Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Nov 1, 2024 • 23min

DIE FIRST LADY UND DIE KÖNIGIN - Martha Washington und Marie Antoinette (1/3)

Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 1. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)Credits Autorin & Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger Linktipps: Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution   In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“   Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERIN Martha kommt. In dichten Reihen drängen sich die Menschen an diesem Frühlingstag in den staubigen Straßen von New York. Die Menge jubelt, schwenkt Fahnen, wirft Hüte. 2 ERZÄHLERIN Ellbogen stechen in Rippen. Hände schieben. 1 ERZÄHLERIN Dreizehnmal donnern die Kanonen zum Salut. Als die prächtig geschmückte Fähre - Stoffbahnen und Blumenranken an Bug und Heck in rot, weiß und blau - als die prächtig geschmückte Fähre anlegt an der Südspitze Manhattans – 2 ERZÄHLERINSehen die meisten in der Masse gar nichts vor lauter wedelnder Wimpel und grüßender Taschentücher. 1 ERZÄHLERIN Dabeisein ist alles an diesem 27. Mai 1789. ZITATOR PRESSE 1Der erste Präsident bezieht offiziell seinen provisorischen Amtssitz an der Ecke Cherry und Queen Street – ZITATOR PRESSE 2Wochenlang haben George Washington und sein Stab hier alles vorbereitet – nun kommt seine Frau Martha nach – ZITATOR PRESSE 1Cherry Street Number 3 – ZITATOR PRESSE 2Später wird der Präsident mit seiner Familie in Philadelphia wohnen, in der neuen Hauptstadt der – neuen – Vereinigten Staaten. 1 ERZÄHLERINDie USA haben einen Präsidenten, gewählt vom Volk, seine Macht ist eine qua Amt. Damit beginnt eine neue Zeitrechnung: Die westliche Moderne. MUSIK 2 ERZÄHLERINNur drei Wochen später, am 14. Juli 1789 geht eine andere Ära zu Ende. Im alten Europa, in Frankreich stürmen die Revolutionäre die Bastille. Die Monarchie muss weg. 1 ERZÄHLERIN Im Zentrum dieser beiden Großereignisse so knapp hintereinander, stehen zwei Frauen, deren Leben gar nicht so unähnlich sind. Getroffen haben sie sich nie. Aber sicher ähnliche Erfahrungen gemacht – wenn auch mit sehr unterschiedlichem Ausgang. Die eine: Marie Antoinette, Königin von Frankreich, bekannt für ihre berüchtigte Verschwendungssucht, ihre modischen Exzesse, frivolen Partys. Die andere: Martha Washington. Die erste Mutter einer neuen Nation. Die eine Tochter aus österreichischem Kaiserhaus. Der Vater der anderen ein Tabakpflanzer aus Virginia. Beide stehen irgendwann an der Spitze eines Staates, in der Rolle einer Königin, einer First Lady. Die eine wird helfen ein neues System zu etablieren, der anderen wird ein altes System aus den Fingern gleiten.  2 ERZÄHLERINAusgesucht haben sich die beiden ihre jeweiligen Spitzenposten nicht. MUSIK & ATMO 2 ERZÄHLERINAls am 27. Mai 1789 ganz Manhattan auf den Beinen ist, um die Gattin des Präsidenten zu begrüßen, macht Martha Washington mit, weil man an die Seite des Mannes gehört, wie sie findet: ZITATORIN MARTHA„Er ist viel zu alt, um nochmal groß einzusteigen in die Politik. Aber da es nicht zu verhindern ist, gehe ich mit.“ 1 ERZÄHLERINPer Fähre holt er sie feierlich ab von der anderen Seite des Hudson River. Die begeisterten Bürgerinnen und Bürger der rund 33.000 Einwohner zählenden Stadt New York, überhaupt der neuen Nation, der United States of America, feiern: Martha Washington… 2 ERZÄHLERINDie winkt. Wohl eher verhalten. MUSIK & ATMO 2 ERZÄHLERINDie kleine, rundliche Frau mit den weißen Locken unter der Haube ist 58 Jahre alt, mehrfache Großmutter und mit Leib und Seele Managerin des Familienanwesens Mount Vernon. Das liegt 250 Meilen, also mehrere Tagesreisen entfernt, idyllisch an den Ufern des Potomac River, mit Blick auf die grünen Hügel und Wälder des ländlichen Virginia.  1 ERZÄHLERINJetzt ist sie zudem die erste – 2 ERZÄHLERINJa, was eigentlich? 1 ZU (0.52+5.42) It is interesting… without job descriptionOVw Diese Rolle der „First Lady“, hatte keine Jobbeschreibung. 2 ERZÄHLERINSagt Catharine Allgor. Sie ist Vorsitzende der Massachusetts Historical Society in Boston. 2 ZU (6.02) This happens a lot…OVwWenn man sich mit Frauengeschichte beschäftigt, hat da vieles keinen offiziellen Rahmen. Bei George Washington als erstem Staatsoberhaupt einer Republik war klar, eine aristokratische Ansprache geht gar nicht. Also wurde er auf eigenen Vorschlag „Mister President“. 2 ERZÄHLERINUnd sie? MUSIK 03 ZITATOR PRESSE 1 + 03 ZITATOR PRESSE 2 + div.„Gott schütze Lady Washington!