenberg Teil 1   „...da spielt natürlich das Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert eine große Rolle, und vor allem auch die Urbanisierung.“ SPRECHER ergänzt Ole Sparenberg. Die Arbeiterschaft in den wachsenden Industriestädten hungerte nach proteinreicher Nahrung. O-TON 5 Sparenberg Teil 2 „Aber eben dieser Massenmarkt in den Städten musste dazu kommen, um überhaupt wie die Nachfrage nach so einer Hochseefischerei im großen Stil zu schaffen.“ SPRECHER Es waren die ersten und wichtigsten Industrienationen Großbritannien und Deutschland, die auch den industriellen Fischfang vorantrieben. Ole Sparenberg, der am Karlsruher Institut für Technologie zur Umwelt- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts forscht, skizziert die Anfänge einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte. TC 05:29 – Die Fisch Propaganda  O-TON 6 Sparenberg „Der Durchbruch, was man so als Beginn der deutschen Hochseefischerei bezeichnet, war dann 1885, als der Fischhändler Friedrich Busse aus Geestemünde - das ist heute Bremerhaven - den ersten deutschen Fischdampfer, die Sagitta gebaut hat, das folgte britischen Vorbildern...  Das ging dann relativ schnell, also in Deutschland gab es dann um 1900 bereits über 100 Fischdampfer, und die wesentlichen Standorte, der diese Industrie waren, was heute Bremerhaven ist: also Geestemünde und dann Hamburg-Altona, und auch Cuxhaven.“ SPRECHER Der deutsche Verbraucher fremdelte anfangs mit dem auf hoher See gefangenen Kabeljau, Rotbarsch oder Seelachs. Zum einen hätten sowohl Fischhändler wie ihre Ware anfangs noch penetrant gestunken, weiß Sparenberg. Zum anderen waren viele nicht mit der Zubereitung, vor allem dem Ausnehmen der noch samt Innereien verkauften Meerestiers vertraut. O-TON 7 Sparenberg „Insofern gab sehr früh dann schon, ab den 1880er, 90er-Jahren, Werbemaßnahmen, Absatzförderung, sogenannte Seefisch-Propaganda: Man ist gezielt auf Großabnehmer wie Gefängnisse, Kasernen, Bergwerke und so weiter herangetreten, um damit den Absatz für den Fisch zu schaffen. Also, das war immer der wunde Punkt der deutschen Fischwirtschaft, dass es da Absatzprobleme gab, und das Ganze stark auf staatliche Förderung angewiesen war. Das hat dann im Kaiserreich auch natürlich damit zu tun, dass es vor dem Hintergrund stand von Marine-Begeisterung und Flottenrüstung. Die Fischerei war Teil der deutschen Seeinteressen, wie das hieß. Man sah auch immer die Hochseefischerei so als Rekrutierungsbüro für die deutsche Marine, deshalb genoss das eben auch eine staatliche Förderung.“ ATMO Kanonendonner, Schiffskrieg WW1 + MUSIK 3: The organ grinder – M0084185144 - 58 Sek SPRECHER Im Ersten Weltkrieg wurde in den Weiten der Nord- und Ostsee kaum gefischt. Vielmehr waren die Meere Schauplatz erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa zwischen den führenden Fischerei-Nationen Deutschland und Großbritannien.  Mit der kriegsbedingten, marinen Hochrüstung erfuhren viele Schiffe indes eine Modernisierung. Nach Ende des Ersten Weltkriegs verdoppelte sich die Zahl der Boote der deutschen Hochseeflotte nahezu – auf gut 400. Weiter befeuert wurde dieser Boom ab 1933 durch die Nationalsozialisten. Die NS-Diktatur, die unter einem Mangel an Devisen litt und einen Krieg vorbereitete, wollte möglichst unabhängig werden von Importen aus anderen Ländern, erklärt Ole Spargenberg. Der Historiker hat zu „Hochsee-Fischerei und Walfang im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik“ promoviert. O-TON 8 Sparenberg  „Schlagwörter der damaligen Zeit waren die Fett- und Eiweiß-Lücke: Fett- und Eiweißversorgung konnte die Landwirtschaft trotz politischer Förderung, trotz der sogenannten Erzeugungsschlacht... konnten die das nicht decken. Man konnte einfach keine Autarkie, keine Selbstversorgung bei Fett und Eiweiß herstellen. Spätestens ab 1936 bewarben Staat und Wirtschaft Fisch als ideale devisenfreie Ernährung“ SPRECHER Die Nationalsozialisten beschlagnahmten den überwiegenden Teil der deutschen Fischdampferflotte für den Dienst im Zweiten Weltkrieg. Etliche hochseetaugliche, zu Kriegsschiffen umgerüstete Fischereiboote wurden versenkt, nach Ende des Krieges standen nur noch 58 Schiffe für den Fischfang zur Verfügung. Die Auflagen der alliierten Besatzer für den Bau neuer Boote waren streng, bis 1949 war dieser ganz verboten. Doch danach konnte die deutsche Hochsee-Fischerei relativ nahtlos an die technischen Errungenschaften der Zwischenkriegszeit anknüpfen.  TC 09:12 – Deutschland wird wieder ‚Klar Schiff‘  O-TON 9 Heidbrink „Nach dem Zweiten Weltkrieg sehen wir wahrscheinlich die größten Veränderungen in der Hochseefischerei überhaupt“ SPRECHER ...betont Ingo Heidbrink. Die einstigen Fischdampfer fuhren nun mit Dieselmotoren. Dazu betrieben die Boote ihre Fischerei als Heckfänger: Das Netz wurde nun nicht mehr über die Seite, sondern über das Heck eingeholt. Damit konnte man bei schlechterem Wetter und mit weniger Personal fischen. So genannte Fang-Fabrikschiffe entstanden, die den Fisch an Bord schlachteten, verarbeiteten und kühlten – und damit theoretisch unbegrenzte Zeit auf offener See zubringen konnten, ohne dass der Fang verdarb. MUSIK Doku NWDR: 1955 Heringsfischerei in D (ca. 30 Sek)  Mit einer der modernsten Flotten Europas gingen die deutschen Hochseefischer so ab den 1950er-Jahren wieder auf große Fahrt – auch fern der Heimat. ZSP 1 aus Doku NWDR: 1955 Heringsfischerei in Deutschland (18 sek)  „In den ersten Maitagen heißt es wieder „Klar Schiff!“ Schließlich wollen wir Ende des Monats mit diesen Schiffen bis an die Shetlands, wo sich dann der Matjes aufhält. Da gibt’s noch ne Menge Arbeit! Wir deutschen Logger fischen da oben nicht allein: Beim Heringsfang trifft sich so ziemlich die gesamte seefahrende Bevölkerung Europas.“  SPRECHER Auch die DDR etablierte ab Ende der 1940er-Jahre eine eigene Hochseefischerei. Deren Boote gingen zunächst in der Ostsee, bald darauf aber wie ihre westdeutschen Konkurrenten in der ganzen Welt bis vor Argentinien oder im indischen Ozean auf Fangtour. Doch die „Freiheit der Meere“ sollte bald der Vergangenheit angehören, sagt der Meeresforscher Ingo Heidbrink. Dies liege in einer „völligen Umgestaltung der politischen Landkarte“ nach dem Zweiten Weltkrieg begründet. TC 10:51 – Das Ende der Freiheit der Meere O-TON 10 Heidbrink „Das heißt Island wird eine eigene, voll souveräne Nation. Grönland bleibt bei Dänemark oder geht zurück zu Dänemark, verlangt aber eine größere Autonomie in mehreren Schritten. Und als dritten Schritt Kanada - beziehungsweise vor allen Dingen Neufundland - ist nicht mehr ein britisches dominion, sondern wird Bestandteil von Kanada. Und damit haben wir innerhalb kürzester Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Nordatlantik nicht mehr eine Gruppe von Kolonien beziehungsweise teilweise kolonial abhängigen Staaten, sondern souveräne Staaten, die agieren.“  SPRECHER Denn es ist keineswegs so, dass die so genannte Hochseefischerei vorwiegend in den Weiten internationaler Gewässer stattfindet, wo sich die Fangschiffe nicht ins Gehege kommen, betont Ingo Heidbrink. Das Gros der globalen Fischbestände befinde sich innerhalb von 200 Meilen vor der Küste von Staaten – die diese Gebiete als „ausschließliche Wirtschaftszone“ nutzen dürfen. O-TON 11 Heidbrink „Hochseefischerei ist Küstenfischerei an fernen Küsten, eigentlich oder nicht an fernen Küsten, sondern vor fernen Küsten. Und damit haben sie natürlich eine Konkurrenzsituation zur lokalen Küstenfischerei.“ SPRECHER Ab Ende der 1950er-Jahre führte dies zu Konflikten zwischen den führenden Hochseefischerei-Nationen Großbritannien und Deutschland – und dem „Newcomer“ Island, der plötzlich eine Zone von mehreren Meilen vor seiner Küste ausschließlich für die eigenen Fischer beanspruchte.  ATMO Schiffssirene aus Doku „Cod Wars“ + ATMO Wellen SPRECHER Island schaffte es bis Mitte der Siebziger Jahre, seine Fischereigrenzen von vier auf zwölf, dann auf 50 und zuletzt auf 200 Seemeilen auszuweiten. Damit schuf der junge Inselstaat im Nordatlantik einen Präzedenzfall. Die Karten im Konkurrenzkampf um die ertragreichsten Fischereigründe wurden neu gemischt.  O-TON 12 Sparenberg „Und das hat natürlich für diese traditionellen Hochseefischereinationen wie Deutschland und Großbritannien ernste Auswirkungen gehabt, der deutschen Hochseefischerei brachen insofern ihre Fanggründe weg. Das hatte dann schwere wirtschaftliche soziale Auswirkungen an den Standorten der Hochseefischerei, also vor allem Bremerhaven und Cuxhaven, zumal die sonstiger wirtschaftliche Entwicklung Werften, Hafen und so weiter auch nicht gut lief.“ MUSIK 4: „Titelfolge“ aus „Der Seewolf“- C1164320 132 – 27 Sek SPRECHER Bestand die deutsche Hochseefisch-Flotte Mitte der 1970er-Jahre noch aus 66 Schiffen, so waren es zehn Jahre später nur noch 15. Die Politik konnte den Niedergang nicht stoppen: Sie setzte auf Hilfen, um ihn zumindest abzufedern – und auf viel Pathos, weiß Johanna Sackel, die schwerpunktmäßig zu maritimer Geschichte forscht.  O-TON 13 Sackel „Da hat man auch dieses Bild(...) kreiert, wo der Hochseefischer so als einen heroischer, blonder Mann dargestellt ist, der in die Ferne blickt und dem man ansieht, dass er einfach mit allen Wassern gewaschen, gewaschen ist. Der Hochseefischer wurde verbunden mit den Eigenschaften Tapferkeit und natürlich auch Heldenmut also, das waren so die beiden ja, Eigenschaften, die den die man dann auch in der Öffentlichkeit versucht hat bekannt zu machen und vor allen Dingen dann eben auch seitens der Politik das stark zu machen und somit auch zu rechtfertigen, warum diese Branche Unterstützung erfahren sollte.“ SPRECHER Tatsächlich schien und scheint der Beruf des Hochseefischers Mut zu erfordern: Er zählt laut einer 2016 veröffentlichten Auswertung des US-amerikanischen Amts für Arbeitsstatistik zu den gefährlichsten Berufen der Welt. Besonders der Thunfischfang führt zu etlichen, auch tödlichen Arbeitsunfällen auf hoher See: Immer wieder werden Fischer ins Meer oder auf die Planken geschleudert, wenn der mehrere hundert Kilo schwere Raubfisch im Todeskampf um sich schlägt.  MUSIK 5: „Kat’s gut“ – siehe Musik 1 – 19 Sek +  ATMO Hafen von Agaete Auch Estebán, der gerade vom Thunfischfang auf dem Atlantik ins kanarische Fischerdorf Agaete zurückgekehrt ist, kann dazu Geschichten erzählen.    TC 14:56 – Spanische Fischergeschichte(n) O-TON 14 Estebán OV OVERVOICE männlich „Es ist eine gefährliche Arbeit. Wir kämpfen ja mit dem Thunfisch quasi Mann gegen Mann, das kann Stunden dauern. Er hat scharfe Zähne und Flossen, über die du dir allerlei Verletzungen zuziehen kannst. Spannt sich die Fangleine, ist das wie ein Messer, durch das du Finger oder auch mal einen ganzen Arm verlierst.“ SPRECHER Der Rentner Yano, der das Gespräch auf seinem Plastikstuhl mit anhört, nickt versonnen. Der 89-jährige fischte seinerzeit selbst auf einem kleinen Fischkutter auf dem Atlantik. Als dann gegen Ende der 1960er-Jahre immer mehr Hochsee-Schiffe großer Unternehmen in den Hafen von las Palmas kamen, heuerte Yano an. O-TON 15 Yano, span. dt. OV „Wir haben vor allem vor der afrikanischen Küste gefischt, haben dort Thunfisch, aber auch andere Arten gefangen. Wir waren zwei Dutzend Seeleute, und 25 Tage auf See unterwegs!... es war eine harte, aber schöne Zeit.“ SPRECHER Während in den 60er und 70er-Jahren die deutsche Fischereiflotte schrumpfte, begann der unaufhaltsamer Aufstieg Spaniens zur wichtigsten europäischen Hochseefischerei-Nation. Diktator Francisco  Franco verfolgte das Ziel, sein Land zu einer globalen Fischerei-Macht zu machen – und steckte viel Geld in den Ausbau der heimischen Hochseefischerei. Spanien kam dabei lange zugute, dass es sich nicht mit souveränen Staaten herumschlagen musste, die auf ihre Fischerei-Zonen pochten – sondern mit der West-Sahara eine Kolonie besaß, vor deren Küste man reichhaltige Fischgründe ausbeuten konnte. Und nach Ende der Franco-Diktatur und dem Eintritt in die Europäische Union waren es vor allem spanische Hochseefischer, die von Fischerei-Abkommen profitierten, die die EU mit afrikanischen Küstenstaaten schloss. O-TON 16 Sackel „In Westafrika zum Beispiel sind das vor allem die EU-Staaten, die dort Lizenzen erworben haben. Was eben diese Lizenzvereinbarung vorsieht: Also wir bauen euren Fischereisektor mit auf und leisten Entwicklungshilfe und dafür dürfen wir eben in euren Gewässern fischen. (...) wie dann zum Beispiel die Spanier, die halt im Rahmen von diesem EU Abkommen dort fischen konnten und die dann auch maßgeblich dazu beigetragen haben, leider diese Bestände zu überfischen, weswegen dann letztlich die kleinen Fischer, die dort lebten, das Nachsehen hatten. Meistens waren das ja schon fast Raubzüge, könnte man sagen, die dort stattgefunden haben, die dann natürlich auch sehr viel weiter draußen stattfanden, wohin die kleinen Fischer mit ihren Booten überhaupt nicht konkurrieren konnten.