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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Mar 15, 2024 • 23min

VERSUNKENE ORTE - Rungholt, das Atlantis der Nordsee

Eine verheerende Stumflut im Jahre 1362 steht am Anfang vieler Mythen und Sagen, die sich um die versunkene Siedlung Rungholt ranken. Der Ort an der Westküste im heutigen Schleswig-Holstein birgt bis heute Rätsel. Seit Beginn seiner Erforschung ist aber schon einiges ans Tageslicht gekommen, was eine ganz andere Geschichte über Rungholt erzählt als vermutet. Von Thomas Samboll (BR 2022) Credits Autor: Thomas SambollRegie: Kirsten BöttcherEs sprachen: Thomas Meinhardt, Inka Kübel Technik: Wolfgang LöschRedaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Tanja Brümmer, Bente Sven Majchczack, Wolf-Dieter Dey, Dirk, Ruth Blankenfeldt, Karina Schnakenberg Linktipps:SWR (2024): Hanna Hadler findet versunkene Stadt im Wattenmeer1362 sorgte eine Sturmflut dafür, dass die Siedlung Rungholt in Nordfriesland verschwand. Ein Forschungsteam, darunter Mainzerin Hanna Hadler, konnten nun die Lage der ehemaligen Kirche nachweisen. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2024): Auf den Spuren historischer Schätze im Watt Der Schlick der Nordsee birgt viele Geheimnisse: Erst kürzlich konnten Archäologen die sagenumwobene Hafenstadt Rungholt entdecken, einen bedeutenden Handelsplatz des Mittelalters. Doch sie fanden noch mehr: Antworten auf den Klimawandel. JETZT ANHÖRENNDR (2019): Wetter extrem – Zwischen Sturmflut und Dürre Es ist nicht mehr zu übersehen: Der Norden verändert sich mit dem Klima. Was bedeutet das für die Bewohner an der Nordseeküste und im Hinterland? Philipp Abresch geht dieser Frage in der ersten Folge der NDR Reportagereihe zur Klimakrise nach. Seine Reise führt von den nordfriesischen Inseln über Cuxhaven bis zu den Obstplantagen in der Haseldorfer Marsch. Er trifft dort Landwirte, Geschäftsleute, Lokalpolitiker und den Klimaforscher Prof. Mojib Latif. Alle treibt dieselbe Sorge um: Wie schützen wir uns vor Extremwetter und wie verhindern wir, das alles noch viel schlimmer kommt? Zum Film geht es HIER.Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 03:20 – Das konstruierte Leben des WilhelmTC 05:35 – Zwischen Sündflut und RiesenfischTC 11:34 – Ein florierender HandelTC 15:59 – „Wer nicht deichen will, muss weichen!“TC 19:46 – Mythen um RungholtTC 22:01 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO 1 Nordseeküste Meeresrauschen SPRECHERDie Nordsee an der Westküste von Schleswig-Holstein. Meistens plätschern die Wellen hier eher ruhig und gemächlich an die Strände und gegen die Deiche. Aber der „Blanke Hans“, wie die Nordsee von den Küstenbewohnern genannt wird, kann auch anders. Ganz anders… 1. O-TON BrümmerHeute bin ich über Rungholt gefahren. Die Stadt ging unter vor 500 Jahren… ATMO 2 Nordseeküste Starker Wellengang, Sturm, auch als Unterleger MUSIK, bedrohlich SPRECHEROb sie wohl geahnt haben, was da auf sie zukommt? Seit Tagen hatten die Menschen an der Nordsee mit einem heftigen Sturm zu kämpfen. Wie ein eiserner Besen fegte er zunächst über England hinweg, um dann in Richtung Dänemark und das heutige Nordfriesland weiterzuziehen. Es regnete Bindfäden. So ein Wetter ist in der Gegend im Winter nichts Ungewöhnliches. Auch damals nicht, am zweiten Sonntag nach Epiphanias im Jahre des Herrn 1362. Genauer gesagt: Am 16. Januar. Und Warnungen, die viele Menschenleben hätten retten können, gab es im 14. Jahrhundert keine… ATMO 3 Warnmeldungen im Radio „Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Durchsage. Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer schweren Sturmflut!“ - „Deutsche Bucht West bis Nordwest, zunehmend 7 bis 8, orkanartige Gewitterböen. See zunehmend 6 Meter.“ SPRECHERWas sich dann in der Nacht vom 16. auf den 17.Januar 1362 an der Küste abspielte, darüber berichten alte Chroniken: Dort ist von einer gewaltigen Sturmflut die Rede, der „Groten Mandränke“, die das Land mit Mann und Maus überrolte und 100 000 Menschen das Leben kostete. Neuere Schätzungen gehen allerdings eher von 10 000 Toten aus. Sicher ist aber, dass die Wassermassen die Region zwischen Sylt und der Halbinsel Eiderstedt förmlich zerrissen haben. Ganze Landstriche wurden überflutet und weggespült. Aus Festland wurden Inseln und Halligen. In dieser Schreckensnacht soll auch Rungholt untergegangen sein, das alten Dokumenten zufolge der Hauptort der Edomsharde gewesen sein soll, einem Verwaltungsbezirk in Nordfriesland. Wahrscheinlich lag die Siedlung in der Nähe der heutigen Hallig Südfall westlich von Nordstrand. Dort gibt es besonders viele Funde aus dieser Zeit. Aber, so Tanja Brümmer vom Nordfriesland-Museum Nissenhaus in Husum: 2. O-TON Brümmer Wir sagen zwar immer Rungholt. Aber wir haben ja kein Ortsschild, was uns irgendwie dahin weist. Wir wissen in etwa, wo die Edomsharde war. Aber wo in dieser Edomsharde Rungholt lag, ist halt immer noch so die ganz, ganz große Frage. TC 03:20 – Das konstruierte Leben des Wilhelm SPRECHEREiner, der bestimmt genau Bescheid wüsste, ist Wilhelm, ein junger Mann mit markantem Kinnbart. Tanja Brümmer stellt den Star ihrer Rungholt-Ausstellung vor: 3. O-TON Brümmer Wilhelm ist die Gesichtsrekonstuktion eines Rungholters. Wir hatten im Hahre 2016 eine große Sonderausstellung zum Thema Rungholt, wo wir eben einen bestimmten Schädel rausgesucht haben bei uns aus der Sammlung, wo wir auch sicher sein konnten, dass er tatsächlich im Siedlungsgebiet von Rungholt gefunden worden ist. Und anhand dessen wurde dann mit einer Gerichtsmedizinerin eine Gesichtsrekonstruktion hergestellt. Und anhand von DNA-Analysen konnten wir dann auch wirklich sagen, welche Augenfarbe er in etwa hatte und welche Haarfarbe. Ich nenn´ ihn immer liebevoll Wilhelm. Ein halbes Jahr lang hat sein Schädel bei mir auf dem Schreibtisch gestanden. Ich hab´ ihn jeden Tag angeguckt. Und irgendwann hab´ ich gesagt: Guten Morgen, Wilhelm! Und dann war der Name da…“ MUSIK kurz SPRECHERWilhelm war Mitte bis Ende 20, als er kurz vor oder während der großen Sturmflut um´s Leben kam. Er hatte helle Haare und helle Augen. Auffällig sind auch seine ausgeprägten Gesichtszüge…: 4. O-TON Brümmer Also er hat ´n ganz, ganz starkes Kinn. Man sieht auch schon anhand der Konochenstruktur, dass er ´ne relativ große Nase hatte. Der Unterkiefer und Oberkiefer samt Zähne sind noch erhalten. Und er hat auch eine sehr, sehr ausgeprägte Wangenknochen-Struktur. Natürlich ist da auch immer ein Stückchen weit Interpretation dabei. Er hat ´n sehr freundliches, sehr lachendes Gesicht, weil wir auch gesagt haben: So´n Mensch, der muss ja jetzt nicht griesgrämig gucken. Also deswegen ist es auch so, dass man das Gefühl hat: Ja, das ist irgendwie ´n junger Mann von nebenan!  ATMO 4 Pferdegetrappel, Kutsche SPRECHERWihelm´s Schädel ist ein Fundstück von Andreas Busch. Der Hobby-Archäologe ist so etwas wie der „Vater“ der wissenschaftlichen Rungholtforschung. Alles begann im Mai 1921 mit einem ziemlich ungewöhnlichen Pfingst-Ausflug: Mit Pferd und Wagen fuhr Andreas Busch bei Ebbe von der Halbinsel Nordstrand nach Westen Richtung Südfall. Was wie eine kleine Spritztour ins Watt wirkte, war tatsächlich der Anfang der Suche nach dem sagenhaften Rungholt. An der Nordseeküste war der Ort schon lange ein Mythos: TC 05:35 – Zwischen Sündflut und Riesenfisch 5. O-TON Majchczack Man könnte das ja als „Urkatastrophe der Nordfriesen“ bezeichnen. Der Untergang dieser Landschaft! SprecherSagt Dr. Bente Sven Majchczack von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, einer der „modernen“ Rungholtforscher. Diese „Urkatastrophe“ hatte Ende des 19. Jahrhunderts auch den Dichter Detlef von Liliencron dazu inspiriert, sich erstaunliche Dinge über Rungholt zusammenzureimen. Dem wollte Andreas Busch nun auf den Grund gehen, erzählt Wolf-Dieter Dey, der das Inselmuseum auf Nordstrand leitet: 6. O-TON Dey (Anf.)“Heute bin ich über Rungholt gefahren“, so fängt dieses Gedicht an, „die Stadt ging unter vor 500 Jahren“… SPRECHER… neuere Versionen sprechen hier von 600 Jahren … 6. O-TON Dey (Forts.)Dieses Gedicht von Detlef von Liliencron hat den Mythos und die Legende von Rungholt ganz entscheidend geprägt! Er stellt Rungholt in seinem Gedicht als einen großen, mächtigen, stadtähnlichen Ort dar, der also von vielen tausenden von Menschen bewohnt war. Er vergleicht Rungholt mit dem alten Rom und hebt es in seiner Bedeutung in die Nähe des Ortes Atlantis, des sagenumwobenen, nachdem man ja immer noch sucht. Dieses Bild entspricht natürlich in keiner Weise der Wirklichkeit! SPRECHERUnd Tanja Brümmer vom Nordfrieslandmuseum Nissenhaus in Husum ergänzt: 7. O-TON Brümmer Diese Geschichte von Detlef von Liliencron bietet sich natürlich auch unglaublich an, weil da einfach sehr, sehr viele Symbole sind. Mit der „Sündflut“, also wirklich eben die Menschen, die waren böse, haben Sünde begangen, letztendlich dann zu erklären, warum es zu dieser großen Katastrophe gekommen ist. Das große Monster, was wie ein riesiger Fisch über der Welt liegt und einmal tief einatmet und dann die große Welle wieder herausläuft beim Ausatmen. Das sind natürlich auch unglaublich schöne Symbole! MUSIK Achim Reichel „Heute bin ich über Rungholt gefahren“, 3. Strophe: Mitten im Ozean schläft bis zur StundeEin Ungeheuer tief auf dem GrundeSein Haupt ruht dicht vor Englands StrandDie Schwanzflosse spielt bei Brasiliens SandEs zieht sechs Stunden den Atem nach innenUnd treibt ihn sechs Stunden wieder von hinnenTrutz, blanke Hans SPRECHERSo die Version von Achim Reichel Was aber hat sich dann wirklich zugetragen in Rungholt? Oder anders gefragt: Was würde Wilhelm wohl erzählen, wenn er könnte - der Zeitgenosse aus dem Nordfrieslandmuseum Nissenhaus in Husum, der womöglich in der ersten „Groten Mandränke“ 1362 umkam? Die Funde von Andreas Busch und die aktuelle Forschung geben Antworten. Demnach wird Wilhelm mit Sünde und Gotteslästerung wahrscheinlich genauso wenig zu tun gehabt haben wie die meisten seiner Mitbewohner, meint Archäologin Tanja Brümmer: 8. O-TON Brümmer Nee, das waren halt ganz, ganz normale Menschen des 14. Jahrhunderts, die sehr, sehr religiös waren. Und das zeigen letztendlich ja auch einfach die Objekte, die wir haben: Eine Fibel, wo wirklich „Ave Maria Gratia“ draufsteht. Pilgermarken, die sind auch gerade erst gefunden worden in einem außerordentlich großartigen Zustand. Man muss sich vorstellen: Die Menschen, die sind damals ja zu unterschiedlichen Wallfahrtsorten gepilgert. Und da geht´s tatsächlich um Aachen! Den großen Marien-Wallfahrtsort. Und pilgern von Rungholt nach Aachen, das ist schon ´n ordentlicher Weg! Also da sieht man einfach: Das waren sehr, sehr gläubige Menschen. SPRECHERSteinfunde im Watt deuten auch daraufhin, dass Rungholt wohl mehr hatte als nur eine einfache Holzkirche: 9. O-TON Brümmer  Wir sehen auch hier Steine, die also wirklich im Kloster-Format sind! Es wird ganz, ganz stark vermutet, dass es eine Kollegiats-Kirche in Rungholt gegeben hat. Das ist sozusagen die Zwischenstufe zu einem Kloster hin. Wo man dann auch fragen muss: Naja, okay, ´n Kloster gründet sich aber ja auch nicht einfach nur so, sondern da gehören auch schon ´n paar Menschen dazu. Und da gehört auch ´ne gewisse Wichtigkeit dazu. SprecherAber diese Wichtigkeit hatte auch ihre Grenzen. Die Friesen, die die feuchte Marsch- und Moorlandschaft an der Nordsee entwässert und urbar gemacht hatten, wohnten auf Warften, also kleinen Erdhügeln, die man heute noch von den Halligen kennt und die Schutz vor Überflutungen bieten sollten. Insgesamt waren dort wohl etwa 1000 bis 2000 Menschen zuhause. Von einer mittelalterlichen Metropole wie Hamburg, Lübeck oder dem alten Rom also keine Spur, so Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand: 10. O-TON Dey„Das ist Rungholt nie gewesen. Sondern es war halt ein Marschendorf. Es war ein großes Marschendorf! Aber es war eben keine große und mächtige Stadt, wie Herr von Liliencron es in dichterischer Freiheit eben versucht hat darzustellen.“ SPRECHERWenn alles gut läuft, beschert einem der fruchtbare Marschboden allerdings auch reiche Erträge. So war es wohl auch in Rungholt, erklärt Bente Majchczack von der Uni Kiel. Mit Hilfe von Drohnen, Satellitentechnik und Metalldetektoren haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nördlich der Hallig Südfall Reste von Warften, Entwässerungsgräben, Brunnen und Deichen sichtbar gemacht. 11. O-TON Majchczack Wenn man das alles richtig schön unter Kontrolle hat, dann sind das ganz tolle Böden für Getreideanbau. Und man konnte da große Überschüsse erwirtschaften. Und das Ganze hat wahrscheinlich auch ´ne politische Dimension gehabt: Also das ganz gezielt von der Oberhoheit, damals dänisches Königtum, diese Friesen wahrscheinlich auch angeworben sind bzw. Vergünstigungen erhalten hatten, ´n gewissen Schutz auch. So dass die das stemmen konnten, diese Landschaft zu erschließen. Und dann hatte man da auch ´n hartes, aber gutes Leben. Da gab´s richtig viel zu essen!  Wieviele fette Ochsen die da essen konnten, und was die da für Feste feiern konnten, das ist in diesen Zeiten einfach keine Selbstverständlichkeit! TC 11:34 – Ein florierender Handel SprecherOffenbar hatten viele Menschen in Rungholt aber auch deshalb gut zu essen, weil sie gute Geschäfte machen konnten. Der Boden in dieser Gegend war nämlich nicht nur gold wert für den Anbau von Nutzpflanzen, betont Ruth Blankenfeldt vom Zentrum für baltische und skandinavische Archäologie auf Schloß Gottorf in Schleswig. Er enthielt auch noch einen ganz anderen Schatz, der im Mittelalter äußerst begehrt war: Salz! 14. O-TON Blankenfeldt Dass man hier Salz-Torf abgebaut hat, daraus Salz gewonnen hat. Und dieses schwarze Salz, wie man sich das vorstellen muss, verhandelt hat. Diese Torfe baut man ab, dann werden die sehr, sehr lange gesiedet und so. Und was zurückbleibt, ist natürlich nicht so´n reines Salinensalz, wie wir´s heute kennen. Und schmeckt auch laut Berichten relativ bitter. Aber ist natürlich das „Gold des Nordens“, weil man´s in unheimlichen Mengen brauchte zum Konservieren. SprecherWie gut die Geschäfte offenbar liefen, zeigen auch die beiden wenige Zentimeter großen Waagschalen aus Messing, die Jahrhunderte lang von Sand und Schlick bedeckt waren und nun von der Nordsee bei Südfall freigespült worden sind. Karina Schnakenberg untersucht die neuesten Fundstücke aus dem Watt für ihre Magister-Arbeit an der Uni Kiel: 15. O-TON Schnakenberg Die haben jeweils drei kleine Löcher an den Rändern, womit sie dann aufgehangen wurden an einer Waage. Also es war nicht nur eine reine bäuerliche Region, die quasi keine Außenkontakte hatte, sondern eben auch Handel betrieben hat. Man hat Geld damit gewogen. Das heißt, man konnte damit auch ganz gut überprüfen, ob der Metall-, Bronze-, Silber-, was auch immer Gehalt eben stimmt. Ob diese Münzen eben echt sind, ob sie genug Anteil des jeweiligen Metalls in sich tragen oder ob sie zu leicht sind, was eben darauf hindeutet, dass sie unecht und einfach gefälscht sind. SPRECHERMit ziemlicher Sicherheit waren also Münzen ganz unterschiedlicher Herkunft im Umlauf. Ein Dolch aus Spanien, Schmuck aus England, maurische Keramik aus dem Süden Spaniens – all diese Funde zeigen, dass Rungholt ein wahrhaft internationaler Handelsort gewesen sein muss. Tanja Brümmer vom Nordfrieslandmuseum in Husum: 16. O-TON Brümmer Insgesamt sind es halt fünf spanisch-maurische Krüge, die im Rungholt-Gebiet gefunden worden sind. Und wir haben also wirklich islamische Ikonographien und Symboliken auf diesen Keramiken. Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man z.B. hier direkt am Ausguss so die Hände der Fatima wirklich als Glückssymbol für denjenigen, der daraus trinkt. Und das ist natürlich irgendwie ´n besonders schöner Gedanke, wenn man sich vorstellt: lslam, Katholizismus gemeinsam auf Rungholt. MUSIK, kurz SPRECHEROhne einen Hafen als „Tor zur Welt“ wären aber wohl weder Mauren noch andere weitgereiste Besucher in die Marschen und Moore der Edomsharde gekommen, und aus Rungholt wäre nicht viel geworden. Doch auch damit konnte der legendäre Ort auftrumpfen. Und das kam so, erklärt Bente Majchczack von der Uni Kiel: 18. O-TON Majchczack  Dass muss man sich so vorstellen, dass es da Sielhäfen gegeben hat. Also wo vom Binnenland das ganze Wasser rausgeführt werden musste durch den Deich, wurden diese Sieltore gebaut. Und dahinter bildet sich dann im Vorland ´n breiter Priel, also diese Gezeitenströme im Watt, den man dann mit Schiff gut erreichen kann. Und deswegen sind diese Siele immer die bevorzugten Hafenplätze, weil man da mit´m Boot sehr dicht an die Siedlungsplätze rankommt. Und dann hat man wahrscheinlich auch im Bereich dieser Siele hinterm Deich denn die entsprechenden Siedlungen, die dann mehr auf den Hafen ausgerichtet sind. MUSIK, kurz 19. O-TON MajchczackSo können wir uns vielleicht diesen Handelsplatz Rungholt vorstellen: Dass es da hinterm Deich in Hafenlage Siedlungen gab, die so´n bisschen mehr auf den Handel fokussiert waren und ´n bisschen weniger auf die Landwirtschaft. Aber ich denke, das gehört alles halt zu diesem Siedlungsbereich, wo auch diese reichen, bäuerlichen Siedlungen überall verteilt waren. Und die haben so ´ne Einheit und so´n Netzwerk gebildet.  Das ist wahrscheinlich das, wo der Mythos der Wahrheit am nächsten kommen wird. Also denen ging´s da im Grunde richtig gut. Solange es lief. Und dann kommt irgendwann das Meer… ATMO 2 Nordseeküste Starker Wellengang, Sturm, auch als Unterleger Musik bedrohlich TC 15:59 – „Wer nicht deichen will, muss weichen!“ Sprecher„Keen nich will dieken, de mutt wieken“ – so heißt es seit je her an der Nordseeküste: Wer nicht deichen will, muss weichen! Auch die Rungholter hatten damals zum Schutz gegen den „Blanken Hans“, also die Nordsee, die ersten Deiche gebaut. Und das war auch bitter nötig, denn heute weiß man, dass weite Teile des Marschlandes, in dem sie sich niedergelassen hatten, unter dem Meeresspiegel lagen. Andreas Busch hatte die Reste eines solchen Bauwerks in der Nähe von Südfall entdeckt. Ob es der Deich von Rungholt war? Das wird jetzt gerade genauer untersucht. 20. O-TON Majchczack Das ist ein sehr großer Deich. Da sind wir jetzt sehr zuversichtlich, dass das tatsächlich ein Seedeich war. Und der könnte durchaus auch ´ne Höhe von drei Metern gehabt haben. Aber es war am Ende nicht genug für das, was kam… MUSIK Achim Reichel „Trutz blanke Hans“, letzte Strophe: Ein einziger Schrei, die Stadt ist versunkenund Hunderttausende sind ertrunkenWo gestern noch Lärm und lustiger Tischschwamm andern Tags der stumme Fisch SPRECHERVermutlich haben die Rungholter also nicht geahnt, was da auf sie zukommt. Sonst hätten sie die Deiche verstärkt. Oder gab es Gründe dafür, dass sie sich nicht mehr ausreichend um die Schutzbauten kümmern konnten? Krankheiten wie die Pest zum Beispiel, die damals vielerorts grassierten? Auch darüber wird vielfach spekuliert. Tanja Brümmer hat ihren Wilhelm und andere menschliche Knochenfunde ebenfalls auf bestimmte Erkrankungen hin untersuchen lassen. Aber: 21. O-TON Brümmer Wir hatten so´n bisschen gehofft, dass wir den Nachweis auf „Malaria“ finden in Anführungsstrichen. Und zwar gab es eigentlich über viele, viele Jahrhunderte hier oben das Marschenfieber. Das ist im Endeffekt, wenn man so möchte, die nordeuropäische Malaria. Das gab´s auch tatsächlich noch bis zum 2. Weltkrieg. Und eigentlich war so´n bisschen die Hoffnung, dass wir sozusagen den frühesten Nachweis finden auf das Marschenfieber. Und das haben wir leider nicht. Also wir haben wirklich nur schriftliche Zeugnisse aus dem 18. Jahrhundert, aber halt leider nicht aus dem 14. oder aus dem 15. Jahrhundert. SPRECHER Ein wichtiger Faktor für den legendären Untergang Rungholts dürfte aber auf jeden Fall hausgemacht sein: Möglicherweise haben sich die Menschen dort mit der Entwässerung der Marsch ihr eigenes Grab geschaufelt, weil der Boden dadurch immer weiter absackte. Schlimme Folgen wird auf jeden Fall der Salz-Torf-Abbau gehabt haben, meint Rungholtforscherin Ruth Blankenfeldt, die von einem „extremen Eingriff in die Natur“ spricht: 22. O-TON Blankenfeldt Man hat erstmal den oberen Teil, die Kleie, abnehmen müssen. Ist dann nochmal tiefer gegangen, hat den Torf abgenommen, hat so halt künstlich einen, eineinhalb bis zwei Meter die Landschaft tiefer gelegt. Und das ist natürlich fatal, wenn dann wirklich mal ´ne Sturmflut kommt. Also das, womit man sich seinen Reichtum erwirtschaftet hat, ist zugleich aber auch der Sargnagel gewesen für viele Landschaftsteile. SprecherTatsächlich stand Rungholt aber ohnehin schon auf ziemlich wackeligen Beinen, erklärt Küstenärchäologe Dirk Meier. Was die Bewohner nicht wissen konnten: Sie hatten ihre Siedlung zwar nicht völlig auf Sand gebaut. Wirklich guten Halt bot der Tonboden in einem eiszeitlichen Schmelzwassertal aber auch nicht: 23. O-TON MeierDer Untergrund war nicht fest. Der ist richtig weggerissen worden. Das merken Sie heute, wenn Sie ´ne Wattwanderung machen. Es gibt immer so richtige Schlicklöcher, wo man so richtig wegsackt! Das ist da sehr stark verbreitet. Also der Untergrund war nicht stabil. Und das Meer hat sich genau diese alten Schwächezonen gesucht und ist genau in diese Schwächezonen eingebrochen. ATMO 2 Nordseeküste Starker Wellengang, Sturm TC 19:46 – Mythen um Rungholt SPRECHERHatte Rungholt also überhaupt eine Chance? Wohl kaum, angesichts der Wucht und Gewalt einer bis dahin noch nie dagewesenen Sturmflut. Andere Orte an der Küste wurden jedoch genauso von der Katastrophen-Flut weggeschwemmt. Warum wurde also gerade Rungholt zum Mythos? Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand hat eine Vermutung: 24. O-TON DeyIn einer Zeit, in der der Deichbau erst am Anfang war und so ein Deich mit Sicherheit etwas ganz Besonderes gewesen ist, hat der Ort Rungholt im Verhältnis zu anderen Orten eine Sonderstellung eingenommen. Das hat vielleicht die Menschen von Rungholt dazu verführt, etwas hochmütig zu werden gegenüber der Nordsee. „Trutz, Blanke Hans“, dieser Ausruf steht dahinter. Und vielleicht haben die anderen Bewohner den Rungholtern diese Arroganz etwas übelgenommen. Und so hat sich aus dieser Haltung heraus dann die Sage entwickelt, die heute Rungholt umgibt. Diese Sage könnte ein Hinweis darauf sein, dass Rungholt einer der ersten Orte war, der an unserer Küste einen Deich um seine Gemeinde gezogen hat… SPRECHERIn den uralten Geschichten über Rungholt könnte also doch ein Körnchen Wahrheit stecken. Vieles ist aber auch Fiktion. Dabei spielt auch die einzigartige Natur des Wattenmeers eine Rolle. Dort gibt es z.B. immer wieder Luftspiegelungen, die einem versunkene Städte vorgaukeln können. Und, so Tanja Brümmer, wenn man nur ganz genau die Ohren spitzt, kann man an windstillen Tagen zwischen Nordstrand, Pellworm und Hallig Südfall immer noch die Glocken eines von Gott verfluchten Ortes läuten hören…: 25. O-TON Brümmer Also die Glocken der Rungholter Kirche, die hört man natürlich immer um die Mittagszeit. Und nicht zu vergessen ist es ja so, dass, wenn eine Jungfrau, die an einem Sonntag geboren worden ist, am zweiten Johannistag um die Mittagszeit über Rungholt hinwegfährt, dass sie ja dann die Stadt wieder erlösen kann von ihrem Fluch! (lacht) ATMO 6 als Outro Wattenmeer, verschiedene Vögel TC 22:01 – Outro
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Mar 15, 2024 • 22min