“      1 ERZÄHLERINRufen die Menschen bei ihrer Ankunft in New York. 2 ERZÄHLERINDie Zeitungen titeln genauso. Oder ganz anders. Der Daily Advertiser vom 15. Juni 1789 etwa berichtet: 04 ZITATOR PRESSE 2„Ihre Hoheit (Martha Washington), die letzte Woche durch einen Schmerz im dritten Gelenk des vierten Fingers der linken Hand sehr indisponiert war, ist – wir sind in der glücklichen Lage, dies kundzutun – auf dem Wege der Genesung, nachdem sie sich eine Erkältung zugezogen hatte, als sie in jenem Pelzmantel ausging, den ihr jüngst der russische Botschafter als Geschenk der Prinzessin vermacht hatte.“  2 ERZÄHLERINLady Washington. Hoheit. Prinzessiale Pelzmantelgeschenke. Und plötzlich ist das dritte Gelenk des vierten Fingers -  1 ERZÄHLERIN  Der linken Hand - 2 ERZÄHLERINIst selbst das von allseitigem Interesse. Offizielle Dinner und Empfänge müssen sein - ZITATORIN MARTHA“Mein Leben ist langweilig. Tatsächlich fühle ich mich wie eine Staatsgefangene.” 2 ERZÄHLERINSchreibt Martha Washington am 23. Oktober 1789 aus New York an ihre Lieblingsnichte Fanny, wenige Monate nach dem Amtsantritt ihres Mannes.  MUSIK 03 ZITATORIN MARTHA“Es gibt bestimmte Grenzen für mich, die ich einhalten muss. Und da ich nicht hartnäckig angehen kann dagegen, sitze ich eben viel zuhause. Der Präsident ist diese Woche aufgebrochen zu einer Reise an die Ostküste.“ 2 ERZÄHLERINEinsamkeit von Amtswegen. Genauer ob Amt des Ehemannes. In Europa kennen diesen Zustand Kaiserinnen und Königinnen seit Jahrhunderten. An den Höfen ist alles Ritus. Wer da was warum mehr oder weniger traditionell zu tun und zu lassen hat, wird nicht hinterfragt. Man unterwirft sich der Routine, folgt der Folie, weil es erwartet wird. 1 ERZÄHLERIN  Rang und Rolle definieren, wo man geht und steht. Neben wem, hinter wem und bei wem gar nicht. Ausbrechen aus dem Regelwerk wäre Verrat am System. Die europäischen Adelshäuser funktionieren als streng geführte Familienunternehmen. 2 ERZÄHLERIN Nicht die oder der einzelne ist bedeutsam als Person, die Firma muss weiterlaufen, expandieren, Gewinne bringen. Kinder, besonders Söhne, sichern die Zukunft. Gebiete erweitert man durch Kriege - oder Heirat. Dabei gilt: Allianzen mit Nachbarn entstehen und vergehen. 2 ERZÄHLERIN Die Sippe soll bleiben – 1 ERZÄHLERIN Und zwar an der Macht.    2 ERZÄHLERINEin Paradebeispiel dafür: MUSIK 2 ERZÄHLERINFünfzehn Jahre, bevor Martha Washington „Lady Hoheit Mrs. President“ wird, am 10. Mai 1774, besteigt in Frankreich Louis XVI. den Thron. Seine Frau Marie Antoinette macht das zur Königin. 01 ZITATORIN MARIE"Die Leute glauben es sei so einfach die Königin zu spielen, aber sie irren. Nichts als Vorschriften und Zeremoniell, natürlich zu sein ist anscheinend ein Verbrechen." 1 ERZÄHLERINDabei wäre Marie Antoinette – 2 ERZÄHLERINGanz anders als Martha Washington, Tochter eines Tabakpflanzers in der Kolonie Virginia – 1 ERZÄHLERINMaria Antoinette, eigentlich Maria Antonia Josepha Johanna, wäre vorbereitet gewesen auf ein Leben an der Spitze eines Staates in Pracht und Prunk. 2 ERZÄHLERINTheoretisch. Schon als kleinem Mädchen ist ihr vieles, um es Österreichisch zu sagen, wurscht. 1 ERZÄHLERINIhrer Mutter nicht. Die nur Regentin, aber gerne genannt Kaiserin Maria Theresia ist ehrgeizig. Auch für das Nesthäkchen, Kind Nummer 16, Maria Antonia Josepha Johanna, gibt es keine Ausnahme. 3 ZU Lindinger 1:30Es ist kein Honigschlecken gewesen. 1 ERZÄHLERINSagt Michaela Lindinger. Die Kuratorin des Wien Museums hat 2023 eine Biografie veröffentlicht: „Marie Antoinette. Zwischen Aufklärung und Fake News“. 4 ZU Lindinger 1:30In Österreich ist noch immer dieses Bild von Maria Theresia, dass sie so eine Mutterfigur war und alles so wunderbar und auch die vielen Kinder, die hat sie nicht bekommen, weil sie eine große Familie wollte, sondern die wollte Macht und Kontrolle, die sie mit Hilfe dieser Kinder in Europa ausüben kann. 2 ERZÄHLERIN Eroberungskriege sind teuer, also expandiert Maria Theresia lieber mittels Heirat. Statt Herz – Kalkül. 1 ERZÄHLERINHauptsache Throne besetzen. Wenn nicht durch die eine, dann durch die andere Tochter. 5 ZU Lindinger 1:30Maria Josepha hätte Königin werden sollen von Neapel-Sizilien. Nachdem die tot war, hat sie eine Woche später schon den Leuten unten die nächste Kandidatin präsentiert: Maria Carolina. Die ist dann Königin von Neapel-Sizilien geworden und es war dadurch für die nächste Maria Antonina: So und Du wirst jetzt Königin von Frankreich. MUSIK 1 ERZÄHLERINMit Toben im Spielzimmer ist Schluss. Schnell engagierte französische Lehrer sollen das Kind im Crashkurs vorbereiten. 2 ERZÄHLERINDas Kind hat keine Lust auf Lesen. Lernen nach Lehrbuch fällt dem Mädchen schwer. Klassische Bildung langweilt. Maria Antonia liebt Musik, Tanz und Theater. 