“ MUSIK 6: „Sonar 1“ – M0007520 052 – 34 Sek  TC 17:34 – Was der globale Heißhunger auf Fisch anrichtet SPRECHER Dass vor allem die industriell betriebene Fischerei die Ressourcen der Meere massiv dezimierte – das wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich. Zwei Drittel der globalen Bestände sind mittlerweile überfischt, oder gar in ihrer Existenz bedroht. Es sei nicht nur die schiere Masse an Meerestieren, die die Trawler mit modernen Ortungssystemen wie Sonar punktgenau finden und mit riesigen Schleppnetzen aus dem Ozean holen, sagt der Meeresforscher Ingo Heidbrink. O-TON 17 Heidbrink „... sondern das Problem ist vor allen Dingen, dass die Fernfischerei agieren kann in dem Moment, wenn die lokale Fischerei nicht agieren kann. Heißt: Wenn wir durch Wetter oder See-Situation Bedingungen haben, dass die lokale Fischerei nicht agieren kann oder nur sehr küstennah agieren kann, dann kann etwas weiter draußen auf dem Fangplatz das Fabrikschiff völlig problemlos arbeiten.“ SPRECHER Wissenschaftlern und Umweltschützern zufolge sind nicht nur die hochtechnisierten Fangflotten für die Überfischung verantwortlich. Auch Akteure wie die EU sorgten mit ihrem laxen System der Fischerei-Quoten dafür, dass die industrielle Hochsee-Fischerei die Meere regelrecht ausplündere, sagt Celia Ojeda von der Umweltorganisation Greenpeace. Der Thunfisch stehe beispielhaft für das strukturelle Versagen des Instruments der Fischerei-Quoten. O-TON 18 Celia Ojeda. Meeresbiologin, Greenpeace span, dt. OV OVERVOICE weiblich „Der Thunfisch ist zwar die Fischart, bei der am genauesten kontrolliert wird, welche Menge welches Boot fangen darf. Die Internationale Kommission für die Erhaltung der Thunfischbestände im Atlantik, an deren Beschlüsse die EU gebunden ist, erlaubt aber stets deutlich höhere Fangmengen, als die Wissenschaft für notwendig hält. Noch gar nicht in diese Quoten eingerechnet ist dabei die beträchtliche Zahl an Thunfischen, die illegal gefangen werden.“ SPRECHER  Dies habe nicht nur ökologisch, sondern auch sozial gravierende Folgen, warnt die promovierte Meeresbiologin Ojeda. O-TON 19 Ojeda OV OVERVOICE weiblich “Die Wildwest-Methoden dieser industriellen Fischerei führen neben offensichtlicher Nahrungsknappheit in den Küstenregionen auch zu schweren sozialen Verwerfungen. Etliche Fischer sehen daher keine andere Möglichkeit, mit ihren Booten übers Meer nach Spanien, nach Europa zu flüchten“   SPRECHER  Paradoxerweise fördere die Politik global weiter solche Fischerei in großem Stil, um die wachsende Nachfrage der Weltbevölkerung nach Meerestieren zu stillen, klagt die Greenpeace-Aktivistin.  MUSIK 7: „DESOLATION B“ – C1609470 127 – 47 SEK Den globalen Heißhunger auf Fisch decken zunehmend Fabrikschiffe wie die Annelies: Der mit 144 Metern Länge und einer Verarbeitungskapazität von 350 Tonnen pro Tag größte Trawler der Welt ist indes durch illegale Fischerei vor der irischen Küste aufgefallen. Auch die derzeit wichtigste Hochseefischereination China macht regelmäßig durch Piratenfischerei Negativschlagzeilen.  Der Meereswissenschaftler Ingo Heidbrink ist angesichts solcher Entwicklungen pessimistisch, was den Willen und die Fähigkeit der Küstenstaaten sowie internationaler Organisationen angeht, legaler wie illegaler Überfischung Einhalt zu gebieten. O-TON 20 Heidbrink „Ich sehe keinerlei Anzeichen, dass diese Prozesse....dass wir auf der einen Seite eine Modernisierung der Fischerei haben, dass wir auf der anderen Seite steigende Nachfragen haben, irgendwo zum Ende kommen, in globaler Hinsicht.“ MUSIK 8: „Sonar 1 – siehe vorn – 47 Sek SPRECHER „There is always another fish available“, „Es gibt immer einen anderen Fisch“ lautet der Titel einer Studie von Ingo Heidbrink, in der dieser untersucht hat, wie deutsche Hochseefischer die Quoten zur Fischfang-Beschränkung übergingen. Heidbrinks Kollege Ole Sparenberg kann diese Erkenntnis aus historischer Erfahrung bestätigen.  O-TON 21 Sparenberg „Wenn man sich die Geschichte der deutschen Hochseefischerei anguckt, ist es oft die Geschichte von Expansion, also:  Man fängt ein Gebiet leer - und geht dann zum nächsten.“ TC 21:42 - Outro
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Jan 12, 2024 • 24min

MENSCH UND MEER - Die Challenger-Expedition

Es ist eine gigantische Expedition, die im Dezember 1872 in England Segel setzt. Die Challenger-Expedition soll die Tiefen der Weltmeere erkunden. Wie tief ist die tiefste Stelle im Meer? 700 Meter tief? Oder unendlich tief? Keiner weiß das. Stattdessen ranken sich Mythen um die Bewohner der Weltmeere. Ungeheuer, die ganze Schiffe versenken! Dreieinhalb Jahre dauerte die Reise des Schiffs. Die Ausbeute war enorm. Autorin: Yvonne Maier (BR 2018)Credits Autorin dieser Folge: Yvonne Maier Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Werner Härtl, Rainer Buck, Anna Greiter Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: Planet Wissen (2020): Entdeckungsreise in die Tiefsee – Forschung am LimitDie Tiefsee ist das größte, wichtigste, bislang aber auch am wenigsten erforschte Ökosystem der Erde. Der gewaltige Druck, die Kälte und das fehlende Licht erschweren alle Forschungsvorhaben in größeren Tiefen enorm. Doch jetzt gilt es, die Anstrengungen zu forcieren. Denn die Eisdecke in der Arktis schmilzt rasant und das könnte gravierende Folgen für die arktische Tiefsee und auch für uns Menschen haben: Planet Wissen: Entdeckungsreise in die Tiefsee - Forschung am Limit | ARD Mediathek Deutschlandfunk (2020): Schätze am Meeresgrund – Ist Tiefseebergbau die Zukunft?Weltweit bereiten sich Firmen darauf vor, in bisher unberührte Regionen der Ozeane vorzustoßen. Sie wollen in der Tiefsee Manganknollen vom Meeresgrund ernten. Doch Umweltschützer und Wissenschaftler schlagen Alarm: Der Schaden für die Ökosysteme der Meere wäre irreparabel: Schätze am Meeresgrund - Ist Tiefseebergbau die Zukunft? (deutschlandfunk.de) Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Beckenbauer - Der letzte Kaiser von DeutschlandFranz Beckenbauer ist tot. Er war Fußballweltmeister als Spieler und Trainer, Chef-Organisator des Sommermärchens WM 2006, Werbeikone, Weltstar. Der "Kaiser" hat das Bild der Bundesrepublik Deutschland im Ausland geprägt wie sonst kaum jemand. Der Schauspieler und Fußballfan Sebastian Bezzel erzählt in vier Folgen die Geschichte einer unglaublichen Karriere. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 - Intro TC 01:30 – Auf zu den Mythen der Weltmeere TC 04:09 – Eine Reise, die man sich heute kaum vorstellen kann TC 07:37 – Ewige Zeitkapseln: Briefe und Funde der Expedition TC 10:58 – Über Brasilien und Südafrika nach Australien TC 14:30 – Am tiefsten Punkt im Meer TC 17:28 – Bis zum Ende der Welt und viel weiter TC 21:33 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro ZITATOR 1 Liebe Mutter, heute war ich bei dem charmanten Professor Wyville Thomson, der den 1. November als Leiter einer dreijährigen Expedition um die Welt mit einem besonders hierzu ausgerüsteten Kriegsschiffe abgeht. Während ich in seinem herrlichen Salon mit ihm sprach, wurde er nachdenklich, fragte mich, ob ich oft an der See gearbeitet habe und dann: „If I should like to go round the world.“ MUSIK kurz freistehend SPRECHERIN  Der junge Mann, der am 10. Oktober 1872 in Edinburgh diesen Brief an seine Mutter schreibt, ist der 25-jährige Rudolf von Willemoes-Suhm. Ein Zoologe, der sich seit seiner Kindheit als Sammler und Beobachter der lokalen Flora und Fauna auszeichnet. Ob er um die Welt fahren möge? Eine dreijährige Expedition auf einem Segelschiff, zur Erforschung der Meere? Der junge Mann muss nicht lange überlegen: ZITATOR 1 Ich antwortete natürlich, dass dies für mich ein großes Glück sei. Drei Jahre auf einem englischen Schiffe, kreuz und quer fahren, wäre ja herrlich! – morgen früh nach London. MUSIK endet / MUSIK „Intricate motion red“ ATMO Meer/Segelschiff beginnt unter dem nachfolgenden Text TC 01:30 – Auf zu den Mythen der Weltmeere SPRECHERIN Die Challenger-Expedition von 1872 bis 1876 gilt bis heute als Beginn der wissenschaftlichen Meereskunde. Die Weiten der Weltmeere sind zu dieser Zeit fast unbekannt, vor allem um die Tiefsee ranken sich Mythen. Keiner weiß zum Beispiel, wie tief die tiefste Stelle der Weltmeere ist – 700 Meter? 2.000 Meter? Und was befindet sich da unten? Gibt es dort überhaupt Leben? Ganz praktisch ist die damalige Telegrafie-Industrie an diesem Wissen interessiert. Denn wenn man Tiefseekabel verlegen will, die die Kontinente miteinander verbinden, muss man wissen, wie der Boden beschaffen ist und wo er sich genau befindet.  Am 21. Dezember geht es los. Rudolf von Willemoes-Suhm ist mit an Bord. Er wird seine Heimat nie wieder sehen. MUSIK/ATMO kurz freistehend MUSIK endet unter dem nachfolgenden Text SPRECHERIN Die H.M.S. Challenger ist ein umgebautes Kriegsschiff, im Auftrag der Royal Society. Sie ist ein segelndes Labor, ausgestattet mit Mikroskopen, Netzen, Fallen, Aquarien und hunderte Meter langen Seilen, um die Meerestiefe zu loten und Tiere und Pflanzen aus dem Meer zu fischen. Die Expedition soll physikalische Messungen vornehmen: Wassertemperatur und Tiefe. Wie sind die Lichtverhältnisse? Die Strömungen? Wie sieht der Boden der Tiefsee aus – und: Wie ist das Leben im Meer verteilt? Darüber hinaus sollen die Flora und Fauna der angefahrenen Küsten erfasst werden. Eine gigantische Aufgabe. 216 Matrosen und wissenschaftliche Mitarbeiter legen in London ab – dreieinhalb Jahre später kehren nur 144 Mann zurück, manche gehen unterwegs freiwillig von Bord, andere sind gestorben oder krank geworden.  ATMO kurz freistehend SPRECHERIN Zunächst geht es Richtung Süden entlang der spanischen Küste. ZITATOR 1 H.M.S. Challenger, 31. Dezember 1872 – Atlantischer Ozean bei Kap Finisterre.  ATMO endet unter dem nachfolgenden Text  SPRECHERIN Sofort nach Ablegen beginnt die Arbeit. Mit einer Dampf-Dredgemaschine – mit einem großen Schleppnetz – holen die Forscher die ersten Meerestiere an Bord. Der junge Zoologe ist begeistert. ZITATOR 1 Glänzender, kleiner Fisch, von sonderbarster Form, und ein fast durchsichtiger Seestern von schönstem Roth, außerdem viele Krabben und Würmer. … Das Schiff schaukelt zwar, zittert aber selbst unter Dampf nicht, so dass ich sogar meine Zeichnungen während der Fahrt ausführen konnte.  MUSIK „The Swede“, J. Söderqvist TC 04:09 – Eine Reise, die man sich heute kaum vorstellen kann SPRECHERIN Weiter geht es Richtung Madeira und Teneriffa – dann über den Atlantik in die Karibik. Eine Reise, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Natürlich gibt es immer noch Forschungsschiffe, die sogar bis in die Antarktis fahren. Doch dreieinhalb Jahre am Stück ist heute keiner mehr auf Forschungsfahrt. Allein die Logistik mutet abenteuerlich an. Der Reiseplan ist im Vorhinein erstellt, doch Flauten oder Stürme bringen ihn regelmäßig durcheinander. Es ist erstaunlich, mit welcher Zuverlässigkeit die Briefe hin- und hergeschickt werden, Tiere und Pflanzen die Postämter in Deutschland und England erreichen – manchmal sogar lebende Tiere, wie Papageien.  MUSIK endet ZSP. 1 WEFER „Es war ja eine britische Expedition und England war natürlich gut vernetzt.“ SPRECHERIN Gerold Wefer ist Professor für Geologie mit dem Schwerpunkt Meeresgeologie an der Universität Bremen.  ZSP. 2 WEFER „Wenn das jemand machen konnte, dann könnten das die Briten und zum Beispiel Hongkong war ja damals auch ein ganz wichtiger Hafen. Und die hatten auch die Mittel. Man hat ja mal ausgerechnet, dass das ungefähr 20 Millionen Dollar oder Euro gekostet hat, also wenn man das umrechnet. Sie hatten auch Mittel, sich so etwas einzukaufen.“ SPRECHERIN So beschreibt Rudolf von Willemoes-Suhm seinen Arbeitsplatz in einem Brief an Professor von Siebold, seinen Mentor: MUSIK „Microelements (c)“ ZITATOR 1 Wir haben in diesem einst von Kanonen eingenommenen Raum am Fenster einen großen Arbeitstisch mit einer Reihe von Fächern in der Mitte und mit Schrauben zur Befestigung der Mikroskope, rechts und links sind an den Wänden große Schränke und Schubladen, alle mit Fächern versehen, in denen die Ihnen wohlbekannten Geräte auf das zweckmäßigste untergebracht sind. An der Wand ist ein Hahn angebracht, aus dem Spiritus ausläuft. Für die Zubereitung der höheren Thiere, sowie für das Aufsuchen von Eingeweidewürmern wird noch an Deck ein anderer Platz angewiesen werden. MUSIK endet unter dem nachfolgenden Text  SPRECHERIN Es ist ein dauerndes Fischen, Loten, Vermessen, Zeichnen, Benennen und Kartografieren. Den Wissenschaftlern an Bord wird es nicht langweilig. Das war vorher nicht abzusehen – denn damals geht man davon aus, dass die Tiefsee ohne Leben ist, sagt Gerold Wefer von der Uni Bremen: ZSP. 3 WEFER „Diese Expedition hat dann bewiesen, dass es dort ein reichhaltiges Leben gibt, es leben da nicht so viele pro Quadratmeter, weil das Nahrungsangebot geringer ist. Aber das ist egal, ob es dort kalt oder hoher Druck, dass es keine Rolle spielt und dort sehr viele Organismen leben, das war zum Beispiel eine ganz wichtige neue Erkenntnis, die mit dieser Challenger-Expedition erzielt wurde.“ SPRECHERIN Bis heute ist die Fahrt beispielhaft für die Meeresforschung geblieben. Denn es geht nicht nur darum, an Bord Forschung zu betreiben. In den 20 Jahren danach werden alle Daten ausgewertet, 50 Ereignisbände herausgebracht, insgesamt 29.000 Seiten lang. Das Besondere: Dabei werden Forscher eingebunden, die auf der Challenger überhaupt nicht dabei waren, zum Beispiel auch Ernst Haeckel in Jena. Er wertet die Radiolarien, Mikroorganismen mit bemerkenswerten Gehäusen aus. ATMO Meer/Segelschiff beginnt unter dem nachfolgenden O-Ton ZSP. 4 WEFER „Und er hat wunderschöne Bilder gemacht und hat dann eine Arten-Bestimmung gemacht und das benutzen wir heute noch als Beispiel auch in Vorlesungen, wie man so etwas darstellt und wie so etwas entstanden ist. Es sind sehr viele Anregungen gekommen und es war eine ganz wichtige Expedition.