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Ihr Überleben verdankte Anita Lasker-Wallfisch wohl nur der Tatsache, dass sie Cello spielen konnte. Als Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz überlebte sie das NS-Vernichtungslager. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Carola Zinner (BR 2014)
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Caroline Ebner, Peter Weiß, Anita Lasker-Wallfisch
Technik: Cordula Wanschura, Monika Gsänger
Redaktion: Thomas Morawetz
Linktipps:
ARD alpha: Zeuge der Zeit
Was bleibt, wenn die letzten Zeitzeuginnen und -zeugen nicht mehr am Leben sind? Wie können ihre Erlebnisse der Nachwelt zugänglich gemacht werden? Die Porträtreihe "Zeuge der Zeit" versteht sich als filmisches Gedächtnis. In den intensiven Interviews der Filmschaffenden Andreas Bönte und Michaela Wilhelm-Fischer im Sinne einer "Oral History" berichten Zeitzeugen teilweise zum ersten Mal ausführlich über ihr Leben und machen auf diese Art Geschichte begreifbar.
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BR2 (2023): Die Quellen sprechen
Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von Tätern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ergänzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv für die Dokumente, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.
ZUM PODCAST
BR: Die Rückkehr der Namen
Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER.
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15: Intro
TC 02:46 – Klopapierrollen statt Cellobogen
TC 06:24 – Mit dem Gesetz im Konflikt
TC 08:30 – Deportation nach Ausschwitz
TC 09:55 – Musik ist Musik
TC 14:40 – Ein Abschied für immer
TC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erben
TC 20:36 – Brücken bauen zwischen Verschiedenheiten
TC 21:19 - Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15: Intro
MUSIK CD 018520 W01
Benjamin Britten Simple Symphony English Chamber Orchestra
ERZÄHLER
Die „Simple Symphony“ von Benjamin Britten. In dieser Aufnahme aus dem Jahr 1968 dirigiert der Komponist selbst das English Chamber Orchestra, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet.
MUSIK hoch
ERZÄHLER
Zum Orchester gehören mehrere Frauen - das ist für ein Spitzenensemble in jener Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch gehört sogar zu den Gründern des Londoner Orchesters, das Ende der 40er-Jahre entstand. Zu dieser Zeit hatte die gebürtige Deutsche bereits ein bewegtes Schicksal hinter sich: Sie hatte das Konzentrationslager überlebt - als Mitglied des „Mädchenorchesters von Auschwitz“.
MUSIK hoch und weg
MUSIK CD 701140 003
(Gerichtsaussage nach Protokoll:)
ZITATOR (= Col Backhouse)
Ihren vollen Namen, bitte.
ZITATORIN (= Anita Lasker)
Anita Lasker.
ZITATOR
Wo haben Sie bis zu Ihrer Verhaftung gewohnt?
ZITATORIN
In Breslau, Straße der SA 69.
ZITATOR
Wann gingen Sie nach Auschwitz?
ZITATORIN
Ich war eineinhalb Jahre im Gefängnis und ging von da im Dezember 1943
nach Auschwitz.
ZITATOR
In welchem Block lebten Sie, als Sie nach Auschwitz kamen?
ZITATORIN
Ich lebte in Block 12, mit der Kapelle.
ERZÄHLER
Lüneburg, 1. Oktober 1945 - Tag 13 im ersten Gerichtsverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher. Mangels geeigneter Räume hat das britische Militärgericht eine Turnhalle zum Gerichtssaal umfunktioniert. Hier macht die 20-jährige Anita Lasker nun ihre Zeugenaussage.
(wie oben)
ZITATOR
Haben Sie Selektionen für die Gaskammer gesehen?
GERÄUSCH beginnt unter nachfolgendem Text
ZITATORIN
Ja, ich habe viele Selektionen gesehen. Ich spielte im Lagerorchester, und wir mussten am Tor spielen. Das Tor lag genau gegenüber der Eisenbahnstation. Dort kamen die Transporte an, und wir konnten alles beobachten. Der Transport kam an, die SS führte die Selektionen durch, und wir waren nur knapp 50 Meter entfernt.