1 ERZÄHLERINDie Kaiserin resigniert und setzt auf Aussteuer und Aussehen der Tochter. Aus Paris kommt ein neuer Schönheitstrend: Lächeln. Also muss ein französischer Zahnarzt an die Hofburg, um Maria Antonia eine Spange zu verpassen. 1 ERZÄHLERINMit korrekt reguliertem Lächeln kommt die künftige Braut in Versailles an. 2 ERZÄHLERINUnd merkt: Pariser Bürgerinnen mögen übers ganze Gesicht strahlen, das gilt als modern. In der Hauptstadt treffen sich die besser gestellten Damen in fröhlichen Salons, flanieren durch Parks, spielen nachmittags mit den Kindern, tanzen abends auf Bällen. ATMO Tischglocke 1 ERZÄHLERINIn französischen Königspalästen, erklären die ältlichen Madams, die Marie Antoinette zur Seite gestellt werden, blickt man angemessen drein. 6 ZU Lindinger 4:30Dieser hohe Adel in Versailles hat den Mund verkniffen zugehabt und es war ja das ganze Gesicht auch mit einer sehr giftigen Paste zu gepudert. Also man hat den Mund kaum aufgebracht. Und somit war das Mädchen, das mit 14 Jahren nach Frankreich gekommen ist, für das Umfeld, in dem sie leben sollte, überhaupt nicht vorbereitet. In Paris glaube ich, hätte es ihr sehr gut gefallen, in Versailles war sie eine Katastrophe.   2 ERZÄHLERINInsgesamt ist hier gar nichts wie daheim in Wien. 7 ZU Lindinger 7:24Maria Theresia hat diese 16 Kinder gehabt und dauernd Kriege führen müssen und hat schauen müssen, dass Geld in die Staatskasse kommt und dadurch war dieser Hof ein bissl schlampig. Durchreisende haben das immer wieder betont, es funktioniert schon alles irgendwie. Im Vergleich zu Versailles, wo alles durchorganisiert war, wo jeder genau gewusst hat, wo er an welchem Tag zu welcher Stunde sein wird, wo man nur Floskeln sagen durfte, überhaupt nicht frei herausreden, was man denkt, das war die Marie Antoinette überhaupt nicht gewohnt. MUSIK ZITATOR INFOVon einem aufgeklärten Absolutismus wie in der Wiener Hofburg ist Versailles damals weit entfernt. Das französische Staatssystem orientiert sich streng an der Vergangenheit. Ludwig XV. macht weiter, wie Ludwig XIV. es vor ihm gemacht hat – und Ludwig XVI. es nach ihm beibehalten wird. Man ist auf Bestand ausgerichtet, auf Wahrung dessen, was man kennt. Der politische Weitblick der französischen Monarchen endet denn meist an den mit reichen Tapeten geschmückten Wänden Versailles. Statt weltmännisch mitzumischen auf europäischem Parkett, zerreiben sich der König und alle unter ihm in der kleinteiligen Tagestaktung des Hofzeremoniells. 2 ERZÄHLERINDas ist so filigran austariert, dass man es einer Neuen im System wie Marie Antoinette lang und ausführlich erläutern müsste. 1 ERZÄHLERINDas lassen die ältlichen Tanten, deren Aufgabe es hätte sein sollen. Vielleicht denken sie, das Kind müsste das doch eh wissen. 2 ERZÄHLERINOder sie wollen gar nicht, dass die Ausländerin etwas weiß. Ihnen womöglich den Rang abläuft, Einfluss gewinnt. Marie Antoinette bleibt folglich nur das, was sie von daheim kennt. 8 ZU Lindinger 10:27Zum Beispiel hat sie gesagt okay, wenn ich das Zimmer verlasse, dann kann die Kerze ruhig dort in dem Kerzenständer drinnen bleiben. Und wenn ich wieder zurückkehre, hat sie zum Personal gesagt, dann zündet sie einfach wieder an. So ist es in Wien gehandhabt worden. MUSIK Aber der Hausbrauch in Versailles war eben so: Die Kerzen, die bereits angezündet waren, wurden dem Dienstpersonal übergeben. Die haben die weiterverkauft. Und dadurch, dass diese neue Dauphin gesagt hat, wir lassen die Kerzen einfach drinstehen, haben die einen Verdienstentgang gehabt. Und was man dann weitererzählt hat, war: Die neue Dauphine nimmt den Dienstboten das Geld weg. So ist von Anfang an ist diese junge Frau in einem sehr schlechten Ruf geraten. ZITATORESl'Autrichien/ Die Österreicherin/ Die Ausländerin/ l'étranger 1 ERZÄHLERINGanz Versailles schüttelt darüber den Kopf. Und über ihren Kleidungstil. Ihr noch wenig geschliffenes Französisch. Ihre unverblümte Art. Über alles an ihr. Ständig. 2 ERZÄHLERINUnd man sticht alles und ständig durch an die Boulevard-Presse. Die entsteht in Paris gerade, immer mehr Menschen können lesen. Klatschheftchen wie die sogenannten „Libelles“ überschlagen sich bald in Geschichten und Skandalen über eben: ZITATORESl'Autrichien/ Die Österreicherin/ Die Ausländerin/ l'étranger 2 ERZÄHLERINVon ihrem Mann Ludwig XVI. kommt keine Hilfe. 9 ZU Lindinger 13.06Was natürlich auch alle gewusst haben, dass er überhaupt kein Interesse an ihr hat. Und somit waren da im Endeffekt sieben Jahre, wo kein ehelicher Verkehr stattgefunden hat und dadurch natürlich Marie Antoinette keine Kinder bekommen hat und wo immer dieses Damoklesschwert über ihr gehangen ist. Sie hat keinen Thronfolger auf die Welt gebracht. MUSIK ZITATORIN MARIA THERESIA Bitte sei doch nett zu deinem Mann. Alles hängt von dir ab. Also schau, dass du möglichst viel Zeit mit deinem Mann verbringst. 