VERSUNKENE ORTE - Pompeji, die konservierte Stadt

Die antike Stadt Pompeji gilt als eines der größten archäologischen Projekte der Welt. 79 nach Christus ist sie beim Ausbruch des Vesuvs untergegangen, doch seit nun fast schon 300 Jahren wird sie Stück für Stück wieder ausgegraben, regelmäßig gibt es spektakuläre Funde. Dabei müssen die bereits von der Asche befreiten Gebäude allerdings nicht nur erforscht, sondern auch ständig konserviert und bewacht werden. Von Michael Stang (BR 2023) Credits Autor: Michael Stang Regie: Martin Trauner Es sprachen: Frank Manhold, Maren Ulrich, Andreas Neumann Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Silvia Bertesago, Mattia Buondonno, Paolo Mighetto, Valeria Moretti, Alessandro Russo, Gabriel Zuchtriegel Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Was Pompeji über uns erzählt Lange wollte man aus Pompeji nur schöne Statuen und erotische Wohnzimmerbilder sehen. Gabriel Zuchtriegel, Direktor der Welterbestätte, plädiert für eine „mitfühlende Archäologie“ – und will auch die Schicksale Verschütteter ans Licht bringen. JETZT ANHÖREN Planet Wissen (2023): Vulkane – So bedrohlich sind sie wirklich   Millionen von Menschen leben mit der Gefahr eines plötzlichen Vulkanausbruchs quasi vor der Haustür. Und einer der gefährlichsten Vulkane der Welt liegt gar nicht weit weg: das Gebiet um den Vesuv mit den phlegräischen Feldern in Italien. Wie bedrohlich sind die feuerspeienden Berge für die Menschen, die in ihrer unmittelbaren Nähe leben? JETZT ANSEHEN ZDFinfo (2020): Pompeji – Protokoll einer Katastrophe   Innerhalb von 48 Stunden begräbt der Ascheregen des Vesuvs die römische Stadt Pompeji unter sich. Der Vulkanausbruch sorgt vor fast 2000 Jahren für ein Inferno. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:43 – Verschüttet seit 2.000 Jahren TC 05:11 – Ein antiker Schnellimbiss TC 08:01 – Ort des Experimentierens TC 12:15 – Noch lange nicht am Ende TC 17:29 – Das Problem mit den Grabräubern TC 21:27 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Regie: Musik O-Ton 1 (Buondonno): What you can see [...] OVERVOICE männlich Was Sie hier sehen können, ist eine besondere Situation. Diese zwei Menschen sind offenbar zusammen gestorben. Der eine war wahrscheinlich ein Sklave, der andere sein Herr. […] that was the master. Sprecher:Pompeji ist nicht nur Touristenmagnet, sondern auch Hotspot der archäologischen Forschung. Bei Ausgrabungen tauchen auch heute noch sensationelle Funde auf. Die größte Herausforderung für die Verantwortlichen ist jedoch, die weltberühmte antike Stadt dauerhaft zu erhalten. O-Ton 2: (Zuchtriegel): Wir sind in einer sehr speziellen Phase. Es sind über 10.000 Räume, teils mit Fresken, antiken Fresken, die seit den Ausgrabungen, die im 18 Jahrhundert beginnen, Wind und Wetter ausgesetzt sind. Sprecher:Starke Regenfälle haben in den vergangenen Jahren mehrfach die Mauern unterspült, lange Trockenphasen den Zerfall der Fresken beschleunigt. In Pompeji haben die Restaurierungsfachleute so viel Arbeit wie nie zuvor. O-Ton 3 (Bertesago): We can see already […]OVERVOICE weiblich Wir können die Auswirkungen des Klimawandels in Pompeji bereits heute schon sehen, weil wir in den letzten Jahren heftigere meteorologische Phänomene hatten.[…] more violent meteorological phenomena. Musik ausTC 01:43 – Verschüttet seit 2.000 Jahren Sprecher:Ein sonniger Tag. Touristinnen und Touristen aus der ganzen Welt besichtigen den riesigen Archäologiepark, der unweit der Stadt Neapel am Fuß des Vesuvs liegt. Pompeji ist ein Freiluft-Museum und Forschungsstätte zugleich, eine der beliebtesten Reiseziele Italiens. Die Denkmalschützer haben großartige Arbeit geleistet: Vom drohenden Verfall der antiken Häuser, Mauern und Fresken merken die internationalen Gäste wenig. Denn der Aufwand ist groß, um Touristen heute zu zeigen, wie die Menschen vor 2.000 Jahren hier lebten – bis der Vesuv ausbrach und die Stadt unter Asche und Staub begrub. O-Ton 4 (Bertesago): I think for an archaeologist […] OVERVOICE weiblichIch denke, für eine Archäologin ist das eine sehr interessante Arbeit an einem so wichtigen Ort, nicht nur für uns oder die italienische Geschichte und Archäologie, sondern unsere Arbeit ist tatsächlich weltberühmt.[…] famous all-over the world.   Sprecher:Archäologin Silvia Bertesago hat schon als Studentin in Pompeji gearbeitet. Heute ist sie eine der verantwortlichen Forscherinnen des Archäologieparks. Abseits der Touristenströme steht sie auf einer Anhöhe, ein kleiner, grasbewachsener Hügel – unberührt seit 2.000 Jahren. O-Ton 5 (Bertesago): So here we are in a part not yet […] OVERVOICE weiblichHier sind wir in einem Bereich, der noch nicht ausgegraben ist. Um uns herum können wir aber viele bereits ausgegrabene Gebäude Pompejis sehen, die sich auf einer tieferen Ebene befinden. Wir stehen hier etwas höher, denn genau unter uns gibt es einen Teil der Stadt, der noch nicht ausgegraben ist. Das wird aber in den nächsten Monaten geschehen.[…] excavated in the next months. Sprecher:Pompeji war eine antike Metropole, die exakten Ausmaße der Stadt sind im Detail bis heute nicht abschließend geklärt. Immer wieder müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entscheiden, wo es sich lohnt, als nächstes auszugraben. Auch das gehört zum Denkmalschutz: Was wird freigelegt und was nicht? Die Archäologin ist sich sicher, dass sie hier bedeutende Funde machen wird. O-Ton 6 (Bertesago): And we can imagine on the basis […] OVERVOICE weiblichWir können uns auf der Grundlage der Struktur vorstellen, dass wir einige wichtige, bedeutende Häuser ausgraben werden. Aber wir werden erst mehr Informationen bekommen, wenn wir mit den Ausgrabungen beginnen. Dabei werden wir auch neue Prospektionstechnologien verwenden, moderne Instrumente wie Georadar, mit denen wir noch vor dem ersten Spatenstich tief in den Boden blicken können. […] like Georadar and we can see deeper. Sprecher:Die Ausgrabung wird präzise geplant und von hochspezialisierten Teams durchgeführt. Archäologinnen und Geologen, Botanikerinnen und Anthropologen können schnell und flexibel auf neue Funde reagieren. O-Ton 7 (Bertesago): We don't know exactly […]OVERVOICE weiblichWir wissen nicht genau, was wir finden werden, aber wir erwarten Räume mit Fresken, eingestürzten Dächern, eine durch den Ausbruch zerstörte Architektur. Das sind immer sehr unterschiedliche Situationen und es gibt diverse Arten von Zerstörung und Zerfall. Und so müssen wir auf der Grundlage dessen, was wir finden, auf unterschiedliche Weise vorgehen.[…] on the bases of what we will find. TC 05:11 – Ein antiker Schnellimbiss Sprecher: Vielleicht haben sie wieder Glück und machen einen Sensationsfund wie mit dem antiken Schnellimbiss, der Ende 2020 der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Bilder vom am Tresen aufgemalten Hahn und zwei abstürzenden Enten schafften es am 26. Dezember in die ARD-Tagesschau. Internationale Medien berichteten über den aufgemalten Wachhund und die Nahrungsreste, die in der Nähe des Tresens gefunden wurden. Sie lassen Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten der Bewohner von Pompeji zu. Fastfood gab es also damals schon. Das antike Take-Away ist mittlerweile zu besichtigen, erzählt Touristenführer Mattia Buondonno. Er zeigt auf eine dicke Glasscheibe, die den Sensationsfund schützt: O-Ton 8 (Buondonno): That was found just three years ago. Sprecher:Das Schnellrestaurant besteht aus einem L-förmigen Steintresen mit runden Aussparungen, „Thermopolium“ genannt, in die die alten Römer die Amphoren mit dem warmen Essen stellten. An der Vorderseite sind die in den Speisen enthaltenen Tiere in prächtigen Farben aufgemalt.  O-Ton 9 (Buondonno): So, this is the famous last […] OVERVOICE männlichUnd das hier ist der berühmte letzte Gemäldefund mit dem Hahn, hier wurde auch Entenfleisch gefunden und dort sieht man sogar die Ente und man kann einige Originalinschriften und Graffiti sehen.[…] some original inscription, some graffiti. Sprecher:Und diese besagen nichts Nettes. O-Ton 10 (Buondonno): You can see some original […] OVERVOICE männlichDiese Beschreibung hier lautet: „NICIA CINAEDE CACATOR.“ Nicia ist ein griechischer Name, wahrscheinlich war es der Name des Meisters. Jemand war offenbar neidisch auf dem Imbissbetreiber und dieser jemand schrieb: Nicia, du hinterlässt überall Scheiße.[… ]NICIA, you are leaving shit everywhere.Sprecher:Mattia Buondonno gehört zum „Inventar“ von Pompeji. Seit 30 Jahren führt er Menschen aus aller Welt durch diese besondere Stadt. Schon als kleiner Junge, als sein Vater hier an Mosaiken gearbeitet hat, habe er die Touristen beobachtet und mit ihnen gesprochen. Mittlerweile hat er viel Erfahrung im Umgang mit ihnen gesammelt und weiß, dass die antike Stätte Pompeji für die meisten ein gewaltiges Erlebnis ist.    O-Ton 11 (Buondonno): I guided so many celebrities, […] OVERVOICE männlichIch habe so viele Prominente herumgeführt, Bill Clinton, Leonardo DiCaprio sogar zweimal, ich habe Bradley Cooper geführt, Meryl Streep, Nobelpreisträger. Und dann, wenn diese Menschen in Pompeji sind, wirken sie alle wie staunende Grundschüler, weil diese Kultur so großartig, so beeindruckend ist, dass sie sich sehr, sehr klein fühlen.[…] that they are very, very little, little people. MusikTC 08:01 – Ort des ExperimentierensSprecher:Der Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 verschüttete und zerstörte eine lebendige Metropole binnen weniger Stunden. 18.000 Menschen konnten fliehen, rund 2.000 starben. Eine Katastrophe in der Antike, für die Wissenschaft ein Glücksfall. Pompeji war immer attraktiv für die Ausgräber, hier hätten sie stets mit den neuesten wissenschaftlichen Methoden gearbeitet, erzählt Gabriel Zuchtriegel. Der deutsch-italienische Archäologe hat im Frühjahr 2021 seine Stelle als Direktor des Archäologieparks angetreten. O-Ton 12 (Zuchtriegel): Natürlich versuchen wir alle diese neuen Möglichkeiten zu nutzen. Auf der anderen Seite war Pompeji immer schon ein Ort des Experimentierens, wo man also auch neue Grabungstechniken und neue Konservierungsmethoden ausprobiert hat. Und wo also schon im 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert sehr innovative Menschen gewirkt haben und auch dadurch Anstöße gegeben haben, das ganze Fach über Pompeji hinaus. Sprecher:Die ersten Archäologen begannen im 18. Jahrhundert, die Stadt Pompeji auszugraben. Dazu gehörten luxuriöse Villen inklusive Bereiche für Sklaven, das Heiligtum des Apollo, der Jupitertempel, eine Gladiatorenschule, eine Badeanstalt, oder auch eine Bäckerei – das alles muss geschützt und restauriert werden. O-Ton 13 (Zuchtriegel): Die Mauern sind relativ dünn, aus Bruchstein meist oder Ziegel und Mörtel. Und jetzt kann man sich ja mal vorstellen, was aus unseren Häusern in 2.000 Jahren wird, aus dem Beton oder was eben das Material ist und sich dann ausrechnen, was es braucht eben an ja wirklich ständigen periodischen Instandhaltungsmaßnahmen, um das vor dem Verfall zu schützen. Sprecher:Eine beständige Arbeit, denn in Pompeji müssen hunderte Gebäude geschützt werden. Gabriel Zuchtriegel erinnert an eine Phase, in der zu sehr gespart wurde - mit fatalen Folgen: O-Ton 14 (Zuchtriegel): Wenn man sich dieses Bild mal vorstellen möchte, also Pompeji, ein Flugzeug, das immer tiefer absinkt durch fehlende Instandhaltung, fehlende Restaurierungsarbeiten und dann ab einem gewissen Moment, weil sie fast am Boden zerschellt. Und es kommt dann zu diesem dramatischen Ereignis 2010, dass ein antikes Gebäude tatsächlich einstürzt während eines Unwetters. Sprecher:Am 6. November 2010 stürzte ein Haus der Gladiatoren-Schule ein, einige Tage später gab eine Mauer am so genannten „Haus des Moralisten" nach. Wind und Wetter hatten ihr zugesetzt, sie war nicht ausreichend vor diesen Bedingungen geschützt, die im Zuge des Klimawandels stärker werden. O-Ton 15 (Zuchtriegel): Und das hat natürlich, es sind über die ganze Presse gegangen, nicht nur in Italien, sondern weltweit, sehr große Besorgnis berechtigterweise hervorgerufen und auch dem Bild Pompejis natürlich sehr, sehr geschadet. Sprecher:2012 stieß der damalige Ministerpräsident Mario Monti das „Große Pompeji-Projekt“ an, um die Stadt vor dem - erneuten - Untergang zu retten. 105 Millionen Euro flossen in neue Strukturen und Konservierungsmaßnahmen. O-Ton 16 (Zuchtriegel): Und danach dieser große Einsatz, also man versucht dieses Flugzeug wieder hochzuziehen und investiert sehr viel Geld, sehr viel Personal, Ressourcen auch. Und das klappt. Es wird zum Erfolg, und das Flugzeug steigt und steigt. Das Bild Pompejis in der Presse und überhaupt in der öffentlichen Wahrnehmung verändert sich wieder komplett, wird sehr positiv. Und jetzt ist die Frage: was ist eigentlich die richtige Flughöhe für dieses Flugzeug? Sprecher:Geld sei nicht mehr das große Problem, so Zuchtriegel, daran änderte auch die Corona-Pandemie nicht viel, als Einnahmen durch den Tourismus einbrachen. Denn Pompeji wird vom italienischen Staat und der Europäischen Union finanziert. Atmo: Schritte, WindTC 12:15 – Noch lange nicht am EndeSprecher:Majestätisch thront die „Insula Occidentalis“ auf einer Anhöhe, von hier oben konnten reiche Villenbesitzer den Golf von Neapel sehen. Zwei der herrschaftlichen Gebäude gehörten Marcus Fabius Rufus und Maius Castricius, hier liegen auch das „Haus des goldenen Armreifs“ und die Bibliothek. Atmo: Schritte, Baustellentür Sprecher:Alessandro Russo läuft über Bohlen, die auf dem staubigen Boden liegen. Die Baustelle ist die derzeit größte Ausgrabung in Pompeji. O-Ton 17 (Russo): This is the House of Library […] OVERVOICE männlichDas ist das Haus der Bibliothek, weil es hier einen Raum mit Möbeln gab, wo damals die Papyri lagen. Aus diesem Grund heißt es eben das Haus der Bibliothek. Den Namen des damaligen Hausbesitzers kennen wir aber nicht.[…]  the name of the real owner of the house. Sprecher:Der Archäologe geht zwei Räume weiter zu einem Baugerüst, das in die Tiefe führt. O-Ton 18 (Russo): The other excavation […]  (Klappe auf) OVERVOICE männlichDie andere Ausgrabung, mit der wir jetzt begonnen haben, findet eine Etage tiefer statt … Ich zeige es ihnen. […] show you Sprecher:Zwei Leitern später steht Alessandro Russo in einem großen Raum, der einmal ein geräumiges Esszimmer war, mit Blick auf das Meer. Reste des gewaltigen Tisches hätten sie ausgegraben und viele spannende Sachen entdeckt. Der Archäologe bleibt vor einer Wand stehen und zieht vorsichtig eine Folie beiseite. Zu sehen ist der neueste Fund, erst tags zuvor freigelegt. O-Ton 19 (Russo): We make the excavation from this level […]OVERVOICE männlich Wir graben von dieser Ebene bis ganz nach hinten zum Ende. Dort befindet sich auch ein neues Mosaik. Und die Fresken hier an der Wand, die wir noch nicht ganz kennen - sie sind vollständig und unberührt.[…] is complete, it’s untouched Sprecher:Paolo Mighetto, der die Ausgrabungen und Konservierungsmaßnahmen dieser Stätte leitet, gesellt sich dazu. O-Ton 20 (Mighetto): The restoration of a very complex site […] OVERVOICE männlichDie Restaurierung dieses Ortes ist äußert komplex, weil wir die Entwicklungsphasen der Stadt, inklusive der antiken dramatischen Ereignisse, erhalten wollen.[…] phases of the city, ancient City drama.Sprecher:Mighetto ist fasziniert von der vielfältigen Geschichte Pompejis. Die Stadt hat mehr Katastrophen erlebt als „nur“ den berühmten Vulkanausbruch. O-Ton 21 (Mighetto): Because the Pompeii was subject to the […] OVERVOICE männlichPompeji war 62 nach Christus einem Erdbeben ausgesetzt, zuvor hatte es zahlreiche kleine Beben gegeben. Und dann der Vesuvausbruch natürlich, im Jahr 79. Hinzukommen die ganzen Ausgrabungen im 18. und 19.Jahrhundert, als unterirdische Tunnel unter dem Gebäude gegraben wurden. Und überall die Asche und vulkanisches Material. Und schließlich sind hier während des Zweiten Weltkriegs zwei Bomben eingeschlagen. Unser Ziel ist es, all die Zeichen der Zerstörung zu bewahren.[…] the signs of this destruction. Sprecher:Pompeji ist ein Ort für die Öffentlichkeit, sagt Direktor Gabriel Zuchtriegel immer wieder - auch weil die Archäologischen Stätten von Pompeji und Herculaneum seit 1997 zum UNESCO Welterbe gehören. Deswegen sei es ihm und seinem Team wichtig, dass sie Pompeji immer als einen Ort präsentieren, an dem die Forschung weitergeht, an dem ständig neue Erkenntnisse gewonnen werden, sei es durch neue Ausgrabungen oder neue Analysen. Und an diesem Prozess müsse die Öffentlichkeit teilhaben. O-Ton 28 (Zuchtriegel): Die Frage, warum überhaupt Archäologie betrieben wird, warum die Gemeinschaft, der Staat, auch teilweise private Sponsoren darin investieren sollen, lässt sich eigentlich nur beantworten, indem man sagt: Wir geben natürlich auch etwas zurück an die Gesellschaft. Und zwar teilen wir unser Wissen und unsere Erkenntnisse und andere auch unsere neuen Perspektiven auf die Antike, den Menschen mit. Es ist einfach, dass es aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn macht, einen archäologischen Park zu betreiben, wenn nicht für ein Publikum. Wir machen das ja nicht nur für einen kleinen Gelehrtenzirkel.Sprecher:Durch die Corona-Pandemie sei der Archäologiepark Pompeji gut gekommen, sagt Zuchtriegel, er sei froh, dass wieder mehr Touristen kämen. Ob die Zahl von drei oder vier Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr wieder erreicht werden könne wie früher, sei aber im Moment noch nicht absehbar. Bei der Frage, ob künftig noch große Funde zu erwarten sind, lacht Gabriel Zuchtriegel. O-Ton 30 (Zuchtriegel): Ja, also in der Archäologie ist es so, dass man eigentlich immer nicht das findet, was man sich erwartet, manchmal auch erhofft, sondern manchmal mehr, manchmal weniger, meistens irgendetwas anderes. Und das gehört irgendwie dazu. Also die Freude ist auch die, dass man ständig überrascht wird. MusikTC 17:29 – Das Problem mit den GrabräubernSprecher:Pompeji steht mittlerweile gut da. Der Denkmalschutz schützt die Stätte immer besser vor Wind, Starkregen, Trockenheit, den Folgen der Klimakrise. Archäologische Forschungsfragen werden mit modernsten Methoden beantwortet, Geld fließt vom italienischen Staat und der EU, die Touristen kommen wieder. Wären da nicht die illegalen Raubgräber, wäre alles gut in Pompeji. O-Ton 31 (Bertesago): There are problems with illegal excavations […] OVERVOICE weiblichEs gibt Probleme mit illegalen Ausgrabungen, also Raubgrabungen und illegalem Handel von archäologischen Objekten.[…] traffic of archaeological things, objects. Sprecher:Klagt die Archäologin Silvia Bertesago. Raubgräberei war nicht nur ein Problem der Vergangenheit, sondern ist es auch in der Gegenwart. 2021 wurde der Fund einer reich verzierten Kutsche bekannt. Das Gefährt war nur knapp dem Raub durch Plünderer entgangen, die in den letzten Jahren Dutzende Tunnel in die noch unerforschten Teile Pompejis gegraben hatten. Zwei solcher Tunnel führten unmittelbar an der Kutsche vorbei. Auch Gabriel Zuchtriegel ist angesichts der kriminellen Energie fassungslos. O-Ton 32 (Zuchtriegel): Die Schäden sind enorm, die dadurch entstehen. Und es ist wirklich ein globales Phänomen, das auch ökonomisch für die organisierte Kriminalität einen ganz wichtigen Sektor leider darstellt. Sprecher:Die kriminelle Energie, die hinter den illegalen Ausgrabungen steckt, sei offenbar bei manchen Menschen sehr hoch, zudem gebe es regelrechte Bestellungen und damit einen lukrativen Markt, so der Direktor des Archäologieparks: O-Ton 33 (Zuchtriegel): Es gibt leider nach wie vor Leute - hauptsächlich im Ausland, also viele Spuren führen dann über die Schweiz oder andere Länder, in die USA und in andere Kontinente, also das ist wirklich ein weltweites Phänomen - die kaufen nach wie vor diese Objekte, ohne sich über die Herkunft wirklich sorgfältig zu informieren oder auch, teils wohl mehr oder weniger wissend, dass es aus illegalen Grabungen kommt. Das sind teils private Sammler, aber manchmal leider auch immer noch Institutionen, Museen. Sprecher:Natürlich sei das alles verboten, betont Gabriel Zuchtriegel, die Gesetzeslage sei eindeutig. Man darf nichts mitnehmen, auch keine kleinen, scheinbar unbedeutenden Fragmente wie etwa Keramikscherben. O-Ton 34 (Zuchtriegel): Es ist ein Problem, nicht innerhalb des Parks, Gottseidank. Das ist alles sehr gut überwacht, mehr als 500 Videokameras und natürlich einen ständigen Wachdienst. Sprecher:Damit der Archäologiepark noch sicherer wird, gibt es seit 2021 das „Smart@POMPEI-Projekt“. Zu ihm gehört „Spot“, ein gelber Roboterhund, mit langen Beinen und einem schwarzen Rechteck als Kopf. Er kann sich sicher in unwegsamem Gelände bewegen und durch enge Schächte und illegal gegrabene Tunnel laufen. Mit einer Kamera filmt er alles. „Spot“ kann Raubgräber aufspüren und möglicherweise zu ihrer Verhaftung beitragen, er kann aber auch bröselnde Mauern erkennen, so dass schnell Konservierungsmaßnahmen eingeleitet werden können. Der Archäologiepark Pompeji sei darüber hinaus durch neue Technologien wie Wärmebildkameras, Sensoren und Drohnen geschützt. O-Ton 35 (Zuchtriegel): Das heißt, da muss man eben aktiv werden, das irgendwie mit Dächern schützen, aber eben auch mit ständigen Instandhaltungs- und Restaurierungsmaßnahmen. Und vor allem, man muss es auch kontinuierlich ja überwachen, um einfach zu wissen, was passiert eigentlich in Real Time in der Ausgrabungsstätte. Musik TC 21:27 – Outro
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Mar 15, 2024 • 23min