MUSIK/GERÄUSCH GEHT UNTER ZUSPIELUNG 1 ZU ENDE
ZUSPIELUNG 1
„Man hat sozusagen in einen Abgrund geschaut, wo nicht alle Leute reinschauen. Wir sind da in einer Welt gewesen, die nicht hierher gehört im Grunde, nicht wahr.“
TC 02:46 – Klopapierrollen statt Cellobogen
ERZÄHLER
London im Herbst 2013. Anita Lasker-Wallfisch sitzt im Wohnzimmer ihres Reihenhauses im Stadtteil Kensal Rise. Ein gemütlicher Raum, etwas abgewohnt: Auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher und ein halbleeres Päckchen Zigaretten, an der Wand Fotos aus längst vergangenen Zeiten: Schwarz-weiße Illustrationen zur Geschichte, die Anita Lasker-Wallfisch erzählt. Es ist keine schöne Geschichte, denn sie führt zurück ins Deutschland der 30er- und 40er-Jahre, wo Menschen jüdischer Herkunft beschimpft, bedroht, angegriffen, weggesperrt, gequält und umgebracht wurden - darunter auch Anitas Familie.
ZUSPIELUNG 2
„Der Tod war immer um die Ecke. Ich habe immer gehofft, dass ich es überleben werde irgendwie.“
ERZÄHLER
Anita, Jahrgang 1925, wuchs in Breslau auf. Der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter eine talentierte Musikerin. Die Familie führte ein gutbürgerliches Leben - ein glückliches Leben, wie sich Anita und ihre beiden Schwestern später erinnern. Doch ab 1933 wurde alles anders:
Die staatlich verordnete Drangsalierung von Menschen jüdischer Herkunft nahm immer mehr zu. Der Mob bekam freie Hand für Gemeinheiten aller Art.
MUSIK – und unter nachfolgendem Text zu Ende CD 921900 005
ERZÄHLER
Anita, die begeistert Cello spielt, findet im Jahr 1938 in ganz Breslau keinen Lehrer mehr, der sie unterrichten darf oder will. So schicken die Eltern ihre begabte Jüngste nach Berlin zum berühmten Cellisten Leo Rostal. Anita ist glücklich in Berlin - doch als die organisierte Gewalt gegen Juden mit den November-Pogromen einen ersten Höhepunkt erreicht, kehrt sie zurück zur Familie nach Breslau. Die älteste Schwester, Marianne, ist zu diesem Zeitpunkt bereits nach England emigriert, wo die überzeugte Zionistin nun auf die Weiterreise nach Palästina wartet. Währenddessen bemüht sich der Vater zuhause verzweifelt darum, auch den Rest der Familie im sicheren Ausland unterzubringen.
ZUSPIELUNG 3 *
„Man fragt immer, warum seid ihr nicht früher weggegangen - man kann sich nicht vorstellen wie schwierig das war, auszuwandern. Man hat gemeint, man geht irgendwo hin auf ein Konsulat, man holt sich… - es war eine große Schwierigkeit – und wer will schon von Flüchtlingen überrannt werden, nicht wahr? England, Amerika, da gab’s eine Quote - es ist uns nicht gelungen. Wir sind einfach steckengeblieben.“
ERZÄHLER
1941 beendet Anita die Schule und wird zusammen mit ihrer Schwester Renate zum Arbeitsdienst in eine Papierfabrik beordert. Seite an Seite mit Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern aus Polen und Frankreich steht die 16-Jährige nun von morgens bis abends an der Werkbank.
ZITATORIN
Ich entwickelte eine geradezu märchenhafte Geschwindigkeit im Etikettenkleben. Später durfte ich auch an der Maschine arbeiten. Ich habe wohl Millionen von Klopapierrollen fabriziert.
ERZÄHLER
So schreibt Anita Lasker-Wallfisch in ihrer 1996 erschienenen Autobiographie, wo sich neben den eigenen Erinnerungen auch die ihrer Schwester Renate finden, dazu amtliche Schreiben und Auszüge der Briefe, mit denen die Familie die in England lebende Schwester so lange wie möglich auf dem Laufenden hielt. Hier ist nachzulesen, wie die Eltern im April 1942 abtransportiert wurden, wie die beiden Mädchen allein in der Wohnung zurückblieben - und mit welcher Energie und Tapferkeit sie den Kampf ums Überleben antraten.
TC 06:24 – Mit dem Gesetz im Konflikt
ZUSPIELUNG 4 *
„Wir waren ziemlich freche Kinder, meine Schwester und ich. Ich meine, es hat uns nie gepasst, dazusitzen und zu warten bis uns jemand abholt und ermordet, wissen Sie, das war kein sehr angenehmer Gedanke. Wir haben immer versucht irgendwas zu machen, nicht einfach zu sitzen und zu warten.“
ERZÄHLER
Eines der Verbote, gegen die die Mädchen sich auflehnen, betrifft den Kontakt zwischen den jüdischen Arbeitern und den Franzosen, die in der Papierfabrik arbeiten.