10 ZU Lindinger 13.06Diese Marie-Antoinette hat sich unfassbar unter Druck gesetzt gefühlt durch diese ständigen Schreiben ihre Mutter. 2 ERZÄHLERIN  Zugleich setzen ihr die kursierenden Spottschriften zu. Auch weil immer irgendein Bediensteter oder Adeliger ganz zufällig so ein Papier in Versailles herumliegen lässt. Sie ist die Königin von Frankreich. 1 ERZÄHLERINDie nicht zu Frankreich passt. Was soll sie anfangen mit dieser Rolle? MUSIK 2 ERZÄHLERIN15 Jahre später und einen Kontinent weiter steht unter sehr anderen Umständen, aber doch ähnlich eine andere Frau vor genau der Frage. Der große Unterschied: Die Menschen lieben sie und ihr George auch. Dazu kommt: Sie steckt in keinem tradierten System fest, in keiner Dynastie, die auf Gedeih und Verderb weiter existieren muss. Die Kinderfrage ist keine Staatsraison, sondern eine private. Verwandtschaftsbeziehungen über Grenzen hinweg spielen keine Rolle. Die Gnade Gottes erweist sich vielleicht in kleinen Dingen und spendet Trost in großen Tragödien. Prädestiniert aber nicht für eine Thronfolge. Hier wählt das Volk. Oder wählt ab. 1 ERZÄHLERINAls Martha Washington im Mai 1789 ankommt in New York, bejubelt von den Massen, weiß sie nicht, was von ihr erwartet wird. Aber wahrscheinlich weiß das niemand so recht. MUSIK 01 ZITATOR INFOPräsident George Washington leitet ein völlig neues Staatskonstrukt. Es wundert wenig, dass sich die ebenfalls neu eingeführten Wahlmänner als Repräsentanten des amerikanischen Volkes entschieden haben für ihn. Washington, den integren, hochangesehenen Helden der Unabhängigkeitskriege. Ehemaliger Chef der Kontinentalarmee, ein herausragender Stratege und General, der den Sieg über die Briten herbeigeführt hat und damit das Ende der Kolonialherrschaft von George III. besiegelt. Politische Gegner halten ihn mit 67 Jahren für zu alt, zu schwach, zerrieben und verbraucht in den langen, durchaus nicht durchgängig erfolgreichen Revolutionsjahren. Befürworter koppeln an diesen unermüdlichen Einsatz und seine Lebenserfahrung die Erwartung: Washington wird die Vereinigten Staaten zusammenführen zu etwas Ganzem, Einheitlichem. Der Präsident soll gemeinsam mit dem frisch gewählten Kongress aus vormals 13 Kolonien eine unabhängige Nation formen, als demokratisch legitimierter Vater der Nation, nicht als Herrscher von Geburtswegen und Gottes Gnaden. 2 ERZÄHLERINWird man als Ehefrau damit automatisch zur „Mutter der Nation“? Martha Washington ist ein Familienmensch, kümmert sich rührend um ihre Enkel, die bei ihr leben. Familie ist für sie etwas Privates. 1 ERZÄHLERINAuf einmal wird all das Gegenstand begeisterter Neugier. Allein schon, was sie anzieht, erregt plötzlich höchstes öffentliches Interesse. Martha trägt gerne Weiß. Die Zeitungen schwärmen: Weiß, die Farbe der Bescheidenheit! Der Güte! Freundlichkeit, menschlichen Wärme. MUSIK 04 ZITATOR PRESSE 1 „Sie war gekleidet in Gewänder unseres Landes, in denen ihre natürliche Güte und ihr Patriotismus auf das Vorteilhafteste herausgestellt wurden.“ 1 ERZÄHLERINMartha mag am liebsten französische Schnitte. In jungen Jahren verspielt und enganliegend, später gesetzter, reifer.   03 ZITATORIN MARTHA„Schönheit liegt nicht in unserem Aussehen, sondern in dem Gefühl, das wir anderen Menschen geben“. MUSIK 2 ERZÄHLERINKönigin Marie Antoinette in Frankreich teilt diese Ansicht. Auch wenn sich die beiden nicht kennen, nie begegnen werden. Diesen Drang nach Leben außerhalb jeglicher von anderen zugeschriebenen Rollen formulieren beide in ihren erhaltenen Briefen. Marie Antoinette ist weit jünger als Martha Washington, als sie erste Frau im Lande wird. Sie will weniger einfach mal nur Ruhe mit der Familie und Bekannten wie Martha. Marie möchte unter Menschen sein, mittendrin, frei – lachen und romantisch lieben. Wie die Heldinnen in den damals angesagten Romanen, die sie verschlingt. 1 ERZÄHLERIN  Ihr Mann erweist sich weiter als Totalausfall. Auf dem Thron und im Bett. 9 ZU Lindinger 13.06Das hat dann sehr viel damit zu tun gehabt, dass sie eine sehr tanzfreudige, eine sehr amüsierwütige junge Frau geworden ist, die sich hauptsächlich in Paris eben mit ihren Freundinnen und Freunden aufgehalten hat und versucht hat, diesem unfassbar anstrengenden Leben mit diesem schrecklichen Mann an der Seite so viel wie möglich fernzubleiben. Das war eine innere Rebellion. 1 ERZÄHLERINZeremoniell hin oder her: Versailles ist ein perfekt und perfide eingespielter Intrigenstadel. 