VERSUNKENE ORTE - Uruk und wie alles begann

Eine City der Superlative: Uruk. Die Stadt war die erste Stadt der Welt - eine Megapolis mit bis zu 50 000 Menschen. Sie entstand im 5. Jahrtausend v.Chr. im Süden des heutigen Irak mit Häusern aus Lehmziegeln, Türmen und Palästen. Kanäle leiteten frisches Wasser aus dem Euphrat in die Stadt und das Abwasser wieder hinaus. Das kreative Potential war groß. Von Christine Hamel (BR 2023) Credits Autorin: Christine Hamel Regie: Irene Schuck Es sprachen: Berenike Beschle, Christian Baumann, Friedrich Schloffer, Katja Amberger Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Margarete van Ess Linktipps: Alles Geschichte (2022): ANFÄNGE der Kultur – Die Erfindung der Schrift Schrift ist eine ziemlich neue Erfindung innerhalb der Menschheitsgeschichte. Vor rund 5.200 Jahren tauchen im heutigen Irak erste Tontafeln auf, in die strukturierte Zeichen eingeritzt wurden. Doch es waren keine Texte im heutigen Sinn. Und im Gegensatz zu heute gab es einen eigenen Beruf des "Schreibers": Schon fünfjährige Kinder wurden dafür ausgewählt und über viele Jahre hinweg ausgebildet. JETZT ANHÖREN rbbKultur (2023): Margarete van Ess – Archäologin Als Margarete van Ess 1982, damals Studentin, das erste Mal auf archäologische Grabungsreise in den Irak fuhr, hatte sie ihre Blockflöte mit im Gepäck. An die Übungsstunden inmitten der Ruinen erinnert sie sich noch heute. Der antiken Stadt Uruk, zwischen Euphrat und Tigris, ist sie treu geblieben. Seit 1999 leitet sie die Ausgrabungen dort, seit 2020 als Direktorin der Orient Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. Die Liebe zum Orient ist ihr durch ihre Eltern, beide studierte Orientalisten, vermittelt worden. Zur Podcast-Folge geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:47 – Sesshaft im Sumpfland TC 04:02 – Eine Metropole aus Macht und Reichtum TC 05:58 – Die Ausgrabung einer Stadt TC 08:27 – Die Herrin des Himmels TC 11:34 – Von Magie und Kassenzetteln TC 21:48 – Die erste Metropole der Menschheit TC 22:25 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro Musik 1 "Atmosphere in B Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Album: Succession: Season 2 (Music from the HBO Series) - Länge: 1'37 Erzählerin: Bescheidenheit war nicht gerade eine Tugend in Uruk. Man gab sich prahlerisch und pompös, alle Tempel und Paläste fielen XXL aus. Größe muss nach altorientalischer Sitte Schönheit bedeutet haben, sie ist ja auch näher dran am Ganzen, am Universum. Überragt wurde alle städtebauliche Schönheit in Uruk von dem Ishtar-Tempel, einem Stufenturm auf einem 12 Meter hohen Sockel, der die Stadtmitte bildete. Geradezu hymnisch wird er im Gilgamesch-Epos besungen: Zitator: Sieh an dessen Mauer, die wie Kupfer glänzt! Besieh ihre Brustwehr, die niemand nachzubilden weiß! Nimm doch die Treppe, die dort seit ewigen Zeiten! Erzähler: Außerirdische gigantische Architektur. Der Sinn für Einzigartigkeit und Extravaganz begleitet die Entwicklung von Uruk – die Menschen hatten sichtbar Freude an den Wundern, die sie selbst erschufen. In Uruk entstanden aber nicht nur atemraubende Gebäude, sondern auch Arbeitsteilung, Bürokratie, die Schrift oder die Großplastik. Ob Fluch oder Segen sei dahingestellt - man darf aber getrost von einer Urukisierung der Welt sprechen. Uruk war urban branding….Nährboden für lauter zivilisatorische Entwicklungen. Es sollte noch drei Jahrtausende dauern, bis größere Städte entstanden. Babylon baut später auf den Kulturleistungen von Uruk auf. TC 01:47 – Sesshaft im Sumpfland Erzählerin: Begonnen hatte alles Ende des 5. Jtd. vor Chr. im Süden Mesopotamiens. Sowohl am linken als auch am rechten Ufer des Euphrat waren kleine Ansiedlungen entstanden. 1. Zsp.: (Margarete van Ess) Sie haben sich in einer Region befunden, wo sehr viele Sümpfe waren, an einer Grenze zwischen einem großen Sumpfland, das es heute im Irak tendenziell immer noch gibt, und den Flusslandschaften. Also in einer Region, wo wahrscheinlich der Euphrat, vielleicht aber auch der Tigris, auf dieses Sumpfland gestoßen ist. Erzählerin: Die Archäologin Margarete van Ess. Sie ist Direktorin der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. Seit 1999 leitet sie die Ausgrabungen in Uruk, die archäologischen Forschungen sowie die Konservierung der Ruinen. 2. Zsp.: (Margarete van Ess) Und so hatten sie zwei Grundlagen: nämlich einmal die Wasserwirtschaft, also Fischerei und das Nutzen von Pflanzen aus dem Sumpfland und auf der anderen Seite alles das, was mit der Flusslandschaft zu tun hat, also frühe Landwirtschaft, aber auch Bewegung auf den Flüssen. Und wir gehen davon aus, dass es genau diese Situation, also das Aufeinandertreffen von zwei verschiedenen Lebensumfeldern gewesen ist, was die Siedlung befördert hat. Erzählerin: Land- und Wasserwirtschaft boten eine Fülle von Produkten und Erzeugnissen, mit denen man sich kommerziell gut aufstellen und ausrichten konnte. Das hob das frühe Uruk von anderen Siedlungen ab, die entweder das eine oder das andere hatten. In der ganzen Region gab es ja tatsächlich bereits eine große Zahl von Dörfern und Siedlungen. Das Ende des ungebundenen Wanderlebens war schon etwa 10 000 vor Christus eingeläutet worden. Erzähler: Im Südosten der Türkei hatten Menschen ihre freie Wildbeuterei und das Nomadentum aufgegeben, um stattdessen Land zu beackern. Warum sich plötzlich Sesshaftigkeit und Vorratshaltung durchsetzten, ist bis heute mehr oder weniger ein Rätsel. Religion mag eine Rolle gespielt haben, der harte, von immer neuen Risiken bedrohte Alltag auch. Zur Entstehungszeit von Uruk Mitte des 5. Jahrtausends jedenfalls steckte Mesopotamien schon mitten drin in zivilisatorischen Entwicklungen. TC 04:02 – Eine Metropole aus Macht und Reichtum 3. Zsp.: (Margarete van Ess) Es waren wohl vergleichsweise egalitäre Gesellschaften, also alle sind gleichberechtigt, alle machen ähnliche Dinge, sorgen halt für ihren Lebensunterhalt und so weiter. So wie es aber dazu kommt, dass man stärker organisieren muss, also zum Beispiel den Übergang von einem Fluss in einem Sumpfland oder dann im Verlauf des 4. Jahrtausends fertig werden muss mit Klimaveränderungen, dann ergibt sich das eben: Jemand organisiert, oder eine Gruppe von Menschen organisiert und andere weniger. Das heißt, da bilden sich dann Hierarchien heraus, und es bilden sich auch verschiedene Handwerke heraus, unterschiedliche Arbeitsbereiche, die dann auch unterschiedlich bewertet werden. Also eine Gesellschaft entwickelt sich, wie wir sie heute ganz gut kennen. Erzählerin: Macht und Reichtum sind der Grundstein für die älteste Metropole der Welt. Mit der Gleichheit ist es dann auch schnell vorbei. Wenige herrschen über die vielen. Musik 2 "Atum 3" - Album: Ankh The Sound Of Ancient Egypt - Komponist: Michael Atherton - Länge: 0'52 Erzähler: Bis 3200 vor Christus steigt Uruk zur ersten und größten Stadt der Welt auf. 50 000 Menschen lebten hier, nicht alle freiwillig. Die Eroberungszüge jener Zeit richteten sich weniger auf Landgewinn. Vielmehr ging es darum, Arbeitskräfte heranzuschaffen. Man brauchte Sklaven für den Bau von Tempeln, Häusern, Stadtmauern und Bewässerungskanälen. Sklaven bildeten einen festen Bestandteil der Gesellschaft, eine in Uruk gefundene Schrifttafel gibt Aufschluss über Verärgerung nach dem Kauf einer Zwangsarbeiterin. Erzählerin: Der bereits dritte Käufer einer Sklavin eschauffiert sich darüber, dass sie lauter Götternamen trägt. Sie stünden ihr ja doch wahrscheinlich nicht zu. Das Gericht rät ihm daraufhin, sich bei Verkäufer eins und zwei zu beschweren.  TC 05:58 – Die Ausgrabung einer Stadt Erzähler: Anfangs hieß Uruk eigentlich Unuk – auch das weiß man dank einer sumerischen Schrifttafel.  4. Zsp.: (Margarete van Ess) Später erst unter den Akkadan heißt es Uruk. Akkada und Sumer sind zwei komplett verschiedene Sprachen. Spätestens im Verlauf des 3. Jahrtausends existiert neben Unuk auch das Uruk. Und dieser Name hält sich bis heute. Erzählerin: Magarete van Ess hat 1982 das erste Mal in Uruk gegraben. Seitdem lässt sie die Stadt nicht mehr los. Durch verschiedene Kriege musste die Archäologin ihre Arbeit immer wieder unterbrechen, Uruk liegt im kriegsgebeutelten und krisengeschüttelten Irak. Erzähler:  1849 wurden die Ruinen Uruks durch den britischen Geologen und Naturforscher William Kenneth Loftus wiederentdeckt. Systematische Ausgrabungen begannen aber erst unter deutscher Federführung im Winter 1912/13. Inzwischen gibt es 49 000 inventarisierte Funde, darunter 13 800 Tontafeln und Tausende von Keramikscherben aus fast 5000 Jahren. Erzählerin: Die aus Lehmziegeln errichteten Bauten zeichneten sich durch aufwendig gegliederte Außenfassaden aus, sie wurden gleichsam durch Nischen rhythmisiert und waren mit geometrischen Mosaiken aus farbigen Ton- und Steinstiften geschmückt. Musik 3 "Wave" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 0'22 Erzählerin: Uruk machte einen festlichen, absolut instagramtauglichen Eindruck: Schon von weitem nahmen und nehmen die Monumentalbauten und Dattelpalmen Ankömmlinge in Empfang. Musik 4 "Atmosphere in B Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Album: Succession: Season 2 (Music from the HBO Series) - Länge: 1'04 5. Zsp.: (Margarete van Ess) Man muss wissen, dass wir uns da in dem sehr langgestreckten Delta der Flüsse Euphrat und Tigris befinden, von Bagdad bis Basra, dem heutigen Hafenort, sind es etwa 600 Kilometer. Uruk liegt auf der Hälfte der Strecke, und das gesamte Gefälle von Bagdad bis Basra beträgt nur 40 Meter. Das heißt, das gesamte Land ist topfeben, alles was rausguckt, ist in irgendeiner Form von Menschen gemacht. Und Uruk gehört eben zu einer der größten archäologischen Stätten. Das heißt, wenn ich mich Uruk nähere, sehe ich eigentlich schon 10 Kilometer vorher, dass da ein großes Hügelgebirge aufragt, der Tempel in der Mitte der Stadt ragt noch immer besonders hervor und ich weiß also, ah, jetzt komme ich auf Inanna, auf das Heiligtum zu und werde demnächst in der Stadt sein. Musik 5 "Ice Glass" - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 1'05 TC 08:27 – Die Herrin des Himmels Erzähler: Inanna ist die Stadt- und Schutzgöttin von Uruk, Königin der Liebe und des Krieges. Ihr Name bedeutet „Herrin des Himmels“. Erzählerin: Sie ist denn auch die wichtigste Göttin der Sumerer: schön, liebestoll, kriegerisch und eroberungssüchtig, meist unberechenbar. Zahlreiche Mythen berichten von ihren Taten. Als sie in die Unterwelt abtaucht, zu ihrer Schwester, versiegt auf Erden die Lust und infolgedessen alles Leben. In der Erzählung „Ishtars Höllenfahrt“ heißt es: Zitator Kein Stier bestieg mehr eine Kuh, kein Esel eine Eselin, kein Jüngling schwängerte ein Mädchen auf der Straße. Der junge Mann schlief in seinem Zimmer, das Mädchen in der Gesellschaft seiner Freunde. Erzählerin: Ohne Inanna keine Zukunft der Menschen. Erzählerin: Der sexuelle Umgang miteinander war freizügig. Kaum Tabus. Uruk galt im 3. Jahrtausend als Stadt der „Dirnen, Kurtisanen und Edelnutten“ – auch das trug sicherlich zur Attraktion bei. Archäologen fanden in Uruk eine Tontafel mit einem nackten Paar beim Geschlechtsverkehr. Der Mann steht hinter der Frau, die sich nach vorne beugt, um mit einem Strohhalm einen Rauschtrank aus einem Gefäß zu trinken. Erzähler: Eine Darstellung, die möglicherweise eine Bordellszene zeigt oder dem Kult der Liebesgöttin zugerechnet werden kann. Musik 6 "Ice Glass" - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 0'21 Erzähler: Inanna sagt in einer Erzählung selbstbewusst: Zitatorin: Ich bin die Königin aller Sterne. Die Weisheit des Lebens kommt aus meinem Schoß, der wunderbar ist. Erzähler: Nach und nach entstanden Kulthäuser, Rundpfeilerhallen, Badeanlagen und ein sogenannter Empfangspalast. Dazwischen ein großer Hof mit Terrassen, der der kultischen Verehrung diente. Musik 7 "Wave" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 0'42 Im Jahr 2100 vor Chr. – in Uruk herrschte die 3. Dynastie von Ur – wurde ein neuer Tempel gebaut: der sogenannte Zikkurrat, ein Stufenturm. 6. Zsp.: (Margarete van Ess) Der Tempel stand auf zwei übereinander gestellten Terrassen. Die untere war vermutlich um das Jahr 2000 herum etwa 11’20 Meter, die darüber könnte halb so groß gewesen sein, etwa 5‘ 60 Meter und dann kam noch der Tempel obendrauf, das waren schon über 20 Meter hohe Gebilde. Erzählerin: Nicht ganz so steil wie die Mayapyramiden, aber eine in jeder Hinsicht herausragende Monumentalarchitektur. Als Personal dienten Priesterinnen und Priester, unter ihnen Schwule, Transsexuelle und Prostituierte.  7. Zsp. (Margarte van Ess) Tempel waren nicht einfach ein Gotteshaus, in das man ging zum Beten, sondern es waren wirtschaftliche Einheiten, so ein bisschen so wie Klöster im Mittelalter Europas. Erzähler: Neben dem Hauptheiligtum gruppierten sich von Anfang an weitere Lehmbauten: Wohnhäuser, Paläste und Verwaltungsgebäude. Sie waren meist um einen kleinen Innenhof angelegt, in dem Dattelpalmen Schatten spendeten. Straßen wurden streng im rechten Winkel wie in einer Garnisonstadt angelegt, Kanäle führten Frischwasser in die Stadt - die Menschen schöpften es mit Krügen ab- und leiteten Abwässer wieder hinaus.   TC 11:34 – Von Magie und Kassenzetteln Erzählerin: Im dichten Zusammenleben von Mensch und Tier nah an Sümpfen und am Wasser bei großer Hitze brachen sehr wahrscheinlich oft Krankheiten und Seuchen aus. Die Stadt hatte von Anfang an nicht nur Vorteile. Erzähler: Magierinnen und Beschwörer waren daher viel gefragt. Nicht nur bei Krankheiten, sondern bei allen Risiken des Lebens. Man schrieb ihnen Wissen über die Kraft von Steinen und Mineralien zu. Auf Tontafeln hielten sie fest, wie Frauen für ihre Männer Glücksamulette herzustellen hatten: Musik 8 "Part 6 - 4 Resonating Stones, Voice" - Komponist: Stephan Micus - Album: Music of Stones - Länge: 0'33 Zitatorin: Die 15 Steine fädelst Du auf ein Band aus Leinen, einen roten Wollfaden und einen blauen Wollfaden….Beiderseits der Steine knöpfst Du ein Stück Tamariskenholz ein. Ein Räuchergefäß mit Wacholder stellst Du hin. Du opferst Bier und rezitierst die folgenden Beschwörungsformeln: Ich bin erhört. Das Gebet nimm an von mir. Du hängst die Kette um seinen Hals. Erzähler: Die Handelswege waren weit und gefährlich. Geschäfte wurden mit Gewichtsteinen in Stab- oder Entenform abgewickelt, Gerste, Wolle und Öl wurden damit abgewogen. Erzählerin: Handel war DER Innovationsmotor – er gibt schließlich auch den Anstoß zur Schrift. Sie wurde in Uruk erfunden. Erzähler: Zunächst dienten kleine Tonobjekte, sogenannte Zählmarken - Kugeln, Scheiben oder Krüge - dazu, um etwas zu prüfen und beim Handel die Übersicht zu bewahren. Erzählerin: Ich habe Dir 15 Schafe zum Scheren gebracht, also packe ich 15 Kugeln in einen versiegelten Lederbeutel oder in ein versiegeltes Tongefäß. Wenn ich die Schafe nach drei Wochen abhole, weiß ich genau, dass es 15 Schafe waren – und nicht 14 oder 12.  Erzähler: Doch irgendwann waren die Anwendungsbereiche so vielfältig, dass die Zählmarken nicht mehr der Komplexität entsprachen. Neue Notierungshilfen mussten her. Dazu wurden erstmals Tafeln aus Ton geformt, in die man mit Schilfrohr Notizen geritzt hat. 8. Zsp.: (Margarete van Ess) Das sind im Anfang nur so etwas wie unsere Kassenzettel, da ist dann das Symbol für Schaf oder für eine Flasche drauf und dann ein Zahlzeichen, dann häufig auch noch eine Summe, so dass also klar wird: Da hat jemand Schafe gezählt, Flaschen gezählt und dann festgestellt, wie viel das insgesamt ist, vielleicht noch auf einen Monat bezogen und so weiter. Und das ist der Beginn der Schrift. Es ist im Prinzip ein Wirtschaftsnotierungssystem. Erzähler: Die Schriftzeichen waren sowohl abstrakt als auch bildhaft. 9. Zsp.: (Margarete van Ess) Es gibt Listen, auf denen dann die Objekte verzeichnet sind. Also dann gibt es da das Zeichen für Schaf mit ganz vielen unterschiedlichen Zeichen daneben, das ist einfach ein runder Kreis mit einem Kreuz drin. Das Interessante ist, dass diese Listen immer wieder abgeschrieben wurden über Jahrhunderte hinweg, und dabei verändern sich die Zeichen, werden zu richtiger Keilschrift. Und irgendwann, so in der Mitte des 3. Jahrtausends, kann man das dann wiederum lesen, weil diese Zeichen in der richtig entwickelten Schrift eben auch verwendet werden. Erzähler: Rund um die Stadt dehnten sich Obstplantagen und Felder aus. Angebaut wurden Wein, Äpfel, Quitten, Birnen und Granatäpfel, vor allem aber Getreide - in den Ruinen von Uruk fanden sich Tausende standardisierte Tongefäße, mit denen den Menschen Gerste oder Weizen zugeteilt wurde. Eine Art der Ausbezahlung. Mit Getreide trieb die Obrigkeit in der frühdynastischen Zeit um 3000 bis 2340 v. Chr. schließlich auch die Steuern ein. Das Gemeinwesen gestaltet sich bereits etwas bürokratisch aufgeblasen. Und die Staatsdiener ließen es sich sehr wahrscheinlich gut gehen.   10. Zsp.: (Margarete van Ess) Da gibt es einen König, da gibt es eine Beamtenschaft, die dafür zuständig ist, die Verwaltung einer Stadt oder auch eines Staates zu organisieren, und zwar eine ziemlich umfangreiche Beamtenschaft. Und es gibt spezialisierte Personen, die eben das Gerichtswesen kennen, es gibt Händler, die zwischen den Städten agieren, aber auch Händler, die bis in das Indusgebiet oder in die heutige Türkei hoch Handel betreiben. Und es gibt natürlich die Menschen, die vor Ort arbeiten, die Schafzucht übernehmen, die Landwirtschaft, das Fischen oder auch den Bootsbau, also alles das, was wir uns im Prinzip unter Handwerk vorstellen würden ist dann auch da. Musik 9 "Ice Glass" - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 0'54 Erzähler: Frauen waren Ende des 3. Jahrtausends, Anfang des 2. Jahrtausends vor Chr. in der mesopotamischen Gesellschaft vergleichsweise gleichberechtigt, sie konnten handeln oder auch erben. 11. Zsp.: (Margarete van Ess) Sie sind dennoch etwas zweitrangig, das sieht man gerne mal an Lohnlisten, da verdienen Frauen einfach weniger als Männer, das kennen wir ja auch. Aber sie sind nicht inexistent. Sie sind durchaus ganz normal auf den Feldern, in der Produktion tätig, sie spielen auch durchaus eine Rolle als Priesterinnen, manchmal auch in sehr hoher Funktion. Und sie können auch am Königshof eine große Rolle spielen, allerdings Königinnen gibt es in dieser Zeit eigentlich nicht. Musik 10 "Wave" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 1'08 Erzähler: Zentrale Aufgabe altmesopotamischer Herrscher war die Vermittlung zwischen Menschen und Göttern. Der König erhält seine Befehle laut Staatsverständnis von den Göttern. Aber die legendären Herrscher von Uruk wie Emmerkar, Lugalbanda und Gilgamesch wurden auch wie Götter verehrt. Bis heute berühmt ist vor allem der sagenhafte König Gilgamesch, dessen Heldentaten im gleichnamigen Epos verewigt sind, im ältesten literarischen Text der Weltgeschichte. Erzählerin: Ob es sich bei Gilgamesch um eine reale oder doch eher literarische Figur handelt, ist nicht gesichert.   12. Zsp.: (Margarte van Ess) Er vollbringt dann alle möglichen heroischen Taten, also zum Beispiel holt er Zedernholz aus dem Libanon-Gebirge, er kämpft gegen den Himmelsstier, alles Mögliche und er sucht zum Schluss nach dem ewigen Leben, nachdem sein Kompagnon Enkidu verstorben ist. Und stellt dann fest, das gibt es für ihn als menschliches Leben nicht, aber was bleiben wird, sind seine Taten und seine Bauwerke, die er geschaffen hat. Musik 11 "North of the Wall" - Album: Game of Thrones (Music from the HBO Series) - Komponist: Ramin Djawadi - Länge: 0'45 Erzähler: Die Mauer von Uruk etwa, die ihm zugeschrieben wird. Ein gigantisches Bauwerk, errichtet um das Jahr 2900 vor Chr. Die Mauer ist 9,3 Kilometer lang, bis zu acht Meter breit, an der engsten Stelle etwa fünf Meter. Sie muss etwa acht Meter hoch gewesen sein, und wurde von Bastionen verstärkt. Erzählerin: Ein Bauwerk der Superlative, Fortifikationsanlage und Ausdruck des Selbstbewusstseins von Uruk. 13. Zsp.: (Margarete van Ess) Wir haben einmal ausgerechnet, dass es um die 300 Millionen Ziegel gewesen sein müssen – mindestens. Soweit wir das im Moment erkennen können, ist das vermutlich relativ schnell auch fertig gewesen und dann Mitte des 3. Jtd. vor Chr. immer wieder erweitert worden. Es mag sein, dass das von einer Person in die Wege geleitet und auch umgesetzt worden ist, 300 Millionen Ziegel in die Wege zu leiten, ist so fürchterlich aufwendig nicht. Also das ist keine Arbeit, für die man Jahrzehnte braucht, schon ein paar Jahre, immer in den Sommermonaten, wenn man die Bevölkerung dazu anhalten kann, an einem Gemeinschaftswerk mitzuarbeiten. Und vor allem, wenn man organisieren kann, wo man welche Menschengruppen denn einsetzt, also es ist vor allem ein gigantisches logistisches Problem, so etwas zu machen.  Erzählerin: Insofern ist die Geschichte von Gilgamesch, der als Erbauer der Mauer von Uruk gilt, durchaus verständlich. Das Bauwerk schien in seiner Imposanz eher in den Tatbereich der Götter zu fallen als in den der Menschen. Erzähler: Anfang des 3. Jtd. werden auch andere Städte groß in Mesopotamien. Aus früheren Partner entwicklen sich konkurrierende Gegner;- eine schützende Mauer scheint daher durchaus sinnvoll gewesen zu sein. Aus Epen und späteren Texten weiß man, dass es zu Kriegen zwischen den Städten gekommen war. 14. Zsp.: (Margarete van Ess) Eine Stadtmauer ist aber tatsächlich auch dafür da, die Potenz derjenigen anzuzeigen, die sie gebaut haben, also den König oder auch die Menschen, die es getan haben. Sie ist auch ein Schutz gegen wilde Tiere oder eine Zollgrenze, sie ist alles Mögliche. Und als solche hat sie auch bis zum Ende gedient, also sie ist nicht irgendwann kaputt gegangen, wir finden sie in den Keilschrifttexten bis in die Suleukidenzeit, das ist bis in das 3. und 2. Jahrhundert vor Christus. Und meine archäologischen Reste zeigen mir, dass sie auch später noch existiert hat. Das heißt, sie war immer da, man sah sie, man wusste, wo sie ist, man wusste, wo die Stadt anfängt, wo sie aufhört, es gibt ein draußen und drinnen, insofern hat sie immer Bedeutung gehabt und schon im alten Mesopotamien haben sich die Menschen immer daran erinnert, dass dieses gewaltige Bauwerk eben die Großtat von Uruk war. Musik 12 "Atmosphere in B Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Album: Succession: Season 2 (Music from the HBO Series) - Länge: 1'18 TC 21:48 – Die erste Metropole der Menschheit Erzähler: Uruk war die erste Metropole der Menschheit. Ein verdichteter Kulturraum, in dem Menschen erstmals urbanes Zusammenleben erprobten. Sie waren angewiesen auf Kooperationen und pragmatische Lösungen, beides unabdingbare Voraussetzungen für ein Miteinander.  Erzählerin: Zusammenhalt unter den Menschen stifteten zu Beginn Religion und intensive wirtschaftliche Beziehungen. Später kam viel Stadtstolz auf Uruk hinzu und eine Fülle an kulturellen Wechselbeziehungen – bis heute der Nährboden für Innovationen, Dynamik, Lebendigkeit. All das hatte aber auch seine Schattenseiten, das Leben in der Stadt führte zu Krankheiten und Seuchen, Versklavung, Gängelung, Konkurrenz und Kriegen. Erzähler: Die letzte Blütezeit in 5000 Jahren Urbanismus erlebte Uruk unter den Seleukiden zwischen 200 und 44 vor Christus. Sie ging einher mit der Errichtung neuer Monumentalbauten für die altorientalischen Götter. An wegweisender Bedeutung verlor Uruk erst, als die Handelswege andere Routen einschlugen.  Musik 13 "Bach/Caine: Goldberg Variations - The Eternal Variation" - Komponist: Uri Caine - Album: Bach: Goldberg Variations [Disc 2] - Künstler: Uri Caine Ensemble - Länge: 0'43 Erzählerin: Bis in das 4. Jahrhundert nach Christus war die erste Metropole der Menschheit belebt. Dann verlandete das fruchtbare Sumpfland infolge weitreichender klimatischer Veränderungen. Die Menschen fanden kein Auskommen mehr und zogen weg. Auch heute noch ist Warka staubig und trocken. Eine Wüste. Aber zugleich einer der genialsten und fruchtbarsten Orte der Menschheit: Die Erfindungen in Uruk prägen schließlich bis heute unser Leben. TC 22:25 – Outro
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Mar 8, 2024 • 23min