“ TC 07:37 – Ewige Zeitkapseln: Briefe und Funde der Expedition  SPRECHERIN Im März 1873 ist die Challenger mitten auf dem Atlantik, auf dem Weg in die Karibik. Seit dreißig Tagen sind die Männer nun auf See. ATMO endet unter dem nachfolgenden Zitat MUSIK „Wiener Bonbons. Walzer“, J. Strauß (Sohn), beginnt unter dem nachfolgenden Zitat ZITATOR 1 Bei Tische merkt man es nur wenig – wohl fehlen Blumen und frische Früchte gänzlich, auch erscheinen oft Conserven aus Blechbüchsen, aber Truthühner, Hammel und Hühner leben noch hinlänglich, sodass das Dinner in gewohnter Ausdehnung serviert wird. Nur Briefe und Zeitungen entbehren wir sehr. SPRECHERIN Am Abend gibt es zur Aufmunterung Musik – „God save the Queen“, Wiener Walzer und sogar ein „deutsches Potpourri“, wie Rudolf von Willemoes-Suhm beschreibt – inklusive der „Wacht am Rhein“.  MUSIK endet SPRECHERIN Ein paar Tage später dann: St. Thomas ist erreicht. Hier warten auch schon Briefe aus der Heimat. Dazu Bücher und Zeitungen. An Land geht die Sammelei weiter, die Zoologen finden Kolibris, kleine Tauben, Pelikane und Fregattvögel, Tausendfüßler, Termiten und Spinnen. Die Funde der Challenger-Expedition sind heute wie eine Zeitkapsel, sagt Holly Morgenroth, Meeresbiologin an der Universität Exeter: ZSP. 5 MORGENROTH “So because the challenger specimens come with so much associated data, for example we know exactly what the sea temperature at the surface and at the bottom was when each specimen was collected. The challenger data set as a whole is a fantastic resource for any scientist wanting to study climate change and ocean acidification. Without these specimens and data sets such as Challenger, we don't have any kind of benchmark as to how the ocean looked and the conditions there 150 years ago. We can't go back in time and collect again.” VO 5 Morgenroth  VOICEOVER WEIBLICH: Die Fundstücke der Challenger kommen mit sehr vielen Daten. Wir wissen beispielsweise genau, wie warm das Wasser an der Oberfläche und in tieferen Regionen war, als sie herausgefischt wurden. Die Daten der Challenger-Expedtion sind eine fantastische Quelle für jeden Forscher, der sich mit dem Klimawandel beschäftigt oder mit der Meeresversauerung. Ohne solche historischen Ergebnisse hätten wir keine Referenzwerte darüber, wie der Ozean vor 150 Jahren ausgesehen hat. Wir können ja nicht in die Zeit zurück reisen und nochmal sammeln. SPRECHERIN Die Briefe von Rudolf von Willemoes-Suhm zeigen aber noch etwas anderes – sie zeigen ein britisches Empire im Zenit seiner Macht. Zwar sind in den europäischen Kolonien die ersten Sklaven bereits befreit, aber deren Situation ist größtenteils erbärmlich. Tausende entwurzelter Menschen, die sich mehr schlecht als recht durchschlagen. Auch dem deutschen Zoologen, einem typischen Adeligen seiner Zeit, fällt das auf.  Einen direkten Zusammenhang zur europäischen Kolonialherrschaft sieht er allerdings nicht. Er beschreibt die Situation der Sklaven auf den Kapverden, portugiesischem Gebiet: ZITATOR 1 Nach dem portugiesischen Liberationsgesetz werden sie allmählich frei – eine zweifelhafte Wohlthat – da sie sich dann völlig dem Nichtsthun hingeben. SPRECHERIN Nur manchmal scheint in seinen Briefen auf, dass ihm sehr wohl bewusst ist, was passiert, wenn die Europäer von einer Gegend Besitz ergreifen. So zum Beispiel als er in einem Brief an seinen Professor von einem Treffen mit einem lokalen König, König Georg auf der Insel Tonga, nahe der Fidschi-Inseln schreibt: ZITATOR 1 Für alle Seefahrer ist Tonga ein schöner Haltepunkt; möge es noch lange so bleiben und möge König Georg einen Nachfolger finden, der die nationale Unabhängigkeit wahrt und die schwere Kunst versteht, sein Volk nicht zu schnell zu zivilisieren. Nur so wird die auf allen Inseln vor sich gehende Entvölkerung wenigstens verlangsamt werden. MUSIK „Leaving Peru“, Eric Serra TC 10:58 – Über Brasilien und Südafrika nach Australien  SPRECHERIN Nach der Karibik fährt die Challenger für einen kurzen Abstecher nach Halifax, Kanada um von dort dann über den Äquator zu segeln und Brasilien anzusteuern, beziehungsweise Bahia, heute ein Landesteil Brasiliens. Hier geht die ganze Mannschaft für einige Zeit von Bord. Rudolf von Willemoes-Suhm erkundet den Rand des Regenwaldes. ATMO Tropen/Frösche beginnt unter dem nachfolgenden Zitat ZITATOR 1 H.M.S. Challenger, 3. Oktober 1873. Liebe Mutter! Der Aufenthalt in Bahia war der schönste, den wir bisher gehabt. ... Bei Einbruch der Dunkelheit erhob sich ein infernalisches Concert von Fröschen und Kröten, gegen die unsere einheimischen Frösche liebliche Töne ausstossen. – Feuerkäfer, zolllange Johanniswürmchen durchschwirren die Luft, hier mit verdoppelter Macht leuchtend. ATMO und MUSIK enden unter dem nachfolgenden Text SPRECHERIN In Bahia bleibt die Challenger fast einen Monat. Doch an Land ist es nicht langweilig – die Offiziere und Wissenschaftler sind regelmäßig zu Empfängen, Abendessen oder Festen eingeladen, die Funde der letzten Wochen auf See werden weiter bearbeitet, Briefe und Forschungsberichte geschrieben.  ATMO Meer/Segelschiff SPRECHERIN Am 8. Oktober 1873 geht es wieder hinaus auf See. Ziel: das Kap der guten Hoffnung. Südafrika. Von dort aus geht es bis ins Polarmeer, auf der Suche nach dem großen Südkontinent, der legendären Terra australis. Seit der Antike spekulieren manche Gelehrte, dass alle Weltmeere von einer gigantischen Landmasse umgeben seien – so wie das Mittelmeer im Keinen. Die Challenger findet nichts. Immerhin: Beeindruckende Eisberge kreuzen am 1. März 1874 das Segelschiff. MUSIK „Glassy“, Anselm Kreuzer/Andreas Suttner ZITATOR 1 Bald gleichen sie flachen, einförmigen Eissohlen, bald herrlichen Burgen mit Thürmen und Zinnen, Erkern und Schiessscharten. In ihren Höhlen, in die die See brausend hineinfährt, spiegelt sich das herrlichste Blau, und alle Schattierungen von Grün und Blau sieht man in ihren bald grösseren, bald kleineren Rissen und Löchern.  MUSIK endet unter dem nachfolgenden Text  SPRECHERIN Wochenlang fährt die Challenger von Kapstadt bis nach Melbourne in Australien. Weiterhin wird gefischt, der Meeresboden und das Wasser untersucht, je nachdem, ob die Winde günstig stehen. So langsam haben die Passagiere genug, schreibt Rudolf von Willemoes-Suhm: ATMO endet ZITATOR 1 14. März 1874. 41. Breitengrad. 340 Meilen südlich von Australien. Vorgestern ist unser letztes Schaf geschlachtet, Kartoffeln giebt es schon lange nicht mehr, aber das Essen ist im Ganzen nicht schlecht zu nennen, wenn ich auch gerne für einen Laib holsteinischen Schwarzbrodes 1/2 Dollar bezahlte. Wir sind nun des Lebens an Bord herzlich satt und freuen uns gewaltig auf die Veränderung der Scenerie, die wohl in drei Tagen erfolgen wird.  MUSIK „Do you like this place“, Eric Serra beginnt unter dem nachfolg. Text SPRECHERIN  Und tatsächlich – drei Tage später fährt die Challenger im Hafen von Melbourne ein. Rudolf von Willemoes-Suhm genießt die Zeit in Australien, zurück in der Zivilisation. Er besucht das Museum von Sydney und staunt über Fossilien, die Ähnlichkeit mit merkwürdigen Fischen haben, die in Queensland gefunden wurden. Man darf nicht vergessen, erst gut 25 Jahre vorher hat Charles Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlicht. MUSIK freistehend / ATMO Meer TC 14:30 – Am tiefsten Punkt im Meer SPRECHERIN Nach Australien geht es über Neuseeland, wo auch wieder die Meerestiefe für die Tiefseekabel bestimmt wird, weiter bis zu den Fidschi-Inseln. Vor allem die Erkenntnisse aus der Tiefsee waren damals sensationell, sagt Gerold Wefer von der Universität Bremen, denn von dem, was da unten leben sollte … ATMO endet / MUSIK endet unter dem nachfolgenden O-Ton ZSP. 6 WEFER  „Da gab es natürlich wilde Vorstellungen. Aber diese Expedition hat ja auch sehr viele Bodenproben, unten an den Loten hatte man so eine Einrichtung, dass auch Sedimente mit hoch gebracht wurden. Und da hat man gesehen, dass sehr viele Bereiche von so einem braunem Kalkschlamm bedeckt sind. Was auch ein Hinweis darauf ist, dass es dort Sauerstoff gibt und dass man das so, nehmen mal an in 3.000, 4.000 Meter Wassertiefe, dieser braune Schlamm, das ist ein Kalkschlamm und man hat dann noch im Mikroskop gesehen, dass es da sehr viele Reste von Organismen gibt, Foraminiferen zum Beispiel, das sind so Einzeller, die ein wunderschönes Gehäuse bilden.“ SPRECHERIN Ende des Jahres, am 17. November 1874, erreicht die H.M.S. Challenger die britische Kolonie Hongkong.  ZITATOR 1 Wir sind in China! Was für eine tolle Scenerie! Rund um das Schiff Djunken sonder Zahl; im Schiff Chinoiserien aller Art, Waschkerle, Curiositätenhändler, Portraitmaler, Schneider etc.; alle mit langen Schwänzen.  SPRECHERIN Hongkong ist ein internationaler Treffpunkt, hier finden sich Europäer, Chinesen, Händler, Kriegsschiffe und Beamte. Rudolf von Willemoes-Suhm ist mittlerweile ein erfahrener Forschungsreisender, und die Arbeit wird immer anspruchsvoller, wie er am 2. Februar 1875 an seine Mutter schreibt: ZITATOR 1 Philippinen. Liebe Mutter! Gerade jetzt sitze ich in der Entzifferung der Embryologie der Pfeilschwanzkrabbe, die zu entziffern mir schon fast gelungen ist und eine der besten Sachen ist, die mir je übertragen wurde, vielleicht die beste. MUSIK „Ocean drive“, Sabine Zlotos SPRECHERIN Kurz darauf lotet die Challenger den bis dahin tiefsten Punkt der Weltmeere, in  8.184 Metern Tiefe – zwischen Guam und Palau. Von dort nehmen sie auch Proben. Heute weiß man, dass diese Stelle im Marianengraben liegt, er ist eine der tiefsten Stellen des Meeres. Der Schiffsingenieur W. J. J. Spry beschreibt den 23. März 1875 folgendermaßen: ZITATOR 2 In Folge des ungeheueren Druckes, welcher in dieser bedeutenden Tiefe auf den Thermometern lastete … waren fast alle Instrumente zerbrochen; nur eines hatte den colossalen Druck überstanden … wir machten dann noch drei weitere Versuche, um die Temperatur in dieser grossen Tiefe zu bestimmen, doch holten wir die Instrumente jedes Mal in beschädigtem Zustande wieder an Bord. MUSIK endet / MUSIK „The third dive“, Eric Serra SPRECHERIN Gemessen wurde am Ende: rund zwei Grad am Meeresboden, knapp 28 Grad an der Wasseroberfläche.  MUSIK kurz freistehend ATMO Meer beginnt unter dem Ende des nachfolgenden Textes TC 17:28 – Bis zum Ende der Welt und viel weiter SPRECHERIN Nach Hongkong geht es weiter bis Japan und Hawaii. Der sonst so zähe Rudolf von Willemoes-Suhm fängt sich auf See eine Infektion ein. Geschwüre im Gesicht, im Nachhinein vermutet man, dass er eine bakterielle Streptokokken-Infektion hatte, die damals leicht tödlich ausgehen konnte, Antibiotika gab es noch nicht. Am  13. September 1875, acht Monate vor Ende der Forschungsreise, stirbt der Zoologe an Bord der Challenger, 380 Seemeilen vor Tahiti, mitten im Pazifischen Ozean.  MUSIK endet / ATMO Meer kurz freistehend SPRECHERIN Anscheinend hatte sich der deutsche Zoologe auf der langen Fahrt mit dem Chemiker Young Buchanan angefreundet. Er schreibt später einen Brief an Willemoes-Suhms Mutter: ATMO endet ZITATOR 2 Mit ihm habe ich meinen besten Freund hier an Bord verloren. Selbst Monate später kann der Verlust, den die Expedition damit erlitten hat, noch nicht ganz erfasst werden.  Hätte er nur ein paar Jahre länger gelebt, er hätte zweifellos die Reihe der Deutschen, die ihr Land in der Wissenschaft berühmt gemacht haben, angeführt. Wie dem auch sei – keiner seines Alters hat so ein unauslöschliches Zeichen in der Wissenschaft der Zoologie hinterlassen.  MUSIK „Intricate motion red“ SPRECHERIN Die Forschungsreise wird fortgesetzt – es wird weiter das Schleppnetz ausgeworfen, der Fang dokumentiert, das Wasser untersucht. Noch ist die Heimat weit. Es geht nach Chile, dann über die Magellanstraße wieder Richtung Norden, der Schiffsingenieur W. J. J. Spry dokumentiert weiter die Reise:  ZITATOR 2 Der 13. März 1876 hatte für uns eine besondere Bedeutung, denn an diesem Tage kreuzten wir den Kurs, welchen wir zwei und ein halbes Jahr vorher auf der Fahrt von Bahia nach dem Cap der guten Hoffnung genommen hatten. Die Umseglung der Erde war also vollendet und der grösste Theil der Reise erfolgreich zurückgelegt. SPRECHERIN Diesem Urteil schließt sich heute auch der Meeresgeologe Gerold Wefer an: MUSIK endet unter dem nachfolgenden O-Ton ZSP. 7 WEFER „Es ging ja auch um Fragen: Wie ist das Leben auf der Erde entstanden. Was sind die Grenzen des Lebens. Und das war ja nicht nur diese Expedition, sondern die ganze Zeit war ja geprägt von so einem Aufbruch Wissenschaft zu entwickeln, mehr über die Erde und auch andere Phänomene zu erfahren und da ist das eine ganz wichtige Expedition, die Standards gesetzt hat, die Beispiele gegeben hat, wie man es machen soll und muss. Und da folgten dann andere und die haben darauf aufgebaut.“ SPRECHERIN Zum sechsten und letzten Mal überquert die H.M.S. Challenger den Äquator, am  16. April 1876 erreicht sie die Kapverden. Fast zu Hause.  MUSIK „The seagull“, J. Söderqvist, beginnt unter dem nachfolgenden Zitat ZITATOR  2 (Am Morgen des 24. Mai) sahen wir, als wir zwischen unzähligen auswärts und heimwärts bestimmten Schiffen hindurch in den Canal segelten, zum ersten Mal wieder die englische Küste durch den leichten Nebel schimmern. Noch ein paar Stunden dampften wir … dann waren wir in Portsmouth und ankerten nun, am Abend des 24. Mai, nach einer Abwesenheit von drei und einem halben Jahr wieder in englischen Gewässern.  SPRECHERIN Die Challenger hatte rund 130.000 Kilometer zurückgelegt, alle Weltmeere befahren und vermessen. 20 Jahre dauerte es, die Ergebnisse auszuwerten. Bis heute kann man Ausstellungsstücke in Museen in ganz Europa bewundern. Ein letztes Wort des Bordingenieurs W. J. J. Spry: ZITATOR 2 Endlich war der letzte Tag, der 12. Juni, herangekommen, wo alle unsere innigen Beziehungen zueinander getrennt wurden, wo Jeder der Mannschaft der „Challenger“ seinen Weg ging, um unter Freunden und Verwandten der trauten Heimath stilleres Glück zu finden. MUSIK endet TC 21:33 – Outro 