ZUSPIELUNG 5 *
„In der Wand von der jüdischen Toilette war ein Loch, und auf der anderen Seite war der Aufenthaltsraum von den französischen Kriegsgefangenen, und dieses Loch war sozusagen unser Briefkasten.“
ERZÄHLER
Neben kleinen Botschaften wandern durch dieses Loch bald auch amtlich aussehende Formulare: Die Lasker-Schwestern haben begonnen, Urlaubsscheine zu fälschen und verhelfen damit einigen der Franzosen zur Freiheit.
ZUSPIELUNG 6 *
„Aber ich bin wahrscheinlich zu oft auf die Toilette gegangen, denn eines Tages war dieses Loch zugemauert. Wir haben gewusst, dass man uns auf der Spur ist. Und dann haben wir, Kinder wie wir waren, gesagt, jetzt laufen wir weg. Und haben auch mit gefälschten Papieren versucht, in die unbesetzte Zone von Frankreich zu gelangen. Das war natürlich eine, wenn ich jetzt zurückdenke, eine vollkommen wahnsinnige Idee - aber alles war besser als zu sitzen und zu warten, bis so ein Mistkerl kommt und einen verhaftet, nicht wahr?“
ERZÄHLER
Noch auf dem Bahnsteig - die Koffer sind bereits im Zug nach Paris - werden die beiden verhaftet und festgesetzt. Dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, wird sich im Nachhinein als Glück erweisen.
ZUSPIELUNG 7 *
„Wenn wir einfach als Juden geschnappt worden wären, wären wir sofort durch den Schornstein gegangen. Aber wir waren dann quasi Verbrecher: Urkundenfälschung, Feindesbeihilfe und Fluchtversuch.“
ERZÄHLER
Das heißt: Gefängnis statt Konzentrationslager. Und es heißt: Justiz statt Gestapo.
ZUSPIELUNG 8 *
„Zu unserem Glück war eine schlechte Atmosphäre zwischen diesen beiden Instanzen, und das ist uns offensichtlich zum Glück geworden. Wir wollten eine lange, lange Strafe haben, wenn möglich. Das klingt wahnsinnig… Es war nicht angenehm im Gefängnis, aber wenigstens wird man nicht ermordet.“
TC 08:30 – Deportation nach Ausschwitz
ERZÄHLER
Mit dem Urteilsspruch jedoch ist die Zeit in der Untersuchungshaft zu Ende. Die beiden Mädchen werden getrennt voneinander und ohne vom Schicksal der anderen zu wissen ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Allerdings nicht, wie sonst üblich, im Rahmen eines Sammeltransportes, sondern in einem Gefängniszug speziell für Straftäter.
ZUSPIELUNG 9
„Das hieß auch, dass wir nicht mit so einem Riesentransport von Juden angekommen sind. Wir sind einfach direkt ins Lager rein mit anderen Verbrechern. Wir haben keine Selektion gehabt.“
MUSIK CD 701140 002
ERZÄHLER
Die üblichen entwürdigenden Aufnahmezeremonien aber werden auch ihnen nicht erspart. Ausziehen, Rasur, Tätowierung.
ZITATORIN
Ich weiß heute nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, dem Mädchen, das mich tätowierte, zu erzählen, dass ich Cello spielte. Unter den vorherrschenden Bedingungen schien das nicht gerade von welterschütternder Bedeutung zu sein. Die Reaktion war umso erstaunlicher: „Das ist ja phantastisch. Stell dich abseits, bleib dort stehen und warte. Du wirst gerettet werden!“
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, tat aber, was sie mir sagte, stellte mich abseits von allen anderen und wartete - ohne Vorstellung, worauf ich eigentlich wartete.
Endlich kam die Erklärung, und zwar in Gestalt einer gutaussehenden Dame in Kamelhaarmantel und Kopftuch. Sie begrüßte mich und stellte sich vor. Alma Rosé.
MUSIK geht unter Zuspielung 10 zu Ende
TC 09:55 – Musik ist Musik
ZUSPIELUNG 10 *
„Das war die Tochter von Arnold Rosé, der war jahrelang Konzertmeister bei den Wiener Philharmonikern gewesen. Und ihr Onkel war Gustav Mahler, ich meine, die kam aus einem musikalischen Background, der geradezu kolossal war, nicht wahr.“
ERZÄHLER
Alma Rosé hatte sich in den 20er- und 30er-Jahren als Geigerin einen Namen gemacht und ein Damenorchester gegründet und geleitet. Nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager war das bald publik geworden. Prompt spannten Aufseherinnen die „Neue“ für ihre Zwecke ein.