2 ERZÄHLERINDem Teenager aus Österreich ist das egal! Ihre Vorgängerinnen sieht man vielleicht einmal im Jahr bei öffentlichen Auftritten, sittsam gekleidet. Die einzige Aufgabe: Kinder bekommen und Erzieher für sie aussuchen. Die Männer sollen Geschichte schreiben, fahren per Prunkgespann durch die Avenuen. MUSIK 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette ist eine Frohnatur. Frisch in Frankreich ist sie der Obhut der ältlichen Tanten bald überdrüssig. Sie versammelt eine Clique Gleichaltriger um sich. Jeden Tag: Picknick, Schnitzeljagd, Ausfahrt. Jeden Abend: Gelage und Party. 1 ERZÄHLERINPolitisch verhandelt wird bei diesen Veranstaltungen nichts. Auch wenn die Mutter, Kaiserin Maria Theresia, aus Wien mahnende Briefe schreibt, das Kind möge helfen mehr österreichische Botschafter am Versailler Hof zu installieren, die eine oder andere strategische Strippe ziehen, sich nicht dauernd von der angeheirateten Familie abwimmeln lassen und abstempeln als „Die Österreicherin“. Und: Sie kleide sich bitte angemessen! 2 ERZÄHLERIN    Marie Antoinette liebt Designerstücke, die oft märchenhaft-bürgerlich anmuten. Schneidern lässt sie dort, wo es ihr gefällt: Hoflieferant oder Hinterhof-Atelier. Wichtig ist nur: Üppige Prachtroben, eng geschnürt, in denen man sich kaum bewegen kann und permanent Atemnot droht –Nein, Danke! Das grand corps, ein spezielles Korsett, edelsteinbestickt von französischen Prinzessinnen bleibt im Schrank. 1 ERZÄHLERINDas kommt beim Hochadel nicht gut an. 2 ERZÄHLERIN    Luftig soll es sein – in angedeuteter Bescheidenheit absolut extravagant.     1 ERZÄHLERIN    Und orbitant. Teuer. Das steuergeplagte Volk verurteilt sie dafür. 2 ERZÄHLERINWas weiß das Volk schon? 1 ERZÄHLERINDas, was die Gazetten schreiben, erklärt Biografin Michaela Lindinger. 10 ZU Lindinger 20:39Dann hat sie es auch noch gewagt, Herrenkleidung zu tragen. Und hat sie sich auch noch zu Pferd in eben diesen Herrenhosen porträtieren lassen, also praktisch wie ein König. Und man hat nicht nur den Kopf geschüttelt. Man hat versucht, gegen diese Frau vorzugehen. Sie war eine Persona non grata, wirklich von Anfang an. MUSIK 1 ERZÄHLERINDas weiß das Volk. 2 ERZÄHLERINAber eins kann man ihr nicht nehmen: Sie ist die Königin! 1 ERZÄHLERINWas soll schon schiefgehen?
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Oct 18, 2024 • 25min

WACHSTUM UND PLEITE - Die Geldfabrik Wall Street

Die Wall Street ist eine kleine Straße in Lower Manhattan, New York - und gleichzeitig der Inbegriff von Geld, Macht und Kapitalismus. In der Wall Street Nummer elf sitzt die größte Wertpapierbörse der Welt. Hier spekulieren Händlerinnen und Händler seit über 200 Jahren - mittlerweile täglich mit zig Milliarden Dollar. Wegen der exorbitanten Summen können Krisen der Wall Street, Börsen-Crashs, die ganze Welt erschüttern. Von Maike Brzoska (BR 2023) Credits Autorin: Maike Brzoska Regie: Anja Scheifinger Es sprachen: Caroline Ebner, Andreas Neumann, Diana Gaul, Benjamin Stedler, Clemens Nicol Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Boris Gehlen, Prof. Julia Rischbieter Besonderer Linktipps der Redaktion: ZDF – Terra X (2024): USA – Der Riss Am 5. November 2024 wird bei den US-Präsidentschaftswahlen nicht nur über den nächsten Präsidenten, sondern auch über die demokratische Entwicklung des Landes entschieden. Vieles deutet darauf hin, dass diese, je nach Gewinner, sehr unterschiedlich verlaufen könnte. Dabei spielt der tiefe Riss, der die US-Gesellschaft durchzieht, eine wichtige Rolle. Jetzt, wo Donald Trump zum zweiten Mal zur Wahl steht, wird er besonders offensichtlich. In den Medien, vor Gericht, beim Beten, in Sachen Einkommen, Bildung und Ernährung. Und natürlich immer und überall beim Thema Race. ZUM PODCAST (externer Link) Linktipps: WDR (2020): Der große Crash – Die Wirtschaftskrise von 1929 in Deutschland Am 24. und 25. Oktober 1929 stürzen an der New Yorker Börse Aktienkurse ins Bodenlose. Innerhalb kurzer Zeit werden gewaltige Vermögenswerte vernichtet: der "Schwarze Freitag" an der Wall Street. Nach den Jahren des Booms kann sich auch Deutschland dem Sog nicht entziehen. Der Film berichtet detailgenau, wie die Krise an den Börsen das alltägliche Leben veränderte. Eindrucksvoll erzählen Zeitzeugen von Not, Hunger und dem Verlust der Würde. Auch die Gier von Spekulanten ist Thema der Sendung. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2016): Geld schläft nie – Ein Blick hinter die Kulissen der Wallstreet Nach der Finanzkrise ist die Wallstreet wieder Ziel der Träume junger Ökonomen. Nicht jeder hält der exzessiven Arbeit stand. Unternehmen haben darauf reagiert. Sie verbieten Mitarbeitern, nachts E-Mails zu bearbeiten und verordnen einen freien Tag in der Woche. JETZT LESEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERINDie Geschichte der Wall Street begann unter einem Baum – und zwar mit einem Versprechen: ZITATOR We the Subscribers do hereby solemnly promise, that we will not buy or sell from this day on any kind of Public Stock, at a less rate than one quarter percent Commission and that we will give a preference to each other in our Negotiations. ZITATOR Wir, die Unterzeichner, versprechen hiermit feierlich, dass wir von diesem Tag an keine Aktien zu einem geringeren Satz als einem Viertel Prozent Kommission kaufen oder verkaufen und dass wir uns gegenseitig den Vorzug geben werden. SPRECHER24 Männer unterzeichneten diese Vereinbarung im Mai 1792. Sie trafen sich unter einer Platane, einem buttonwood, deshalb spricht man vom Buttonwood Agreement. Es gilt als Gründungsdokument der mächtigsten Börse der Welt – die New York Stock Exchange, wie sie später heißen wird.MUSIK SPRECHERIN 2Die ersten Jahre – oder: Das Geld fließt in die Neue Welt SPRECHERINDie Platane, unter der sich die Männer trafen, stand in der Wall Street im südlichen Manhattan. Die Straße heißt so, weil es dort tatsächlich einen Wall, also eine kleine Mauer gab. SPRECHEREnde des 18. Jahrhunderts begannen Händler dort Wertpapiere feilzubieten. Ihre Geschäfte machten sie in Kaffeehäusern, vor allem im Tontines Coffee House, Wall Street Nr. 85. Die Geschäfte gingen gut, aber immer wieder kam es zu Betrug und Tricksereien, schreibt Charles R. Geisst in seinem Buch „Geschichte der Wall Street“. Kurse wurden manipuliert, Gelder veruntreut. Das sollte sich ändern. Und so gründeten mit dem Buttonwood Agreement die 24 Unterzeichner eine Art Club. Mit bestimmten Regeln, festen Gebühren und Handelszeiten. Wer sich nicht daran hielt, flog raus. SPRECHERINIn der Anfangszeit konnte man in der Wall Street vor allem Staatsanleihen erwerben. Wer der jungen US-amerikanischen Bundesregierung Geld leihen wollte, brachte es zu den Händlern und bekam im Gegenzug das Versprechen, das Geld nach einer bestimmten Zeit zurückzubekommen, inklusive Zinsen versteht sich. SPRECHERGleich die allererste Anleihe brachte dem Staat 80 Millionen Dollar ein – damals eine enorme Summe. Das Geld war aber auch nötig, denn die amerikanische Bundesregierung hatte sämtliche Schulden aus dem Unabhängigkeitskrieg übernommen. MUSIK SPRECHERINAn Kapital mangelte es nicht. Amerika war für viele Menschen in Europa ein verheißungsvolles Land. Die junge Republik bot ausreichend Land und barg Unmengen an Rohstoffen wie Holz und Eisenerz. Das versprach riesige Gewinne. Viele wollten deshalb ihr Geld dort investieren – oder wanderten gleich selbst in die USA aus. SPRECHERIm Tontines Coffee House gab es täglich zwei Sitzungen, eine am Vormittag und eine am Nachmittag. Die zum Verkauf stehenden Wertpapiere wurden ausgerufen und die Händler gaben Gebote ab. Alle Verkäufe zusammen ergaben am Ende des Tages den Börsenkurs. Die Geschäfte liefen gut. In der Wall Street herrschte reges Treiben, sagt der Wirtschaftshistoriker Boris Gehlen. Er ist Professor an der Universität Stuttgart. 01 O-TON (Gehlen)Man muss sich das tatsächlich sehr hektisch vorstellen, weils da eben in kurzer Zeit um sehr große Geldsummen ging, die dann bewegt werden sollten und eben auch um die Möglichkeit als Erster an einem Geschäft teilzunehmen. SPRECHERINUm Geschäfte geordnet abwickeln zu können, führte man Verhaltensregeln für das Börsenparkett ein. 02 O-TON (Gehlen)Bekannt ist aus den Regelwerken, dass man explizit verboten hat, über das Parkett zu laufen, um dieser Hektik ein wenig entgegenzuwirken. MUSIK SPRECHERDie Zahl der Wertpapiere stieg. Viele der damals neu gegründeten Eisenbahngesellschaften und Schifffahrtsunternehmen brauchten Kapital, das sie sich über die Börsen besorgten. Entweder über Anleihen oder über Aktien, also Anteile an ihrem Unternehmen. SPRECHERINDie Händler verdienten sehr gut, deshalb zog die Wall Street viele Einwanderer an. Aber nicht jeder konnte Mitglied im exklusiven Club der New York Stock Exchange werden – denn dafür musste man schon einiges an Geld mitbringen. 