LEBEN IN GEFAHR ? Tamara Bunke, Che Guevaras Kampfgefährtin

Ihr Leben liest sich wie die Vorlage für einen Kinofilm: Die Deutsch-Argentinierin Tamara Bunke lebt zunächst in der DDR als systemtreue und sozialistisch geprägte junge Frau. Doch als ihr 1960 der Job als Dolmetscherin für den kubanischen Revolutionshelden Che Guevara zufällt, beginnt sie sich immer mehr für die Vorgänge in Kuba zu interessieren. Es beginnt ein Leben als Geheimagentin im Kugelhagel. Am 8.3. ist Internationaler #frauentag 2024. Credits Autorin: Gerda Kuhn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Thomas Loibl, Hemma Michel Technik: Fabian Zweck Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Oliver Rump, Dr. Gerd Koenen Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Warum Frauen die besseren Spione sind Als Doppelagentin führte Lily Sergueiew die Nazis 1944 in die Irre. Ein neues Sachbuch erzählt von ihr und anderen mutigen Spioninnen. Die Journalistin Corinna von Bassewitz berichtet in ihrem Buch, wie sie ihren Vater als Agent enttarnte. ZUM BEITRAG WDR Hörspiel (2022): Monika La Guerrillera – Die Frau, die Che Guevara rächte Am 9. Oktober 2022 jährte sich der Todestag von Che Guevara zum 55. Mal. Das Doku-Hörspiel erzählt die Geschichte seines Scheiterns in Bolivien - und die Story der Frau, die seinen Tod rächte: Monika Ertl, Tochter des NS-Filmers Hans Ertl. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): Revolution auf Kuba – Als Fidel Castro die Macht übernahm   Am 1. Januar 1959 wurde Kuba ein anderes Land: Vor 65 Jahren stürzte Revolutionär Fidel Castro den bisherigen Machthaber Batista. 49 Jahre lang führte Castro Kuba als "Maximo Líder". Doch die anfängliche Euphorie der Kubaner hielt nicht lange an. Kath, Andrea. HIER anhören. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 04:06 – Die Vorzeige-GenossinTC 06:16 – Eine schicksalhafte BegegnungTC 09:47 – AgentenlebenTC 12:43 – Alleinsein, Angst und AuflösungTC 18:38 – Der Anfang vom EndeTC 22:21 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK ERZÄHLERIN:Was treibt jemanden dazu an, alles aufs Spiel zu setzen? Persönliche Sicherheit, Freunde, Heimat, vielleicht sogar die Zukunft mit einem geliebten Menschen? Für Tamara Bunke, geboren 1937 in Argentinien, gestorben 1967 im bolivianischen Dschungel, war vermutlich die stärkste Triebfeder für alles, was sie auf sich nahm, eine romantische Vorstellung vom Wesen der Revolution. ERZÄHLER:Tamara Bunke, die später unter dem Namen „Tania la Guerillera“ einen Ehrenplatz im Helden-Olymp der internationalen Linken erhalten sollte, träumte wie Kubas Revolutionsheld Che Guevara den Traum von der Befreiung Lateinamerikas. Wie Domino-Steine sollten rechte Diktaturen nacheinander stürzen und freie, gerechte Gesellschaften entstehen, geprägt vom Typus eines neuen, solidarischen Menschen. Kuba, so die Vision der beiden Revolutionäre, sollte dabei als Fackelträgerin der übrigen Welt vorangehen. 1. O-Ton Rump Tamara Bunke war eine sehr starke Persönlichkeit, sehr lustig, freundlich, aufgeschlossen; hat durch den ersten Eindruck überzeugt und Leute gewonnen; hatte eindeutig eine eigene Meinung… das heißt, es war ihre Meinung, dass sie für den Sozialismus, für die Freiheit, für die Gerechtigkeit … eingestanden hat und gekämpft hat … ERZÄHLERINProfessor Oliver Rump von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Der Historiker mit dem Fachbereich Museumsmanagement kam auf ganz besondere Weise mit dem Fall Tamara Bunke in Berührung: 2. O-Ton Rump Ich habe ein Kuba-Projekt an der HTW Berlin, das heißt Mugoku, da geht es um die Erhaltung von historischem Kulturgut auf Kuba, besonders Archivgut, und in dem Zusammenhang haben wir einen Logistik-Partner, das ist Cuba Si; eine Arbeitsgruppe bei der Partei Die Linke, und darüber habe ich erfahren, dass der Nachlass von Tamara Bunke in dem Gebäude der Partei „Die Linke“ sich im Keller befindet. ERZÄHLERGroße Weltgeschichte – am Ende verwahrt in einem Berliner Keller. Doch dort sollte der Nachlass der deutsch-argentinischen Revolutionärin nicht bleiben: 3. O-Ton RumpDann wurde ich eben daraufhin sehr neugierig, was da so liegt. Dann habe ich noch erfahren, dass Hans Modrow, der Ehrenvorsitzende der PDS, bei der Buchmesse in Havanna dieses Material, diesen Nachlass von Tamara Bunke, übergeben sollte; und ich als Historiker habe dann gesagt: So schnell kann das eigentlich nicht gehen, wir müssten uns eigentlich das Material noch einmal vornehmen, sichten und aufarbeiten, um daraus vielleicht noch neue Schlüsse zu ziehen. Und dem wurde dann auch stattgegeben und so ist der Nachlass in mein Büro gekommen. ERZÄHLERINGenau genommen war es der Nachlass von Tamaras Mutter, Nadja Bunke; sie war 2003 verstorben und hatte „Cuba Si“ die persönlichen Gegenstände aus dem Besitz ihrer Tochter übergeben. ERZÄHLERWas der deutsche Historiker Oliver Rump auch im Rahmen eines Studenten-Projektes erarbeitete, ist heute in Kuba zu sehen - in der revolutionsgeschichtlich wichtigen Stadt Santa Clara. Dort war für Che Guevara eine Gedenkstätte errichtet worden. Sie wurde später um ein Mausoleum ergänzt – als die zunächst anonym verscharrten Leichen des Revolutionshelden und seiner Mitkämpfer zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod doch noch in Bolivien entdeckt wurden. Hans Modrow, der letzte Ministerpräsident der DDR, war 2014 zur Übergabe von Tamaras Hinterlassenschaften nach Kuba gereist. Ihre Uniform, Notizbücher, Schulhefte, Zeugnisse und weitere Dokumente sind heute in der Gedenkstätte “Comandante Ernesto Che Guevara” ausgestellt. MUSIK TC 04:06 – Die Vorzeige-Genossin ERZÄHLERINDoch noch einmal zurück, in die Zeit, als Tamara Bunke noch nicht wusste, dass sie einmal als „Tania la Guerillera“ weltweit zu einer Ikone der revolutionsbewegten Linken aufsteigen würde. Sie wächst in ihrem Geburtsort Buenos Aires auf. Dorthin waren ihre Eltern, überzeugte Kommunisten, vor den Nationalsozialisten geflohen. 1952 zieht die Familie zurück nach Deutschland, genauer gesagt in die Deutsche Demokratische Republik, und wohnt unter anderem in Eisenhüttenstadt, der ehemaligen DDR-Vorzeigesiedlung Stalinstadt. 5. O-Ton Gerd KoenenUnd da kommen sie ja nun im heikelsten Moment…also 1952, da läuft in der DDR eine ganz finstere Kampagne … genau gegen die West-Emigranten, zu denen sie dazu gehörten …auch noch jüdisch, die Mutter jedenfalls ... also das war ja eine ganz düstere Stalinzeit ... mit Kosmopoliten-Verfolgung … wo dort auch ein Schauprozess für 1953 vorbereitet wird … und darauf reagieren sie - und das tut Tamara aber auch - mit einer Art Überanpassung … also sie sind 150 prozentig … sie stellen sich total zur Verfügung ... ERZÄHLER:Der Marxismus-Kenner und Historiker Dr. Gerd Koenen. In seinem Buch „Traumpfade der Weltrevolution. Das Projekt Guevara“ spürt er auch dem Leben von Tamara Bunke nach, das ab einem bestimmten Zeitpunkt auf tragische Weise mit Guevaras letzter revolutionärer Mission verknüpft war. Musik ERZÄHLERIN:Die junge Tamara - sie ist bei der Rückkehr 14 Jahre alt - wird in ihrer neuen Heimat rasch zur Vorzeige-Genossin. Sie arbeitet aktiv in der Freien Deutschen Jugend FDJ und wird Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, SED. Als Tochter eines Turnlehrers ist sie einerseits eine vielseitige Sportlerin und lernt auch Schießen, andrerseits hat sie auch musische Interessen, spielt Akkordeon und Gitarre und sammelt lateinamerikanische Folkloremusik. Nach dem Abitur immatrikuliert sie sich am Romanistischen Institut der Berliner Humboldt-Universität. TC 06:16 – Eine schicksalhafte Begegnung ERZÄHLER:Tamara ist bereit, mit aller Kraft am Aufbau des ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaats mitzuhelfen. Trotzdem bleibt ein Stück Fremdheit. Sie vermisst im grauen DDR-Alltag die lateinamerikanische Lebensfreude, vieles erscheint ihr steif und verknöchert. Irgendwann wird es der jungen Frau zu eng und zu stickig. Sie will zurück in ihre argentinische Heimat, aber ihr Ausreiseantrag wird zunächst abgelehnt. Doch eine schicksalhafte Begegnung steht ihr bevor: 6. O-Ton Gerd Koenen: …da kommt eben dieser Besuch von Guevara, damals noch als Industrieminister im Jahr 1960 in der DDR, und da ist sie seine Übersetzerin …begibt sich in das Gefolge von ihm …er nahm sie ernst und sagte – als er hörte, wo sie herkam – du kommst aus Argentinien? Willst du dich nicht unserer kontinentalen Revolution anschließen? Das hat sie dann wirklich elektrisiert. ERZÄHLERINJetzt steht für Tamara endgültig fest: Sie wird nicht länger in der DDR bleiben. Doch sie kann nicht einfach das Land verlassen. Trotzdem schafft sie es über eher dubiose Umwege, an Bord eines Flugzeuges nach Havanna zu gelangen – und dort den Platz einzunehmen, der eigentlich für ein Mitglied des kubanischen Nationalballetts bestimmt war, das zu diesem Zeitpunkt in der DDR gastierte. 7.O-Ton Gerd Koenen Ich glaube, da war ein gutes Stück Eigenmächtigkeit bei ihr dabei …. ich habe ja auch mit Mischa Wolf, dem Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes, noch sprechen können …und es war ja Tatsache, dass der DDR-Geheimdienst schon versucht hatte, sie für eine Agentenkarriere in Lateinamerika zu gewinnen, mit falschen Papieren, und sie dann – das war der Plan – sie in die USA einzuschleusen, in die exilkubanischen communities dort…. Musik ERZÄHLERMit ihrer Ausreise schafft Tamara Fakten. Die 23-jährige trifft im Mai 1961 auf der Karibikinsel ein und stürzt sich kopfüber in ihr neues revolutionäres Leben. Erst rund zwei Jahre zuvor hat Fidel Castro die Macht übernommen, vieles ist noch im Auf- und Umbruch. Tamara engagiert sich bei der Zuckerrohrernte, bei der Arbeit in den Parteikomitees, beim Internationalen Studentenbund und als Dolmetscherin. Nächtelang diskutiert sie mit ihren neuen Bekannten: 8. O-Ton KoenenIch hab ja auch eine ihrer kubanischen Freundinnen sprechen können, die sagte, die hat uns überhaupt erst den Marxismus-Leninismus beigebracht, wir hatten doch davon gar keine Ahnung… ERZÄHLERINSchließlich wird sie in die Revolutionäre Miliz Kubas aufgenommen – und trägt von nun an stolz Uniform. Ihren in der DDR zurückgebliebenen Eltern schreibt sie mitten in der Kubakrise 1962 voller Begeisterung, es gebe nichts Schöneres, als sich dort zu befinden, wo der revolutionäre Kampf am härtesten sei. ERZÄHLERTamara nimmt ihr Sprachenstudium wieder auf, macht erste journalistische Erfahrungen und steht überall dort zur Verfügung, wo Organisationstalent und Entschlossenheit gebraucht werden. Diese Qualitäten sind auch beim kubanischen Geheimdienst gefragt: 9. O-Ton Koenen (Che hatte Idee, sie zu rekrutieren) … dann kam sie dort wieder in das Umfeld von Guevara …über Feste der argentinischen Landsmannschaft … er hat wohl auch von sich aus die Idee gehabt, sie zu rekrutieren, denn Che war seinerseits auf dem Absprung.TC 09:47 – Agentenleben ERZÄHLERINDer Argentinier Che Guevara, der Seite an Seite mit Fidel Castro gekämpft hat, nimmt bereits Kurs auf das nächste Etappenziel des Projekts Weltrevolution. Es liegt im Herzen von Afrika, im Kongo. Doch hier wird er scheitern, und dann seinen alten Traum von der Befreiung ganz Lateinamerikas wiederaufleben lassen: 10. O-Ton Gerd KoenenFür Guevara gab es dieses romantische Projekt: Er selbst wird sozusagen das Feuer einer Weltrevolution anstecken und wenn nicht in Afrika, dann eben im Herzen von Lateinamerika. Das war ein Projekt, für das meines Erachtens Tamara Feuer und Flamme war. ERZÄHLERTamara soll helfen, Guevaras nächstes großes revolutionäres Projekt mitvorzubereiten. Als künftige Agentin durchläuft sie zunächst eine umfassende Grundausbildung. Sie übt den Umgang mit Funkgeräten, mit toten Briefkästen, das Abschütteln von Verfolgern. Schnell wird klar, Tamara ist für hohe Aufgaben geeignet. Für allerhöchste sogar. MUSIKAKZENT ERZÄHLERINAusgebildet wird sie von dem afro-kubanischen Geheimdienst-Offizier Ulises Estrada. Er ist der Grund dafür, dass die sonst so disziplinierte junge Frau ausnahmsweise gegen einen Befehl verstößt: Sie und der verheirate Familienvater Estrada werden ein Liebespaar. Doch intime Beziehungen sind im Geheimdienst untersagt. Die Affäre hat Konsequenzen: Estrada muss Tamaras weitere Ausbildung an einen anderen Offizier abgeben. Er darf sie weder zur Schulung nach Prag noch nach Bolivien begleiten, wo Guevara nun die nächste Revolution starten will. Die Trennung ist offenbar für beide hart. ERZÄHLERTamara soll unter falscher Identität in Bolivien ein konspiratives Netzwerk aufbauen. Von Prag aus reist sie in mehrere europäische Städte, um verschiedene Identitäten auszuprobieren. Schließlich wird aus Haydée Tamara Bunke Bider – so ihr vollständiger Name - die deutsch-argentinische Musik-Ethnologin Laura Gutiérrez Bauer. Ihr revolutionärer Deckname ist künftig „Tania“ – sie wählt ihn im Gedenken an eine ermordete sowjetische Partisanin. ERZÄHLERINTamara alias Tania alias Laura macht ihre Sache gut. Nach ihrer Ankunft in Bolivien im November `64 lebt sie sich rasch ein. Sie findet Zugang zur Oberschicht und gibt Deutschunterricht – unter anderem den Kindern des Präsidenten. Ihre Tarnung als Musikethnologin verschafft ihr die Möglichkeit, unauffällig durch Bolivien zu reisen und das Land zu erkunden. Um ihre Einbürgerung zu erleichtern, heiratet sie einen bolivianischen Studenten, dem sie kurz darauf ein Stipendium in Bulgarien besorgt, um sich später wieder von ihm scheiden zu lassen.TC 12:43 – Alleinsein, Angst und Auflösung ERZÄHLERSo routiniert und versiert ihr Agentenleben im Nachhinein auch wirkt – die beiden Jahre undercover in Bolivien sind gleichzeitig auch Jahre der Einsamkeit und der ständigen Angst vor Entdeckung. Fast ein Jahr lang hat sie keinen Kontakt zu Kuba. Endlich, im Jahr 1966, ist die Zeit der Isolation vorbei. Che Guevara gibt grünes Licht – und Tania beginnt mit der unmittelbaren Vorbereitung des Guerilla-Kampfes. Sie mietet Häuser als Lagerräume und Übernachtungsmöglichkeit an, kauft Waffen und Proviant ein und empfängt die ersten freiwilligen Kämpfer. ERZÄHLERINIm November trifft dann auch Che Guevara ein, der mit Hilfe kubanischer Geheimdienst-Experten sein äußeres Erscheinungsbild völlig verändert hat. Doch Bolivien ist nicht Kuba. Es gibt keine Landbevölkerung, die nur darauf gewartet hat, von dem berühmten Revolutionshelden befreit zu werden. Und: Der moskaukritische Guevara hat auch nicht die Unterstützung der linientreuen bolivianischen Kommunisten: 12 O-Ton Gerd Koenen: Das hat ja mit zum Scheitern der Guevara-Operation beigetragen, dass auch die eingesessene bolivianische KP mit absolutem Misstrauen betrachtet hat, was dort der Che für Leute zusammenholt, sie wussten ja gar nichts darüber. ERZÄHLERINTania bringt auch Besucher ins Dschungel-Lager; sie sollen für Guevara in Europa Solidaritäts-Kampagnen organisieren. Einer von ihnen ist der kommunistische Philosophie-Student Régis Debray. Als er mit Tania und einem weiteren Gast im Lager ankommt, ist Guevara unterwegs zu einer mehrwöchigen Erkundungstour. Tania beschließt, zu bleiben und auf seine Rückkehr zu warten - eine Entscheidung, die Guevara später scharf kritisiert. Denn nun sind die Rebellen ohne jeden Kontakt nach außen. MUSIK ERZÄHLERInzwischen gibt es Auflösungs-Tendenzen: Deserteure setzen sich ab und verraten dem bolivianischen Militär wichtige Details. Immer enger wird die schrumpfende Truppe eingekreist. Was der Commandante erst jetzt erfährt: Tania hat vor der letzten Fahrt ins Rebellen-Camp in der Kleinstadt Camiri ihren Jeep zurückgelassen – und in ihm wichtige Unterlagen und Adressen. Als das bolivianische Militär das Fahrzeug entdeckt, dauert es nicht lange, und Tania ist enttarnt. In seinem berühmten „Bolivianischen Tagebuch“ hält Che resigniert fest: Zwei Jahre Vorbereitungsarbeit waren nun letztlich umsonst. ERZÄHLERIN:Doch wie ist es zu erklären, dass Tania offenbar alle Sicherheitsvorschriften missachtet hat? Ist es wirklich vorstellbar, dass eine Top-Agentin in ihrem Auto überlebenswichtige Informationen einfach vergisst? Wild wuchernde Spekulationen ranken sich um diese Frage. Sie sei in Wirklichkeit eine Mehrfachagentin gewesen, lautet eine davon, und der sowjetische KGB habe sie gezwungen, Che‘s Projekt scheitern zu lassen; sie sei todkrank gewesen, so eine weitere These, und habe deshalb bewusst oder unbewusst ihren Tod herbeigesehnt. Der Historiker Gerd Koenen glaubt an eine andere Version: 14 O-Ton Koenen Sie hielt die ganze Rolle in La Paz, wo sie immer in der Maske eines Society girls auftreten musste, das hielt sie meines Erachtens nicht aus. Sie hat im Grund diese Doppelrolle, in die sie da gedrängt werden sollte, nicht ertragen und insofern glaube ich, dass das eine befehlswidrige, spontane Tat war, dass sie da runtergefahren ist und versucht hat, selber zur Guerilla hinzukommen. … ERZÄHLERTrotzdem halten sich – befeuert durch Filme und Bücher – bis heute hartnäckig Gerüchte, Tania und Che seien auch privat ein Paar gewesen. Gestreut wurden sie vermutlich auch von der CIA. Für Gerd Koenen eine abwegige Spekulation: 15 O-Ton Koenen Nein, im Gegenteil…. Che lebte sowieso in der schweißigen Welt seiner Männer… er hatte dann noch in Kuba seine Kinder und seine Frau …aber das war nur so ein Außenpunkt …er war absolut jemand, der im Feldlager unter Männern lebte, und da störte sie doch einfach …sie brachte die innere Stabilität der Truppe durcheinander. 16 O-Ton Koenen … aber das ist dann eben die melancholische Seite der Sache, dass sie da gar nicht reinpasste. ERZÄHLERIN:Seit der Entdeckung von Tanias Jeep gibt es für sie kein Zurück: sie muss mit der Truppe weiterziehen. Die tagelangen Märsche erschöpfen sie, ihre Ausrüstung ist unzulänglich, in den zu großen Stiefeln läuft sie sich die Füße blutig: 17 O-Ton Koenen…sie wollte selber dabei sein und konnte dann auch nicht mehr raus. Und Che hat sie dann auch … indem er sie zur Nachhut, zur Gruppe der Unzuverlässigen einteilte, und weil sie ja auch schon sehr schnell bei diesen Gewaltmärschen nicht mithalten konnte …. er hat sie im Grunde degradiert … das muss man sehen…. ERZÄHLER:Vermutlich wissen sowohl Che als auch Tania, dass das Unternehmen gescheitert ist: 18 O-Ton KoenenUnd insofern gleicht das Ganze einem Todesmarsch in das sichere Verderben, und das macht für mich auch das Pathos dieser ganzen Geschichte aus, warum es so ein lateinamerikanisches Epos ist. Es gibt so eine Art der heroischen Vergeblichkeit, man schaut dem Tod ins Auge und setzt irgendwie darauf, dass man Anschluss findet, an irgendwelche anderen Kräfte, aber die gab es da ja gar nicht. MUSIKTC 18:38 – Der Anfang vom Ende ERZÄHLERIN:Das Ende kommt in Etappen: Ein Bauer verrät die Nachhut an das bolivianische Militär. Am 31. August 1967 ist es soweit: Als die Rebellen den Rio Grande durchwaten, werden sie von Kugeln durchsiebt. Einige der Guerilleros sind sofort tot, andere verwundet. Auch Tania wird tödlich getroffen; ihr Körper wird vom Fluss davongetrieben und Tage später gefunden. ERZÄHLEREs gibt Berichte, wonach sich in ihrem Rucksack auch ein wasserdicht verpackter Brief an ihre Eltern befunden hat, in dem Tania Gefühle der Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit schildern soll. Ob das Schreiben tatsächlich existiert hat, bleibt offen. ERZÄHLERINTamara Bunke wusste womöglich am Ende nicht mehr, wofür sie eigentlich kämpfte: 20 O-Ton KoenenSie verlor sich selbst. ERZÄHLERChe Guevara stirbt wenige Wochen später. Auch seine Einheit muss sich Anfang Oktober dem bolivianischen Militär ergeben. Der einstige Revolutionsheld wird wenige Stunden später exekutiert. Warum hatte Kubas Staatschef Castro nicht wenigstens versucht, seinen ehemaligen Waffenbruder in Sicherheit zu bringen? 21 O-Ton KoenenIch glaube, er wollte nicht wieder raus. Guevara war der Typ, der sein Leben auf eine Karte setzte. Das Ganze hatte auch ein poetisches Flair. Guevara lebte im Grund auch in einer Welt der Literatur. Als Don Quichote der Weltrevolution hat er sich ja selbst stilisiert und er wollte dort zeigen, dass es geht. ERZÄHLERIN:In der DDR wird die Nachricht von Tanias Tod erst einmal verschwiegen. Doch ihre Mutter Nadja Bunke kämpft unermüdlich für das Gedenken an ihre Tochter. Sie erreicht, dass eine Todesanzeige erscheint und eine Trauerfeier stattfindet. Und sie schreibt ein Buch - zusammen mit Tanias ehemaligem Freund, Ulises Estrada.Irgendwann muss Ostberlin nachgeben und die Tote zumindest posthum zur Heldin aufwerten, wenn auch zu einer ungeliebten und schwierigen. ERZÄHLERGanz anders auf Kuba. Je länger Che tot ist, desto mehr wird er glorifiziert, und mit ihm auch Tania. 22 O-Ton KoenenEs war Castro dann, der dieses Erbe aufgenommen hat, und 1968 verkündete, nach Ches Tod, zu den jungen Menschen auf Kuba: Wenn ihr wissen wollt, wie der neue Mensch aussieht, dann schaut auf Guevara, und in dieses Gruppenbild der Guerilleros, das dann heroisch aufgemacht wurde, da passte sie dann natürlich ganz perfekt hinein, ein weibliches Gesicht, Tania la Guerillera, die sozusagen zur Rechten des Che in Santa Clara im Mausoleum liegt … also Gruppenbild mit Dame. MUSIK hoch und darunter ERZÄHLERIN:Die Geschichte der Dame ist aber in Wirklichkeit wohl eher die tragische Geschichte einer jungen Frau… 23 Koenen …. die aus dieser Enge der DDR rauswollte, und die zurück zu ihren lateinamerikanischen Wurzeln wollte, die ganz von dieser Romantik dieser kubanischen Revolution und der weltrevolutionären Mission, die man da nochmal hatte, angesprochen war und dann aber eben in diesem ganzen Projekt, diesem Guevara-Projekt, eben nur eine ziemlich dienende Rolle und letztlich für sie selbst bittere Rolle gespielt hat. (Stimme oben) ERZÄHLERIN:Die Rolle einer Guerillera, die einen hohen Preis für ihren Traum von Freiheit und von einer gerechten Welt bezahlte.TC 22:21 – Outro    
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Mar 8, 2024 • 23min