ZUSPIELUNG 11 *
„Was ich erst viel später gelernt habe, dass es in jedem Lager ein - man kann es nicht Orchester nennen - eine Kapelle gab. Außer im Frauenlager. Das war anscheinend so eine Art „Competition“ zwischen den Lagern: Wir wollen auch Musike haben! Die haben Musik, wir wollen auch, verstehen Sie. So war das ein bisschen.“
MUSIK – setzt unter den letzten Worten des nachfolgenden Textes ein
C 500008 W02
ERZÄHLER
Alma Rosé übernahm im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau die Leitung des Orchesters, das kurz zuvor „auf Befehl von oben“ gegründet worden war.
ZITATORIN
Eines Tages kam ein SS-Offizier in den Block und rief nach der „Cellistin“. Er brachte mich zum Orchester-Block, und da sah ich Alma Rosé wieder - und neben ihr viele Leute, alle mit Instrumenten in der Hand. Meine Aufnahmeprüfung begann. Alma gab mir ein Cello und sagte: „Spiel mir was vor.“ Es war ungefähr zwei Jahre her, seit ich zuletzt ein Cello in der Hand gehabt hatte! Ich übte also ein paar Minuten - und spielte…
MUSIK hoch – und unter nachfolgendem Text zu Ende
…oder besser: versuchte, den langsamen Satz aus dem Boccherini-Konzert zu spielen. Nachdem ich das hinter mir hatte, wurde ich Mitglied des Orchesters. Eigentlich hat keinerlei Gefahr bestanden, nicht aufgenommen zu werden. Bis zu meiner Ankunft bestand das Orchester aus nichts als Sopran-Instrumenten. Da gab es einige Geigen, Mandolinen, Gitarren, Flöten und zwei Akkordeons.
ZUSPIELUNG 12
„Das war mein großes Glück, denn ich war einzigartig im Lager. Wenn da schon jemand gewesen wäre, der Cello spielt, hätte man mich nicht unbedingt gebraucht, nicht wahr. Man konnte mich nicht entbehren, denn dann hätte man wieder keine tiefen Noten gehabt, nicht wahr.“
MUSIK Militärmarsch Schubert D-Dur, Bearbeitung für Orchester
E 0002140 004 (Aufnahme von 1955)
ZITATORIN
Alma war begeistert. Endlich hatte sie einen Bass im Orchester. So fing meine „Karriere“ als die einzige Cellistin des Lager-Orchesters an - oder richtiger: der „Kapelle“. Und zugleich mein Leben in dieser kleinen Gemeinschaft, in der rührende Kameradschaftlichkeit, bleibende Freundschaften und giftiger Hass in gleichem Maße nebeneinander gediehen.
ZUSPIELUNG 13 *
„Es war ein vollkommen verrücktes Orchester, war das natürlich, aber immerhin: Es hat existiert.“
ZITATORIN
Ein typischer Tag in unserem „Kommando“ - wie man es nannte - sah wie folgt aus: Wir standen eine Stunde vor Tagesanbruch auf, und einige von uns hatten die Aufgabe, Notenständer und Stühle „nach vorne“ zu tragen. Wenn wir alle wieder im Block waren, kam der Zählappell. Danach gab es etwas zu trinken; man aß, was einem gelungen war, sich vom vorigen Abend aufzusparen. Dann marschierten wir zum Tor und spielten. Denn unsere Hauptaufgabe war es, uns jeden Morgen und jeden Abend am Haupteingang aufzustellen und Märsche für die Tausende von Häftlingen zu spielen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. (ironisch) Natürlich war es von allergrößter Wichtigkeit, dass diese Kolonnen fein säuberlich und im Gleichschritt ausmarschierten! Dafür lieferten wir die Musik. Wir saßen da, unzulänglich bekleidet, manchmal bei Temperaturen unter null, und spielten. Danach wurden Stühle und Ständer zurückgebracht und wir fingen im Block mit unseren Proben an. Unser Repertoire bildeten deutsche Schlager, die gerade in Mode waren, verschiedene Stücke aus Operetten, „An der schönen blauen Donau“, und so weiter.