03 O-TON (Gehlen)Wenn wir uns die Mitgliedschaftskosten anschauen, dann war das das X-fache eines Jahresgehalts von Arbeitern. Also man musste eben erst einmal eine enorm hohe Summe an Geld überhaupt aufbringen, um dort handeln zu können. MUSIK SPRECHERIN 2Fragwürdige Geschäfte – oder: Kurse, die plötzlich purzeln SPRECHERAber es gab auch kleinere Börsen und andere Wege, in der Wall Street Geld zu verdienen. Manche Händler versuchten, hoch spekulative Wertpapiere unter die Leute zu bringen. Die gab es nämlich schon damals. In den Kaffeehäusern waren sie nicht geduldet, deshalb handelten sie auf der Straße. Man nannte sie Curbstone Brokers, also Bordsteinhändler. Später ging daraus die American Stock Exchange hervor. SPRECHERINWobei fragwürdige Geschäfte überall vorkamen. Es wurden zum Beispiel Kurse manipuliert. SPRECHERUm trotzdem das Vertrauen in den Finanzmarkt aufrecht zu erhalten, drohte die New York Stock Exchange mit drastischen Strafen – eine staatliche Regulierung gab es zu dieser Zeit allerdings nicht. 05 O-TON (Gehlen)Kläger waren Börsenhändler, die Beklagten waren Börsenhändler und die Richter waren Börsenhändler. Und da ging es dann um die Bewertung, ob Transaktionen mit den Regeln der New York Stock Exchange vereinbar waren oder nicht. Und wenn man zu dem Schluss kam, dass jemand gegen die Regeln verstoßen habe, konnten die Strafen sehr, sehr hart sein, bis hin zum dauerhaften Ausschluss von der Börse. Und damit ging einher faktisch die wirtschaftliche und soziale Existenzvernichtung. Und insofern war das natürlich ein Anreiz, sich doch weitgehend an die Regeln zu halten. SPRECHERINDas dämmte die unlauteren Geschäfte an der Wall Street zwar ein. Dennoch kam es immer wieder zu Kursstürzen, und zwar während des gesamten 19. Jahrhunderts. 06 O-TON (Gehlen)Und das hat dann mit dazu beigetragen, dass eben auch das Finanzsystem in den USA sehr häufig von Finanzkrisen geschüttelt war und dass auch die Spekulation doch andere Dimensionen als in europäischen Staaten angenommen hat. SPRECHERSchon damals zeigte sich ein Muster, das wir heute noch kennen: Boom and Bust, übersetzt bedeutet das so viel wie: Aufschwung und Niedergang. MUSIK SPRECHERIN1837 kam es beispielsweise zu einer Börsenpanik, die einen schwere Wirtschaftskrise nach sich zog. Vorausgegangen war ein Boom, der mit dem Indian Removal Act von 1830 begann. Das Gesetz sah die zwangsweise Umsiedlung und Deportation der indigenen Bevölkerung vor. Das freigewordene Land erzielte Höchstpreise. Eine Spekulationswelle setzte ein. Aktien von Eisenbahngesellschaften und Baumwollfirmen waren stark nachgefragt – in der Annahme, dass sie nun gute Geschäfte machen. SPRECHERAber die Spekulationsblase platzte, nachdem die US-Regierung vorschrieb, dass Land nur noch mit Gold und Silber und nicht mehr mit Banknoten gekauft werden durfte. Das schränkte den Kreis der Käuferinnen und Käufer stark ein. Die Stimmung kippte. Alle wollten so schnell wie möglich ihre Wertpapiere loswerden. In der Wall Street gab es Tumulte. Soldaten marschierten auf, um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten. SPRECHERINÄhnliche Börsenpaniken gab es 1857, 1869, 1873 und 1893. Häufig kam es danach zu Firmenpleiten und Wirtschaftskrisen. Denn Unternehmen geht das Geld aus, wenn Menschen ihre Unternehmensanteile, ihre Wertpapiere im großen Stil verkaufen. Es fehlt an Liquidität. 08 O-TON (Gehlen)Was auch damit zu tun hat, dass wir bis 1913 eben kein Zentralbanksystem in den USA haben, keinen Lender of Last Resort, also jemand, der einspringen kann, wenn tatsächlich die Liquidität an den Märkten knapp wird. MUSIK SPRECHERIN 2Große Geschäfte – oder: Als Banker panisch wurden SPRECHERINDie Industrialisierung veränderten die US-amerikanische Wirtschaft. Riesige Unternehmen entstanden – und machten einige Männer sagenhaft reich. Zum Beispiel Cornelius Vanderbilt, den man König der Eisenbahnen nannte, oder der John D. Rockefeller mit seinem Öl-Imperium. SPRECHERGleichzeitig war der Kapitalbedarf groß. Die Zahl der Aktien nahm Ende des 20. Jahrhunderts stark zu. Aber auch große Bankhäuser wurden zu dieser Zeit gegründet. Viele davon hatten ihren Sitz in oder nahe der Wall Street. 09 O-TON (Gehlen)Die beiden größten Bankhäuser Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war Kuhn, Loeb & Co. und der Gegenspieler war JP Morgan, also das große Bankhaus der Wall Street. MUSIK SPRECHERINJohn Piermont Morgan war der einflussreichte Banker seiner Zeit – er hatte fast überall seine Finger im Spiel über sein Bankhaus JP Morgan & Company, damals in der Wall Street Nr. 23, arrangierte er zahlreiche Fusionen und Übernahmen, zum Beispiel bei der United States Steel Corporation, der damals größten Aktiengesellschaft der Welt. Zeitweise hatten er und seine Partner von JP Morgan & Company mehr als 72 Aufsichtsratsmandate in 47 großen Gesellschaften inne. SPRECHERMorgan war es dann auch, der die Geschicke des Landes nach dem nächsten Börsensturz lenken sollte … SPRECHERINIm Herbst 1907 gab es erneut einen Kurssturz an der Wall Street. Auslöser war ein gescheiterter Versuch von Augustus Heinze, Spross deutscher Einwanderer, Aktien seiner Firma zurückzukaufen. Er verspekulierte sich aber und scheiterte grandios. SPRECHERDie Banken, bei denen er sich Geld geliehen hatten und denen er es nicht mehr zurückzahlen konnte, gerieten in Zahlungsschwierigkeiten. Es folgten Bankruns, weil die Menschen ihr Geld in Sicherheit bringen wollten. Aktienkurse rauschten in den Keller, niemand vergab mehr Kredite. Bald reihte sich ein Konkurs an den anderen.  