LEBEN IN GEFAHR ? Ada Blackjack, Überleben im Eis

Weil sie das Geld für ihren kranken Sohn benötigt, lässt sich die indigene Näherin Ada Blackjack auf eine halsbrecherische Arktis-Expedition ein. Mit vier jungen und unerfahrenen Männern bricht sie im Jahr 1921 in Nome, Alaska, auf. Zunächst verläuft alles nach Plan, doch dann bleibt das lang ersehnte Rettungs-Schiff im Eis stecken, die Nahrung wird knapp und die gefürchtete Seefahrer-Krankheit Skorbut bricht aus. Am 8.3. ist Internationaler #frauentag 2024. Credits Autorin: Karin Becker Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Christian Jungwirth, Rahel Comtesse, Christian Schuler, Karin Schumacher Technik: Christiane Gerheuser-Kamp Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Diane Glancy Linktipps: Deutschlandfunk (2022): Schulen, die zur Hölle wurden Tausende indigene Kinder wurden zwischen 1870 und 1996 in Kanada von ihren Familien getrennt und in Internaten untergebracht. Oft wurden sie dort sexuell missbraucht, viele starben. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der kanadischen Geschichte hat erst begonnen – und wird die Gesellschaft noch lange beschäftigen. JETZT ANHÖREN rbb (2024): Expedition Arktis – Ein Jahr. Ein Schiff. Im Eis. Es ist die größte Arktis-Expedition aller Zeiten: Im September 2019 macht sich der deutsche Eisbrecher "Polarstern" auf den Weg zum Nordpol. An Bord: die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer Generation. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2013): Vom Leben mit abschmelzenden Eisbergen Welche Auswirkungen der Klimawandel auf das Leben der Inuit hat, will der Buchautor und TV-Journalist Klaus Scherer deutlich machen. Von den Bewohnern der Arktis ließ er sich erzählen, wie sie mit der Klimaerwärmung leben. Viele müssen alte Gewohnheiten aufgeben. Zum Interview geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:30 – Eine fragliche ExpeditionTC 04:14 – Erste ZweifelTC 07:35 – Keine Rettung in SichtTC 13:11 – Alles für mein KindTC 16:13 – Eine glückliche WendungTC 19:57 – Zurück in die bittere ArmutTC 22:48 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro SPRECHERDie Insel ‚Wrangel Island‘ in der Arktis, 140 Kilometer bis zur sibirischen Küste. Ein Ort - umgeben von Nebel und gefrorenem Meer, bedeckt mit Eis. Eine Tierfalle im Schnee, darin: ein magerer Fuchs in seinen letzten Atemzügen. Ein paar hundert Meter weiter: Zelte. In einem davon liegt die gefrorene Leiche eines weißen Mannes – in einem anderen sitzt eine 25 Jahre alte Iñupiaq, eine Ureinwohnerin Alaskas, und schreibt auf einer Schreibmaschine. ZITATOR ADA“I finished my knitted gloves today and I open last biscuit box. The ice is over little below horizon. I thank the lord Jesus and his father.” OVERVOICE ADA“Ich habe heute meine Handschuhe fertiggestrickt und die letzte Plätzchendose aufgemacht. Das Eis reicht bis kurz unter den Horizont. Ich danke dem Herrn Jesus und seinem Vater.“ SPRECHERAda Blackjack heißt die schmale Person, die da im August 1923 auf ein Rettungsschiff wartet. Die dicken Schollen um die Insel müssen schmelzen, nur dann hat ein Schiff die Chance durchzukommen. Eine waghalsige Expedition hat sie an diesen Ort gebracht. Vier Männer sind bereits tot – Ada Blackjack ist die einzige Überlebende. MUSIK TC 01:30 – Eine fragliche Expedition SPRECHERGut zwei Jahre zuvor: Vilhjálmur Stefánsson, ein draufgängerischer Polarforscher und Ernährungswissenschaftler, geboren in Kanada, sucht sich die Mannschaft für eine Expedition auf Wrangel Island zusammen. Offizielles Ziel ist es, die Insel mindestens ein Jahr zu bewohnen und sie damit zu kanadischem Staatsgebiet erklären zu können. Stefánsson ist charismatisch und ehrgeizig, er will mit der Expedition auch seinen Ruhm weiter ausbauen. Der Entdecker pflegt die Theorie der ‚freundlichen Arktis‘, die alles zum Leben bietet, wenn man es nur richtig anstellt. Lockend mit Abenteuer und dem Versprechen, es gäbe auf der Insel reichlich jagbares Wildfleisch, hat er bald eine junge und reichlich unerfahrene Crew zusammengestellt. Er selbst bleibt zu Hause. Allan R. Crawford wird zum Leiter erkoren. Der Kanadier ist zwanzig Jahre alt, Geologiestudent und hat keinerlei Vorerfahrung mit Expeditionen. Mit ihm kommen drei Amerikaner: Errol Lorne Knight und Frederick W. Maurer, beide 28, und Milton Galle, der 20 Jahre alte Sekretär von Stefánsson. OTON 1“These four explorers needed somebody to cook and so for them. And Ada was a seamstress. She knew how to sew, to repair Mukluks, that the men wore, those heavy boots, and (…) she could speak English and she was available.” OVERVOICE OTON 1“Diese vier Entdecker brauchten jemanden zum Kochen. Und Ada war eine Näherin. Sie konnte nähen und Mukluks reparieren, die die Männer trugen, diese schweren Stiefel. Und sie konnte Englisch und stand zur Verfügung.“ SPRECHERDiane Glancy, Literatin und Sachbuchautorin, hat sich für ein Buchprojekt lange mit der fast vergessenen Geschichte der Ada Blackjack auseinandergesetzt. Geboren wird sie 1898 an der Westküste Alaskas, in einer abgelegenen Siedlung nahe der Goldgräberstadt Nome. Sie ist Tochter einer indigenen Familie von Iñupiat, Ureinwohnern Alaskas. Ihr Vater stirbt früh. Aus Geldnot wächst Ada in einer von Methodisten betriebenen Missionsschule auf. Dort lernt sie Englisch, lernt schreiben und nähen – alles Dinge, die sie als 23-Jährige für die Expedition interessant machen. Ada Blackjack hat freilich eigene Gründe, die Expedition zuzusagen. OTON 2“It was poverty and need and maybe a little longing for escape. Because she lived in poverty in Nome, Alaska, probably sleeping sometimes on the street. She had a husband who deserted her. She had two sons who died and another one lived, but she put him in a mission school (…). It was expedient for her to have money (…).” OVERVOICE OTON 2„Armut spielte eine große Rolle und vielleicht auch ein wenig die Sehnsucht, zu entkommen. Denn sie lebte in bitterer Not in Nome, Alaska, vermutlich übernachtete sie manchmal auf der Straße. Sie hatte einen Ehemann, der sie verließ. Sie hatte zwei Söhne, die starben. Ein weiterer lebte, doch sie musste ihn in eine Missionsschule geben. Geld war für sie wichtig.“  MUSIK TC 04:14 – Erste Zweifel SPRECHERFür Ada Blackjack eröffnet das Expeditions-Honorar von 50 Dollar pro Monat die Chance, ihren Sohn Bennett nach ihrer Heimkehr zu sich zurückzuholen. Aus Geldnot ist er in einem Heim untergebracht. Außerdem hofft sie, mit dem Honorar seine schwere Tuberkulose behandeln lassen zu können. Und so besteigt sie am 9. September 1921 die ‚Silver Wave‘: das Schiff, das die fünf Leute der Expedition nach Wrangel Island bringt. Weitere Iñupiat, die ihr als Teilnehmer angekündigt waren, springen im letzten Moment ab. Vermutlich ist den Native Americans, erfahren was das Überleben im Eis betrifft, die schlechte Vorbereitung der Expedition nicht entgangen. Ada Blackjack, selbst nicht bei ihrem eigenen Volk aufgewachsen, ist also mit den vier jungen Männern alleine. Die Crew hat Verpflegung für ein halbes Jahr dabei – dazukommen soll das Fleisch selbst erlegter Tiere. Ein Schiff, das für das Jahr darauf angekündigt ist, soll sie entweder mit Nachschub versorgen oder aber evakuieren. Kaum am Zielort angelangt, hisst der Expeditionsleiter Allan Crawford den Union Jack und beansprucht die Insel für Kanada. Die Katze der Expedition, Victoria, und die vier Männer beginnen, die Insel in Besitz zu nehmen und ihr Lager aufzuschlagen. Ada hingegen erfasst bei Ankunft ein klammes Gefühl, das sie rückblickend in ihrem Tagebuch beschreibt: ZITATOR ADA„When we got to Wrangel Island, the main land looked very large to me, but they said that it was only a small Island. I thought at first that I would turn back, I decided it wouldn’t be fair to the boys so I felt I had to stay.” OVERVOICE ADA“Als wir auf Wrangel Island ankamen, sah das Festland für mich sehr groß aus, aber sie sagten es sei nur eine kleine Insel. Ich dachte zuerst, ich würde wieder umdrehen. Ich beschloss, dass das den Jungs gegenüber nicht fair wäre, daher hatte ich das Gefühl, dass ich bleiben musste.“ SPRECHERDie ‚Silver Wave‘ legt also ohne Ada Blackjack ab und verschwindet am Horizont. In den bald etablierten Inselalltag und ihre Rolle darin findet die junge Frau nur schwer, aus verschiedenen Gründen: OTON 3“There's something called Arctic hysteria that some explorers face. When you’re out there in the great nothingness your whole being can sort of collapse on you and you don't know where you are and you are senseless sometimes and she pouted. (…) And sometimes she wouldn't work. She wouldn't sew or wouldn't cook and Lorne Knight told her once (…) if she didn't work, she would not eat. So there was a lot of animosity between them. (…) and they exiled her to her own little tent. (…) and when she was lazy, they said: no wonder your children died. and they would say very hateful things (…). And that didn’t help her attitude, her mind. (…) Another thing is that in native community women are your company and she had no women around her. (…) I think she was trying to treat the men like a community of women. (…) She finally came around and did the work. But she was very temperamental in the beginning and I think they expected her to be like one of the men. And of course she was not, being native and a woman … and young and not used to all of this. And they had camraderie and she was left out of it.” OVERVOICE OTON 3“Es gibt ein Phänomen unter Entdeckern, das sich „Arktische Hysterie“ nennt. Wenn Du da draußen im großen Nichts bist, kann dir dein ganzes Sein in sich zusammenfallen und du weißt nicht mehr, wo du bist und du wirst unvernünftig. Ada schmollte. Und manchmal verweigerte sie die Arbeit. Sie nähte nicht, kochte nicht, und Lorne Knight drohte ihr einmal, dass wenn sie nicht arbeitete, sie auch nichts zu essen bekäme. Zudem leben indigene Frauen eng mit anderen Frauen zusammen, aber es gab keine andere Frau. Ich denke, dass sie versuchte, die Männer wie ihre Gemeinschaft von Frauen zu behandeln. Irgendwann kriegte sie die Kurve und machte ihre Arbeit. Aber sie war anfangs sehr launisch und ich glaube, die Männer hatten erwartet, dass sie sich wie einer von ihnen verhielt. Natürlich tat sie das nicht, als Indigene und als Frau… sie war jung und die Situation für sie völlig neu. Und die Männer hatten Kameradschaft und sie war außen vor.“TC 07:35 – Keine Rettung in Sicht MUSIK SPRECHERDie Männer verbringen ihre Tage mit Jagen, Holzsammeln, Reparaturen. Außerdem haben sie eine Fotokamera dabei und schreiben Tagebuch – Milton Galle hat sich hierfür sogar eine Schreibmaschine mitgebracht. Ada hat mit all dem zunächst nichts zu tun, sie kocht und näht. Anfangs erlegen die Männer und ihre Jagdhunde ausreichend Fleisch für alle – die ‚Friendly Arctic‘ scheint auf Wrangel Island ihr Gesicht zu zeigen. Die ersten zwölf Monate vergehen ohne größere Ereignisse, so wirkt es jedenfalls im erhaltenen Teil der Expeditionstagebücher. Dann erwarten die fünf das Schiff mit Nachschub. Doch das Jahr 1922 bringt Wrangel Island einen kalten Sommer, die Insel bleibt von dicken Eisschollen umgeben. Der von Steffánson losgeschickte Schoner namens „Teddy Bear“ bleibt im Eis stecken und muss unverrichteter Dinge umkehren. Vergeblich warten die fünf auf der Insel, während es wieder Winter wird. ZITATOR ADA“Around about November they knew the boat wouldn’t come. About the middle of November we moved up to the west of our present camp, about four miles I think, so they wouldn’t have to haul the wood so far. After we arrived in our new camp I started to sewing skins for the two boys, Knight and Crawford, who were going to take a trip to Siberia.” OVERVOICE ADA“Ungefähr im November wussten sie, dass das Boot nicht kommen würde. Irgendwann Mitte November verlegten wir unser Lager weiter Richtung Westen, um circa vier Meilen denke ich, so dass sie das Holz nicht so weit schleppen mussten. Nachdem wir in unserem neuen Lager angekommen waren, begann ich mit Fellen zu nähen, weil die zwei Jungs, Knight und Crawford, vorhatten, nach Sibirien zu gehen.“ SPRECHERDie beiden Männer wollen sich übers Eis bis nach Sibirien durchschlagen und dort per Telegramm Kontakt mit Stefánsson aufnehmen. Vorher feiern die fünf Festsitzenden auf Wrangel Island noch ein wenig ausgelassenes Weihnachtsfest. ZITATOR ADA“At Christmas time we had some Salt seal meat and some hard bread and tea for our Christmas dinner. That time when we had dinner I wondered where I would be if I lived until Next Christmas.” OVERVOICE ADA“An Weihnachten hatten wir gesalzenes Seehundfleisch und etwas hartes Brot und Tee als Weihnachtsessen. Als wir beim Abendessen saßen fragte ich mich, wo ich sein würde, wenn ich das nächste Weihnachten erleben würde.“ SPRECHERDie beiden Männer müssen ihre Reise durchs Eis bald abbrechen: Lorne Knight ist den massiven Anstrengungen körperlich nicht mehr gewachsen. Er zeigt Anzeichen von Skorbut, wirkt zusehends angeschlagen. Die Vorräte im Camp werden knapper und knapper – und die jagbaren Tiere auf der Insel rarer. Und so entschließen sich die drei gesunden Männer der Expedition, Wrangel Island gemeinsam zu verlassen und Hilfe zu holen. Zurück bleiben der kranke Lorne Knight, der bald nur noch liegen kann, und Ada Blackjack. Die junge Iñupiaq ist mit der neuen Situation schlicht überfordert. Nicht nur muss sie sich nun um einen Kranken kümmern und weiter kochen und nähen. Sie ist jetzt auch für den überlebenswichtigen Fleischnachschub verantwortlich.  OTON 4“When it came time that she had to hunt, the men were looking at her because she was a native woman. She should have known how to hunt. But she said: I was raised in a mission school. I had to depart from my Inuit ways, I didn't know how to hunt. I didn't know how to trap.” OVERVOICE OTON 4„Als es soweit war, dass sie jagen sollte, sahen die Männer sie an: sie war indigen, sie erwarteten also, dass sie jagen konnte. Aber sie sagte: Ich bin in einer Missionsschule erzogen worden. Ich musste meine Inuit Kultur verlassen. Ich weiß nicht, wie man jagt. Ich weiß nicht, wie man Fallen aufstellt.“ SPRECHERDie Männer lassen sie Ende Januar 1923 dennoch zurück und Ada Blackjack, die eine Riesenangst vor Polarbären hat, muss mitten im Eis so schnell wie möglich den Umgang mit Waffen und das Stellen von Tierfallen lernen. Ergiebige Beute wie Bären oder Walrosse macht sie nicht. Zum Überleben bleiben für sie und ihren Patienten vornehmlich ab und an getroffene Enten, Fischöl und das - gerade für einen Kranken - schwer verdauliche Fleisch von Füchsen. In ihrem Tagebuch berichtet Ada Blackjack von ihren ersten Versuchen, einen Fuchs zu fangen. Sie versteckt eine Falle im Schnee - und wartet dann tagelang vergeblich auf Beute, während ihr Patient zusehends hungriger und schwächer wird. ZITATOR ADA“I guess I covered them to much and that is the reason why I didn’t get any fox, then I baited it again end just left it on top of the snow didn’t cover it up at all. The next morning I got up and looked out and I saw a fox (….). That was the first one I had caught , and that was on the 22nd of February, 1923. (…) (( In killing them I would take a stick and hit them on the head until I stunned them then I would bend their heads back until I brocke there heck. Then I would take them home and skin them.)) Later in the spring, around April the fox got very scarce, and I couldn’t trap and more at all. After I couldn’t get any more fox, Knight became worse he got very faint every time he moved.” OVERVOICE ADA“Ich glaube, ich habe sie zu stark abgedeckt und das ist der Grund warum ich keine Füchse gefangen habe, dann habe ich nochmal einen Köder hineingelegt und ließ die Falle oben auf dem Schnee, ohne sie überhaupt abzudecken. Am nächsten Morgen stand ich auf und sah hinaus und ich sah einen Fuchs. Das war der erste, den ich gefangen habe, und das war am 22. Februar 1923. Später im Frühjahr, ungefähr im April, wurden die Füchse knapp, und ich konnte keine mehr fangen. Als ich keine mehr fangen konnte, ging es Knight schlechter, jede kleinste Bewegung schwächte ihn.“ MUSIK SPRECHERIm späten Frühjahr 1923 gibt es auf der Insel kaum mehr jagbare Tiere. Der kranke Lorne Knight kommt mit seiner wachsenden Todesangst und seiner Abhängigkeit von der jungen Frau schlecht zurecht. Immer wieder, so beschreibt Ada Blackjack es in ihrem Tagebuch, beschimpft er sie wüst und macht ihr ungerechte Vorwürfe. SPRECHERAuch Ada Blackjack selbst beginnt die Folgen der Mangelernährung zu spüren. Am 2. April 1923 schreibt sie: ZITATOR ADA“(…) Knight wants me to go out to the traps but my eye is very ach so I cannot go out when my eye is that way because in evening I could barly stand the ache of my eye and one side of head. If anything happens to me and my death is known (…) I wish if you please take everything to Bennett that is belong to me. I don’t know how mach I would be glad to get home to folks.” OVERVOICE ADA“Knight will, dass ich zu den Fallen gehe, aber mein Auge tut sehr weh. Ich kann nicht rausgehen, wenn mein Auge so ist, am Abend konnte ich kaum mehr stehen, weil mein Auge und eine Seite von meinem Kopf so wehgetan haben. Wenn mir etwas zustößt und mein Tod bekannt wird, dann wünsche ich, dass bitte alles, was mir gehört, zu Bennett gebracht wird. Ich wäre so sehr froh, wenn ich zu meinen Leuten nach Hause kommen könnte.“TC 13:11 – Alles für mein Kind SPRECHERDass wir ihre damaligen Gedanken in dieser verzweifelten Lage heute erfahren und Ada Blackjacks einzigartige Geschichte dadurch ein Stück weit nacherleben können, ist ihrem Tagebuch zu verdanken. Mit dem Schreiben beginnt sie erst, nachdem die drei Männer das Camp verlassen haben – und die Schreibmaschine von Milton Galle, die sie schon länger fasziniert zu haben scheint, unbenutzt herumsteht. Was bringt sie dazu, ein Tagebuch zu führen? OTON 5“After those three men left I just think she wanted the presence of herself. (…) And she had a typewriter before her and she had tried to peck on it once. And (…) he wouldn't let her use it. So once he was gone to Siberia, she went to that typewriter and started pecking, to see how these different letters could make the words that she wanted to make. (…) So that was very difficult when you've never typed on a typewriter before and you have this language that is not really yours - English language - and you have to put it on paper.” OVERVOICE OTON 5“Nachdem die drei Männer fort waren, denke ich, wollte sie ihre eigene Gegenwart spüren. Und sie hatte da eine Schreibmaschine vor sich stehen. Sie hatte darauf schon einmal versucht, einen Buchstaben zu tippen und er hatte sie nicht gelassen. Also ging sie jetzt, als er auf dem Weg nach Sibirien war, hin und begann zu tippen, um zu sehen, wie diese verschiedenen Buchstaben zu den Worten wurden, die sie schreiben wollte. Das ist sehr schwierig, wenn Du zuvor noch nie auf einer Schreibmaschine geschrieben hast und dann noch in einer Sprache, die nicht wirklich deine ist – englisch – schreibst.“ SPRECHERAda Blackjacks Tagebücher sind teils schwer zu lesen, wegen vieler Tipp- und Schreibfehler – englisch war schließlich nicht ihre Muttersprache, sondern Iñupiaq. Großteils beschreibt sie in knappen, fast teilnahmslos wirkenden Sätzen die erledigten Tätigkeiten und Vorfälle des Tages. Was sie gegessen, genäht, gejagt hat. Wie es dem kranken Lorne Knight ergeht. Ihre fatalistische Sachlichkeit ist für sie wohl auch eine Überlebensstrategie. Das Tagebuch gibt noch weitere Hinweise, wie sie die Einsamkeit und das Ausgeliefertsein im Eis überstehen konnte. Je bedrohlicher die Situation für sie, desto häufiger erwähnt sie ihren Sohn Bennett. Ihn will sie retten, für ihn lohnt es sich, durchzuhalten. Zudem drückt sie im Tagebuch gerade in besonders aussichtslosen Situationen ihren Glauben an Gott aus. Die rückblickend hoch problematische Christianisierung indigener Kinder in den Missionsschulen Nordamerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist auch Ada Blackjack widerfahren. Auf Wrangel Island bietet ihr ihr Glauben an Gott jedoch Rückhalt – so sieht es Diane Glancy, die selbst indigene Cherokee-Wurzeln und über Blackjacks Überleben viel nachgedacht hat. OTON 6“I think her faith helped her quite a bit (…) and she was native (…). There's something.. survival through hardship is sort of built in to the native, I think, and especially in the north, where the conditions are so harsh, there is a built in survival mode, or a will to survive through hardship. That maybe the men who had had more comfort in their lives, could not tolerate the suffering of the end (…) It was just the strength of Ada. (…) She was a survivor.” OVERVOICE OTON 6“Ich denke, dass ihr Glauben ihr ziemlich viel geholfen hat…. und sie war indigen. Da gibt es sowas…. Extreme Lagen überstehen zu können ist den Ureinwohnern besonders zueigen, gerade im Norden, wo die Bedingungen so hart sind. Es ist wie ein Überlebensmodus, oder ein Wille, große Bedrängnis zu überstehen. Ich denke, vielleicht konnten die Männer, die mehr Komfort in ihrem Leben gewohnt waren, das Leiden am Ende nicht ertragen. Es lag einfach an Adas Stärke. Sie war eine Überlebenskünsterlin.“TC 16:13 – Eine glückliche Wendung MUSIK SPRECHERDie drei Männer, die sich nach Sibirien hatten retten wollen, bleiben auf immer spurlos im Eis verschwunden. Wir wissen nicht, wie weit sie gekommen und woran sie gestorben sind. Es gibt bis heute keinen eindeutigen Hinweis zu ihrem Verbleib. Der skorbutkranke Lorne Knight verbringt über vier Monate, ohne sich auch nur aus seinem Schlafsack bewegen zu können. Zuletzt verliert er seine Zähne und die Fähigkeit zu schlucken. Er stirbt, nur noch Haut und Knochen, am 22. Juni 1923. Auch Ada Blackjack ist zu diesem Zeitpunkt stark geschwächt. Sie vermag es nicht, den bald gefrorenen Leichnam zu bewegen. Die sterblichen Überreste des Lorne Knigth bleiben im Schlafsack liegen, sie selbst zieht in ein anderes Zelt um. Jetzt ist sie ganz alleine. SPRECHERDrei Tage später erlegt sie mit glücklicher Hand einen Seehund – es ist das erste frische Fleisch, das sie in Wochen zu essen bekommt. Es rettet ihr vermutlich das Leben. Langsam bricht der Sommer an, jetzt steigt auch die Zahl der jagbaren Tiere auf der Insel, Ada Blackjack kommt wieder zu Kräften. Mit großer Geschicklichkeit findet sie sich im einsamen Alltag zurecht, baut sich etwa eine Plattform, von der aus sie die gefürchteten Polarbären früh erkennen kann. Und auch nach einem Rettungsschiff späht sie von dort aus. Denn der Sommer ist die Zeit, in der ein Schiff kommen kann – wenn es denn kommt. Genau beobachtet Ada Blackjack den Stand der Eisschollen um die Insel und notiert ihn mehrmals in ihr Tagebuch. Im August 1923 lebt sie beinahe schon zwei Monate lang völlig alleine auf der Insel, da fällt ihr etwas auf, was sie zuerst gar nicht ernst nehmen kann: ZITATOR ADA„I heard a funny noise like a boat whistle but thought it was a duck or something. It was foggy and I couldn’t see so I didn’t think any more about it until the next morning. I took my book after supper, (…) then I went to sleep. The next morning about six o’clock I heard that same noise again and it sounded more like a boat whistle this time so I grabbed my field glasses and went out on top of my raft, and sure enough there was a boat (…).” OVERVOICE ADA“Ich hörte ein seltsames Geräusch, wie das Signal von einem Schiff, aber ich dachte, es sei eine Ente oder sonstwas. Es war neblig und ich konnte nichts sehen, daher dachte ich nicht mehr daran. Am nächsten Morgen um circa sechs Uhr hörte ich das gleiche Geräusch wieder und jetzt klang es mehr nach einem Schiffssignal, also griff ich zu meinem Feldstecher und stieg auf mein Floß und tatsächlich, da war ein Schiff.“ MUSIK SPRECHERAm 20. August 1923, nach zwei Jahren in menschenfeindlicher, eisiger Ödnis wird Ada Blackjack gerettet. Sie hat den Kampf ums Überleben gewonnen. Die kleine Frau umarmt ihre Retter, die nach eigener Aussage überrascht darüber sind, in welch gutem Zustand sie Ada Blackjack antreffen. An Bord des Schiffes nimmt sie das erste Bad seit langer Zeit. Mit ihr zurück nach Nome in Alaska reisen Fotos der Expedition, die noch vorhandenen Tagebücher, einige Fuchsfelle und die offensichtlich außergewöhnlich zähe Expeditionskatze Victoria. Zu Hause angekommen, veröffentlicht der Kapitän des Rettungsschiffes, Harold Noice, einen Zeitungsartikel über Ada Blackjack, der einer Lobeshymne gleichkommt.  Als „weiblicher Robinson Crusoe“ wird die Iñupiaq von der Öffentlichkeit bald gefeiert. Sie selbst schweigt dazu, der Rummel liegt ihr nicht. Mit ihrem Expeditions-Honorar jedoch kann sie ihren Sohn, wie geplant, zu sich holen und seine Krankheit behandeln lassen. Es mag wie ein ‚Happy End‘ klingen, doch die Geschichte der Ada Blackjack muss ganz erzählt werden. Denn nach dem Ruhm folgen in Zeitungen Anklage und Verachtung. TC 19:57 – Zurück in die bittere Armut ZITATOR SCHLAGZEILE 1“Spurned Eskimo Woman Is Blamed For Arctic Death” OVERVOICE SCHLAGZEILE 1„Zurückgewiesene Eskimo Frau wird für Tod in der Arktis schuldig erklärt“ ZITATOR SCHLAGZEILE 2 (andere Stimme)„Though Man’s Body Was Wasted by Starvation, Ada Blackjack Was Healthy” OVERVOICE SCHLAGZEILE 2 (andere Stimme)“Während Männerleiche von Hunger verzehrt war, war Ada Blackjack gesund“ SPRECHERKapitän Noice hat bemerkt, dass Adas Geschichte Aufmerksamkeit und Geld bringt - und veröffentlicht im Februar 1924 noch einmal einen Artikel über sie, der eine Reihe sensationslüsterner Zeitungsberichte nach sich zieht. Noice hat sämtliche Tagebücher für sich behalten, und wirft ihr nun vor, der Tod des skorbutkranken Lorne Knight sei ihre ihre Schuld. Das ließe sich angeblich dessen Tagebüchern entnehmen. Sie habe ihn verhungern lassen, nachdem er sie nicht habe heiraten wollen. Sie selbst hingegen habe ihre Retter ja wohlgenährt empfangen. MUSIK Diese öffentliche Anklage bringt Ada Blackjack schließlich dazu, zu sprechen. Noice‘ Behauptungen will sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie fährt zur Los Angeles Times und bietet von sich aus ein Interview an. Sie schildert darin ihre Erinnerungen und erklärt auch die übers Jahr variierenden Ernährungszustände der Inselbewohner durch die Zu- und Abnahme des Jagdwildes. Als Harold Noice schließlich dazu gezwungen wird, die Tagebücher herauszugeben, fehlen in Knights Tagebuch Seiten, manche Stellen sind geschwärzt. Noice hat offenbar versucht, alles zu tilgen, was seine Anschuldigungen als Diffamierung offensichtlich macht. Die Eltern des Verstorbenen hatten ohnehin nie an Ada Blackjacks Schuld geglaubt. SPRECHERNach diesem Vorfall verfällt Ada Blackjack wieder in Schweigen. Sie führt ein Leben in bitterer Armut, reiht Gelegenheitsjob an Gelegenheitsjob. In hohem Alter wird sie von einer Zeitung noch einmal zu ihren Erinnerungen befragt. Kein Tag vergehe, antwortet sie, ohne dass sie von ihren schlimmen Erlebnissen auf Wrangel Island verfolgt würde. OTON 7“She lived to be 85 years old and the last parts of her life were very grim. She washed dishes in Nome, Alaska. She did whatever she could to survive. She did not have a happy life. But you don't pay attention to happiness, when you're in Alaska and a native, you just keep going.” OVERVOICE OTON 7“Sie wurde 85 Jahre alt und die letzten Jahrzehnte ihres Lebens waren sehr düster. Sie wusch Teller in Nome, Alaska… Sie tat was auch immer, um zu überleben. Sie hatte kein glückliches Leben. Aber Glück ist keine Kategorie, wenn du als Indigene in Alaska lebst. Du machst einfach weiter.“ MUSIK SPRECHERAndere schlagen aus Ada Blackjacks Erlebnissen hingegen Profit. Ihre Geschichte wird mehrfach erzählt und verkauft. Manch einer verdient daran, Ada nicht. Sie erhält lediglich 500 Dollar für ihr Tagebuch – das bald in den Archiven verschwindet. Bis heute findet es kaum Beachtung. TC 22:48 - Outro
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Mar 8, 2024 • 20min

LEBEN IN GEFAHR ? Susanna Daucher, Täuferin um 1500

Eine Frau aus dem 16. Jahrhundert geht wegen einer einzigen mutigen Aktion in die Augsburger Stadtgeschichte ein: Susanna Daucher war Anhängerin der Glaubensgemeinschaft der Täufer. Als vermeintlich sozialrevolutionäre Keimzelle werden die Mitglieder der Täuferbewegung verfolgt und bestraft. Dennoch versammelt Susanna Daucher am Ostersonntag des Jahres 1528 ihre Glaubensbrüder und -schwestern in ihrem Haus - mit weitreichenden Folgen für sich, ihre Familie und alle Anwesenden. Am 8.3. ist Internationaler #frauentag 2024. Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Martin Trauner Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Beate Himmelstoß Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Veronika Schmeer, Dr. Barbara Kink Linktipps: ZDF (2018): So lebten Frauen im Mittelalter  Ob Adelige oder Bäuerin, ob Nonne oder Gattin und Mutter: Frauen müssen sich im Mittelalter den Männern unterordnen. Zum Film geht es HIER. Deutschlandfunk (2019): Die Täuferbewegung – Vorbilder der Toleranz Vor 500 Jahren wurden Täufer verfolgt und ermordet. Heute werden sie zumindest oft noch schief angeschaut. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann plädiert für einen neuen Blick auf die Täufer: Sie seien Vorkämpfer moderner Werte und könnten auch Vorbild einer zukunftsfähigen Kirche sein. JETZT ANHÖREN BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 16. Jahrhundert: Augsburg Augsburg ist im 16. Jahrhundert Schauplatz grundlegender sozialer und religiöser Umwälzungen. Die verarmten Weber proben den Aufstand - und Luthers Reformation führt erst zur Kirchenspaltung und 1555 zum Augsburger Religionsfrieden. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - Intro MUSIK ErzählerDie Geschichte Susanna Dauchers beginnt um das Jahr 1495 in Augsburg, wo sie als Tochter der Familie Spitzmacher zur Welt kommt und gemeinsam mit ihrer Schwester Maxentia aufwächst. Hinein in die Zeit des gigantischen Umbruchs durch die Reformation. MUSIK ErzählerinMit ungefähr zwanzig Jahren heiratet sie Hans Adolf Daucher, einen gebürtigen Stuttgarter, der sich als Bildhauer einen Namen gemacht hat und in Augsburg zu-sammen mit seinem Vater eine Werkstatt betreibt. Susanna ist als Ehefrau des Adolf Daucher zu ihrer Zeit in Augsburg ein Begriff: Sie ist die Adolfin von Augsburg. Atmo: Plätschern am Lechkanal ErzählerDas Ehepaar bekommt zwei Kinder und wohnt in einem ansehnlichen Haus mitten im Lechquartier - im Bürgergässchen. Hier kümmert sich Susanna Daucher nicht nur um ihre Kinder, sondern hilft auch tatkräftig im Handwerksbetrieb mit. Sie ist dafür zuständig, dass für die Gesellen und Lehrlinge immer genug zu essen auf dem Tisch steht. MUSIK aus ErzählerinDoch was macht Susanna so besonders, dass es 500 Jahre später einen Wikipe-dia-Eintrag über sie gibt? Und an ihrem früheren Wohnhaus mittlerweile eine Ge-denktafel an sie erinnert? Beides würde nicht existieren, wenn sie sich 1527 nicht der Augsburger Täufergemeinde angeschlossen hätte. Musikakzent: dramatisch, heimlich, dynamisch TC 01:55 – Die Täufergemeinde in Augsburg ErzählerWas für eine Glaubensgemeinschaft sind die Täufer, die als Splittergruppe aus der Reformation hervorgehen? Eine Bewegung mit unterschiedlichen Flügeln, die aber dennoch ein gemeinsames Credo haben, wie Barbara Kink, Historikerin am Museum Fürstenfeldbruck erklärt: 1.O-Ton: ( Kink ab 0:19)Die Täuferbewegung hat als kleinsten gemeinsamen Nenner die Ablehnung der Säuglingstaufe. (…) Es beginnt in der Schweiz im Umkreis um Huldrych Zwingli. Die erste Erwachsenentaufe findet da im Januar 1525 statt. Und (…) es greift re-lativ rasch um sich diese Täuferbewegung. (…) Die wollten wirklich die evangeli-schen Grundsätze (…) auch im diesseitigen Leben schon verwirklichen. Die hatten sehr pazifistische Grundsätze teilweise, sie wollten keinen Wehrdienst leisten, kei-nen Eid leisten, aber sie wollten wirklich eine Verbesserung ihrer Lebenswelten durch ein gemeinschaftliches Leben, durch Hilfe auch finanzieller Art, durch einen gemeinen Kasten, durch Gütergemeinschaft. ErzählerinWie Susanna Daucher mit der Bewegung in Berührung gekommen ist, ist nicht überliefert. Aber offenbar hat es sie angesprochen, das Evangelium nach urchrist-lichem Vorbild zu leben. Denn im November 1527 lässt sie sich taufen.Im Hause der Nestlerin, wie sie später in ihrem Prozess aussagt. Veronika Sch-meer, Kunsthistorikerin im Haus der Bayerischen Geschichte, hat die Verneh-mungsprotokolle studiert: 2.O-Ton: Veronika Schmeer ab 4:30 Die Nestlerin am Roßmarkt ist eigentlich keine Person, die man jetzt so konkret greifen kann. Susanna Daucher sagt eben aus, dass sie sich dort habe taufen lassen. Angeblich aber sowohl in Abwesenheit des Nestlers, des Ehemannes, aber auch der Nestlerin. Und sie verschweigt auch, wer sonst noch mit dabei ge-wesen sein soll - außer ihrer Schwester Maxentia Wisinger, die sich auch in die-sem Zusammenhang habe taufen lassen. ErzählerSusanna Daucher wird aktives Mitglied der Augsburger Täufergemeinde. Sie ver-anstaltet Treffen für Frauen, bei denen sie aus der Bibel lesen. Sie besucht Ver-sammlungen außerhalb der Stadt und beginnt, sich auch im diakonischen Bereich zu engagieren, indem sie sich um arme Menschen kümmert.  ErzählerinSie ist zwar keine Führungspersönlichkeit in der Täuferbewegung - diese Rolle ist den Männern vorbehalten -  aber eine der vielen Frauen, ohne die die Gemein-schaft nicht existieren könnte: 3.O-Ton: (Veronika Schmeer ab 5:10)Die Frauen spielen eine ziemlich große Rolle in dieser ganzen Täufer-Bewegung. Man sollte das aber vielleicht auch nicht zu sehr aus dem heutigen Blick sich anschauen. Dass es irgendwie eine emanzipatorische Bewegung gewesen wäre, sondern man kann sich eher vorstellen, dass es daran liegt, dass die Täufer sich immer zu Hause treffen. (…) Die Frauen kümmern sich zum Beispiel darum, dass Wein und Getränke vorhanden sind, dass es etwas zu essen gibt, dass es eine Herberge auch für die Täufer gibt, die von außen in die Stadt kommen. TC 04:55 – Verfolgung, Folter und Todesstrafe ErzählerEine Gastfreundschaft, die gefährlich ist, denn Täufer gelten spätestens nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes als sozialrevolutionäre Keimzelle, deren Anhänger verfolgt und bestraft werden. Barbara Kink: 4.O-Ton: Barbara Kink:Die Täufer wurden von Beginn an verfolgt. ( ..)(weiter ab: 14:29) Also die bayrischen Herzöge haben sich ganz früh schon entschieden,(…) Wir müssen jeden reformatorischen Aufbruch bekämpfen, denn durch die Lutherischen kommt schließlich auch der Bauernkrieg und die Revolution und die Unruhe und Empörung. (…) Die bayerischen Herzöge haben einen Inquisitor eingesetzt. (15:16) Die Behörden haben relativ rasch und effektiv und effizient gearbeitet, um diese Verfolgung auch effektiv zu gestalten. Das bayerische Täufermandat ist eines der frühesten. Schon 1527 gibt's ein Mandat mit Androhung der Todesstrafe.  ErzählerinAls Freie Reichsstadt gehört Augsburg nicht zum Herzogtum Bayern und nimmt es bis zum Herbst 1527 mit der Verfolgung der Täufer nicht ganz so genau. Damit strömen immer mehr Anhänger der Bewegung in die Stadt oder lassen sich in der Umgebung nieder. Augsburg ist bald das Zentrum der süddeutschen Täuferbewegung. 5.O-Ton (Kink ab  6:02) Aus unterschiedlichen Gründen. (…) Sehr viele der Ratsherren in Augsburg haben sich dem Luthertum angeschlossen, aber es gab eben auch z.B. den Eitelhans Langenmantel, der dezidierter Täuferanhänger war. Der Rat war gespalten (…) Die ersten Jahre hat man die Täufer in Augsburg durch Winkelpredigten sehr stark vertreten gesehen. (ab 7:19) Winkelpredigten sind eben nicht Predigten in der Kirche. Das ist etwas, was die Täuferbewegung auch auszeichnet, dass sie sehr oft unter freiem Himmel stattfinden, dass sie in Privathäusern stattfinden, in Wirtshäusern vor allem aber eben in städtischen Winkeln, (…) wo sich Prediger hinstellen und eine interessierte Gruppe um sich scharen. MUSIK ErzählerIm August 1527 füllt sich die Stadt mit auffällig vielen Führern der Täuferbewegung. Sie kommen aus ganz Süddeutschland, Österreich und der Schweiz und haben vom 20. bis zum 24. eine Synode anberaumt, auf der ein Konsens gefunden werden soll zwischen dem pazifistischen Schweizer Flügel und der militanten süddeutschen Gruppe um Hans Hut. ErzählerinHans Hut, ein Weggefährte Thomas Müntzers, der im Bauernaufstand den Einsatz von Gewalt durchaus befürwortet hat, leitet zwei der Versammlungen. Er ist längst zu einer der führenden Persönlichkeiten der Täuferbewegung im süddeutschen Raum geworden. 6.O-Ton: ( ab ca. 11:35)Ein wandernder Buchhändler, der offensichtlich sehr charismatisch war. (weiter ab 12:00) Hans Hut war davon überzeugt, dass er das Ende der Welt erleben wird und zwar auch aufgrund von biblischen Berechnungen. Er hat Johannes‘ Apokalypse berechnet und (…) hat berechnet, Pfingsten 1528 wird die Welt untergehen. (…) Er ist durch die Lande gezogen und hat es in Augsburg publik macht. Er wird 144 000 Fromme, Gerechte vor dem Weltende bewahren. Und wenn man sich so vorstellt, also diese Sündenangst. Dieses Bewusstsein, ich komme in die Hölle. Das hat gezogen. ErzählerDie Täufersynode wird als Augsburger Märtyrersynode bekannt, denn viele der Teilnehmer werden anschließend verfolgt und hingerichtet. Die Stadt beginnt von nun an, das Täufermandat konsequent umzusetzen und die Gemeinschaft drastisch zu verfolgen. Bereits im Herbst 1527 kommt es zu einer ersten großen Verhaftungswelle. MUSIK aus TC 08:31 – Ein verhängnisvoller Ostersonntag ErzählerinDas ist genau die Zeit, in der Susanna Daucher in der Bewegung aktiv wird. Ihr Mann Hans Adolf dürfte davon mäßig begeistert gewesen sein. Immerhin riskiert sie als Mutter von zwei Kindern nicht nur ihr Leben, sondern auch seine Existenz. ErzählerDas muss Susanna bewusst gewesen sein, aber sie hat offenbar bei den Täufern eine Gemeinschaft gefunden, die ihrem Glauben entspricht. Angesichts der Pro-phezeiung, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht, scheint sie im Dies-seits nichts mehr gefürchtet zu haben. 7. O-Ton (Kink ab 19:01)Dieses Heilsbedürfnis der Menschen in den frühen Jahrzehnten des16. Jahrhunderts darf man nicht unterschätzen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie wirklich ganz, ganz stark interessiert war an diesen Glaubensinhalten, dass sie sich Verbesserungen versprochen hat und Halt in der Gemeinde. Man war ja doch eine eingeschworene Gesellschaft. (…) Und sie war sicherlich davon überzeugt, dass sie das Richtige tut und dass sie diese Bewegung unterstützen möchte. Atmo Plätschern des Lechkanals, Geräusche von Schritten auf dem Pflaster, dramatischer Musikakzent ErzählerinAugsburg am 12.April 1528. Es ist der entscheidende Tag, durch den Susanna Daucher Eingang findet in die Stadtgeschichte. Der letzte Ostersonntag vor Huts prophezeiter Wiederkunft Christi. Hans Hut selbst ist mittlerweile nach Folter und Gefangenschaft qualvoll gestorben und gilt unter den Täufern als Märtyrer, was seine Prophezeiung noch bedeutender erscheinen lässt. ErzählerIn den frühen Morgenstunden versammeln sich im Hause Daucher in der Bürger-gasse an die 100 Menschen, um hier einen Gottesdienst abzuhalten. Der Haus-herr ist verreist. Susanna nutzt die Gelegenheit, um hier ihre Glaubensbrüder und -schwestern zu empfangen. ErzählerinSie weiß, dass es verboten ist, andere Mitglieder der Täuferbewegung aufzuneh-men und zu bewirten, aber sie hat dennoch Brot und Wein besorgt für alle, die in ihrem Haus nun zusammen in der Bibel lesen wollen. ErzählerVorsorglich hat sie an diesem Ostersonntag die Fenster mit Tüchern verhängt und als Erkennungszeichen für ihre Glaubensbrüder und -schwestern einen Ring an die Haustür gemalt. Damit niemand an der falschen Tür klopft. ErzählerinSie ist mit ihrem dritten Kind schwanger und sich bewusst, dass es drastische Konsequenzen hat, wenn die Versammlung auffliegt. Dennoch geht sie das Risiko ein. Ungeachtet der Warnungen, dass bereits die Stadtwache ihr Haus im Visier hat. MUSIK aus ErzählerWas in den frühen Morgenstunden des Ostersonntags im Hause Daucher genau passiert, das rekonstruiert Veronika Schmeer: 8.O-Ton (Interview 1. Teil ab 14:37 ff.)Man trifft sich schon am Vortag am Ostersamstag sozusagen in wahrscheinlich einer kleineren Runde und man beschließt, sich am Ostersonntag in der Früh (…) bei der Adolfin (…) zu treffen also bei Susanna Daucher. Und (…)  es ist so, dass sie wahrscheinlich schon im Vorfeld verraten werden. Denn es gibt Berichte darüber, dass schon irgendwelche Stadtschergen im Umfeld des Hauses sich auffällig positioniert haben und einige Leute sind davon abgeschreckt. (…) Die Stadt-Schergen (…) greifen dann ein und lösen die Versammlung auf und verhaften diese 88 Personen, von denen übrigens mehr als die Hälfte sind Frauen. MUSIK TC 12:03 – Verbannung ErzählerinIn Zweierreihen werden sie abgeführt und zum Rathaus gebracht. Diejenigen, die von auswärts kommen, werden zuerst verhört und müssen dann die Stadt verlas-sen. Sie müssen schwören, für einen Zeitraum von sechs Jahren das Stadtgebiet nicht mehr zu betreten. Wer sich nicht daran halten sollte, dem droht die Hinrich-tung. ErzählerDie Strafen für die Augsburger Gemeindemitglieder, die so genannten Einheimi-schen, fallen hingegen drastischer aus. Ihnen wird im April der Prozess gemacht, der für den Vorsteher der Täufergemeinde Hans Leupold mit einem Todesurteil endet. MUSIK aus 9. O-Ton: ( Interview Teil 2 ab ca. 18:15)Der Schneider wird dann eben hingerichtet. Das ist dann quasi die drastischste Strafe, die da passiert. Die meisten anderen bekommen die Strafe mit dem Ba-cken brennen. Was sehr grausam ist. Man bekommt mit einer Eisenstange die Backen durchgebrannt und ist somit auch für immer gekennzeichnet. Als Täufer oder ehemals Anhänger der Täufer Gemeinde. Das ist im Grunde genommen auch ein Ruin (…) Man kommt dann vielleicht auch nirgendwo mehr unter, be-kommt keine Arbeit mehr. Es hat definitiv Folgen. ErzählerinSusanna Daucher zeigt sich während ihres Prozesses unerschrocken. Wie den Vernehmungsprotokollen zu entnehmen ist, weicht sie den bohrenden Fragen des Stadtschreibers – und damals schon berühmten Humanisten - Konrad Peutinger geschickt aus. 10.O-Ton: ( Schmeer ab ca. 13:11) Er wollte ja wissen, wer ist noch beteiligt. Man wollte wirklich so ein Denunziantentum in diesen Verhören anstiften. Und da hält sie sich sehr bedeckt. Sie sagt immer nur: ich kenne keine Namen. Ich habe niemanden beherbergt. Ich habe nichts getan. Und sie wird ja zuerst nur befragt und dann wird ihr angedroht, dass sie ernstlich befragt wird. Eine Androhung einer Folter. (…) Und auch da sagt sie, sie wisse nicht was sie noch zu der Angelegenheit sagen soll. ErzählerDas Urteil fällt für Susanna Daucher vergleichsweise milde aus. Weil sie schwan-ger ist, wird sie am 21.April 1528 mit dem so genannten „Verruf“ aus der Stadt verbannt. Das bedeutet, dass es ihr fortan verboten ist, sich Augsburg in einem Umkreis von sechs Meilen zu nähern. MUSIK ErzählerinDie Verbannung durch den Rat der Stadt Augsburg hat für Susanna Daucher weit-reichende Konsequenzen. Noch am Tag der Urteilsverkündung wird sie an den Pranger gestellt und muss sofort danach die Stadt verlassen. ErzählerOhne ihre beiden Kinder, die sie nie wiedersehen wird. Susanna sucht zunächst in der näheren Umgebung Zuflucht und bringt dort ihr drittes Kind zur Welt. Das of-fenbar ihr Mann zu sich holt, nachdem er von seiner Reise zurückkehrt. Er wird jedenfalls später als Vater von drei Kindern erwähnt. MUSIK aus 11.O-Ton ( Veronika Schmeer ab ca. 22:00)Ich nehme an, sie werden weiterhin Kontakt gehabt haben, aber sie darf natürlich nicht in die Stadt kommen. (…) Er kann aber später dann auch für die Kinder selber nicht sorgen, sondern die sind dann auch in Pflegschaft alle drei. ErzählerinAuch Hans Daucher verliert mit der Verbannung seiner Frau alles, denn … 12.O-Ton ( ab ca. 6:00)Ohne seine Frau ist sein Unternehmen mit der Bildhauerei eigentlich dem Ruin geweiht, weil die Frau sich auch um die ganzen Gesellen und Lehrlinge kümmert. (…) Und ohne die Frau funktioniert diese Werkstatt nicht mehr (…) und es ist dann später bezeugt, dass der Hans Daucher eigentlich nur noch unter den Habenichtsen in den Steuerbüchern geführt wird und er kann ja auch nicht neu heiraten, denn seine Frau ist ja nicht tot. Er ist da irgendwie gefangen und kommt auch nicht mehr raus. TC 15:38 – Die falsche Prophezeiung ErzählerNach der Verhaftungswelle an jenem Osterfest 1528 beginnt die Täufergemeinde in Augsburg, sich aufzulösen. Nicht nur, weil es angesichts der drastischen Verfol-gung in der Stadt niemand mehr wagt, Versammlungen abzuhalten, sondern auch, weil Hans Huts Prophezeiung nicht eingetroffen ist. Barbara Kink: 13.O-Ton: (Kink ab ca. 25.20)Es war offensichtlich dann doch eine große Enttäuschung. Man hat Hans Hut geglaubt. Man hat sich versprochen von diesen Höllenqualen verschont zu werden. Und man sieht, dass diese Bewegung dann ja zum Teil zusammenbricht. Dann natürlich auch aufgrund der einsetzenden obrigkeitlichen Maßnahmen, man setzte dann doch nicht so gern sein Leben aufs Spiel. ErzählerinSchon Mitte August 1528 beschließt die Täufergemeinde, künftig nicht mehr zusammen zu kommen. ErzählerWer dennoch als Täufer seinen Glauben leben möchte, wandert ab. Entweder in die Schweiz, wo im Zollikon noch kleine Täufergemeinschaften existieren. ErzählerinOder nach Mähren an einen der Bruderhöfe, wo Täufer ein urchristlich-kommunistisches Gemeinschaftsleben praktizieren. Auf Initiative des Tirolers Jakob Hutter leben und arbeiten Familien hier völlig autark zusammen und teilen sich Hab und Gut. Die Bruderhöfe werden zum Zufluchtsort für viele Täufer: 14.O-Ton: Barbara Kink:Es gab sicherlich Leute, die dann nach Mähren gegangen sind. Das weiß man von vielen bayerischen Täufern. (…) Also wirklich ab 1530 verschwinden die Täufer von der Bildfläche. Im Herzogtum ist es so. Und die nächsten Täufermandate, die dann aus den 50er 60er und 70er Jahren des 16. Jahrhunderts sind, da geht es vor allem darum, dass man versucht diese Abwanderung in die Bruderhöfe nach Böhmen und Mähren zu verhindern. Man versucht also wirklich, da ein Riegel vorzuschieben, dass viele Leute an diesen täuferischen Idealen immer noch festhalte, abwenden. ErzählerDie Täufer werden auch nicht mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 als Glaubensgemeinschaft akzeptiert. Den Grund dafür sieht Barbara Kink in der Tatsache, dass sie als Glaubensgemeinschaft keine einflussreichen Fürsprecher haben: 15.O-Ton: Barbara KinkDie Täufer fallen zwischen alle Raster. Es sind die Lutheraner, es sind die Reformierten und die Katholiken, die davon profitieren. Die Täufer sind als reformatorische Splittergruppe oder als Wildwuchs der Reformation (…) nicht relevant dafür. Die haben einfach keine adlige Lobby. (…) Das ist wirklich (…) eine Revolution des Gemeinen Mannes. MUSIK ErzählerinDennoch bleibt die Sehnsucht nach religiöser Authentizität, nach Ursprünglichkeit, nach diesem Urchristentum bis heute lebendig. 16.O-Ton: Barbara KinkDie Täufer existieren ja heute noch in sehr vielgestaltiger Weise. Es gibt die Mennoniten in Amerika, es gibt die Hutterer immer noch, es gibt die Amish. Es gibt immer noch sehr viele Glaubensgemeinschaften vor allem freikirchliche Baptisten, die sich auch heute noch auf die Täufer wirklich als Ursprungsherd berufen. ErzählerWas Susanna Daucher 1528 nicht ahnen konnte ist, dass im 20.Jahrhundert eine mennonitische Gemeinde in Augsburg sehr aktiv ist. Dass es runde 500 Jahre nach ihrer Verbannung Menschen gibt, die nach den Glaubensgrundsätzen leben, für die sie damals alles riskiert hat. Und dafür nicht mehr verfolgt werden. ErzählerinSie konnte auch nicht wissen, dass mittlerweile an ihrem Haus am heutigen Hinteren Lech 2 eine Gedenktafel an sie und die Ereignisse des Ostersonntags 1528 erinnert. TC 19:28 – Outro
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Mar 1, 2024 • 37min