MUSIK „Das gibt’s nur einmal…“ 7705707 000
ZUSPIELUNG 14
„Die Alma, glaub ich, hat nie realisiert, oder nie gezeigt, dass sie weiß, wo sie eigentlich sich befindet. Man hat das Gefühl gehabt, dass sie das ignoriert. Hier wird Musik gemacht, nicht wahr. Und wir haben sie nicht besonders geliebt, sie war irrsinnig streng. Aber viele Jahre nachher haben wir alle kapiert, dass eigentlich die Alma die wichtigste Person war in unserem Leben. Denn mit ihrer Disziplin hat sie uns sozusagen auf einem Niveau gehalten, das gar nichts damit zu tun gehabt hat, was da eigentlich los war in dem Lager, nicht wahr…
Und sie hat immer von ihrem Vater gesprochen, von dem Arnold, die haben eine sehr enge Beziehung gehabt, und ihr größtes Lob war: „Das könnten wir meinem Vater vorspielen!“ Sie war also vollkommen fixiert auf ihren Vater, und dass man hier anständig Musik macht. Weil Musik ist Musik und das lassen wir uns nicht kaputtmachen. Das war so ihre Methode.“
MUSIK hoch und unter dem Anfang des nachfolgenden Textes zu Ende
TC 14:40 – Ein Abschied für immer
ERZÄHLER
Der kurze Höhenflug des Orchesters endete mit dem plötzlichen Tod von Alma Rosé im April 1944. Bis heute sind die Umstände umstritten. War es eine Infektion? Hatte eine Neiderin sie vergiftet? Oder handelte es sich um eine Lebensmittelvergiftung?
MUSIK CD 701140 001
ZITATORIN
Welche Sonderstellung Alma im Lager innehatte, zeigte sich an der Tatsache, dass wir nach ihrem Tod ins Revier gerufen wurden, wo wir an ihrem auf einem weißen Tuch aufgebahrten Leichnam vorbeidefilierten. Selbst die SS schien über diesen Verlust erschüttert.
MUSIK geht unter nachfolgendem Text zu Ende
ERZÄHLER
Im Oktober 1944 löste sich das Orchester auf - die Häftlinge wurden von Auschwitz nach Bergen-Belsen transportiert. Anita gelingt es, mit ihrer Schwester Renate zusammenzubleiben, die sie im Lager wiedergetroffen hat - zu zweit, wissen die Mädchen, haben sie eine deutlich bessere Chance, den Winter zu überstehen. Und tatsächlich gelingt es ihnen, unter unmenschlichen Bedingungen.
Am 15. April 1945 endet der Alptraum: Britische Truppen rücken in Bergen- Belsen ein und befreien die halb verhungerten Gefangenen.
Ein halbes Jahr später macht Anita ihre Aussage vor dem britischen Tribunal in Lüneburg. Dann verlässt sie Deutschland. Es soll, so nimmt sie sich vor, ein Abschied für immer sein: von allem, was deutsch ist.
TC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erben
ZUSPIELUNG 15
„Ja, wir waren sehr kritisch, meine Schwester und ich. Ich erinnere mich noch, wir haben über Leute sofort irgendwie… ‚Ach, der würde sich sehr schlecht benehmen – und der wäre ok‘ und so weiter. Wir haben sozusagen einen 6. Sinn bekommen für Menschen. Aber das haben wir uns bald abgewöhnt, denn das ist eine sehr negative - man kann nicht so kritisch sich alle Leute anschauen.“
ERZÄHLER
Trotz der bitteren Erfahrungen gelingt es Anita, sich in England ein neues Leben aufzubauen, zu dem neben der Gründung einer Familie auch die Karriere im English Chamber Orchestra gehört.
ZUSPIELUNG 16
„Das war Glückssache alles: Als ich nach England gekommen bin, hab ich bald viele Leute kennengelernt, und Musiker kennengelernt; und dann bin ich in das gleiche Haus gezogen, wo Musiker waren. Es ist alles so von alleine irgendwie passiert, per Zufall, yes. Ich mein, ich hab verpasst, acht Jahre verpasst, die man im Grunde braucht. Also, ich hab viel Glück gehabt hier in England. Sozusagen ich bin zufällig am richtigen Platz gewesen.“
ERZÄHLER
Aus der in den 50er-Jahren geschlossenen Ehe mit dem Pianisten Peter Wallfisch gingen zwei Kinder hervor, eine Tochter und ein Sohn, Raffael Wallfisch, heute selbst ein namhafter Cellist. Raffael war es auch, der in den 90er-Jahren den Anstoß gab, dass seine Mutter die Erinnerungen an die Vergangenheit schriftlich festhielt.