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Jan 12, 2024 • 23min

MENSCH UND MEER - Die Besiedlung des Pazifiks

Vaka Moana, so nannten die Polynesier ihre hochseetüchtigen Segelkanus. Mit ihnen eroberten sie vor 5000 Jahren den Pazifik, das größte Meer der Welt, und begründeten eine maritime Inselkultur, die sich über ein Drittel der Erdoberfläche ausbreitete. Ihre Navigationskunst ist weitgehend in Vergessenheit geraten - bis vor einigen Jahren in einem aufwändigen Projekt originalgetreue Repliken der traditionellen Vakas gebaut wurden, gesteuert nach traditioneller Navigationskunst. Die Vaka-Flotille durchkreuzte den Pazifik auf den alten Reiserouten der Polynesier und warb auf den Inseln für die Wiederbelebung der Segelkunst. Autor: Ulli Weissbach (BR 2014) Credits Autor dieser Folge: Ulli Weissbach Regie: Martin Trauner Es sprachen: Axel Wostry, Detlef Kügow Technik: Cordula Wanschura, Michael Zöllner Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Der Himmel der MaoriWelche astronomischen Kenntnisse die neuseeländischen Indigenen hatten, lässt sich leider nicht mehr genau sagen. Klar ist: Der Himmelsanblick am frühen Morgen spielte eine große Rolle:Pazifik-Navigation via Sterne - Der Himmel der Maori (deutschlandfunk.de) Planet Wissen (2023): Wie die Maori nach Neuseeland kamenTausende von Kilometern fuhren polynesische Seefahrer in kleinen Segelkanus, den sogenannten Wakas, über den damals noch unbekannten Pazifik und besiedelten neue Welten wie zum Beispiel Neuseeland – und das schon lange bevor Christoph Kolumbus auf Entdeckungsreise ging. Die Nachfahren der Polynesier auf Neuseeland sind die Maori. Sie halten die seefahrerischen Leistungen ihrer Vorfahren in Erinnerung und lehren noch heute die traditionelle Navigation:Wie die Maori nach Neuseeland kamen - Planet Wissen - Sendungen A-Z - Video - Mediathek - WDR (planet-wissen.de) Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:45 – Ohne Navi, Karte und KompassTC 06:13 – Ein Boot wie eine Nussschale?TC 08:25 – Vorbildliche ÜberlebensstrategienTC 11:19 – Die Maori auf den Spuren ihrer VorfahrenTC 14:46 – Die Bedeutung der VakasTC 18:53 – Wie eine Reise ins WeltallTC 21:59 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  ERZÄHLER "Te Vaka" heisst dieser Song der gleichnamigen polynesischen Popgruppe. Te Vaka ist in der Sprache der Polynesier: "Das Boot" - der Inbegriff ihrer maritimen Kultur. Mit ihren "Vaka Moana", hochseetüchtigen Segelkanus, besiedelten sie tausende von Inseln im Pazifik, dem größten Meer der Welt, das fast ein Drittel der Erdoberfläche einnimmt. Sie begründeten damit eine maritime Kultur, deren Ausdehnung durch das sogenannte "Polynesische Dreieck" markiert wird. (MUSIK: priv. CD: „Safe House“ aus „Safe House“ [ ]) Seine Eckpunkte sind Hawaii im Nordpazifik, Neuseeland im Südwestpazifik und die Osterinsel im Südostpazifik. Es umschließt eine Meeresfläche von 50 Millionen Quadratkilometern, fünfmal so groß wie Europa (MUSIK ENDE). Dabei ist Polynesien kein Staat, sondern nur ein Sammelbegriff für verschiedene indigene Völker im Pazifik mit gemeinsamer kultureller und ethnischer Herkunft. ((So wie die Indianer Nord- und Südamerikas einer gemeinsamen Kultur entstammen oder die Araber des Nahen und Mittleren Ostens.)) Und doch ist die Besiedelung Polynesiens einmalig in der Geschichte der Menschheit. Einmalig in ihren geografischen Dimensionen und in ihrer seefahrtstechnischen Leistung. (MUSIK: Z9508055 108 [01’10’’])  TC 01:45 – Ohne Navi, Karte und Kompass Die große maritime Völkerwanderung der Polynesier begann vor rund 4.000 Jahren. Sie kamen aus Südost-Asien und waren auf der Suche nach neuem Lebensraum - vermutlich wegen Übervölkerung oder Hungersnöten in ihrer Heimat. Bis Christi Geburt waren sie vom Westen Asiens nach Osten, ins Zentrum des Pazifiks vorgestoßen und hatten die Fidschi-, Tonga- und Samoainseln besiedelt. Es folgten weitere Vorstöße nach Tahiti, Hawaii und zur Osterinsel. Mit der Besiedelung Neuseelands vor 800 Jahren war das polynesische Dreieck komplett: ein Inselreich grösser als Europa. Wie haben die Polynesier das vollbracht mit ihren hölzernen Nussschalen, ohne Kompass und Sextant? Mehr als tausend Jahre bevor sich die ersten Europäer, wie der portugiesische Weltumsegler Ferdinand Magellan oder der englische Captain James Cook in den Pazifik vorwagten? Waren sie Hasardeure, die einfach aufs offene Meer hinaussegelten, ohne zu wissen, ob da Land war? Oder Fischer, die von der Küste abgetrieben wurden und nach langer Odyssee auf den Inseln des Pazifiks landeten. Zufällige oder absichtliche Besiedelung - über diese Frage haben Anthropologen und Historiker lange gerätselt und debattiert. Der neuseeländische Anthropologe Professor Geoffrey Irwin vertritt den neuesten Stand der Forschung und ist sich ziemlich sicher: O-Ton Geoffrey Irwin The first explorers had no maps... Overvoice Die ersten Kundschafter hatten keine Karten, sie hatten keine Navigationsinstrumente. Einfach aufs offene Meer hinauszusegeln war also äußerst gefährlich. Um auf der sicheren Seite zu sein, mussten sie auch wieder zurückkehren können. Ich glaube, es war Erkundung und Rückkehr. Nicht selbstmörderische Reisen ins Unbekannte. Sie kannten die Winde, sie konnten gegen die vorherrschenden Winde hinaus segeln und dann wieder mit ihnen zurückkehren. Sie kannten ihren Himmel, sie kannten die Sterne über ihren eigenen Inseln. Und wenn sie zurückkamen, unter ihren eigenen Sternen, ihrem eigenen Himmel, konnten sie ihre eigene Insel finden und sicher sein. ...they could intercept their own island and be safe. ERZÄHLER Mit der Sicherheit des Zurückkehrens im Hinterkopf, segelten die ersten Kundschafter der Polynesier also hinaus in die Weiten des Pazifiks. In der Hoffnung, auf Land oder zumindest Inseln zu stoßen. Ganz so wahl- oder ziellos waren ihre Entdeckungsfahrten aber nicht. Sie vermuteten wohl, dass neues Land irgendwo im Osten liegen musste, also im offenen Meer jenseits ihrer Position am Westrand des Pazifiks. Sie kannten also die Himmelsrichtungen, aber wie haben sie navigiert?  O-Ton Geoffrey Irwin They had no compasses... Overvoice Sie hatten keinen Kompass, aber sie konnten einen Kurs steuern. In der Nacht nutzten sie die Sterne nahe am Horizont und bei Tag die Dünung. Im Meer gibt es ja ständig Dünung und Wellen, wobei die Wellen von lokalen Winden stammen. Aber im Prinzip haben sie mit Hilfe von Sternen und Dünungen navigiert. ...steered by the stars and by the swells. ERZÄHLER Die Dünung, auch Seegang genannt, mag oberflächlich betrachtet überall gleich aussehen und ist für das geübte Auge doch charakteristisch für bestimmte Meeresregionen. Sie hängt ab von der Kontur des Meeresbodens, von Strömungen und der Ausdehnung des Meeres. Die Dünung ist quasi die unterschwellige Atmung des Meeres, während die weit kürzeren Wellen nur vom Wind aufgepeitscht werden. Die Polynesier waren als maritimes Naturvolk so mit dem Meer und seinen vielfältigen Erscheinungen vertraut, dass sie mit einer Art siebtem Sinn ahnen konnten, wo Inseln sein mussten.  O-Ton Geoffrey Irwin One of the things they could do... Overvoice Sie konnten zum Beispiel ein Ziel erweitern. Wenn sie sich einer Inselgruppe näherten, war das ein zusammenhängendes Ziel, von Insel zu Insel. Sie konnten Land aus 30 Meilen Entfernung ausmachen, ohne es zu sehen. Sie schauten sich die Wolken an und wie die Dünung sich änderte, wenn sie auf Land traf. Und vor allem haben sie den Himmel nach Vögeln abgesucht. Vögel, die an Land nisten und auf dem Meer nach Nahrung suchen. Je nach Vogelart fliegen sie eine bestimmte Strecke aufs Meer hinaus. Das heißt, sie mussten nur in eine bestimmte Entfernung zum Land kommen, um es über den Horizont hinaus wahrzunehmen. ...detect it over the horizon. MUSIK: priv. CD: “Don’t Kill Innocent People” aus “Safe House” (00’40’’) TC 06:13 – Ein Boot wie eine Nussschale? ERZÄHLER Originale polynesische Vakas, wie man sie heute noch in den Pazifiksammlungen deutscher Völkerkundemuseen sehen kann, waren ausschließlich aus natürlichen Stoffen gebaut. Der Rumpf wurde aus einem Baumstamm geschnitzt. Das Tauwerk bestand aus Kokosfasern. Und die Segel wurden aus den Blättern des Pandanusbaumes geflochten. Durch ihre hochflexible Bauweise widerstanden die Vakas den Unbilden der hohen See. Für lange Seereisen wurde Proviant mitgenommen, Kokosnüsse dienten als Trinkwasservorrat. Unterwegs waren die Seefahrer auf Fischfang und Regenwasser angewiesen - und das Auftauchen einer (MUSIK ENDE). Ihre Entdeckungen hielten die Polynesier auf sogenannten “Stabkarten” fest. Sie bestehen aus den Rippen von Palmblättern, die mit Kokosfasern zu einer Art Gitter zusammengeflochten sind. Die sich kreuzenden Rippen stehen für vorherrschende Meeresströmungen und Windrichtungen. An ihnen befestigte kleine Muscheln markierten die Positionen von Inseln. Die Navigatoren, die in der polynesischen Kultur den vergleichbaren Rang von Hohepriestern oder Medizinmännern in anderen Kulturen hatten, benutzten solche Stabkarten als Unterrichtsmittel. Für Geoffrey Irwin waren sie die wahrscheinlich ersten Seekarten der Menschheit, allerdings nicht für die Reise gedacht, sondern zur Vorbereitung. O-Ton Geoffrey Irwin I think those things were aids for learning ... Overvoice Ich denke das waren eher Lernhilfen für den Unterricht. Die Schüler der Navigatoren mussten die Entfernung und die Lage jeder Insel zur nächsten wissen. Sie mussten das Verhalten der Fische und Wale kennen und natürlich die Strömungen, Winde und Dünungen. Die Stabkarten waren also eine Art Eselsbrücke. Zu dieser Zeit gab es bereits kognitive Karten des Pazifiks. Die Leute wussten schon, wo die Inseln waren. Das war also eine ganz andere Ausgangslage, als die Zeit, in der sie erstmals auf Entdeckungsreise gingen. Denn da wussten sie nicht, wo Land zu finden war. Als sie zum ersten Mal aufbrachen mussten sie strategisch vorgehen und ihr Überleben sichern. ... in terms of survival. TC 08:25 – Vorbildliche Überlebensstrategien  ERZÄHLER Die Strategie des Überlebens bestand einmal darin, gegen die vorherrschenden Winde, also nach Osten, zu segeln. Wenn längere Zeit keine Inseln auftauchten, konnte man so wenigstens wieder sicher zum Ausgangsort zurückkehren. Die Segel der polynesischen Vakas waren so gestaltet, dass sie fast gegen den Wind segeln konnten. Eine Technik, die europäische Seefahrer erst sehr viel später entwickelten. Die zweite Überlebensgarantie bestand darin, immer nur von einer Insel zur nächstgelegenen zu segeln und große Überfahrten zu vermeiden. Professor Irwin kann das mit wissenschaftlichen Daten untermauern: O-Ton Geoffrey Irwin And what the radio carbon dates say... Overvoice Die Radiokarbondatierung sagt uns, dass die Reihenfolge der Besiedelung in der Reihenfolge der Sicherheit erfolgte. Und die Inseln, deren Erreichen am riskantesten war, wurden zuletzt besiedelt. Neuseeland und die Chatham Islands waren die allerletzten Ziele, weil sie so gefährlich weit weg waren. ...dangerous place to go to. MUSIK: Z9499303 101 (00’40’’) ERZÄHLER Die Radiokarbondatierung wurde eingesetzt, um die Spur der Polynesier mithilfe archäologischer Funde zu verfolgen. 1908 fand der deutsche Pater Otto Meyer auf einer Insel im heutigen Papua-Neuguinea verzierte Tonscherben. Die Ornamente waren keiner bis dahin bekannten Kultur zuzuschreiben und so nannte man sie nach ihrem Fundort "Lapita". Später fand man auch auf Inseln weiter im Osten Lapita-Scherben, wie z.B. in Vanuatu, Neukaledonien, Fidschi und Tonga. Damit war die Hypothese des norwegischen Anthropologen Thor Heyerdahl, nach der die Polynesier von Südamerika aus, also von Osten, den Pazifik besiedelt hätten, endgültig widerlegt. Die Spur der Lapita-Scherben führt eindeutig von West nach Ost (MUSIK ENDE). Die ersten pazifischen Seefahrer hatten kleine wendige und schnelle Vakas, die von zwei bis drei Personen gesegelt wurden, später auch große Reisekanus, auf denen ganze Großfamilien mit ihrem Hausrat unterwegs waren. Die kleinen Kanus waren die Kundschafter, die großen dienten der Völkerwanderung. O-Ton Geoffrey Irwin I think what's quite likely... Overvoice Wahrscheinlich sind die Kundschafter zuerst aufgebrochen. Das Land wurde zuerst entdeckt bevor die Migranten folgten. Der Pazifik ist eine riesige Wasserfläche und man wollte sicher nicht mit Männern und Frauen und Kindern, mit Schweinen, Hunden und Hühnern, Kokosnüssen und Pflanzen ins Ungewisse hinaussegeln. Erkundung und Entdeckung kamen zuerst und dann erst die Kolonisierung. Und wenn die Kolonisatoren segelten, dann direkt dahin, wo sie wussten, dass da Land zu finden war. ...land was to be found. ATMO Maori-Sprechgesang TC 11:19 – Die Maori auf den Spuren ihrer Vorfahren  ERZÄHLER Eine Meeresbucht im hohen Norden Neuseelands. Tätowierte junge Männer blasen in Muschelhörner und skandieren mit den Frauen uralte Sprechgesänge - das Begrüßungsritual der Polynesier für heimkehrende Vakas (MUSIK: priv. CD: “Be Better Than Me” aus „Safe House“ [00’50’’]). Zwei Segel sind am Horizont aufgetaucht und steuern auf die Bucht zu. Sie gehören zu einer ganzen Flottille nachgebauter Vakas, die die Entdeckungsreisen der alten Polynesier nachvollzogen haben. Das Projekt, das von der deutschen Meeres-Stiftung OKEANOS finanziert wird, soll die lange vergessene Tradition der polynesischen Seefahrtkunst wiederbeleben. Die Besatzungen der Boote stammen fast ausschließlich von den Pazifikinseln und wurden von den alten Meistern der Navigation ausgebildet. Ihre Replika-Vakas sind aus modernen Verbundfaserstoffen gebaut und mit Solarzellen und neuesten Navigationsmitteln ausgestattet. GPS und Radar sind aber nur für den Notfall gedacht. Die jungen Seeleute setzen ihren ganzen Stolz daran, sich nur auf die Navigationskunst ihrer Vorväter zu verlassen (MUSIK ENDE). Dieter Paulmann, der Gründer der Stiftung Okeanos, will mit seinem Projekt den Pazifikinsulanern nicht nur ihre alte Kunst des Hochseesegelns zurückgeben, sondern sie damit auch mobiler und unabhängiger machen.  