WIE WAR DAS DAMALS? Als der Computer zu uns nach Hause kam

Moderner Alltag? Ist heute ohne Internet und Smartphone so gut wie unvorstellbar! Es gab aber eine Zeit, in der Computer noch Elektronengehirne hießen und höchstens in Großkonzernen, Universitäten und Forschungslabors standen. Kaum jemand hat diese ominösen Apparate damals verstanden. Vor ziemlich genau 40 Jahren hat sich das schlagartig geändert - als die Homecomputer den Markt eroberten und so zu uns nach Hause kamen. Und das ist nicht spurlos an Politik und Gesellschaft vorbeigegangen. Von Christian Schaaf und Michael Zametzer Credits Autoren dieser Folge: Christian Schaaf und Michael Zametzer Redaktion: Nicole Hirsch, Eva Kötting und Heike Simon  Linktipps: KONRAD ZUSE, JOHN VON NEUMANN UND CO. Der Computer hatte viele VäterZUM BEITRAG FRAUENGESCHICHTE - FRAUEN SCHREIBEN GESCHICHTE Stephanie Shirley wird Softwarepionierin ohne eigenen ComputerZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Feb 26, 2024 • 22min

HITLER IN LANDSBERG - Festungshaft nach Skandalprozess

Nur 13 Monate dauerte Hitlers Haft in Landsberg nach dem Putschversuch vom November 1923. Dank einer Justiz, die den gescheiterten Putschisten und Hochverräter auffällig schont und einer Gefängnisleitung, die mit Hitler sympathisiert, kann Hitler seine Position als selbsternannter Führer der rechtsextremen Kräfte festigen. Während der Haft genießt er Privilegien und beginnt damit, den ersten Teil seines Buches "Mein Kampf" zu schreiben. Von Thies Marsen (BR 2015) Credits Autor: Thies Marsen Regie: Axel Wostry Es sprachen: Katja Amberger, Werner Härtler, Axel Wostry Technik: Siglinde Hermann Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Peter Fleischmann, Manfred Deiler, Erich Kuby Gesprächspartner: Prof. Dr. Peter Fleischmann Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte https://www.geschichte.phil.fau.de/person/fleischmann-peter/#sprungmarke2 Manfred Deiler Hier ein Nachruf auf den im November 2023 Verstorbenen: https://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/nachrichten/manfred-deiler-1952-2023/ Linktipps: ARD alpha (2023): Hitler vor Gericht 1924 fand vor dem Volksgericht München einer der folgenschwersten Prozesse der deutschen, ja der Weltgeschichte statt: der Hitler-Ludendorff-Prozess. Der Film in der ARD Mediathek zeichnet in aufwendigen Spielszenen den Prozessverlauf nach. JETZT ANSEHEN Alles Geschichte (2023): Der Hitlerputsch – Anfang vom Ende der Demokratie München, 9. November 1923. Vor der Münchner Feldherrnhalle scheitert Adolf Hitlers Putschversuch kläglich. Doch die Folgen sollten sich als drastisch erweisen - für Deutschland und die Welt. JETZT ANHÖREN ZDF (2023): Hitlers Macht – Der Aufsteiger "Der Aufsteiger" heißt die erste Folge der dreiteiligen ZDF-Dokumentation "Hitlers Macht", die das ZDF 90 Jahre nach Hitlers Regierungsübernahme am 30. Januar 1933 zeigt. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:35 – Der Eindruck von Journalist Erich KubyTC 04:10 – Ein fragwürdiger GerichtsprozessTC 07:24 – Sonderrechte in der FestungshaftTC 11:07 – Die braune Schaltzentrale der NSDAPTC 14:31 – Vorzeitige Entlassung wegen „guter Führung“TC 17:57 – Der Ruf von LandsbergTC 22:02 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ERZÄHLERINDas Vergangene ist vergangen, was geschehen ist, ist geschehen. Für Historiker ist die Frage, ‚Was wäre, wenn?‘ deshalb meist müßig. Doch genau diese Frage drängt sich selten so auf wie im Fall des Hitlerputsches von 1923 und dessen Folgen. ERZÄHLERWas wäre geschehen, wenn die bayerische Justiz damals nach Recht und Gesetz gehandelt hätte? Wenn Hitler eine angemessene Strafe erhalten hätte? Wenn man ihn daran gehindert hätte, von seiner Zelle aus die nationalsozialistische Bewegung neu aufzubauen? Was wäre der Menschheit dann eventuell alles erspart geblieben? ATMO Schuss ERZÄHLERINMit einem Pistolenschuss beginnt es. Abgefeuert am 8. November 1923 im Münchner Bürgerbräukeller. Gustav Ritter von Kahr, seit wenigen Wochen Generalkommissar für den Freistaat Bayern, will vor dem überfüllten Saal sein Regierungsprogramm vorstellen, als ein bewaffneter Stoßtrupp hereinstürmt, angeführt von einem gescheiterten Kunstmaler, Kriegsveteranen und Reichswehrspitzel: Adolf Hitler. Er schießt mit seiner Pistole in die Decke und erklärt die Reichsregierung für abgesetzt. Am nächsten Morgen stürmen Putschisten die Sitzung des Münchner Stadtrats und nehmen Bürgermeister und Stadträte der SPD fest, sie verhaften jüdische Münchner, verwüsten die Redaktion der SPD-Zeitung und stehlen kistenweise Inflationsgeld – 14.605 Billionen Reichsmark. 2.000 bewaffnete Männer marschieren schließlich Richtung Feldherrnhalle. Doch sie werden von der Landespolizei gestoppt. Ein kurzes Feuergefecht, dann ist der Putsch niedergeschlagen.ERZÄHLERDie Bilanz: 20 Tote – vier Polizisten, 15 Putschisten und ein Passant. Die Liste der Verbrechen der Putschisten ist lang: Mord, Totschlag, Hochverrat, Landfriedensbruch, Geiselnahme, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Raub. ERZÄHLERINHitler flieht nach Uffing am Staffelsee, in die Villa seines Förderers Ernst Hanfstaengl. Zwei Tage später wird er dort aufgespürt. Die Polizisten treffen ihn im Schlafanzug an, den linken Arm in einer Binde, denn er hat sich im Tumult vor der Feldherrnhalle den Arm ausgekugelt. TC 02:35 – Der Eindruck von Journalist Erich Kuby ERZÄHLERÜberhaupt ist er in einem jämmerlichen Zustand, erinnert sich der inzwischen verstorbene Journalist Erich Kuby. Kuby ist 13 Jahre alt, als er Hitler zum ersten Mal erlebt. Kurz vor dem Putsch nimmt ihn seine Tante mit in den Cirkus Krone, wo Hitler seit 1921 regelmäßig auftritt und die Massen begeistert. Nun, nach dem gescheiterten Aufstand, begegnet Kuby Hitler zum zweiten Mal, diesmal in Weilheim. Denn der Gefangenentransport mit Hitler macht im dortigen Bezirksamt kurz Station, wo ein Schutzhaftbefehl ausgestellt wird. O-Ton Erich KubyDer Bezirksamtmann hieß Feigel, und nomen est omen, der wollte mit diesem berühmten Herrn Hitler nicht allein sein und hat zu meinen Vater, der ein angesehener Deutsch-Nationaler in diesem Dorf war, gesagt, kommen Sie doch. Und mein Vater sagte zu mir: Komm mit. Und da habe ich eben Hitler erlebt in einem Zimmer des Landratsamtes oder Bezirksamtes hieß man das damals. Der Hitler wurde ja verhaftet von einem Polizeioffizier oder so was Ähnliches, der sich übrigens merkwürdigerweise mit Hitler duzte. Aber ich habe mir doch den Hitler sehr angesehen, denn es war ja derselbe Mann, den ich im Cirkus Krone in der völligen Pracht seiner Reden gehört hatte, und davon war nichts mehr übrig. Er saß bleich und der Hitler wurde dann nach Landsberg in die Festung da gebracht.TC 04:10 – Ein fragwürdiger Gerichtsprozess ERZÄHLERINAm 11. November 1923 um halb elf Uhr nachts wird Hitler in die Haftanstalt Landsberg eingeliefert, zunächst als sogenannter Schutzhäftling, erst zwei Tage später wird er offiziell in Untersuchungshaft genommen. ERZÄHLERHitler rechnet fest mit seiner Abschiebung nach Österreich oder gar der Hinrichtung, dem Amtsarzt erklärt er, dass er sich am liebsten erschießen würde. Doch er wird schnell wieder aufgepäppelt, sagt der Historiker Peter Fleischmann, Verfasser einer Quellenedition zu Hitlers Haftzeit: O-Ton Peter FleischmannEs hat ihn der Amtsarzt damals untersucht unmittelbar nach der Einlieferung. Hitler, der war 1,75 groß und hatte ein Gewicht von 72 Kilo glaube ich. Und er hat dann in den nächsten Tagen das Essen verweigert, also er war psychisch völlig demoralisiert, und erst Dietrich Eckart, sein Vertrauter, sein Mentor, und Anton Drexler scheinen ihn dann bewegt zu haben, also jetzt werd‘ wieder vernünftig und esse was. Und am Ende der Haftzeit, also ein Jahr später, kommt er fast gemästet wieder raus. Da wiegt er 78 Kilo. ERZÄHLERINDer junge Staatsanwalt Hans Ehard, nach 1945 erster frei gewählter bayerischer Ministerpräsident, übernimmt die Ermittlungen gegen die Putschisten. Er vernimmt Hitler am 13. Dezember 1923 in seiner Zelle: ZITATOREr war nicht dazu zu bringen, auf eine klare unzweideutige Frage eine klare, einfache und kurze Antwort zu geben. Mit großer Zähigkeit hält er endlose politische Vorträge. ERZÄHLERINZwei Monate später, am 26. Februar 1924, beginnt der Prozess gegen den „ledigen Schriftsteller Adolf Hitler“ – vor dem Volksgerichtshof in München, obwohl für einen Hochverräter eigentlich der Leipziger Reichsgerichtshof zuständig wäre. Doch Bayern will Hitler nicht ausliefern und die Reichsregierung scheut einen offenen Konflikt. ERZÄHLERDas Verfahren ist eine Farce. Richter Georg Neithardt sympathisiert offen mit den Verschwörern, er lässt den stundenlangen Monologen Hitlers freien Lauf. Bei den Beratungen des Gerichts ist stets ein Vertreter des Justizministeriums anwesend, der direkt Einfluss nimmt – zugunsten Hitlers. ERZÄHLERINAm 1. April 1924 fällt das Urteil: fünf Jahre Festungshaft. Obwohl Hitler wegen Landfriedensbruch bereits vorbestraft ist und noch unter Bewährung steht, wird ihm schon bei der Urteilsverkündung eine Haftentlassung nach sechs Monaten in Aussicht gestellt. Das Gericht wertet als strafmildernd: ZITATOR...dass die Angeklagten bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren. ERZÄHLERDie vier ermordeten Polizisten werden in dem Urteil gar nicht erwähnt, der schwerbewaffnete Marsch zur Feldherrnhalle wird als „unglücklich verlaufener Propagandazug“ bezeichnet, der Raub der Banknoten als „Beschlagnahmung“. Für den Münchner Rechtshistoriker Otto Gritschneder ist klar: ZITATORGegen die Richter des in vieler Hinsicht erstaunlich verfehlten Hochverrats-Urteils gegen Hitler vom 1. April 1924 muss der Vorwurf der Rechtsbeugung in aller Form erhoben werden.TC 07:24 – Sonderrechte in der Festungshaft ERZÄHLERINHitler wird zurück nach Landsberg gebracht – nun als Festungshäftling: O-Ton Peter FleischmannFestungshaft ist eine Art Ehrenhaft. Die Festungshäftlinge, die mussten mit Herr angesprochen werden, die hatten keinen Arbeitszwang, die durften mit Besteck und vom Teller essen, also nicht aus dem Blechnapf, die konnten sich selber zum Teil selber verköstigen. Sie konnten Besuch empfangen in größerem Umfang, sie konnten Korrespondenz schreiben, sie konnten lesen, mussten nicht arbeiten. ERZÄHLERINDie Putschisten werden in einem eigenen Trakt untergebracht, Hitler erhält eine Einzelzelle. In der eigens eingerichteten Festungsstube, einem Gemeinschaftsraum für die Putschisten, wird eine große eingeschmuggelte Hakenkreuzfahne aufgehängt. ERZÄHLERDie Festungshäftlinge dürfen Alkohol trinken. Hitler, so lässt es sich anhand der Einkaufslisten nachvollziehen, konsumiert täglich ein bis zwei Flaschen Bier. Selten gehen die Putschisten nüchtern ins Bett. Bedient werden sie von anderen Gefangenen, erzählt der Lokalhistoriker Manfred Deiler von der Bürgervereinigung „Landsberg im 20. Jahrhundert“: O-Ton Manfred DeilerDie haben die Toiletten geputzt, die haben die Böden gewischt und die haben sie bedient. Das war eine Vorzugstätigkeit für einen Haftgefangenen, dass er die Putschisten bedienen durfte. ERZÄHLERINZur gleichen Zeit gibt es in Bayern übrigens auch linke Festungshäftlinge, wie die Schriftsteller Erich Mühsam und Ernst Toller, die 1919 an der Münchner Räterepublik beteiligt waren und deshalb nun im schwäbischen Niederschönenfeld einsitzen. ERZÄHLERSie werden regelrecht terrorisiert mit Bett- und Hofentzug, der Verweigerung ärztlicher Betreuung, mit Zensur und Schikane. Die braunen Putschisten dagegen werden vom Landsberger Gefängnisdirektor Otto Leybold geradezu gehätschelt, so der Historiker Peter Fleischmann: O-Ton Peter FleischmannDas kann man nachweisen anhand der Besuchszeiten. Hitler hätte maximal sechs Stunden pro Woche Besuch empfangen dürfen. De facto hat er bis zu zehn, elf Stunden pro Woche Hof gehalten oder Hof halten dürfen. Und das hat Leybold gegenüber der Staatsanwaltschaft verborgen. Es gibt ja die Listen der Besucher Hitlers, circa 350 Personen, die wurden an die Staatsanwaltschaft München mitgeteilt. Was aber nicht mitgeteilt wurde: Dass die Besuchszeiten unverhältnismäßig ausgeweitet worden sind. Also normalerweise musste immer ein Wachtmeister mit anwesend sein, wenn Hitler Besuch empfangen hat. Es sind aber in sehr großem Umfang auch oft – Besprechungen haben stattgefunden, da heißt es dann: ohne Aufsicht. Also man war unter sich und hat dann zwei, drei, vier Stunden lang konferiert. ERZÄHLERINBesonders groß ist der Andrang am 20. April 1924, Hitlers 35. Geburtstag. 21 Gratulanten verzeichnet das Besucherbuch allein an diesem Tag. Unter den Hitler-Verehrern sind viele Frauen: O-Ton Peter FleischmannAuffällig immer zum Monatsanfang: Hermine Hoffmann, das berühmte Hitlermuttel, eine Studiendirektorenwitwe aus München, die ihm meines Erachtens immer Geld gebracht hat. Sie hat Hitler unter ihre Fittiche genommen, Manieren beigebracht, wie man in der Gesellschaft sich bewegt usw., also die kam sehr häufig. Dann junge Frauen auch – das ist eine einfache Korrespondentin aus Nürnberg und die schreibt: Sie hat Hitler mal im Circus Krone reden hören, die war dann entbrannt förmlich und diente sich ihm als Sekretärin an. Aber Hitler hat sie dann nach fünf Minuten wieder weggeschickt, wie so manche Verehrerinnen, mit denen er bloß kurz sprechen wollte.TC 11:07 – Die braune Schaltzentrale der NSDAP ERZÄHLERINDenn Hitler hat andere Prioritäten. Er versucht aus dem Gefängnis heraus weiter die Fäden zu ziehen – insbesondere vor den Reichstagswahlen im Mai 1924. Die NSDAP ist seit dem Putschversuch verboten, doch die Nationalsozialisten verbünden sich mit der Deutschvölkischen Freiheitspartei. Hitler nimmt von seiner Zelle aus direkt Einfluss auf die Kandidatenliste. ERZÄHLERDie NSDAP-Tarnliste schafft es auf immerhin 6,5 Prozent, zahlreiche Nationalsozialisten, wie der spätere Innenminister Wilhelm Frick oder SA-Führer Ernst Röhm werden in den Reichstag gewählt – sogar einer der Landsberger Häftlinge: der Offizier Hermann Kriebel, auch wenn der sein Mandat nicht antreten kann. O-Ton Manfred DeilerSie haben das Ganze in eine Art braune Schaltzentrale umgestaltet, wenn man das Besucherbuch sieht, so stellt man fest, das ist ein „Who is Who“ der späteren Größen des Nationalsozialismus. Da müsste man mal kurz einmal das Besucherbuch vielleicht zitieren und die Liste mal rausnehmen: Zum Beispiel gleich einmal am 12. April 1924 fällt mir also in die Augen General Ludendorff, Streicher, das ist der Julius Streicher, der Röhm, Dr. Kraus, praktischer Arzt, Landsberg – das war der erste Bürgermeister nach der Machtübernahme Hitlers. Und die haben sich alle dort schon 1924 mit Hitler getroffen. ERZÄHLERINTrotzdem werden die Nazis die Festungshaft später als Martyrium verklären – so etwa Hitlers Mithäftling Julius Schaub 1933: ZITATORVon Zeit zu Zeit wurde die Eintönigkeit unterbrochen durch das Laden der Gewehre beim Ablösen der Wache oder durch das Klappern der Schlüssel, wenn der Aufseher seine Runde macht. Und in dieser Welteinsamkeit, abgeschlossen von der übrigen Menschheit, nur umgeben von seinen getreuen Mitkämpfern und Mitgefangenen, schuf der Führer sein großes Werk „Mein Kampf“.ERZÄHLERINWie genau in Landsberg der erste Teil von „Mein Kampf“ entstand, ist unklar. Sicher ist: Hitler hat regelmäßig Vorträge im Gefängnis gehalten. O-Ton Manfred DeilerEs gibt ein Foto vom Besucherraum, da steht eine Tafel, heute würde man Flipchart sagen. Also es haben tatsächlich Diskussionen oder auch Monologe von Adolf Hitler stattgefunden. Es gibt ja auch Theorien, dass die Erstfassung von „Mein Kampf“ eine Aneinanderreihung von Reden ist, also dass es tatsächlich Reden sind, die Adolf Hitler gehalten hat im Gefängnis und die von anderen mitgeschrieben wurden. ERZÄHLERDie Gefängnisleitung muss gewusst haben, was im Festungstrakt vor sich geht, sagt Manfred Deiler von der Bürgervereinigung „Landsberg im 20. Jahrhundert“. Trotzdem lassen die Wachmannschaften Hitler und seine Leute gewähren: O-Ton Manfred DeilerSie haben z. B. auch den Auftrag gehabt, die Papierkörbe zu sichten, weil sie wussten, es wird geschrieben, aber dann, nach Sichtung, das Material aus den Papierkörben zu verbrennen. D. h. also, es war allen Beteiligten klar, dass dort etwas entsteht, was das nationalsozialistische zukünftige Parteiprogramm wird. Meine Frage ist: Wie kann es sein, wenn eine Gefängnisleitung weiß, dass solche Schriften entstehen, dass das an der Zensur vorbei kann. ERZÄHLERWie ungehindert die Putschisten vom Gefängnis aus mit der Außenwelt kommunizieren, wird im September 1924 offenbar – kurz bevor Hitler vorzeitig entlassen werden soll.TC 14:31 – Vorzeitige Entlassung wegen „guter Führung“ O-Ton Peter FleischmannDann passiert diese Kassiberaffäre: Der Sohn eines Mithäftlings, Kriebel, der war bei seinem Vater in Landsberg in Besuch Ende September, und nimmt einige Briefe an sich, acht Stück, von Kriebel, Weber und einen von Hitler und kommt in München in eine Polizeikontrolle. Dann entdeckt man bei dem jungen Mann Briefe, die aus Landsberg von den Putschisten, von den Festungshäftlingen stammen und die offensichtlich nicht der sehr weitmaschigen Zensur unterworfen waren. Und die Staatsanwaltschaft, der hat man es letztlich zu verdanken, dass sie sofort Veto eingelegt haben, dass Hitler zum Ende September, Anfang Oktober, wie vorgesehen, aus der Festungshaft frühzeitig entlassen wird. ERZÄHLERINDie Haftentlassung wird allerdings nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Hitler hat offensichtlich mächtige Gönner im bayerischen Justizministerium. Auch Gefängnisdirektor Leybold bescheinigt ihm „gute Führung“. Von seiner Zelle aus schmiedet Hitler detaillierte Zukunftspläne: O-Ton Peter FleischmannDas ist dieser berühmte Brief an Werlin, Mercedesvertreter in München in der Schellingstraße. Da schreibt dann Hitler Ende September, ja also er interessiert sich für diesen Mercedes 11-40, aber es gibt noch einen anderen, einen größeren, der ist stärker motorisiert, der hat aber 300 Umdrehungen mehr, ist das nicht schädlich für den Motor? Und Werlin soll sich in Mannheim erkundigen, ob es den noch gibt, den 11-40er, er möchte aber graue Speichenräder haben. Ja, da schlägt wieder der Größenwahn Hitlers durch. Er schreibt auch, er hat zur Zeit kein Einkommen, aber er wird bald etwas veröffentlichen und da wird er dann liquide sein und wird auch dieses Auto bezahlen können. Wobei man sich vor Augen halten muss: Der Wert eines großen Wagens in dieser Zeit entsprach dem Wert eines Einfamilienhauses. ERZÄHLERINAm 20. Dezember 1924 um 12 Uhr 15 wird Hitler entlassen – genau 3 Jahre, 333 Tage, 21 Stunden und 50 Minuten vor dem eigentlichen Strafende. Im Benz verlässt er die Stadt – am Landsberger Bayertor posiert er noch für ein Abschiedsfoto. ERZÄHLERBei seiner Ankunft in Landsberg im November 1923 war Hitler ein Häuflein Elend, bei seiner Entlassung im Dezember 1924 strotzt er wieder vor Selbstvertrauen. Acht Jahre später, im Januar 1933, wird er die Macht in Deutschland übernehmen, auf legalem Wege. O-Ton Peter FleischmannHitler ist bis 1924 ein Stück, ein Teil der bayerischen Geschichte, aber ab dem 20. Dezember ‘24, der Haftentlassung, der frühzeitigen Entlassung in die Freiheit und der Wiedergewinnung seiner politischen Möglichkeiten, wird Hitler zu einer Person letztlich der deutschen Geschichte. Hier ist er gefördert worden und hier hat man ihn mit Samthandschuhen angefasst. ERZÄHLERDas sieht Hitler übrigens genauso. O-Ton Adolf HitlerUnd so ist denn der größte Zusammenbruch in der Geschichte der Partei eigentlich der Beginn des größten Aufbruchs geworden. MUSIK: 71217190 102 (00‘20‘‘)TC 17:57 – Der Ruf von Landsberg ERZÄHLERINKnapp zehn Jahre nach seiner Haftentlassung kehrt Hitler nach Landsberg zurück. Der einstige Häftling ist nun Reichskanzler. O-Ton Manfred DeilerHitler kam 1934 am 8. Oktober (MUSIK ENDE) das erste Mal unangemeldet zu der Festungszelle mit ehemaligen Mitgefangenen und hat die nochmal angeschaut. Er ist anschließend in die Innenstadt gefahren, hat dieses Café Deible besucht. Und der Landsberger Stadtrat hat das mitbekommen natürlich, hat dann versucht, schnell aus Schuljugendlichen ein Spalier mit Fähnchen am Straßenrand zu bilden und wollte zum Café Deible, um dort die Ehrenbürgerurkunde zu übergeben, aber Hitler war schon weg. ERZÄHLERSchon bald entdeckt man in Landsberg das touristische Potential von Hitlers Festungshaft. Seine einstige Zelle wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, mit täglichen Öffnungszeiten, erzählt Lokalhistoriker Manfred Deiler: O-Ton Manfred DeilerMan hat dann speziell mit „Kraft durch Freude“, ich sag jetzt einmal ganz locker: dem Reiseunternehmen der NSDAP, schon ‘34/‘35 Besuchergruppen mit Sonderzügen mit 2.000 Personen, die Besucher für die Hitlerzelle gebracht haben. Und es ist damals dann Landsberg der Slogan gewesen: die Stadt des Führers, Landsberg – der Geburtsort der Ideen des Nationalsozialismus‘, Landsberg – die Hitlerstadt. Also in dieser Form war das Marketingkonzept. ERZÄHLERAuch die Reichsleitung des NSDAP und insbesondere Reichsjugendführer Baldur von Schirach erkennen den Propagandawert der Hitlerzelle – sie wollen Landsberg zum Wallfahrtsort der Hitler-Jugend machen. O-Ton Manfred DeilerMan hat beschlossen, 1937 das erste Mal im Abschluss an die Kundgebung am Reichsparteitag in Nürnberg, die Leute mit einem Sternmarsch über München nach Landsberg zu bringen, also Leute ist gemeint: Die Abordnungen der deutschen Jugend. ATMO Marschgeräusche O-Ton ReporterDas Erlebnis des Reichsparteitages in einem übervollen Herzen geht es nun zur letzten Station des langen Marsches, nach Landsberg, der Festung in der Adolf Hitler gefangen war. ATMO Glockenläuten O-Ton Manfred DeilerDort sind sie dann im Gefängnishof empfangen worden vor der Führerzelle und dort hat ihr dann Baldur von Schirach stellvertretend für die Abordnungen zu Hause das Buch „Mein Kampf“ ausgehändigt. ATMO Fanfaren O-Ton Manfred DeilerEs gab dann damals 1937 erstmals eine Abschlusskundgebung am Hauptplatz in Landsberg, mit Fackeln und Fahnen und da hat Baldur von Schirach dann geprägt: Landsberg ist nun die Stadt der deutschen Jugend, und ab dem Zeitpunkt sollte das regelmäßig jedes Jahr wiederholt werden.Der bayerische Justizminister wollte die gesamte Haftanstalt Landsberg dem Führer als Geschenk machen, da sollte die größte Jugendherberge Deutschlands draus werden. Es gab eine zweite Idee, es sollte ein Aufmarschstadion entstehen, das Stadion der Jugend. Es existiert ein Modell. Da wäre vom Bahnhof weg eine große Aufmarschallee entstanden. Man kann sich das Vorstellen dieses Modell ähnlich wie das Reichsparteitags-Gelände in Nürnberg. ERZÄHLERINDer Zweite Weltkrieg lässt alle Planungen zur Makulatur werden. Nach dem Krieg übernimmt die US-Army für einige Jahre das Gefängnis. Der Trakt mit der Hitlerzelle wird abgerissen, nie mehr soll hier eine Pilgerstätte entstehen. Stattdessen inhaftieren die Amerikaner in Landsberg über 1.500 NS-Kriegsverbrecher. Fast 300 von ihnen werden dort hingerichtet – darunter Massenmörder wie KZ-Kommandanten oder Einsatzgruppenführer. ERZÄHLERAn dem Ort, an dem Hitler seine verbrecherische Ideologie entwickelte und ungehindert zu Papier bringen konnte, werden nun diejenigen gerichtet, die diese Ideen in die Tat umgesetzt, die schrecklichste Menschheitsverbrechen verübt haben – Verbrechen, die es vielleicht nie gegeben hätte, wenn... ja, wenn die bayerische Justiz als es drauf ankam nach Recht und Gesetz gehandelt hätte.TC 22:02 - Outro
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Feb 16, 2024 • 23min