ZUSPIELUNG 17
„Denn eines Tages hat sich herausgestellt, dass wir eigentlich nie über diese Zeit gesprochen haben. So ist das entstanden. Dann hab ich das für meine Kinder gemacht - und habe also sehr amateurhaft etwas zusammengestellt. Und die Geschichte war so, dass jemand von der BBC ist zu mir gekommen ist, die ein Programm über Theresienstadt gemacht hat. Und die hat gemeint, dass ich ihr dabei helfen kann. Ja, nein, das kann ich nicht, denn ich war nicht dort, aber ich habe für meine Kinder blablabla Auschwitz, Belsen und so weiter. Da hat sie das mitgenommen und sich‘s angesehen und hat gesagt, weißt du, wenn du nichts dagegen hast, könnten wir das vielleicht in 20 Minuten einteilen und du liest das dann im Radio. Und das ist auch geschehen - so fing das Ganze an.“
ERZÄHLER
1994 veröffentlichte Anita Lasker-Wallfisch ihr Buch „Inherit the Truth“, das zwei Jahre später unter dem Titel „Ihr sollt die Wahrheit erben“ auf Deutsch erschien. Mit der schriftlichen Aufarbeitung des Geschehenen wird es ihr langsam wieder möglich, Kontakt zu Deutschland aufzunehmen - und zu ihrer Muttersprache zurückzukehren, von der sie einst schwor, sie nie mehr zu verwenden. Weil sie erleben musste, wie in dieser Sprache Unmenschliches ausgesprochen, angeordnet und akzeptiert wurde.
ZUSPIELUNG 18
„Zum Beispiel, als meine Eltern abgeholt worden sind, hat man versiegelt alles, einen Kuckuck draufgemacht, ja, auf alles, inklusive Kopfkissen. Und wir konnten keine Schublade mehr aufmachen und nichts. Dann bin ich zur Gestapo gegangen, unverschämt wie ich war. Und ich hab also einen Brief hier - die haben nicht mal eine Schreibmaschine: ‚Ungebeten kommt Anita Sarah Lasker auf die Gestapo, Beruf Arbeiterin, und bittet, dass man eine Schublade aufmacht. Abgelehnt!‘ Der Clou war - diese Wohnung ist also dann einem Deutschen gegeben worden: Wir waren im Gefängnis, alle waren weg, und der zieht in die Wohnung ein und der Koch-Ofen ist nicht mehr da. Da ist doch die Gestapo zu mir ins Gefängnis gekommen, und hat mich verhört: Was mit dem Ofen passiert ist!? Sag ich, mein Vater hat ihn nicht abmontiert und sich auf dem Rücken geschnallt und ist deportiert worden mit dem Ofen. Das wollten die wissen. Der Ofen gehört… Aber die ganze Idee: Dass also alles, was uns gehört hat, gehört jetzt mir. Und das war akzeptiert. Ich meine, es ist sehr schwer das heute nachzuvollziehen, was das für eine Mentalität war.“
ERZÄHLER
Umso wichtiger ist es ihr, davon zu berichten - vor Schulklassen, in Seminaren, in Fernseh- und Radiosendungen wie in der dokumentarischen BR-Produktion "Die Quellen sprechen", aus der auch in dieser Sendung einige Ausschnitte zu hören waren. Die Menschen sollen daran erinnert werden, wozu der Mensch fähig ist - nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.
MUSIK CD 70114 002
TC 20:36 – Brücken bauen zwischen Verschiedenheiten
ZUSPIELUNG 19
„Ich meine, die Welt sieht nicht so wunderbar aus, auch heute, nicht wahr, man stürzt sich wieder auf andere Gruppen und so weiter. Was ich den Leuten mitgeben will: Dass es wichtig ist, wichtiger denn je, Brücken zu bauen zwischen den Verschiedenheiten, die wir haben als Menschen. Es ist ja geradezu eine irrsinnige Idee - wenn wir alle gleich wären, wäre es ja furchtbar langweilig, nicht. Wir sind nun mal sehr verschiedene Menschen. Da gibt es Juden, da gibt es Türken, da gibt es Deutsche - bevor sie sich totschlagen, sollen sie miteinander Kaffee trinken gehen. (Lacht) Das erzähle ich der Jugend, verstehen Sie?“
MUSIK hoch, bis Ende
ZUSPIELUNG 20
„Jetzt mach ich Ihnen eine Tasse Kaffee, ja? Wenn Sie wirklich fertig sind mit…“ (Schritte)
TC 21:19 - Outro