O-Ton Dieter Paulmann Wie kann man diese wunderbare Navigation und Seemannskunst verbinden mit modernen Segeltechniken und Antrieben? Und wir sind darauf gekommen, dass wir diese alten Boote nachbauen, lokal, genau in der Art, ohne Nägel ohne alles, also mit Lashings, also mit Verknüpfung von Seilen, wie man das früher hatte. Und diese aber mit Solarantrieb versehen, mit Solarmodulen und Elektromotoren und damit unabhängiger vom Wind machen und damit zu einem wirklich einsatzfähigen Transportmittel zwischen den Inseln. Für Fischerei, Transport von Passagieren und Fracht und aber auch die Überwindung von großer Entfernung. ERZÄHLER Dieter Paulmanns Stiftung Okeanos hat sieben solche modernen Vaka-Repliken bauen lassen und sie in den vergangenen zwei Jahren auf Expeditionen durch den Pazifik geschickt. Auf den Routen ihrer Vorfahren konnten die jungen Navigatoren sich selbst und anderen beweisen, dass die Navigationskunst der alten Polynesier noch immer funktioniert.  O-Ton Dieter Paulmann Sie waren die absoluten Meister in der Seefahrt, vor tausend Jahren, mit Booten, die gegen den Wind segelten, mit einer Navigation, die ihnen ermöglichte, über tausende von Meilen kleine Inseln im Ozean zu finden. Eine unglaubliche Meisterschaft, die sie dann natürlich nach dem Eintreffen europäischer Segelschiffe, dem Eintreffen von Dampfmaschinen und später dann auch öl- und benzinbetriebenen Motoren verloren haben. Weil es praktisch viel einfacher war, die europäischen Antriebe zu benutzen. Und heute, da die Treibstoffe so teuer werden und damit die Fortsetzung der Fischerei, des Transportes aus Kostengründen fast unmöglich machen, besinnen sie sich wieder. Indem sie das Beste aus ihrer Tradition, nämlich diesen Schiffsbau und die Navigation nehmen, aber mit modernen Antrieben der Solartechnik verbinden. Und das scheint mir die Zukunft zu sein: Das Beste aus der Vergangenheit mit dem Besten der Zukunft. MUSIK: 9499303 101 (00’50’’) TC 14:46 – Die Bedeutung der Vakas  ERZÄHLER Die Bucht, an der die beiden Vakas anlegen, ist ein heiliger Ort der Maori.  Auf einem Hügel bilden rot angestrichene Götzenfiguren einen Kreis mit etwa hundert Metern Durchmesser. Es ist ein altertümlicher Kompass, eine Art polynesisches Stonehenge. Der Götzenkreis gehört zu einer Schule für Navigatoren, in der die überlieferte Kunst der polynesischen Navigation gelehrt wird. Die 32 Götzenfiguren markieren 32 Sektoren im Kreis. Mit ihnen lernen die Schüler, den Horizont in gleiche Abschnitte einzuteilen. Das hilft ihnen, auch auf See die Richtung zu bestimmen. Die Schüler auf den beiden Vakas waren weit weg, sehr weit. Von Neuseeland sind sie zur Osterinsel gesegelt, ans andere Ende des polynesischen Dreiecks. Dann über Tahiti und die Cook-Inseln wieder zurück nach Neuseeland. 15.000 Kilometer auf den Spuren ihrer Ahnen.  MUSIK: CD93696 009 (00’20’’) ERZÄHLER Piripi Smith hat sein Vaka zur Osterinsel gesteuert und kehrt mit stolzgeschwellter Brust zurück. Nicht nur, weil er diese 7.000 Kilometer entfernte Insel ohne Navigationsinstrument gefunden hat - nur mit dem Wissen seiner Ahnen. Sondern auch weil ihn diese Leistung mit Stolz auf seine Herkunft und Kultur erfüllt. MUSIK ENDE O-Ton Piripi Smith  Vakas mean everything for Maori... Overvoice Vakas bedeuten alles für uns Maori. Weil wir mit ihnen hierhergekommen sind, nach Aotearoa, das heißt: Neuseeland. So haben sich die Polynesier über den Pazifik ausgebreitet, mit Vakas. Der Vaka ist der Link, er verbindet die Leute von Insel zu Insel. Zum Beispiel: Die Vakas Takitimu und Tainui kamen vor 26 Generationen hier an. Also ist jeder mit einem bestimmten Vaka verbunden. Die Leute können feststellen, ob sie mit dir verwandt sind, wenn sie sagen können: Meine Vorfahren kamen auf dem gleichen Vaka. ...ancestors came on the same vaka. MUSIK: priv. CD: „Don’t Kill Innocent People“ aus „Safe House“ (00’50’’) ERZÄHLER Es waren sieben Kanus, die Neuseeland vor rund 800 Jahren besiedelten. Sie kamen von den Cook-Inseln, über 3.000 Kilometer nordöstlich von Neuseeland. Dazwischen liegen keine Inseln. Also muss die Überfahrt außerordentlich entbehrungsreich gewesen sein. Die Menschen auf den sieben Kanus müssen am Ende ihrer Kräfte gewesen sein, als sie Aotearoa, das "Land der großen weißen Wolke" am Horizont auftauchen sahen. Jedes der sieben Kanus hatte einen Namen, aus denen sich dann die Namen der sieben Maoristämme Neuseelands ableiten. So wie der mittelalterliche Ritter von einer bestimmten Burg kam, die er im Namen trug, so identifiziert sich der Maori mit dem Kanu seiner Vorfahren. Für den Steuermann Piripi war die Fahrt zur Osterinsel wahrscheinlich das größte Erlebnis seines noch jungen Lebens. MUSIK ENDE O-Ton Piripi Smith Yeah, totally... Overvoice Ja, total! Wenn du rausfährst, verändert das alles. Wenn du zuhause bist, dann schaust du Fernsehen oder liest die Zeitung. Aber das einzige, was du als Seefahrer siehst, ist der Himmel und das Meer. Auf die zwei Dinge konzentrierst du dich den ganzen Tag. Und plötzlich siehst du Dinge, die du nie sehen würdest. ...this type of lifestyle. ERZÄHLER Für Piripi war die Reise nicht nur eine Wiedervereinigung mit seinen Vorfahren, sondern auch mit deren Natur und Umwelt. Ein fast spirituelles Erlebnis. O-Ton Piripi Smith You can see ... Overvoice Du siehst, dass in diesen vergangenen Zeiten die Umwelt alles bedeutete für meine Vorfahren. Sie studierten sie, sie waren Experten in allem. Sie haben wirklich alles Wissen aufgesogen und das Beste war: sie haben es von Generation zu Generation weitergegeben. Und nach mehreren tausend Jahren hast du immer noch Experten über Experten, die dieses Wissen weitergeben. Und du bist auch definitiv mehr mit der Natur verbunden. Die Dinge die du da draußen siehst: Wale, Haie, Vögel ... nach einer Weile hast du das Gefühl, als ob der Geist des Meeres zu dir spricht. ...like it's talking to you. TC 18:53 – Wie eine Reise ins Weltall ERZÄHLER Die Besiedelung des Pazifiks durch die Polynesier gilt als eine der größten seefahrerischen Leistungen der Menschheitsgeschichte. Sie kann nur verglichen werden, mit einer fiktiven Reise von Raumfahrern, die von einer überbevölkerten und unbewohnbar gewordenen Erde ins unendlich weite Weltall aufbrechen, auf der Suche nach bewohnbaren Planeten. Der Anthropologe Geoffrey Irwine findet den Vergleich gar nicht so weit hergeholt. O-Ton Geoffrey Irwin You can have as many people in a canoe... Overvoice Man kann so viel Leute in einem Kanu haben wie in einem Raumschiff. Sie reisen weit und sie reisen schnell. Sie nehmen ihre Wirtschaft und ihre Technologie mit sich. Und wenn sie angekommen sind, das haben die Polynesier gezeigt, können sie auch überleben. ...they can survive. MUSIK: CD93696 009 (00’40’’) ERZÄHLER Der Song "Te Vaka" wurde von Ope Foa'i komponiert, dem Bandleader der gleichnamigen polynesischen Popgruppe. Ope Foa'i hat ihn seinen seefahrenden Vorfahren gewidmet, die vor rund tausend Jahren auch seine Heimatinseln, die Atollgruppe Tokelau besiedelt hatten. Im Song "Te Vaka" - das Boot - singt er von der Vision, von der diese ersten Seefahrer der Menschheit geleitet waren. Der Text geht etwa so: Overvoice Ich, der Leiter dieser Expedition, habe eine Vision: dass gleich hinter dem Horizont ein Ort ist, den wir unsere Heimat nennen werden. So rudert und rudert mit dem Gott von Tokelau. Rudert wie ein Mann. ERZÄHLER Und der Refrain: Overvoice Land! Land! Wir sind angekommen. Land voraus, schaut, unser Land steigt auf. MUSIK: priv. CD: „Be Better Than Me“ aus „Safe House“ (00’50’’) ERZÄHLER Für den Musiker Ope Foa'i steckt eine Menge Emotion in diesem Song: O-Ton Ope Foa'i Sometimes I'm in tears... Overvoice Manchmal breche ich in Tränen aus, wenn ich mir vorstelle, in so einem Vaka zu sein. Wenn ich versuche, nachzuerleben, was sie erlebt haben, diese Entbehrungen... Wenn man so viele Leute an Bord hat, ganze Familien, Kommunen. Die Verantwortung des Meister-Navigators war so groß. Stellt euch vor, ihr reist von Samoa nach Tahiti, oder von Tahiti nach Hawaii. Da reden wir nicht von 12 Stunden im Flugzeug, sondern von Monaten auf See! Und dann auf so engem Raum zu überleben, das war eine so emotionale Erfahrung. ...emotional experience. ERZÄHLER Unerschrocken stießen die Polynesier ins Unbekannte vor - wie Raumfahrer auf der Suche nach neuen Planeten. Auf dem Wasserplaneten Erde machten sie den größten Ozean zu ihrer Heimat. TC 21:59 - Outro
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Dec 23, 2023 • 22min

WEIHNACHTSGESCHICHTE(N) - Die Heiligen Drei Könige

Wahrheit oder Legende? Über die "Heiligen Drei Könige" erzählt die Bibel, dass sie einem Stern gefolgt sind, der sie zur Krippe von Bethlehem geführt hat. Über die Jahrhunderte hinweg wurde die Geschichte vielfach ausgeschmückt und mit Details angereichert. Mal sind es Magier, mal Sterndeuter, dann wieder Könige. Gab es die Heiligen Drei Könige wirklich? Oder sind sie eine christliche Erfindung? Autorin: Barbara Schneider (BR 2023) CreditsAutorin dieser Folge: Barbara SchneiderRegie: Kirsten BöttcherEs sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Stefan WilkeningTechnik: Wolfgang LöschRedaktion: Bernhard Kastner Linktipps: radioWissen | Die Weihnachtskrippe - Szenerie der MenschwerdungJETZT ANHÖREN radioWissen | Der Stern von Bethlehem - Wegweiser des HimmelsJETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Barbarossa und die Reliquien der Drei Heiligen Könige TC 02:33 – Das Markenzeichen Kölns TC 05:24 – Könige, Magier oder Sternendeuter? TC 08:12 – Und schließlich Caspar, Melchior und Balthasar TC 10:59 – Von Wundern und Legenden TC 13:33 – Das Rätsel um das Himmelsphänomen TC 17:57 – Eine Geschichte, so alt wie die Zeit TC 21:34 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Barbarossa und die Reliquien der Drei Heiligen Könige MUSIK 1: Attack & abductions - Z9462962004 – 24 Sek SPRECHER Norditalien im Jahr 1162. Seit Monaten belagern die Truppen von Friedrich Barbarossa Mailand. Der Stauferkaiser will seine Macht in Norditalien ausbauen und den Einfluss des römischen Papsttums zurückdrängen. Und so hat sein Heer die für den Papst strategisch wichtige Metropole umstellt.  ATMO Kriegsgetümmel +  MUSIK 2: Syria - Z8024389102 – 36 Sek SPRECHER Die Soldaten brennen die Getreidefelder rund um Mailand nieder. Sie kontrollieren die Handelswege, so dass keine Lebensmittel mehr in die Stadt geliefert werden können. Die Bevölkerung ist dem Hungertod nahe, letztlich bleibt nur die Kapitulation. Mit fatalen Folgen: Barbarossas Heer marschiert in Mailand ein, brennt die Stadtmauern nieder, verwüstet und plündert die Stadt. 01 ZSP BECKER-HUBERTI Barbarossa ist 1162 runter nach Italien, hat Mailand belagert und erobert.  SPRECHER Sagt der katholische Theologe Manfred Becker-Huberti. Er forscht zu Brauchtum und Heiligenverehrung im Rheinland. 02 ZSP BECKER-HUBERTI Und da man in diesen Zeiten keine Honorare oder Gehälter für seine Soldaten bezahlte, hieß es, dass die anschließend die Stadt plündern durften. Und was bei der Plünderung an Sakralem gefunden wurde, das gehört aber dem Feldherrn. Und genau das ist ein Punkt. Man fand nämlich in einer Kirche versteckt Reliquien der Heiligen Drei Könige. MUSIK 3: Sacrifice - Z8024389119 – 50 Sek  SPRECHERIN Wie die Reliquien nach Mailand gekommen sind, liegt im Dunkeln. Der Legende nach soll Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin, die Gebeine in Palästina um das Jahr 300 entdeckt haben. Für Barbarossa sind die Reliquien ein Glücksfund. Sie helfen ihm dabei, seinen Herrschaftsanspruch gegenüber dem Papst abzusichern. Wer so wertvolle Reliquien besitzt, so das Denken, braucht keinen Papst mehr, sondern seine Herrschaft ist unmittelbar von Gott eingesetzt. Und so bringt sein Kanzler und Vertrauter, der Erzbischof Rainald von Dassel, den kostbaren Fund 1164 nach Köln, was der Stadt bald eine wirtschaftliche und religiöse Blüte beschert.  TC 02:33 – Das Markenzeichen Kölns 03 ZSP BEER Die Ankunft der Reliquien befördert den Reichtum Kölns und damit sozusagen auch die Voraussetzungen für den Bau der gotischen Kathedrale.  