BLACK HISTORY - Erfolgsgeschichte Botswana

Botswana ist eine unerwartete Erfolgsgeschichte. Bei der Staatsgründung wirtschaftlich schwach und ohne nennenswerte Infrastruktur, gilt Botswana heute als eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder Afrikas. Das liegt nicht nur am überlegten Umgang mit Diamantenvorkommen. Wie hat Botswana das geschafft? Februar ist "Black History Month". Von Linus Lüring (BR 2022) Credits Autor: Linus Lüring Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Florian Schwarz Technik: Susanne Harasim Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Christian von Soest, Prof. Andreas Wimmer, Mogkweetsi Masisi Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Wo die Regierung die Medien selbst – Pressefreiheit in Botswana Botswana: Ein Land reich an Natur und mit stabiler Demokratie. Einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es jedoch nicht - die Regierung produziert Inhalte für Fernsehen, Radio und Zeitungen selbst. Wie passt das in das politische System? JETZT ANHÖREN SWR (2024): Afrika im Aufbruch – Digitaler Fortschritt ohne Ende In Afrika boomt die „FinTech“-Branche: Bezahlen per Smartphone-App gehört zum Alltag. Auch andere Finanzgeschäfte werden digital geregelt. Die Technologie vernetzt auch die Menschen auf dem Kontinent über Grenzen hinweg. Einige der afrikanischen Fintech-Entwicklungen werden inzwischen weltweit genutzt. Und diese Erfolgsgeschichten sind noch nicht auserzählt. Denn Experten sagen der Branche in Afrika weiter einen Boom voraus. ZUM HÖRBEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 02:26 – Eine Reise nach Großbritannien TC 04:49 – Der Enkel des Königs TC 09:11 – Ein Umbruch durch Ausgleich und Verständigung TC 10:52 – Diamantensegen TC 16:22 – Kratzer im ‚afrikanischen Märchen‘ TC 22:18 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Musik: C1582570107 Der Maschinenbauer SPRECHERIN London, 6. September 1895. Drei Männer treffen in der Stadt an der Themse ein, noch etwas seekrank von der langen Reise. Zwei Wochen waren sie unterwegs. Es handelt sich um drei Herrscher aus Gebieten im südlichen Afrika. Schnell machen sie gegenüber hochrangigen Politikern ihr Ziel klar: Sie wollen erreichen, dass ihre Königreiche unter den Schutz der Britischen Krone kommen. Herrscher, die sich freiwillig einer Kolonialmacht unterwerfen? SPRECHER Was erstmal verwunderlich klingt, ist Strategie: Denn damals hatten es auch das Deutsche Reich mit der Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika und die Buren im Süden auf ihre Heimat abgesehen, erklärt Christian von Soest, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für globale und regionale Studien in Hamburg. 1 von Soest Herrschaft von außen, offensichtlich das war die Einschätzung, die unter den Häuptlingen eben vorherrschte, können wir nicht verhindern. Und da waren die Briten das kleinste Übel. Wenn man es denn schon nicht geschafft hat, diese Mächte von außen eben aus dem Land rauszuhalten. Und da eben diese Reise nach London, wo man um diesen Schutz eben gebeten hat. Musik: C1582570113 Auf der Müllkippe 0‘53 SPRECHERIN Die britische Öffentlichkeit ist fasziniert von den Besuchern aus dem fernen Afrika und ihrer Mission. “Ein Triumvirat aus drei dunkelhäutigen Königen”, heißt es bewundernd in der Presse damals. Als mächtigster von ihnen gilt Khama III. Ein Name, der später noch wichtig werden wird. Nach einem Gespräch mit Queen Victoria haben er und die beiden anderen ihr Ziel erreicht: Die Briten schließen ihre und benachbarte Reiche zum Protektorat Betschuanaland zusammen. Ein Gebiet, das zentral im südlichen Afrika liegt - etwa gleich weit von Pazifik und Atlantik entfernt. SPRECHER Diese Entscheidung und die Bemühungen der drei Herrscher haben Folgen, die bis heute spürbar sind. Aus Betschuanaland wird später die unabhängige Republik Botswana. Ein Staat der Schlagzeilen macht. TC 02:26 – Eine Reise nach Großbritannien C1351080001 Kalimba work song (a) 0‘17 Zitator “Eine Erfolgsgeschichte” “Das afrikanische Wunder” “Afrikas Oase der Stabilität und Demokratie” SPRECHERIN Das sind die Überschriften von Artikeln, die in den letzten Jahren über Botswana geschrieben wurden. Sie passen nicht zu dem Klischee, das viele Menschen in Deutschland noch immer im Kopf haben, wenn sie an Afrika denken. Krieg, Korruption, Armut. Ist Botswana wirklich eine Erfolgsgeschichte und möglicherweise ein Vorbild für andere Staaten? Was hat das Land anders gemacht? C1555160105 Water trops 0‘31 SPRECHER Die damalige Reise nach Großbritannien sehen viele als entscheidenden Ausgangspunkt für eine positive Entwicklung Botswanas. Nach der Errichtung des Protektorats Betschuanaland erfüllen sich die Hoffnungen der drei Herrscher, die gezielt britischen Schutz gesucht haben. Ihre Heimat bleibt von größeren kolonialen Einflüssen verschont und - wichtiger noch - ihre Macht bleibt mehr oder weniger unangetastet. SPRECHERIN Die Briten setzen auf indirekte Kontrolle und nutzen die traditionellen Herrschaftsstrukturen weiter, um das Land zu regieren. Für sie geht es in erster Linie darum zu verhindern, dass andere Staaten ihren Einfluss ausdehnen und etwa das Deutsche Reich noch größere Gebiete im Süden Afrikas kontrolliert. Ein konkretes Interesse an Betschuanaland selbst haben die Briten nicht, und das erscheint erstmal nachvollziehbar, erklärt Christian von Soest: Das Protektorat ist etwa so groß wie Frankreich, extrem dünn besiedelt und besteht zu einem großen Teil aus Wüste, der Kalahari. Größere Rohstoffvorkommen gibt es nicht. Die Bevölkerung lebt vor allem von der Viehzucht. 2 von Soest Das Wort, was am besten die Kolonialzeit zusammenfasst, ist eigentlich die Vernachlässigung. Man hat eigentlich gar keine, keine großen Investitionen gemacht. C1595860130 One world pattern (e) 0‘26 SPRECHER Weil das Protektorat unprofitabel ist, planen die Briten Betschuanaland an die südafrikanische Union zu übergeben, dem Vorläuferstaat des heutigen Südafrika. Nachdem dort Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings die Politik der Rassentrennung, die sogenannte Apartheid, eingeführt wurde, ging Großbritannien auf Abstand zu diesen Plänen. Betschuanaland soll stattdessen ein eigenständiger unabhängiger Staat werden. TC 04:49 – Der Enkel des Königs SPRECHERIN Dabei wird ein Mann eine wichtige Rolle spielen: Seretse Khama. Enkel von Khama III., also dem Mann, der den Schutz der Briten gesucht hatte. Seretse Khama ist nun designierter Herrscher der Bamangwato-Ethnie. Doch dieses Amt wird er nie ausüben. Zunächst geht er in den 1940er Jahren zum Studium nach Großbritannien. Musik: C1351080007 Shangaan lullaby (a) 0‘25 SPRECHER An einem Juniabend 1947 lernt er dort die junge Ruth kennen. Die beiden tanzen und verlieben sich. Ein afrikanischer Prinz und eine weiße Britin. Nur ein Jahr später planen die beiden zu heiraten. Ihre Liebe wird ein internationales Politikum. Seretse Khama schreibt einen langen Brief in die Heimat. SPRECHERIN Damals kennen Ruth und er sich seit etwa eineinhalb Jahren, erklärt er darin. Außerdem seien sie sich aller Schwierigkeiten bewusst, die sie jetzt erwarten. Aber Seretse Khama schreibt weiter, es würde keinen Sinn machen, sie von der Heirat abzubringen. Sie beide wollten den Schritt auf jeden Fall gehen. SPRECHER Die Reaktionen sind zunächst heftig. “Wenn er sie mitbringt, werde ich ihn töten”, soll Seretses Onkel angekündigt haben. Für die meisten in Betschuanaland waren Weiße in erster Linie Kolonialisten, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn haben. Gleichzeitig äußert auch das weiße Apartheidsregime im benachbarten Südafrika heftige Kritik an der Ehe. SPRECHERIN Aber Seretse und Ruth lassen sich nicht trennen. “Liebe kennt keine Hautfarbe”, erklärt er und verkündet schließlich seinen Verzicht auf den Thron. Einige Jahre später ziehen die beiden dann nach Betschuanaland. Mit seiner zurückhaltenden Art und seiner positiven Ausstrahlung gewinnt er die Herzen vieler Landsleute wieder. Auch Ruth wird in ihrer neuen Heimat immer beliebter. Musik: M0007510022 Afrikan dream 0‘22 SPRECHER In dieser Zeit, gegen Ende der 1950er Jahre, nehmen die Vorbereitungen für die Unabhängigkeit des Protektorats an Fahrt auf. Dass Seretse Khama dabei eine Schlüsselfigur wird, ist für Christian von Soest kein Zufall. 3 von Soest Khama Einmal war er Nachkomme des wichtigsten Stammes. Das heißt, er hatte ein hohes Maß an Legitimität und Autorität.  Er war politisch extrem gut verbunden. Er war in Großbritannien ausgebildet. Hatte also sehr gute Verbindungen auch zur früheren Kolonialmacht und war auch einer der größten Viehbesitzer. Das heißt, er hat zur Zeit der Unabhängigkeit die Unterstützung aller politisch wichtigen Gruppen in Botswana. Der ausgebildeten Elite, der traditionellen Autoritäten, der britischen Herrscher, der Viehzüchter und der ländlichen Bevölkerung. Musik: M0007510022 Afrikan dream 0‘30 SPRECHERIN Seretse Khama gründet die Botswana Democratic Party, kurz BDP, und gewinnt damit bei den ersten Wahlen die Mehrheit der Sitze im Parlament. Als Betschuanaland 1966 als Botswana die Unabhängigkeit erlangt, wird Seretse Khama der erste Staatspräsident. Beim Amtsantritt zeigt Khama sich demütig. SPRECHER Er erklärt, wie sehr er sich über das große Vertrauen der Bevölkerung Botswanas freue. Gleichzeitig spricht er aber auch von den großen Erwartungen, die auf ihm lasten würden. Er hofft, dass er die Versprechen erfüllen kann, die er den Menschen Botswanas gegeben hat. SPRECHERIN Die Startbedingungen sind auf den ersten Blick denkbar schlecht, wenn man sich die Fakten anschaut: 1966 hat Botswana gerade mal 12 Kilometer asphaltierte Straße, keinen direkten Meereszugang, im Land gibt es nur um die 20 Universitätsabsolventen und neun Schulen, die über die Grundschule hinausgehen. SPRECHER In anderen Staaten auf dem afrikanischen Kontinent ist die Ausgangslage komfortabler. Hier hatten die Kolonialmächte deutlich stärker investiert. Das hatte allerdings einen Preis. Denn dabei hatten sie den Kolonialgebieten auch eigene Machtstrukturen aufgezwungen. In Botswana waren die Herrschaftsverhältnisse auf lokaler Ebene dagegen unverändert geblieben. 5 von Soest Das war für die weitere Entwicklung des Landes sehr, sehr wichtig. Und wenn wir uns andere Länder anschauen, da hatten Regierungen einen revolutionären Anspruch, gegen diese Herrschaftsordnung aus der kolonialen Zeit und Besitzordnungen eben anzukämpfen. Und genau diesen revolutionären Anspruch – das finden Sie nicht in Botswana.  TC 09:11 – Ein Umbruch durch Ausgleich und Verständigung Musik: M0007510024 Happy plains 0‘20 SPRECHERIN Der Unabhängigkeitsprozess läuft deshalb sehr konsensual ab - ohne blutige Kämpfe. Generell basiert die Herrschaftskultur in den verschiedenen Königreichen und Ethnien des Landes schon immer auf Ausgleich und Verständigung. SPRECHER Für Seretse Khama geht es jetzt zunächst darum, Verwaltungsstrukturen für den jungen Staat aufzubauen. Britische Kolonialbeamte werden dabei nicht aus dem Land geworfen, sondern zunächst weiterbeschäftigt als Angestellte des Staates und nach und nach durch botswanische Angestellte ersetzt. Eine weise Entscheidung, erklärt Andreas Wimmer, Sozialwissenschaftler an der Columbia University in New York. 6 Wimmer Durch diese Geschichte des graduellen Übergangs von einer Kolonialverwaltung zu einer Selbstverwaltung erklärt sich, wieso das im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern die botswanische Verwaltung sehr effizient war. Korruption gibt’s auch auf sehr reduzierter Ebene. SPRECHERIN Auch Klientelismus wird von Anfang an in Botswana bekämpft. Dass Verwaltungsangestellte die eigene Ethnie bevorzugen, wenn es zum Beispiel um den Bau von Straßen oder Schulen geht, soll verhindert werden. Das gelingt weitgehend, auch weil Seretse Khama bei der Zusammensetzung der Regierung darauf achtet, dass die verschiedenen Ethnien des Landes in der Regierung vertreten sind. 7 Wimmer Und das war eigentlich von Anfang an der Fall. Heißt, dass keine der größeren Gruppen war eigentlich von der Macht ausgeschlossen. Es gab ein power-sharing arrangement, informelles power-sharing arrangement von Beginn an… TC 10:52 – Diamantensegen Musik: C1588530112 Green oasis 0‘47 SPRECHER Seretse Khama ist überzeugt von der Demokratie. Diese ist für ihn entscheidend für die Stabilität eines Landes Er soll sich sogar eine stärkere Opposition gewünscht haben. Diese hatte anfangs nur sieben von 34 Sitzen. Generell rechnet er damit, dass Staatsführer, die die Bevölkerung gewaltsam unterdrücken, irgendwann selbst mit Gewalt aus dem Amt gedrängt werden. SPRECHERIN Der Stil von Seretse Khama sorgt damals auch international für Aufsehen. In der New York Times erscheint kurz nach der Unabhängigkeit ein langer Artikel, der Botswana als erfreuliche Ausnahme zu anderen afrikanischen Staaten beschreibt. Das Wort „Erfolgsgeschichte“ wird hier bereits erwähnt. SPRECHER Es gibt allerdings ein Problem - dem jungen botswanischen Staat fehlen nach wie vor Einnahmen. Größter Wirtschaftszweig ist immer noch die Viehzucht. Das Land gilt Mitte der 1960er Jahre als eines der ärmsten der Welt, auch weil es eben keine nennenswerten Rohstoffvorkommen gibt. Musik: C1588530110 Call of the desert 0‘35 SPRECHERIN Dabei gibt es Hoffnung. In den Nachbarländern wurden schon vor Jahrzehnten große Diamantenvorkommen entdeckt. Und auch in Botswana laufen seit Mitte der 1950er Jahre Erkundungen. Nachdem zehn Jahre lang in unterschiedlichen Regionen Botswanas keine Edelsteine gefunden wurden, sollen die kostspieligen Bemühungen 1965 eingestellt werden. Der leitende Geologe kann allerdings eine Verlängerung um ein Jahr heraushandeln. SPRECHER Und nur zwei Monate vor Ablauf der Frist hat das Team Erfolg und findet tatsächlich erste Hinweise auf Diamantenvorkommen - unweit der Hauptstadt Gaborone. In der folgenden Zeit werden dann mehrere Diamantenvorkommen in verschiedenen Teilen des Landes entdeckt. Sie zählen bis heute zu den größten der Welt. Das Land kann jetzt mit enormen Einnahmen rechnen. Nun zeigt sich, dass es ein Glücksfall war, dass Botswanas staatliche Strukturen und die Verwaltung bereits weitestgehend aufgebaut waren, als der Diamantensegen über das Land hereinbrach. Andreas Wimmer: 8 Wimmer So ist es vielleicht zu erklären, dass eben im Unterschied zu anderen ressourcenreichen Ländern in Afrika, aber auch anderswo, dass der Diamantenreichtum nicht versickerte in den privaten Bankkonten von Politikern und hohen Funktionären und dass das Einkommen aus dem Diamantenabbau eben zur weiteren Verbesserung der Infrastruktur benutzt wurde, und nicht einfach, um politisch Stimmen zu kaufen oder eine Armee aufzubauen. Musik: M0007510021 Tribal conflict 0‘32 SPRECHERIN Länder, wie Angola oder auch Sambia verfügen einerseits über enorme Rohstoffvorkommen wie Kupfer oder Öl, sind andererseits aber politisch sehr instabil. Der Grund: Staatliche Strukturen sind oft schwach und daher versuchen verschiedene Kräfte, sich möglichst große Teile des Reichtums zu sichern. Immer wieder entstehen so blutige Konflikte. Als “Ressourcen-Fluch” wird dieser Teufelskreis bezeichnet. SPRECHER Dass Seretse Khama und seine Regierung es geschafft haben, diese Entwicklung zu verhindern, ist für den Soziologen Andreas Wimmer von der Columbia University eine entscheidende Entwicklung. Er hat ein Buch geschrieben über die Frage, warum manche Staaten scheitern und andere prosperieren. In Botswana sei es gelungen, Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und Straßen so zu verteilen, dass möglichst alle Teile der Bevölkerung davon profitieren. 9 Wimmer Das Argument ist, dass das dazu beigetragen hat, dass die Bürger unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, unabhängig von der Sprache, die sie sprechen die Regierung als gleichermaßen legitim erachten und die entsprechenden politischen Parteien auch unterstützen. SPRECHERIN Dies führte auch dazu, dass die Unterschiede der Volksgruppen im Land eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielen. Gewaltsame Konflikte entlang ethnischer Trennlinien, wie es sie in anderen instabilen Staaten immer wieder gibt, sind in Botswana nicht entstanden. SPRECHER Eine weitere visionäre Entscheidung half, diese günstigen Voraussetzungen dauerhaft zu sichern, betont der Politikwissenschaftler Christian von Soest. Die botswanische Staatsführung rund um Seretse Khama geht zur Diamantenförderung ein Joint Venture mit dem südafrikanischen Bergbaukonzern DeBeers ein. Die Einnahmen teilen sich zur Hälfte Staat und Konzern. 10 von Soest Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass man erstens eben die Expertise hat, dass aber auch der Zugriff auf die Einnahmen eben auch sehr viel kontrollierter vonstattenging als das in anderen Staaten der Fall war. SPRECHERIN Dieses Kooperationsmodell wird später auch von anderen Ländern kopiert, zum Beispiel im Nachbarland Namibia. Musik: C1582570117 Im Supermarkt 0‘34 SPRECHER Botswana erlebt in den 1970er Jahren dank der Diamantenförderung einen enormen Aufschwung. Das Land verzeichnet das höchste Wirtschaftswachstum weltweit. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen entwickelt sich zu einem der höchsten auf dem Kontinent. Die Gesundheitsversorgung wird weiter massiv ausgebaut und ist zum großen Teil kostenlos. Die internationalen Beobachter überbieten sich mit Lob für “die Schweiz Afrikas”, wie Botswana immer wieder genannt wird. TC 16:22 – Kratzer im ‚afrikanischen Märchen‘ SPRECHERIN Dabei steht das Land außenpolitisch vor großen Herausforderungen. Die zentrale Frage ist, wie sich Botswana gegenüber dem rassistischen Apartheidsregime im Nachbarland Südafrika verhält. Seretse Khama ist durch seine Ehe mit der weißen Ruth und seiner liberalen Einstellung der personifizierte Gegenentwurf zu einer Politik der Rassentrennung. SPRECHER Er weiß gleichzeitig, dass er seine Kritik vorsichtig formulieren muss, um den mächtigen Nachbarn nicht zu sehr zu reizen und die eigene Souveränität nicht zu gefährden. Anders als andere Staaten hat Botswana südafrikanische Freiheitsbewegungen wohl auch deshalb nie offen unterstützt. Musik: C1608480130 Toumani A 0‘42 SPRECHERIN 1980 kommt es zu einem Einschnitt in der Geschichte Botswanas. Staatspräsident Seretse Khama stirbt im Alter von nur 59 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Aber der Übergang zu seinen Nachfolgern vollzieht sich geräuschlos. Und auch die folgenden Parlamentswahlen laufen grundsätzlich demokratisch und frei ab. Viele Berichte beschreiben Botswana bis heute überschwänglich als ein afrikanisches Märchen. In den letzten Jahren hat diese Erzählung allerdings einige Kratzer bekommen. SPRECHER Ein Beispiel dafür sind Minderheitenrechte. Der sehr repressive Umgang mit einer indigenen Volksgruppe, den San, hat immer wieder für internationale Kritik gesorgt. Christian von Soest: 12 von Soest Die San leben als Nomaden, sind nicht wirklich sesshaft und das wurde als nicht modern von der Regierung aufgefasst. Ein sehr paternalistisches Verhältnis von Politik teilweise, das nicht ausgerichtet ist auf den Schutz von alternativen Lebensformen und -entwürfen. SPRECHERIN Die San wurden von der Wasserversorgung abgeschnitten und gezielt aus ihren gewohnten Lebensräumen vertrieben. Dabei hat sicher auch eine Rolle gespielt, dass in diesen Gebieten Diamantenvorkommen vermutet wurden. Und diesen Edelsteinen wird in Botswana nach wie vor alles untergeordnet. Sie sind der Garant für den Wohlstand des Landes. SPRECHER Dabei gibt es allerdings einen Haken. Denn trotz dieser Einnahmen steigt die Arbeitslosigkeit in Botswana in den letzten Jahren. Sie liegt bei rund 20 Prozent. 13 von Soest Der Abbau von Diamanten braucht nicht sehr viele Arbeitskräfte. Und das ist eben ein zentrales Problem. Die Einnahmen des Staates sind sehr hoch. Aber es ist eben nicht sehr breitenwirksam diese, diese, diese Einnahmequelle. Musik: M0007510021 Tribal conflict 0‘47 SPRECHERIN Eine Folge davon ist eine wachsende soziale Ungleichheit. Diese Entwicklung kann enorme gesellschaftliche Sprengkraft entwickeln. Ein Ziel ist deshalb seit langem eine Diversifizierung der Wirtschaft. Insbesondere weil die Diamantenvorkommen im Jahr 2050 etwa erschöpft sein sollen. Lange hat Botswana auf Luxustourismus gesetzt. Das Land verfügt über eine der größten Elefantenpopulationen weltweit und mit dem Okavango-Delta über ein Naturparadies. Seit wegen der Corona-Pandemie die Touristenströme ausblieben, zeigte sich allerdings, wie unsicher auch diese Strategie sein kann. SPRECHER Botswana hat außerdem mit einer im Vergleich zu anderen Ländern enorm hohen Zahl an HIV-Infizierten zu kämpfen. Auch der Klimawandel setzt dem Land zu. Schon seit Jahrzehnten gibt immer wieder Dürren, die große Teile Botswanas bedrohen. Nicht umsonst lautet das Staatsmotto Botswanas “Pula”, übersetzt etwa: “Möge Regen kommen!” Musik: C1595860103 Truth development inc (c) 0‘49 SPRECHERIN Bleibt noch die Demokratie, die ja Ausgangspunkt für die Entwicklung Botswanas ist und für die das Land gefeiert wird. Zwar gilt Botswana was freie Wahlen und Meinungsfreiheit angeht, noch immer als leuchtendes Vorbild - insbesondere in Afrika. Allerdings zeigen sich auch hier Probleme. Zwar gelten die Wahlen als frei und fair. Aber bislang hat jede Abstimmung die BDP gewonnen - die Partei, die Seretse Khama gegründet hatte. Es gibt Anzeichen für verkrustete Strukturen und Vetternwirtschaft innerhalb des Regierungsapparats. Die Entwicklung Botswanas wird in der Politikwissenschaft deshalb auch kontrovers diskutiert. 14 von Soest Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sagen den eigentlichen, ultimativen Test für eine Demokratie hat es noch nicht gegeben, nämlich ob ein Amtsinhaber eine Amtsinhaberin bereit ist, den Regierungssitz verlassen, wenn er oder sie bei der Wahl verloren hat und nicht mehr die Mehrheit der Stimmen hat. Das hat die BDP bisher nicht gehabt. Diese Herausforderung, dass es einen Machtwechsel gab. Jetzt lässt sich trefflich darüber streiten, ob sie bereit wäre, das zu tun. Das wissen wir letztendlich nicht. Ich würde sagen ja. SPRECHER 2018 wurde der BDP-Vertreter Mogkweetsi Masisi zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Bei seinem Amtsantritt hat er klargemacht, worauf es für ihn ankommt. 15 Mogweetsi Masisi We are committed to a modern Botswana, that is not only open but able to openly compete with the rest of the world while maintaining our founding principles that have united this nation through difficult times: Democracy, Self-Reliance, Development, Unity and Botho! ZITATOR / OV Wir streben nach einem modernen Botswana, das offen ist und in der Lage ist, mit dem Rest der Welt mitzuhalten. Dabei setzen wir auf unsere Grundwerte, die uns auch in schwierigen Zeiten geeint haben: Demokratie, Eigenständigkeit, Entwicklung, Einigkeit und Botho. Musik: C1595860130 One world pattern (e) 0‘42 SPRECHERIN Botho ist ein Begriff aus der Landessprache Setswana. Er bedeutet übersetzt etwa Menschlichkeit und gegenseitiger Respekt. Mit diesen Grundlagen hat es Botswana weit gebracht. Aber das Land steht an einer Weggabelung. Es ist unklar, ob es gelingt, die Wirtschaft breiter aufzustellen und neue Einnahmequellen zu erschließen. Entscheidend für das Bestehen der Demokratie wird sein, dass ethnische Konflikte weitgehend ausbleiben und die soziale Ungleichheit nicht noch größer wird. TC 22:18 – Outro
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Feb 16, 2024 • 22min