SPRECHER Manuela Beer ist stellvertretende Direktorin am Museum Schnütgen in Köln. 2014, zur 850-Jahr-Feier der Ankunft der Gebeine in Köln, hat sie eine große Ausstellung zu den Heiligen Drei Königen konzipiert. 04 ZSP BEER Es kommt ganz viel Geld in die Stadt durch die Pilgerströme, die ziemlich alsbald nach der Ankunft der Reliquien nach Köln ziehen, so dass man auch genötigt war, ein Gehäuse zu schaffen, in dem die Reliquien ansprechend präsentiert werden konnten und den Pilgern die Nähe ermöglicht wurde.  MUSIK 4: Patrick in the spirit –Z9424042002 - 1:05 Min SPRECHER Nikolaus von Verdun, einer der berühmtesten Goldschmiedemeister seiner Zeit, erhält den Auftrag, einen eigenen Schrein für die Reliquien anzufertigen. Aus allen Ländern der damals bekannten Welt kommen Pilger nach Köln. Aus Belgien, Holland oder Frankreich. Selbst der englische König Edward III. reist an den Rhein, mit wertvollen Geschenken für die Heiligen Drei Könige im Gepäck. Erzbischof Rainald von Dassel spendiert jedes Jahr ein großes Schauspiel zu Ehren der Drei Könige. Eine große Prozession zieht dabei durch die Stadt, in einer Messe werden die Reliquien verehrt. Die Drei Könige werden bald zum Markenzeichen Kölns, drei Kronen sind bis heute Teil des Stadtwappens. Wer allerdings in dem goldenen, mit Edelsteinen verzierten Schrein tatsächlich liegt, ist unklar. 05 ZSP BECKER-HUBERTI Vor dem 700 Jahres-Jubiläum hat man 1864. … den Schrein geöffnet und dabei mal in den Schrein etwas genauer hineingeschaut und versucht festzustellen, was ist eigentlich drin? Und festgestellt hat man, da war natürlich sehr viel mehr drin ist als das, was man eigentlich meint. Es sind nicht nur die Gebeine von den sogenannten Drei Königen drin, sondern da sind auch Reliquien von anderen. … Jedenfalls: Man hat nicht geordnete Reliquien gefunden. Man hat drei Gebeine gefunden von Personen unterschiedlichen Alters, die dann als die Heiligen Drei Könige gedeutet wurden. Interessant ist, dass genau diese Reliquien in ganz besondere, kostbare Seiden gehüllt waren; syrischen […] Damast, das ist Luxus, den es in der Zeit des zweiten bis vierten Jahrhunderts gab. Das heißt, offensichtlich sind diese Gebeine uralt, aber näher untersucht wurden sie eigentlich nie. MUSIK 5: ARD-Labelmusik The Trek – Z8036776105 – 22 Sek TC 05:24 – Könige, Magier oder Sternendeuter? SPRECHERIN Dass es die Drei Heilige Könige so wirklich gegeben hat, ist mehr als fraglich. Belege dafür, dass die Reliquien echt sind, gibt es nicht. Einzige historische Quelle ist das Matthäusevangelium, und das erzählt eine ganz andere Geschichte. Von drei Königen ist in der Bibel an keiner Stelle die Rede. Musik 6: Crucifixion – Z8021002110 – 30 Sek ZITATOR (Matthäus 2, 1-2) Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. 06 ZSP PAGANINI Es kommen auf Griechisch „Magoi ton Anatolion“, also Magier … Das waren in der altorientalischen Tradition so etwas wie Astronomen oder Astrologen. Um sich das etwas besser vorstellen zu können: sie waren so etwas wie Priester, die natürlich durch die Beobachtung der Gestirne versucht haben, den Willen der Götter irgendwie für sich zu erschließen. Und diese Magier kommen aus dem Orient. SPRECHERIN Die biblische Erzählung berichtet von Sterndeutern, nicht von Königen oder Herrschern. Dazu werden die Astronomen aus dem Osten erst in Legenden im 6. oder 7. Jahrhundert, sagt Simone Paganini, Professor für Biblische Theologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Er vermutet dahinter den Versuch, den neugeborenen Jesus in ein würdiges Umfeld zu stellen und gewissermaßen seine Geburt im Stall aufzuwerten. In den ältesten erhaltenen Darstellungen findet sich diese Interpretation jedoch nicht. 07 ZSP BEER Die frühesten Bilder der Magier, die zur Anbetung des Kindes herbeieilen, sind an der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert entstanden. Und die sehen ganz anders aus wie die Bilder, die wir jetzt sofort im Kopf haben, wenn wir an die Heiligen Drei Könige denken - kostbar gewandelte Herrscherpersönlichkeiten mit den Kronen auf dem Kopf -, sondern es sind mit langem Strumpfhosen bekleidete, mit kurzen Tuniken gegürtete und mit sogenannten phrygischen Mützen auf dem Kopf herbeieilende Männer und diese phrygischen Mützen, die sehen so ein bisschen aus wie so Zipfelmützen oder wie so Nikolausmützen, wie wir uns das vorstellen. Und das war der Darstellungs-Typus, den man aus der Antike genommen hat.  So stellte man die unterworfenen fremdländischen Völker dar, also Orientalen, die sich dem römischen Kaiser unterwarfen. TC 08:12 – Und schließlich Caspar, Melchior und Balthasar  SPRECHER Die Christenheit ringt von Anfang an darum, wie sie sich die biblischen Figuren vorstellen soll, sagt die Kunsthistorikerin Manuela Beer. Elfenbeintafeln, Skulpturen, Goldschmiedearbeiten und Gemälde zeigen die Heiligen Drei Könige mal zu Pferd, mal mit Krone auf dem Kopf, mal mit schlichtem Hut, mal mit prächtigem, exotischem Gewand, mal mit einfachem Umhang. Um die biblische Erzählung entstehen zahlreiche Legenden. Manche kennen drei Könige andere sprechen von vier, wieder andere berichten von zwölf Königen, die zur Krippe nach Bethlehem kommen.  SPRECHERIN Wie viele Personen es letztlich waren, darüber kann heute nur spekuliert werden. Das lässt das Matthäus-Evangelium offen, sagt Ansgar Wucherpfennig, Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. 08 ZSP WUCHERPFENNIG Die Zahl der Sterndeuter ist nicht angegeben, aber es ist auch möglich, dass Frauen darunter waren, bis zu zehn ist überhaupt kein Problem, dass das eine Gruppe bezeichnet, zu denen auch Frauen gezählt haben können, das ist nicht ausgeschlossen.  MUSIK 8: ARD Labelmusik the trek – 1 Minute SPRECHERIN Weil die Magier die drei symbolischen Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe dabeihaben, schlussfolgert der Kirchenvater Origenes schon im dritten Jahrhundert: Es müssen drei Personen gewesen sein. Die Deutung setzt sich durch. Ein paar Jahrhunderte später entwickelt Augustin die Idee, dass die Sternendeuter nicht aus dem Morgenland, sondern aus allen Himmelsrichtungen und von allen damals bekannten Kontinenten kommen. Theologisch will er damit sagen: Die ganze Welt verneigt sich vor dem Kind in der Krippe. Schließlich beginnt man, den Königen Namen zu geben.  MUSIK weiter: SPRECHER/SPRECHERIN (im Wechsel) Apellus, Amerus, Damasius Galgalat, Balthasar, Melchior Minsuram, Badsiba, Likon  Thaddadia, Melchior, Balytora Wiscara, Melikona, Walastar Tanisuram, Mika, Sisisba Gaspar, Baldesar, Melchion 09 ZSP BECKER-HUBERTI Irgendwann sind die Namen dann auf Caspar, Melchior und Balthasar festgelegt.… Es kommen drei Altersstufen dazu. Das heißt nun, sie sind unterschiedlich alt. Der Vornehmste ist der Dunkelhäutige und der Jüngste. Und dann ist der Melchior, der Mittelalte, und der Caspar ist der Älteste. Das ist der Europäer, dann hat man, um sie den Kontinenten zuzuordnen Asien, Afrika und Europa mit entsprechenden Reittieren ausgestattet, nämlich dem Dromedar, dem Kamel und dem Pferd. TC 10:59 – Von Wundern und Legenden MUSIK 9: Pax in nomine Domini - SC013660116 – 24 Sek SPRECHER In der Volksfrömmigkeit spielen die Drei Könige eine wichtige Rolle. In Rouen, Freising, Madrid, Zagreb, Padua oder Neapel entstehen im Mittelalter Prozessionen, bei denen prunkvolle Dreikönigsumzüge durch die Städte ziehen. Am Dreikönigstag wird bei einem großen Festmahl ausgelassen gefeiert.  Musik 10: Secret Agenda – M0010622021 – 32 Sek Im Mittelalter ist aber auch der Glaube weit verbreitet, dass die Drei Könige magische Kräfte besitzen. Mit Gold, Weihrauch und Myrrhe sollen sich alle möglichen Leiden kurieren lassen. Die Menschen des Mittelalters lösen sogenannte Dreikönigskreide in Wein auf, um damit Krankheiten zu heilen. Sie glauben an die Kraft eines Dreikönigswassers, das Wunder bewirken soll. Und: Die Drei Könige sollen böse Geister fernhalten können.  10 ZSP BECKER-HUBERTI Was Besonderes dann eben gegolten hat war, dass diese Nacht, die Oberstnacht vom 05. auf den 06., die schlimmste Rauhnacht war, das heißt, die Geister tobten ganz besonders, und man musste dann Haus und Hof ausräuchern. Etwas, was bis zum heutigen Tag ja noch in vielen Gegenden Deutschlands geschieht. Denn dieser Weihrauch, das ist das Parfum Gottes, und das vertragen die Dämonen nicht. Deshalb haben sie keine Chance, dagegen anzukommen. Hinzu kommt, dass man das Zeichen der Dreikönige benutzte, um die Wetterdämonen abzuhalten. Es gab Wetterglocken in vielen Kirchen, die läutete man, … weil man dieses Unwetter auf diese Art und Weise bannen wollte. Wenn man mit der Wetterglocke läutete, musste das Unwetter verschwinden und auf diesen Glocken angebracht war in der Regel auch ein Zeichen der Heiligen Drei Könige, oft ein Wallfahrtszeichen, das man aus Köln mitgebracht hatte. Und diese Belege gibt es quer durch Europa. MUSIK 11: ARD Labelmusik The Trek – 31 Sek SPRECHERIN Die Legendenbildung kennt keine Grenzen. Gleichzeitig haben aber Theologen und Naturwissenschaftler immer wieder versucht, historische Fakten aus der biblischen Erzählung abzuleiten und letztlich auch damit einen Beleg für die historische Existenz der Weisen aus dem Morgenland zu finden. Besonders der Stern von Bethlehem, von dem die biblische Geschichte erzählt, hat dabei zu Theorien und Erklärungsversuchen angeregt. MUSIK 12: Crucifixion – 33 Sek TC 13:33 – Das Rätsel um das Himmelsphänomen  ZITATOR (Matthäus 2, 9-11) Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. 11 ZSP BECKER-HUBERTI Wenn Sie sich heute Krippen anschauen, gemalt, gebastelt, gebaut, dann haben sie meistens einen Stern mit Schweif, der kometenartig aussieht. Wir wissen heute, dass die Geburt Jesu nicht zu dem Zeitpunkt stattgefunden hat, der der Zeitrechnung zugrunde liegt, also im Jahr Null, sondern vier bis sechs Jahre früher, weil es ein Rechenfehler bei der Zusammenstellung der Jahre gegeben hat. Und wenn man dies untersucht und den Himmel untersucht durch die entsprechenden Fachleute, dann stellt man fest, dass es eine Konstellation am Himmel gegeben hat, … die ist unter den entsprechenden Fachleuten der damaligen Zeit gedeutet worden, dass in Juda, im Reich der Juden, ein König neu geboren wird. MUSIK 13: Secret Agenda – 30 Sek SPRECHER Über die Jahrhunderte hinweg haben sich Astronomen und Theologen den Kopf darüber zerbrochen, was es mit dem Himmelsphänomen auf sich hat. War der Stern von Bethlehem ein Komet, wovon schon der Theologe Origenes im dritten Jahrhundert nach Christus spricht? Oder war er eine Supernova, also ein sterbender Stern, der am Nachthimmel explodiert ist?  MUSIK raus SPRECHERIN Beide Theorien hält die Astrophysikerin Jana Steuer von der Münchner Volkssternwarte - wie die meisten Astronomen heute - für unwahrscheinlich. Noch eher, sagt sie, kann es sich um eine Planeten-Konjunktion gehandelt haben. Also eine optische Täuschung, bei der sich mehrere Planeten scheinbar ganz nahekommen.  12 ZSP STEUER Wenn es eine Supernova oder ein Komet gewesen wäre, dann müssten wir das in anderen Aufzeichnungen finden. Also wir müssten andere Berichte aus der Zeit haben eben, und nicht nur diese Geschichte von Jesu Geburt, die von solchen Ereignissen sprechen. Das müsste anderen Menschen aufgefallen sein, und das fehlt einfach. Was wir aber haben, sind babylonische Aufzeichnungen über eben eine große Konjunktion sieben vor Christus. In der Zeit wird ja auch ungefähr Jesu Geburt vermutet. SPRECHER Im Jahr sieben vor Christus, sagt Jana Steuer, haben sich Jupiter und Saturn sehr nahe aneinander vorbei bewegt. Diese Planeten-Konjunktion dürfte damals aufgefallen sein und könnte eine Erklärung für den Stern sein, dem die Weisen aus dem Morgenland gefolgt sind. Beweisen lässt sich das allerdings nicht, dass die Magier aus dem Orient tatsächlich dieses Himmelsphänomen beobachtet haben. 13 ZSP STEUER Es bleiben viele Fragen offen. Wir wissen eben, dass diese Konjunktion stattgefunden hat. Was das Problem an dieser Konjunktionstheorie ist, Jupiter und Saturn kamen sich zwar damals sehr nahe, aber sie kamen sich gewiss nicht so nahe, dass man sie für einen einzigen Stern hätte halten können. Das heißt, man muss deutlich damals auch gesehen haben, dass das zwei getrennte Objekte am Himmel sind. Letztendlich, glaube ich, ist es zumindest aus astronomischer Sicht so, dass wir halt nur sagen können das einzige astronomische Phänomen, von dem wir wissen, dass das stattgefunden hat, ist diese Konjunktion. Supernova und Kometen gibt es einfach keinerlei Beweise dafür. Und dann muss man sich natürlich einfach auch als eine religiöse Geschichte darauf berufen, dass das Ganze halt eine symbolische Aussagekraft haben sollte und dementsprechend wahrscheinlich auch dramatisiert wurde. SPRECHER Für den Stern gibt es deshalb noch eine ganz andere Erklärung. Immer wieder finden sich in der antiken Welt Berichte darüber, wie eine Himmelserscheinung die Geburt einer wichtigen Persönlichkeit ankündigt. Als Alexander der Große zur Welt kam, soll ein sehr heller Stern am Himmel erschienen sein.  Bei der Geburt des Herrschers Mithridates des Großen im zweiten Jahrhundert vor Christus soll 70 Tage lang ein Stern am Himmel geleuchtet haben. Auch über Augustus gibt es ähnliche Erzählungen. Hat der Stern also rein symbolischen Charakter? TC 17:57 – Eine Geschichte, so alt wie die Zeit SPRECHERIN Solche Himmelserscheinungen dienen in der Literatur dazu, auf ein besonderes Ereignis aufmerksam zu machen, sagt der Bibelwissenschaftler Simone Paganini. Auch die Erzählung von den Sterndeutern aus dem Morgenland, die den Stern von Bethlehem gesehen haben, lässt sich so interpretieren. Und nicht nur das: Wer sich die biblische Erzählung anschaut, findet immer wieder Motive, die es auch in anderen Religionen und Erzählungen gibt. Etwa wenn sich die Sterndeuter aus dem Morgenland auf den Weg nach Bethlehem zu Jesus, dem Sohn Gottes, machen. 14 ZSP PAGANINI Wenn wir zum Beispiel, die Geburt von Buddha anschauen, passiert genau das gleiche. Es kommen wichtige Leute, die ihn huldigen. Es ist … also etwas was immer wieder wiederholt wird. Das Gleiche gilt übrigens für die Geschichte. Herodes hat alle kleine Kinder getötet, um Jesus zu töten. Das ist ein Topos, also, wenn wichtige Leute geboren werden, die … sind in Gefahr, und die müssen gerettet werden. Und das finden wir nicht nur in der Mythologie. In der griechischen Mythologie Herkules zum Beispiel. Der wird geboren. Er wird in seine Krippe gelegt und es kommen zwei Schlangen, die ihn fressen wollen. MUSIK 14: ARD Labelmusik The Trek – 22 Sek SPRECHERIN Also doch alles Legende? Ein Mythos, der sich so oder ähnlich auch in anderen Religionen findet?  Und der die besondere Rolle und Bedeutung von Jesus unterstreichen soll? Bei der biblischen Geschichte geht es vor allem um die theologische Aussage, so Professor Ansgar Wucherpfennig.  15 ZSP WUCHERPFENNIG Das, was beschrieben wird, ist ziemlich klar ein Wunder. Natürlich haben immer wieder Astronomen danach gesucht, ob es ein astronomisches Phänomen ist, mit dem man das erklären kann. Das ist eigentlich der Erzählung nach nicht der Fall. Denn es ist ein Stern, der vor den Weisen herwandert, das ist ein Stern, der die Menschen, die keine Juden waren, auf ihre Weise zu Jesus dem Messias geführt hat. Und das ist die eigentliche Aussage der Geschichte. SPRECHERIN Wer die Sterndeuter waren, davon erzählt die Bibel nichts. Genauso wenig wie davon, aus welcher Stadt sie kamen. Letztlich bewegt sich das Matthäusevangelium im Rahmen theologischer Geschichtsschreibung, sagt deshalb auch der Bibelwissenschaftler Simone Paganini.  16 ZSP PAGANINI Da wird jemand geboren. Jemand, der ganz wichtig ist, nämlich Jesus, und sogar aus diesem fernen Land gibt es Priester, die die Zukunft voraussehen können, indem sie den Himmel anschauen, und weil sie einen Stern sehen, erkennen sie: Da ist etwas Wichtiges passiert. Dass es solche Menschen gab, das ist historisch - also, es gab solche Priester, ob die wirklich jemals einen Stern gesehen haben, genau zu der Zeit, wo Jesus geboren ist …..da sind wir nicht mehr in der historischen Quellenauswertung, sondern, da sind wir in der ersten Legendenbildung. Musik 15: Secret Agenda – 33 Sek SPRECHERIN Über die Jahrhunderte hinweg wurde diese erste Legende immer weiter ausgeschmückt. Aus den Sterndeutern wurden Könige, die später die verschiedenen Erdteile und Altersstufen repräsentierten. Sie erhielten Namen. Ihre Reliquien werden bis heute in Köln verehrt. Wer die Heiligen Drei Könige allerdings tatsächlich waren, bleibt letztlich Glaubenssache.  Musik aus. //
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Dec 23, 2023 • 24min

WEIHNACHTSGESCHICHTE(N) - Die Kerze

Die Kerze als Dekoraktionsobjekt gibt es erst seit dem 20. Jahrhundert. Früher, in stromlosen Zeiten, waren Kerzen den Kirchen und Herrschaftshäusern vorbehalten. Die einfachen Leute mussten sich mit Kienspänen oder so genannten Unschlittkerzen aus Hammel - oder Rindertalg zufriedengeben, die grauenvoll stanken und obendrein heftig rußten. Auch der Walrat, eine fettige Substanz aus dem Kopf des Pottwales, war nicht wohlriechend. Die Knappen in den Silberbergwerken von Tirol bekamen Schnaps verabreicht, damit sie den Gestank des Talglichts ertrugen. Autorin: Regina Fanderl (BR 2018)Credits Autorin dieser Folge: Regina Fanderl Regie: Eva Demmelhuber Es sprachen: Irina Wanka, Johannes Hitzelberger, Michael Hafner Technik: Fabian Zweck Redaktion: Michael Zametzer Im Interview:Elisabeth Maisinger (Kerzenmanufaktur und Lebzelterei Nagy, Salzburg);Benjamin Huber (Magister, Kulturvermittler am Keltenmuseum Hallein, Österreich);Paul Janßen (Pfarrer, Aschau im Chiemgau);Michael Strassmann (Mitglied der liberalen jüdischen Gemeinde München) Linktipps: ARD alpha (2023): Von der Sehnsucht nach dem Licht Wenn der Großstädter über die langen dunklen Nächte und die klirrende Kälte stöhnt, beginnt für den Erzgebirgler die schönste Zeit des Jahres. ZUR SENDUNG Deutschlandfunk Kultur (2022): Chanukka – Die Lichter in dunklen Zeiten Am 18. Dezember beginnt Chanukka. Ein Fest, das nicht in der Thora steht, von dem aber eine große Strahlkraft ausgeht. Es geht bei dem Fest darum, Licht ins Dunkel zu bringen. Das Anzünden der Kerzen auf dem achtarmigen Leuchter folgt festen Regeln. JETZT ANHÖREN Planet Wissen (2021): Feuer Reibung erzeugt Hitze – nach diesem Prinzip wurden schon vor Jahrtausenden unterschiedliche Methoden der Feuererzeugung angewandt. Bis heute funktionieren Streichhölzer und Cerium-Feuerzeuge nach diesem Grundsatz. HIER geht’s zum Beitrag.Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes zu dieser Folge: TC 00:15 - IntroTC 01:50 – In der KerzenmanufakturTC 04:42 – Licht ins Dunkle bringenTC 07:25 – Erfindungen für den BergbauTC 10:33 – Das Licht Christi: Kerzen im ChristentumTC 15:04 -  Gedenke und Halte: Kerzen im JudentumTC 16:54 – Was Lebkuchen mit Kerzenwachs zu tun hatTC 20:23 – Luxusgut Wachs?TC 22:57 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro Sprecherin: Ein Kind - von einem Schiefertafelschwämmchen umhüpft - rennt froh durch mein Gemüt. Bald ist es Weihnacht! - Wenn der Christbaum blüht, dann blüht er Flämmchen. Und Flämmchen heizen. Und die Wärme stimmt uns mild. Es werden Lieder, Düfte fächeln. Wer nicht mehr Flämmchen hat, wem nur noch Fünkchen glimmt, wird dann noch gütig lächeln… Sprecher: Joachim Ringelnatz: Vorfreude auf Weihnachten. 1 ZUSP Umfrage (0.27) Wir haben einen Christbaum mit echten Kerzen, Bienenwachskerzen. Und auch wenn die nur kurz brennen, das macht nix, das gehört einfach dazu. Das war schon in der Kindheit so. Wenn ich heimkomme, ist es schon dunkel und dann freu ich mich, wenn vor dem Haus ein Kerzerl brennt. Das ist ein schönes, warmes Gefühl.Sprecher: Keine Frage: Advent, Weihnachten ohne Kerzen – undenkbar. Selbst wer das Fest nicht so hoch hängt, wird irgendwann am Heiligen Abend, spätestens gegen 17 Uhr, wenigstens eines dieser weltweit bekannten „Leuchtmittel“ anzünden. Mit einem Feuerzeug - oder doch stilvoller: mit einem Streichholz. ATMO FX Streichholz MUSIK Pixner C1576450 W01 TC 01:50 – In der Kerzenmanufaktur 2 ZUSP Elisabeth Maisinger,Kerzenmanufaktur Nagy (1.01)Wir gehen jetzt erst mal ins Lager durch und dann kommen wir schon langsam zur Produktion. Wir haben eine sogenannte Zugmaschine, das ist eine einfache mechanische Zugmaschine. Da dreht sich der Docht über zwei Trommeln und dieser Docht läuft dann durch ein Wachsbad. Und während er über die Trommeln läuft, trocknet das Wachs immer wieder und dann kann es beim nächsten Durchgang wieder neues Wachs aufnehmen. […] Und die Kerze, muss man sich vorstellen, kommt von dieser Zugmaschine in einem unendlichen Strang eigentlich runter, wird dann abgeschnitten in ungefähr vier Meter lange Stränge und da dann wieder händisch auf die Länge gebracht wie die endgültige Kerze dann sein soll. Und dann ist es längst noch keine fertige Kerze; dann muss vorne noch ein Spitz ran, wo man sie anzünden kann und eventuell hinten ein Loch oder ein Kronus nennt man das auch, wo man sie dann hinten in den Leuchter reinstecken kann, das sind dann noch weitere Arbeitsgänge. Und am Schluss wird sie dann eben in die Farbe getaucht bevor sie in den Laden kommt. MUSIK hoch und runterwürgenATMO Tropfen & Höhle Sprecherin: Als die Menschen damit anfingen, sich ihre Umwelt nach Sonnenuntergang zu erhellen, ging es ihnen nicht um den schönen Schein. Archäologische Funde belegen, dass schon während der letzten Eiszeit, vor mehr als 30.000 Jahren, Menschen in Mitteleuropa gelebt haben, die mit sehr harten Klima- und Lebensbedingungen klarkommen mussten. Ihr einziges Ziel: Überleben! Und dazu brauchten sie - neben Essen und Trinken: Wärme. Und Licht. Sprecher: Wenn wir heute ziemlich ratlos im Kaufhaus oder beim Möbeldiscounter stehen, werden wir fast erschlagen von der Riesenauswahl an Kerzen in allen Größen, Formen und Farben. In Massen produziert, aus Kaltwachs-Granulat gepresst - hier stapelt sich meist billige Ware. Kerzen, die viel Sauerstoff enthalten und damit schnell abbrennen und leichter rußen. Aber auch auf adventlichen Handwerksmärkten oder Fachgeschäften, wie etwa bei Elisabeth Maisinger in der Wachszieherei Und Lebzelterei Nagy [sprich NAGI, nicht Notsch] in Salzburg, sind Angebot und Vielfalt groß. Gezogen, gegossen, verziert? Was darf’s denn sein, bitte? 3 ZUSP Elisabeth Maisinger, Kerzenmanufaktur Nagy (0.38)Da ist die Kerzen-Taucherei. Da werden die Rohlinge in die Farben getaucht. Das ist also ein sehr wichtiger Bereich, wir haben ungefähr 60 Farben, die Kunden können das im Geschäft auswählen und dann werden die Kerzen frisch getaucht. Das ist eine Spezialität bei uns, wir haben es also nicht lagernd in zehn Farben dastehen, sondern haben die Größen zur Auswahl und dann sucht sich der Kunde Größe und Farbe aus und kriegt die Kerze dann frisch. Besonders im Advent ist das ein sehr aktuelles Thema bei uns.Atmo Höhle/ Tropfen TC 04:42 – Licht ins Dunkle bringen Sprecherin: Sechzig Farben, ganz nach Geschmack – für die Jäger und Sammler der Steinzeit waren ganz andere Eigenschaften entscheidend: sie suchten nach einer transportablen Licht- und Wärmequelle, die auch nach einem jahreszeitlich bedingten Umzug funktionierte: vom Zelt, einer Art Tipi, hinein in die Höhle, bei extremen Wetter, oder um Zeremonien zu feiern. Die zündende Idee: sie füllten einen nach innen gewölbten, etwa handgroßen Stein mit flüssigem Tierfett und tauchten einen Zweig oder ähnliches als Docht hinein. Der glomm und rauchte dann mühsam vor sich hin. Sprecher: Das Licht reichte wohl halbwegs dazu aus, die Gesichter der Mitbewohner zu erkennen, Essen zu wärmen, nasse Kleidung zu trocknen oder Schnee zu schmelzen. Auch die berühmten Höhlenmalereien entstanden schließlich nicht im Blindflug. 4 ZUSP Umfrage (0.18)Nicht schön, düster, kalt… Also ich kann es mir nicht gemütlich vorstellen. // Ich habe da ein schönes Buch gelesen, wie die so mit ihren Fellen - und haben es sich auch gemütlich gemacht.  Die haben geschaut, dass sie ein Feuer haben. […] Beleuchtung haben sie nicht gehabt. Die sind halt dann ins Bett gegangen.Musikakzent Sprecher: Über Jahrtausende hinweg bestanden künstliche Lichtquellen der Menschen wohl immer aus dieser einen Kombination: Docht und Wachs. Sprecherin: Wachs ist der Überbegriff für eine organische Verbindung, die bei etwa 40 °C schmilzt und dann eine Flüssigkeit bildet. Es gibt tierische und pflanzliche Wachse. Sprecher: Pflanzliche Wachse schützen Blätter und Früchte vor dem Austrocknen und werden aus Zuckerrohr oder der Wachspalme gewonnen. Sprecherin: Tierische Wachse sind beispielsweise Wollwachs oder das Bürzeldrüsenfett der Wasservögel. Auch Talg und Unschlitt, das Eingeweidefett geschlachteter Rinder und Hammel können als Brennstoff nützlich sein. Und natürlich gehört auch das Bienenwachs dazu. Sprecher:Der stark vergrößerte Vorderkopf des Pottwals lieferte das Walrat, eine fetthaltige Substanz, die ebenso als Brennstoff geeignet war wie Schellack, gewonnen aus den Ausscheidungen von Blattläusen. Sprecherin: Das klingt alles nicht gerade appetitlich, aber es wird die Menschen der Eisenzeit nicht weiter beschäftigt haben. Vielmehr galt es, die technologische Entwicklung der Eisenzeit voranzutreiben und eine wichtige, neue Arbeitsstätte zu beleuchten: das Bergwerk. Seit etwa 800 vor Christus wurde Salz abgebaut - das vor allem für die Konservierung von Lebensmitteln unentbehrliche „Weiße Gold“. TC 07:25 – Erfindungen für den Bergbau Sprecher: Tief drin im Berg aber half das glimmende, schwache Lichtlein allein aber nicht weiter. Deshalb kam eine weitere Erfindung des Steinzeitmenschen zum Einsatz: der Kienspan. Sprecherin: Kienspäne sind Bündel von etwa 20 Zentimeter langen und Latten aus harzreichem Holz wie Kiefer, Tanne, Fichte, Lärche oder Kirschbaum. Zündet man es vorne an, brennt das Bündel rund 20 Minuten lang ab. Der Schwierigkeit für den Bergmann bestand darin, die unruhig flackernde Flamme mit der Hand auszutarieren. Sprecher: Eine sportliche Sache, wenn man gleichzeitig auch noch große Brocken aus dem Felsen hauen muss. Sprecherin:Im Keltenmuseum von Hallein bei Salzburg wird der Salzabbau auf dem nahen Dürrnberg dokumentiert. In einer der Vitrinen ist ein original-eisenzeitlicher Kienspan zu sehen. Der Historiker Benjamin Huber erklärt die Handhabung: 5 ZUSP Benjamin Huber, Keltenmuseum Hallein (0.45)Wenn man in den Stollen hineinkommt, das ist unter Tage, da ist kein Sonnenlicht. Wie beleuchtet man damals diese vielen Stollen, die geschaffen wurden? Die waren ja sehr schmal, diese Zugangsstollen bis man auf die Salzschichten gestoßen ist. Und deshalb haben die Bergmänner diese Kienspäne im Mund getragen. Da haben wir die Zahnabdrücke auf den Kienspänen drauf. Weil die Stollen ja sehr eng waren, man braucht beide Hände, um das Werkzeug in der Hand zu halten und als man dann auf die Salzstöcke gestoßen ist, auf diese