BLACK HISTORY - Die Benin-Bronzen

Sie sind nicht nur beeindruckende Kunstwerke, sie sind das Gedächtnis eines ganzen Volkes in Westafrika. Was sie genau zeigen, ist allerdings noch nicht vollständig entschlüsselt. Und nach einem Raubzug der britischen Kolonialmacht sind tausende Benin-Bronzen in der ganzen Welt verteilt. Wie soll die Rückgabe ablaufen?Februar ist "Black History Month". Von Linus Lüring (BR 2023) Credits Autor: Linus Lüring Regie: Martin Trauner Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Jerzy May, Katja Schild Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Dr. Stefan Eisenhofer, Dr. Oluwatoyin Sogbesan Linktipps: ARD Kultur (2022): Akte: Raubkunst? Warum stehen Museen in Deutschland voll mit Kulturschätzen aus Asien und Afrika? Wie sind sie hierhergekommen? In “Akte: Raubkunst?” erzählt Helen Fares die Geschichte von sechs Objekten - einige davon sind berühmt und umkämpft, andere noch kaum erforscht. Die Spuren führen in die Kolonialzeit, an Ausgrabungsstätten und in Auktionshäuser. Wir sprechen mit Menschen, die die Herkunft der Objekte erforschen und mit Menschen, die ihre Kulturschätze zurückfordern. “Akte: Raubkunst?” ist eine Produktion von Good Point Podcasts im Auftrag von ARD Kultur. ZUM PODCAST ARD Kultur (2022): Die gestohlene Seele – Raubkunst aus Afrika Brutal raubten Kolonialherren unzählige Kulturgüter aus Afrika - was soll damit geschehen? Nicht nur in Europa wird darüber kontrovers diskutiert. Auch in Afrika ist man sich uneins: vorbehaltlose Rückgabe oder nicht? Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 02:11 – Raubrausch TC 04:53 – Die kolonialistische Haltung TC 08:50 – Geraubte Heiligtümer und Identität TC 11:57 – Die zähe Geschichte einer Rückgabe TC 17:49 – Immer noch Streit TC 21:47  - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK: „The vikins & Barons“ – Z8032889#109 (0:26) SPRECHER Die afrikanischen Verteidiger sind chancenlos gegen die gewaltige Armee, die sich Anfang des Jahres 1897 an der Westküste Afrikas formiert hat. Rund 1200 schwer bewaffnete britische Soldaten, Begleittruppen und hunderte Träger machen sich auf den Weg ins Landesinnere. Ihr Ziel: Das Königreich Benin und deren Hauptstadt, Benin-City. Als einziges Gebiet in der Region ist es noch nicht von einem europäischen Staat unterworfen und zur Kolonie erklärt worden.  MUSIK: „Masks on“ – Z8032448#119 (0:32) SPRECHERIN Zu groß ist die Übermacht der Europäer, die mit Maschinengewehren vorrücken. Nach zehn Tagen ist der Kampf vorbei und Benin-City wird eingenommen. Bevor die Briten die Stadt anschließend niederbrennen, durchsuchen sie systematisch den Palast des Oba, des Herrschers von Benin. Dabei machen sie einen überraschenden Fund. Der britische Marineoffizier Reginald Bacon erinnert sich später so: ZITATOR In den Lagerhäusern war jede Menge Krempel. Alte Uniformen oder hässliche Schirme. Aber in einem Haus befanden sich - bedeckt von Schmutz - einige hundert einzigartige Bronzeplatten - wahrscheinlich ägyptischen Ursprungs. Es waren wirklich hervorragende Güsse. Die Vielfalt der Details war fantastisch.  SPRECHER Zum damaligen Zeitpunkt ist den britischen Soldaten nicht wirklich klar, was sie da vor sich haben. Erstmal nehmen sie alles mit, was sie finden können. Mehrere tausend Kunstwerke werden verschleppt. Vor allem Platten und Güsse aus Bronze und anderen Legierungen, aber auch Schnitzereien aus Elfenbein oder Holz. Für all diese Stücke setzt sich der Sammelbegriff "Benin-Bronzen" durch. TC 02:11 – Raubrausch SPRECHERIN Als die ersten Stücke nach Europa kommen, lösen sie eine gewaltige Begeisterung aus. Vor allem unter den Museen beginnt ein Wettlauf um die Benin-Bronzen. Ein Mitarbeiter des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin telegraphiert an den deutschen Konsul in Westafrika, er solle von den erbeuteten Dingen “was immer erreichbar und ohne Rücksicht auf den Preis” kaufen. SPRECHER Etwas später kommen Bronzen auch nach Bayern. Die Münchner Neuesten Nachrichten melden im Dezember 1898: MUSIK: „Area codes“ – Z8020134#106 (0:18) ZITATOR Sämtliche größere Museen Europas, Amerikas, ja selbst Australiens sind alarmiert und haben sich teilweise arm gekauft. Auch in unserem Münchner Ethnographischen Museum ist eben die erste derartige Sendung eingetroffen und wird demnächst zur Ausstellung kommen. Atmo Treppenaufgang SPRECHER Mehr als 120 Jahre später geht der Ethnologe Stefan Eisenhofer die imposante Haupttreppe im Museum Fünf Kontinente nach oben, wie das Ethnographische Museum heute heißt. Er ist Leiter der Abteilungen Afrika und Nordamerika. Sein Ziel: Die ausgestellten Benin-Bronzen in der zweiten Etage. Er bleibt vor einer der Vitrinen stehen. Darin ein Kopf aus dunklem Metall, etwa 30 Zentimeter hoch… ZUSPIELUNG 1 (Eisenhofer Beschreibung Kopf) Also hier sehen wir so einen typischen Ahnen-Gedenkkopf wie er auf den Ahnen-Altären im Reich Benin gestanden ist. Das ist   ein menschlicher Kopf, sehr stark stilisiert, Sie sehen um den Hals  diese Ringe, sind Korallen, Ketten,  Perlenketten, die Ausweis der Majestät und des hohen Ranges des Königs waren. Und da oben auf dem Kopf, sehen Sie so diese Öffnung, da steckte ein Elefantenstoßzahn drin, der in der Regel dann eben noch beschnitzt war mit mythischen oder tatsächlichen Szenen aus der Vergangenheit des Reiches. SPRECHER Etwa 20 Objekte, die zu den Benin-Bronzen gezählt werden, umfasst die Sammlung im Münchner Museum. Ein vergleichsweise kleiner Bestand. Das Ethnologische Museum in Berlin verfügt über mehr als 500 Exponate. Die meisten Benin-Bronzen finden sich in britischen Museen. Und sie alle verbindet die Frage, die Stefan Eisenhofer stellt, als er vor dem kunstvoll gestalteten Kopf aus Bronze steht. ZUSPIELUNG 3 (Eisenhofer Frage) Ja, es ist tatsächlich die Frage – wo gehören diese Ahnen-Gedenkköpfe hin? In die Museen der Welt, in Museen in Nigeria, in den Königspalast in Benin City, in ein Nationalmuseum von Nigeria oder zu anderen Familien, die vielleicht auch solche Köpfe besessen haben? TC 04:53 – Die kolonialistische Haltung MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:40) SPRECHERIN Wie soll man umgehen mit den Benin-Bronzen, die zum großen Teil geraubt wurden und jetzt in Museen und privaten Sammlungen weltweit verteilt sind? Diese Debatte wird seit einigen Jahren hochemotional geführt. Vor allem in Nigeria, dem Staat, in dem sich das Gebiet des Königreich von Benin heute befindet - nicht zu verwechseln mit dem Staat Benin, der weiter westlich liegt. Die Nigerianerin Oluwatoyin Sogbesan ist Kunsthistorikerin und Spezialistin für Fragen des kulturellen Erbes Afrikas. Die Benin-Bronzen sind für sie nur ein Beispiel für ein größeres Problem. ZUSPIELUNG 4 (Toyin - Afrika ist von außen leichter zu studieren als von innen ) Overvoice weiblich Es ist leichter, afrikanische Kultur in Museen auf der ganzen Welt zu erleben, als in Afrika. Alles wurde geplündert. Wie sollen wir unsere Geschichte zusammenfügen und verstehen? Denn das sind ja eigentlich Dinge, die die Kreativität und Fähigkeiten unserer Vorfahren verdeutlichen. So wird klar, was wir waren und wer wir sind. SPRECHER Es geht also bei der Diskussion um die Benin-Bronzen darum, wie Unrecht aus der Kolonialzeit wieder gut gemacht werden kann und auch um die Frage, wie sehr kolonialistisch geprägtes Denken bis heute wirkt. Auf der Suche nach Antworten muss man erstmal zurück an den Anfang. SPRECHERIN Denn schon im Jahr 1897, kurz nach dem britischen Raubzug, sorgen die Benin-Bronzen für Diskussionen. So heißt es im Bericht der Münchner Neuesten Nachrichten damals weiter: ZITATOR [Es] wurden Bronzegüsse aufgedeckt in einer Größe und in einer Vollendung… SPRECHER … wie man sie den Schwarzen niemals zugetraut hätte. Die Kunstwerke stellen alte Gewissheiten in Frage. Ja sogar die Argumentation, die der Unterwerfung des afrikanischen Kontinentes zugrunde lag, gerät ins Wanken, als die Benin-Bronzen nach Europa kommen. ZUSPIELUNG 5 (Eisenhofer Kolonialkritik) Der Tenor war ja, wir müssen Afrika kolonisieren, um die an die höheren Weihen der Zivilisation heranzuführen. Und jetzt stieß man auf diese tollen Kunstwerke, und das brachte die Befürworter des Kolonialismus in Erklärungsnot. Und kolonialkritische Kreise hatten halt gesagt, ihr erzählt uns immer Afrikaner, sind ohne unsere kolonisierende Hand ja nicht fähig, großartige Sachen zu schaffen. Wie erklärt ihr uns das jetzt? Und es wurden dann sehr schnell Erklärungsmodelle geschaffen, indem es hieß ja, das ist ja auch nicht von Afrikanern geschaffen worden, sondern wahrscheinlich von Arabern, die irgendwie aus dem Norden da waren, oder vielleicht von Europäern, die dort an Land gingen und dort blieben. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:32) SPRECHER So erklärt sich auch die Deutung des britischen Offiziers Reginald Bacon. Er war schnell von ägyptischem Einfluss ausgegangen. Aber es werden nicht nur die Fähigkeiten der Künstler des Königreiches von Benin angezweifelt. Es wird auch verkündet, man müsse die Benin-Bronzen nach Europa bringen und damit “retten”. Würden sie vor Ort in Westafrika bleiben, wären sie bald zerstört und damit Kunst von Weltrang unwiederbringlich verloren. Eine Sichtweise, die überheblicher kaum sein könnte. SPRECHERIN Dass die Benin-Bronzen tatsächlich vor Ort hergestellt wurden, wird inzwischen von niemandem mehr angezweifelt. Die Kunst der Bronze-Guss-Technik wird bis heute in Benin-City in Handwerkerfamilien von Generation zu Generation weitergegeben. SPRECHER Während die Herstellung der Benin-Bronzen also sehr konkret beschrieben werden kann, ist die Antwort auf eine andere Frage komplexer  - nämlich warum die Kunstwerke geschaffen wurden. SPRECHERIN Dies ist eines der Schwerpunkte in der Forschung von Oluwatoyin Sogbesan. Die Kulturhistorikerin möchte dabei zuerst ein Missverständnis aufklären. TC 08:50 – Geraubte Heiligtümer und Identität ZUSPIELUNG (8 Toyin – mehr als Kunst) Overvoice weiblich Was oft als afrikanische Kunst bezeichnet wird, sind eigentlich Objekte, die eine wichtige Funktion haben. Sie werden genutzt für rituelle Zeremonien, für traditionelle Verehrung. Für die Menschen in Benin waren Sie ein Zeichen für die Macht des Oba, des Königs. Sie waren heilig, weil sie die früheren Könige ehrten. Viele der Benin-Bronzen stellen einen verstorbenen Oba dar. Sie galten als ein Medium, durch das der amtierende Oba mit seinen Vorfahren kommunizieren konnte. [Auch deshalb mussten sie so hochwertig ausgearbeitet werden.] Nochmal: Die Benin-Bronzen waren viel mehr als nur Kunstwerke. SPRECHERIN Die Benin-Bronzen sollten also vor allem durch ihre prunkvolle Gestaltung die Macht des Oba, also des Herrschers über das Königreich von Benin, symbolisieren. Aber die Objekte hatten noch eine zweite Funktion. Denn während in europäischen Kulturen Ereignisse seit Jahrhunderten schriftlich festgehalten wurden, gab es diese Tradition in den meisten afrikanischen Gesellschaften nicht. Daher spielen die Benin-Bronzen eine besonders wichtige Rolle, vor allem die Reliefplatten. ZUSPIELUNG (9 Toyin - historical recording) Overvoice weiblich Sie waren auch Objekte der Geschichtsschreibung. Das ist sozusagen die Art und Weise, wie Afrika schreibt. Jede Platte ist damit wie eine Seite in einem Geschichtsbuch. Man kann zum Beispiel Leoparden sehen, also Tiere mit denen die Menschen früher zu tun hatten. Die Benin-Bronzen waren also für die Menschen eine Möglichkeit, Ereignisse festzuhalten. SPRECHER Im Münchner Museum Fünf Kontinente erklärt Stefan Eisenhofer, der Kurator der Afrika-Abteilung, wie das konkret aussehen kann. Er zeigt im Ausstellungsraum einer dieser Bronzeplatten. Darauf sind unter anderem portugiesische Seefahrer zu sehen. ZUSPIELUNG 10 (Eisenhofer Portugiesen) Die Portugiesen erkennt man an diesen geraden Haaren, an diesen Schnittlauchhaaren und den sehr geraden Nasen. Also Europäer wurden von den Gießen in Benin sehr stereotyp dargestellt. Lange, glatte Schnittlauchhaare und eben sehr spitze, lange Nasen, während sie die Einheimischen mit sehr breiten Nasen dargestellt haben. Sie sehen hier auch zwei Würdenträger dargestellt auf dieser Benin-Platte. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:40) SPRECHERIN Die Erforschung der Benin-Bronzen ist enorm kompliziert. Es ist nicht nur oft schwer zu deuten, was genau auf den Platten zu sehen ist oder wen ein Ahnenkopf darstellen soll - auch eine genaue Datierung ist meist nicht möglich, weil eben weitere Erklärungen oder schriftliche Ergänzungen fehlen. Es wird davon ausgegangen, dass die ältesten Bronzen aus dem 12. Jahrhundert stammen. TC 11:57 – Die zähe Geschichte einer Rückgabe SPRECHER Dass so wenig bekannt ist, liegt auch daran, dass die Briten 1897 den Palast des Oba weitgehend zerstörten und auch viele Würdenträger ermordeten. Diese gaben oft historisches Wissen mündlich an folgende Generationen weiter. SPRECHERIN Die Folge ist für Oluwatoyin Sogbesan eine Wissenslücke zwischen den Generationen - bis heute. ZUSPIELUNG 12 (Toyin - Gap) Ohne Overvoice SPRECHERIN Gerade weil die Benin-Bronzen so zentral sind für die Geschichtsschreibung eines ganzen Volkes und damit auch für dessen Identität, wurde der Raubzug zu einem zentralen Beispiel für koloniales Unrecht. Die Debatten um eine Restitution, also die Rückgabe, wird international verfolgt. SPRECHER Ein Rückblick: In den 1930er Jahren fordert der Hof von Benin erstmals offiziell von der britischen Krone die Rückgabe der Kulturgüter. Der Erfolg ist gering. Doch der Wunsch bleibt bestehen. 1960 wird Nigeria 1960 unabhängig von Großbritannien. Das Königreich von Benin ist nun Teil dieses neuen Staates. Der traditionelle Herrscher, der Oba, übt wieder großen Einfluss aus. SPRECHERIN 1972 wird in Benin-City ein Museum geplant, in dem auch Benin-Bronzen ausgestellt werden sollen. Nigerianische Diplomaten bitten darum, einige Stücke als Dauerleihgaben aus Deutschland zu bekommen. Sie stützen sich damals auf den Internationalen Museumsrat. Das Gremium hat empfohlen, geraubte Kulturgüter den noch jungen afrikanischen Staaten zurückzugeben. So soll ihnen ein besserer Zugang zur eigenen Kultur ermöglicht werden. SPRECHER Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin lehnt die Anfrage aus Nigeria damals allerdings umgehend ab. Sie besitzt die zweitgrößte Sammlung von Benin-Bronzen weltweit. Das Land habe keinen „moralischen Anspruch“ auf die Objekte und die Erwerbungen der Berliner Museen seien “von jedem Makel frei”. SPRECHERIN An dieser Haltung wird sich in den folgenden Jahren wenig ändern. Es entsteht das, was die Kunsthistorikerin Benedicte Savoy eine “Sperrmauer der Institutionen” nennt. Währenddessen blüht der internationale Markt für die Benin-Bronzen weiter. SPRECHER Noch 2007 ersteigert ein privater Bieter beim Auktionshaus Sotheby`s einen bronzenen Kopf aus Benin für fast fünf Millionen Dollar. Eine Versteigerung ähnlicher Stücke einige Jahre später muss dann allerdings gestoppt werden. Die öffentliche Kritik ist zu groß geworden. MUSIK: „Area codes“ – Z8020134#106 (0:34) SPRECHERIN Auch auf Ebene der Wissenschaft tut sich etwas. 2010 wird in Deutschland die Benin-Dialogue-Group gegründet. Es geht um eine engere Zusammenarbeit zwischen deutschen, britischen oder niederländischen Museen, die Benin-Bronzen besitzen, und Einrichtungen in Nigeria. Die Restitution ist dabei erstmal kein Thema. Stattdessen soll der Austausch von Informationen zu Sammlungen oder einzelnen Objekten intensiviert werden. SPRECHER Nach und nach tritt auch die nigerianische Seite deutlicher auf. Sie bittet nicht mehr. Oluwatoyin Sogbesan und andere fordern die Rückgabe mit Nachdruck ein. ZUSPIELUNG 14 (Toyin Fliegen) Overvoice weiblich Menschen machen sich von Nigeria aus auf den Weg, um die Benin-Bronzen in Museen überall in der Welt zu sehen. Warum können nicht Menschen aus aller Welt nach Nigeria reisen? Ihr könnt ja Kopien haben. Und wenn ihr das Original sehen wollt, dann müsst ihr eben nach Nigeria kommen. Lasst uns den Spieß umdrehen! SPRECHERIN Eine Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Ende 2017 beschleunigt dann die Entwicklung. In seiner fast zweistündigen Rede vor Studierenden in Burkina Faso verkündet er ein Umdenken: ZUSPIELUNG 15 (Rede Macron) Overvoice männlich Ich kann nicht hinnehmen, dass sich ein Großteil des kulturellen Erbes vieler afrikanischer Staaten in Frankreich befindet. Es gibt historische Erklärungen dafür, aber keine wirkliche Rechtfertigung. Das Erbe Afrika darf nicht nur in privaten Sammlungen und europäischen Museen zu finden sein. SPRECHER Damit kündigt Macron wohl so deutlich wie kein anderer europäischer Staatschef vor ihm die Rückgabe von Kulturgütern an. Ein Schritt, der auch Museen und Politik in Deutschland unter Druck setzt. Wie soll man weiter mit den Benin-Bronzen umgehen? SPRECHERIN Zur Erinnerung: Jahrzehntelang waren Forderungen aus Nigeria nicht ernst genommen und abgelehnt worden. Anfang der 1970er Jahre hieß es noch, Nigeria habe keinen Anspruch auf die Benin-Bronzen. Auf einmal geht es dann schnell: Im Juli 2022 unterzeichnen die deutsche Bundesregierung und die Regierung Nigerias eine gemeinsame Erklärung. Darin heißt es gleich am Anfang: ZITATOR Wir bekräftigen das Ziel, die Benin-Bronzen ohne Bedingungen an Nigeria zurückzugeben. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (1:10) SPRECHER Und wenige Monate später werden in Nigeria die ersten Objekte feierlich übergeben. Mehrere hundert weitere sollen folgen. Teilweise sollen aber auch Bronzen als Dauerleihgaben in deutschen Museen bleiben - mit dem Hinweis auf die neuen Eigentümer. In allen Erklärungen und Vereinbarungen schwingt die Hoffnung mit, dass mit diesen Regelungen die jahrzehntelangen Debatten beendet werden können. TC 17:49 – Immer noch Streit SPRECHERIN Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Innerhalb Nigerias entwickelt sich eine neue Kontroverse um die Benin-Bronzen. Wem sollen sie gehören? Wer soll sich um die Aufbewahrung und Ausstellung kümmern? Und da wird es kompliziert. Dem Staat Nigeria wurden die Bronzen offiziell übergeben. Aber auch der amtierende Oba, der traditionelle Herrscher über das Königreich von Benin, hat Ansprüche angemeldet. SPRECHER Mit Erfolg: Der frühere nigerianische Staatspräsident Buhari hat die Bronzen inzwischen dem Oba übergeben. Die Begründung: Er sei der rechtmäßige Eigentümer, weil seine Vorgänger die meisten Werke in Auftrag gegeben und im Königspalast aufgestellt hatten. Allerdings ist die Sorge vieler Beobachter, dass die Bronzen nun dort verschwinden und nicht mehr in einem öffentlichen Museum gezeigt würden. So war es eigentlich geplant. SPRECHERIN Und eine weitere Partei hat sich eingeschaltet. Denn ein weiterer Aspekt gehört zu den Benin-Bronzen: Ihre Herstellung wurde auch durch einen florierenden Sklavenhandel finanziert. Dieser wiederum wurde vom Königshaus von Benin durch aggressive Eroberungskriege am Laufen gehalten. Die Nachfahren dieser Sklaven bezeichnen die Benin-Bronzen deshalb als “Blut-Metalle” und kritisieren die pauschale Rückgabe an Nigeria. Sie sehen die Kunstwerke auch als Teil des eigenen kulturellen Erbes und möchten mitbestimmen, was mit ihnen passiert. SPRECHER Stefan Eisenhofer vom Münchner Museum Fünf Kontinente wirbt für, eine ruhige Auseinandersetzung. ZUSPIELUNG 16 (Eisenhofer überhastet) Also ich würde allen Parteien eigentlich wünschen, dass man sich nicht von der Politik her treiben lässt, wie das zum Teil im Moment so der Fall ist. Also ich würde mir wünschen, dass man sich viel mehr Zeit nimmt, um Gespräche zu führen mit unterschiedlichen Akteuren in Nigeria, auch um um einfach , ja, zu sehen, die angemessenste Lösungen zu finden, wie man damit umgeht, also so, wie es im Moment so stattfindet, möglichst schnell zurückgeben, um irgendwie Schuld gutzumachen. Und dann haben wir unsere Ruhe - also das ist in meiner Sicht nicht der richtige Weg. SPRECHERIN Oluwatoyin Sogbesan warnt allerdings vor einer weiteren Einmischung. Sie betont, dass die Rückgabe bedingungslos erfolgt sei. Was mit den Bronzen weiter passiere, sei allein eine Angelegenheit Nigerias. ZUSPIELUNG 17 (Toyin in dein Haus kommen) Overvoice weiblich Es ist, als würde ich in dein Haus kommen, ohne zu fragen, die Tür öffnen und dann sage ich, was du mit deinen eigenen Sachen machen sollst. Die Debatte ist zum Teil immer noch nicht an einem Punkt angelangt, wo wir eine gemeinsame Grundlage haben. SPRECHER Es sind also trotz jahrzehntelangen Debatten immer noch zentrale Aspekte ungeklärt. Ein Rätsel konnte aber gelöst werden - mit überraschendem Ergebnis. Es ging dabei um die Frage, woher das Metall kam, das für den Guss der Benin-Bronzen verwendet wurde. Schon länger war vermutet worden, dass es aus einer einzigen Region stammt. SPRECHERIN Wissenschaftler aus Bochum konnten das bestätigen und mit chemischen Analysen nachweisen, dass das Metall für die Benin-Bronzen vor allem aus Deutschland stammt. Genauer aus der Region zwischen Köln und Aachen. Das Messing, das dort hergestellt wurde, war vor allem wegen seiner besonderen Fließfähigkeit begehrt bei Gießern in Benin. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:30) SPRECHER Auch wenn die Benin-Bronzen damit eine deutlich größere Verbindung zu Deutschland haben als lange bekannt war - die Restitutionsdebatte verändert die Erkenntnis nicht. Denn ein legitimer Anspruch auf die Kunstgüter lässt sich daraus nicht ableiten. TC 21:47  - Outro

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