Salzvorkommen, hat man die Stollen verbreitet, größere Stollenhallen möchte ich sagen, geschaffen und dann hat man eben die Kienspäne in die Wand gesteckt. Das ist die Geschichte, die wir gerne hier im Keltenmuseum Hallein erzählen. Wir haben aber hier nicht nur die Zahnabdrücke, sondern wir haben auch in unserer Ausstellung Kienspanhalter: Das sind lange Hölzer, da ist vorne eine Kerbe, da kann man den Kienspan einfach einklemmen. Sprecherin: Der Kienspan gilt als die älteste bekannte Grubenbeleuchtung in Mitteleuropa. Weil er während der Arbeit im Stollen mit dem Mund festgehalten werden musste, verlor der Bergmann meist seine Zähne und galt dann, zahnlos, als „bergfertig“. Das heißt, er war Invalide und arbeitslos. Ein Schicksal, das den Dürrnberger Knappen ab dem 16. Jahrhundert erspart blieb. Die kämpften gegen andere Widrigkeiten: 6 ZUSP Benjamin Huber, Keltenmuseum Hallein (0.46)Es gibt ganz unterschiedliche Brennbehälter, beziehungsweise Leuchtkörper, Öllampen, in der Bergmannsprache sind es Grubenlampen, die haben ganz unterschiedliche Formen und die wurden dann befüllt mit Fett, mit Talg, das hat man sich von den Metzgern geholt und das Bergwerk so ausgeleuchtet. Da gibt’s ganz unterschiedliche Formen, und eine ganz besondere Form, die wir hier im Keltenmuseum haben, ist die sogenannte ‚Halleiner Blende‘. Das ist ein Holzkasten mit einem kleinen Brennstoffbehälter darin, das schaut ganz fantastisch aus. Dahinter belegt mit Messing, um die Leuchtkraft dann auch zu verstärken. Das ist dann schon eine spätere Variante aus dem 19. Jahrhundert. Das hat fürchterlich gestunken. Also wenn man das schonmal probiert hat, ich hab das schon einmal gerochen tatsächlich bei einem Workshop und das stinkt ganz erbärmlich (lacht). Sprecherin: Den Bergmännern im Silberbergwerk von Rattenberg in Tirol wurde aus diesem Grund der Lohn zum Teil als Schnaps ausgezahlt. So war wohl der Gestank unter Tag besser zu ertragen. TC 10:33 – Das Licht Christi: Kerzen im Christentum Sprecher: Jahrtausende lang konnten die Menschen ihre Behausungen nur mit dem Kienspan oder mit primitiven Öllampen erhellen - und so waren diese preiswerten Leuchtmittel bis weit in das Mittelalter unentbehrlich. Andere künstliche Lichtquellen waren deutlich teurer und kamen daher zumindest für die ärmeren Leute nicht in Frage. So ein Luxusleuchtmittel war auch – die Kerze. 7 ZUSP Elisabeth Maisinger, Kerzenmanufaktur Nagy (0.50)Es ist eine sehr sehr feine Arbeit. Also wir brauchen da Leute, die gute Augen haben, die feine Hände haben und die viel Geduld haben. Ob die Kerzen jetzt mit Zweigerl, Sternderl oder Glockerl verziert werden, oder ob wir eine Hochzeitskerze, einen Baum draufbasteln mit ungefähr 35 Blättern in verschiedenen Farben, die werden alle einzeln ausgeschnitten, oder ob man die Kerzen beschriftet, da wird jeder Buchstabe von Hand geschrieben. Die Maschinen helfen uns da nicht sehr viel, hauptsächlich Handarbeit ist gefragt. Das macht natürlich auch den Preis, aber auch, dass der Kunde da das Gefühl hat, sein Wunsch ist uns wichtig und wir bemühen uns, auf das einzugehen. 8 ZUSP Umfrage (0.14)I brauch schon jeden Abend sehr lange, bis ich die Kerzen alle anzünde. Und sie danach auch alle wieder ausmache. Und hinterher der Geruch, wenn man’s ausblast: ein Traum. Musikakzent Orgel Sprecher: Es ist nicht einfach, Licht in das Dunkel der frühesten Kerzengeschichte zu bringen. Die überlieferten Texte und Darstellungen machen nicht klar, was da leuchtet. Fackeln? Oder doch schon Kerzen? Sprecherin: Wahrscheinlich gelang es schließlich den Römern, Wachs und Docht so zu kombinieren, dass kein eigenes Gefäß mehr nötig war. Ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus jedenfalls waren einfache, niedrige Wachskerzen so weit entwickelt, dass sie ohne lästiges, übermäßiges Rußen und üblen Geruch in einem geschlossenen Raum brennen konnten. 9 ZUSP Elisabeth Maisinger, Kerzenmanufaktur Nagy 0.23Kirchen sind nach wie vor ein wichtiger Kundenkreis. Wird natürlich von der Menge her weniger, weil weniger Messen gefeiert werden, das spürt man schon ein bisschen. Und es ist auch nimmer so, dass bei den Hochämtern alles beleuchtet war, das ist nicht mehr so häufig. Aber nach wie vor ein wichtiger Abnehmerkreis. Die kirchlichen Feste geben nach wie vor unser Geschäftsjahr vor, die bestimmen das sehr stark. Sprecherin: Das aufblühende Christentum mit seinen liturgischen Gebräuchen war der Impuls dafür, dass sich Kerzen schnell verbreitet haben. So sind länglich-runde Kerzen für liturgische Zwecke seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts mit Sicherheit nachgewiesen. Von der Geburt bis zum Tod begleiten sie bis heute den gläubigen Menschen ein Leben lang. Pfarrer Paul Janßen aus Aschau im Chiemgau weiß um die Symbolkraft des Kerzenlichts: 10 ZUSP Pfarrer Paul Janßen, Aschau im Chiemgau (0.31)Jesus sagt einmal im Johannesevangelium „Ich bin das Licht der Welt“ und an andrer Stelle sagt er dann „Ihr seid das Licht der Welt“. Und man zündet auch nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel, sondern man stellt sie auf den Leuchter, dass es allen leuchtet. Und so ist für mich eine Kerze als Lichtträgerin ein wunderbares Symbol für uns als Christen, dass wir selber das Licht Christi empfangen, den Glauben empfangen und so selber zu Lichtträgern werden und das Licht weiterschenken.Orgel Sprecherin: Tauf- und Sterbekerze, Osterkerze, Altarkerzen, die kleinen Opferkerzen, die Gläubige mit einem Anliegen anzünden können, oder auch die Blasiuskerzen – der ganze Bedarf für ein Kirchenjahr wird am 2. Februar bei einem eigenen Gottesdienst geweiht: 11 ZUSP Pfarrer Paul Janßen, Aschau im Chiemgau (0.37)Man kennt eigentlich so seit dem 10. Jh. Ungefähr den Brauch der Kerzenweihe an Maria Lichtmess. Und man hat ja offenbar heidnische Lichtriten und Prozessionen christlich umgedeutet und da kommt natürlich das sehr zu Hilfe, dass bei diesem Fest eben das Licht thematisiert wird. Die Kinder gehen immer mit und haben die Kerzen in der Hand. Die Kirche ist auch abgedunkelt, wir haben dann nur das Licht der Kerzen und das ist auch was Besonderes, diesen Gottesdienst nur im Kerzenschein zu feiern. TC 15:04 -  Gedenke und Halte: Kerzen im Judentum Sprecher: Aber Kerzen leuchten nicht nur im christlichen Jahreslauf. Auch im Judentum sind sie wichtige religiöse Symbole, sagt Michael Strassmann von der liberalen jüdischen Gemeinde in München: 12 ZUSP  Michael Strassmann, liberale jüdische Gem. München (1.18)Man denke an die Menora, also an den siebenarmigen Leuchter, kennt auch jeder, ist auch im Staatswappen von Israel drin. Und jetzt fragt einer wieso 7, sind doch 8 Kerzen? Die Kerze in der Mitte die zählt nicht. Das ist die Dienerkerze, mit der man die anderen anzündet. Und eine große Rolle spielt die Kerze im Sabbat: Der Sabbat beginnt ja immer bei uns am Freitagabend, wenn die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen sind. Und 18 Minuten bevor der Sabbat richtig da ist, muss man die Sabbatkerzen angezündet haben, das sind zwei. Die haben auch Namen: Eine heißt Schamor, ‚Bewachte‘, ‚Pass auf‘. Die zweite Kerze heißt Sachor, das heißt ‚Erinnere dich‘, das ist eine Aufforderung, dass man den Sabbat bewahrt und ihn nicht vergisst. Und die beiden Kerzen zündet immer die Frau des Hauses an und spricht dabei einen Segen. Da ist die Kerze auch ganz wichtig, wir haben sogar ein Kerzenfest, das heißt Chanukka. Da haben wir die Chanukkia. Erinnert vielleicht die Christen an den Adventskranz, nur bei uns wird nicht jeden Sonntag eine weitere Kerze angezündet, sondern jeden Tag bis alle acht Kerzen brennen. Und das heißt bei uns auch Lichterfest auf Deutsch […]. Das wird immer so gefeiert um die Wintersonnenwende rum, da werden die Tage wieder länger, das Licht kommt zurück. Dass da die Christen Weihnachten feiern und wir Juden Chanukka, erklärt sich vielleicht ein bisschen von selbst.Sprecher: Durch die Verwendung in der christlichen Liturgie und im jüdischen Ritus wurden die Kerzen ab dem Mittelalter immer beliebter - und qualitativ besser. Sie wurden nun aus Bienenwachs, einem knappen und teuren Rohstoff, und blieben daher den Kirchen und dem Adel vorbehalten. TC 16:54 – Was Lebkuchen mit Kerzenwachs zu tun hat Sprecherin: Um das Jahr 1600 kostete ein Kilo Bienenwachs zehnmal so viel wie ein Kilo Fleisch. Für die Reichen kein Problem: Bei einem Hoffest in Dresden um 1750 wurden fast 15 000 Wachslichter verbraucht. Sprecher: Die einfachen Leute mussten sich immer noch mit Kienspänen oder den Unschlittkerzen aus Hammeltalg oder Rindernierenfett herumplagen. Was immer auch Licht spendete, roch, wie schon in Urzeiten, ranzig und rußte erbärmlich. Sprecherin: Und gesund war das alles auch nicht. Im 17. Jahrhundert weißte man Talgkerzen mit Arsenik und atmete damit ordentlich Gift ein. Und ein Zeitzeuge berichtete nach 1800… Zitator: …dass die Fülle der brennenden Kerzen bald die Luft der Räume überhitzte und verpestete. Dass bei der Krönung von König Georg IV. in London im Jahr 1821 in Westminster Hall – es brannten über 1500 Kerzen – viele der Damen infolge der Hitze ohnmächtig wurden und dass das herabtropfende Wachs, noch bevor alle Kerzen entzündet wurden, die Wachsschnäuzer und die kostbaren Gewänder der Gäste überflutete! Sprecherin: Wachsschnäuzer war ein eigener Berufszweig bei Hofe. Die Männer hatten den Auftrag, permanent die Dochte zu kürzen, um das Rußen und Tropfen zu verhindern. „Schnäuzen“ nannte man das seinerzeit. Sprecher:Vor dem Wachsschnäuzer stand naturgemäß der Wachszieher. Dessen Ursprungsberuf war der des Lebzelters, also des Lebkuchen-Produzenten. Da Zucker erst um 1800 aufkam, wurden die Backwaren mit Honig gesüßt. Um den Honig zu gewinnen, haben die Lebzelter ganze Bienenwaben gepresst und dann das Wachs zu Kerzen weiterverarbeitet. 13 ZUSP Elisabeth Maisinger, Kerzenmanufaktur Nagy (0.30)Der Lebkuchen ist ein sehr wesentlicher Bestandteil unserer Produktion, auf den wir nicht verzichten wollen. Wir produzieren als eine der wenigen Lebkuchen ganzjährig, auch zu Ostern gibt’s Lebkuchen, es gibt im Sommer die Lebkuchen-Schiftl zum Beispiel, die ein typisches Brauchstumsgebäck sind, das zu den sogenannten Prangtagen gegessen und geschenkt wird. Und ab Herbst hat man dann eh schon wieder Lust auf einen frischen Lebkuchen. Sprecherin: Aber auch unter den Lebzeltern muss es schwarze Schafe gegeben haben.  Die prangerte der Wiener Hofprediger Abraham a Santa Clara in aller Deutlichkeit an, indem er von der Kanzel polterte: Zitator: Sonst seynd die Wachskerzler gar ehrliche und redliche Leut, außer denselben, welche allerley Hartz, Pech und Terpentin unter das Wachs mischen, daß solche Kerzen sich eines kurtzen Lebens erfreut, ja dergestalt abnimmt, dass ein Träne die andere schlägt; vielleicht beweint sie das Schelmenstück des Meisters, der fast wert ist, daß ihm der Henker den Docht um den Hals bindet ... Sprecher: Für den sich krümmenden und dadurch sich selbst schnäuzenden Docht fehlte aber noch lange die zündende Idee. Selbst Goethe hatte es offensichtlich satt, tränenden Auges zu dichten, denn er grantelte: Zitator: Wüsste nicht, was sie Bessers erfinden könnten, als wenn die Kerzen ohne Kürzen brennten! Musikakzent dito TC 20:23 – Luxusgut Wachs? Sprecherin: Ob der Geheimrat das noch erlebt hat? Er starb 1832. Erst mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und der Entdeckung der Rohstoffe Paraffin und Stearin wurden geruchs- und tropffreie Kerzen auch für die breite Bevölkerung erschwinglich. Erste Fabriken entstanden 1833 in Paris und 1837 in Wien. Sprecher: Paraffin wird aus Mineralöl gewonnen wird und ist an den Ölpreis gekoppelt. Etwa drei Viertel aller Kerzen in Deutschland sind heute Paraffin-Kerzen. Sprecherin: Stearin besteht zum Großteil aus Palmöl und ist wegen des hohen Landverbrauchs und der damit verbundenen Zerstörung der Regenwälder höchst umstritten. Allein in Indonesien wurde für Ölpalmen Regenwald von einer Fläche geopfert, die mehr als doppelt so groß ist wie Bayern. Deshalb wird Stearin inzwischen nur noch selten für die Kerzenherstellung verwendet. Sprecher: Zweifellos: Kerzen aus Bienenwachs sind die schönste, edelste, umweltfreundlichste, aber auch teuerste aller Varianten. Sie kostet vier- bis fünfmal so viel wie eine Paraffinkerze. Und auch das Bienensterben in Teilen der Welt macht den fein duftenden Rohstoff nicht preiswerter. Jetzt schon hat der Klassiker unter den Kerzen nur noch einen Marktanteil von 0,5 Prozent. Sprecherin: Trotzdem lassen sich viele Menschen – zumindest an Weihnachten – vom Preis nicht abschrecken: 14 ZUSP Umfrage (0.21)Die Bienenwachskerze ist für uns auch sehr wichtig. Und ich habe eine Kundin, die mir jedes Jahr eine selbstgewickelte Bienenkerze schenkt. Und die wird an Heilig Abend am Tisch angezündet und die sagt auch immer zu mir: genieß es und das ist einfach schön.Sprecherin: Längst beleuchtet elektrisches Licht unsere Räume: Glühlampen, Leuchtstoffröhren, LEDs, Fernsehschirme oder Lichterketten. Trotzdem hat die Kerze auch nach fast 2000 Jahren nicht ausgedient – ganz im Gegenteil: sie ist heute mehr denn je ein Symbol der Wärme und des Wohlbefindens, ihr Brennen kann uns tief berühren. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Sprecher: Alle Dunkelheit der Welt reicht nicht, um das Licht einer einzigen, kleinen Kerze auszulöschen. TC 22:57 - Outro

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