SPRECHERINViele der kleineren Banken hatten ihr Geld bei den großen Banken angelegt. Vor allem bei JP Morgan. Eine Zentralbank, wo sie ihr Geld hätten parken können, gab es ja damals nicht. Als die kleineren Banken sich die Gelder vorzeitig auszahlen lassen wollten, weigerte sich JP Morgan zunächst. Eine und Bankenpleite folgte auf die nächste. Und so sagten JP Morgan und andere Banker letztlich doch zu, große Summen, auch aus eigenen Vermögen, als Darlehen bereitzustellen. SPRECHERMehrere solche Rettungsaktionen waren nötig. Die Gespräche fanden zum Teil in Morgans Privatbibliothek statt. Der Patriarch soll viele Banker persönlich überredet haben. Wobei er sie einmal auch einfach in seiner Bibliothek einschloss, bis eine Einigung gefunden war.  SPRECHERINDie sogenannte Bankers Panic blieb nicht ohne Folgen. Um dem offensichtlich gewordenen Machtvakuum zu begegnen, gründete man ein Zentralbankensystem in den USA, das Federal Reserve System, kurz Fed. Die New Yorker Dependance der Fed hat ihren Sitz in der Liberty Street, zwei Blocks von der Wall Street entfernt. MUSIK SPRECHERIN 2Die 1920er Jahre – oder: Beifall für die Wall-Street-Banker MUSIK SPRECHERWenige Jahre später der nächste Aufschwung. Es waren die Roaring Twenties, die wilden 20er Jahre. Der Wohlstand stieg merklich, die USA wurden zur Konsumgesellschaft. Man kaufte Radios, Telefone – und erstmals auch Wertpapiere. Das war jetzt nicht mehr nur wenigen Vermögenden und Bankern vorbehalten, denn nun hatten mehr Menschen etwas Geld übrig. 10 O-TON (Gehlen)Und die haben im Grunde dann in Aktien investiert. Und dadurch stiegen die Kurse eben weiter an. Das hat dann neue Anleger immer wieder angezogen, so dass da das klassische Phänomen einer Überspekulation zu betrachten war. SPRECHERINMit steigenden Kursen stieg auch das Ansehen der Wall-Street-Mitarbeiter. Die Bewunderung und Popularität war so groß, dass sie morgens auf dem Weg zur Börse oder zur Bank von Touristen beklatscht wurden. MUSIK SPRECHERIm Oktober 1929 folgte der Absturz. Und damit der berühmt-berüchtigte Schwarze Freitag – bzw. Black Thursday in den USA. Als möglicher Auslöser gilt der Bankrott eines Londoner Spekulanten, aber schon länger erwarteten viele auf eine Kurskorrektur. Was dann kam, übertraf allerdings die schlimmsten Erwartungen. SPRECHERINDie Kurse der New Yorker Börse fielen ins Bodenlose. Zeitungen warnten davor, der Wall Street einen Besuch abzustatten. Die Bürgersteige dort seien nicht sicher, weil sich immer wieder Menschen aus dem Fenster stürzten. SPRECHERAuf den Börsen-Crash folgte die Great Depression, die Große Depression. In den USA war zeitweise knapp die Hälfte der Bevölkerung ohne Arbeit. Menschen hungerten. Die Kindersterblichkeit war hoch. SPRECHERINDie Regierung unter Franklin D. Roosevelt reagierte Anfang der 1930er mit mehreren Gesetzen. Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Wall-Street-Geschichte wurde der Wertpapierhandel umfassend reguliert.  11 O-TON (Gehlen)Im Zuge dessen wird die Securities Exchange Commission eingerichtet. Im Grunde als staatliche Börsenaufsichtsbehörde, weil man inzwischen dann doch gemerkt hat, dass es doch eine einheitliche Rahmensetzung benötigte. SPRECHERDaneben gab es mit dem Glass-Steagall-Act von 1933 ein Gesetz, das die Bankenlandschaft in den USA fundamental verändern sollte. Dieses Gesetz wird bis heute in anderen Ländern zitiert und diskutiert. Die Wirtschaftshistorikerin Julia Rischbieter. Sie ist Professorin an der Universität Konstanz. 12 O-TON (Rischbieter)Der Glass-Steagall-Act sah vor, dass es eine strikte Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investitionsbanken geben sollte. SPRECHERINAuf diese Weise trennte man das risikoreiche Geschäft der Investmentbanken von den Guthaben der Sparerinnen und Sparer. Und auch eine Einlagensicherung wurde eingerichtet, die Sparguthaben im Fall einer Bankenpleite schützt. SPRECHERDas Gesetz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt und blieb viele Jahrzehnte in Kraft, bis es 1999 unter Bill Clinton mehr oder weniger abgeschafft werden soll. SPRECHERINZurück zu den 1950ern: In dieser Zeit wurden Investmentfonds zum Verkaufsschlager. Solche Fonds bündeln verschiedene Wertpapiere, so dass auch Kleinanleger und Kleinanlegerinnen an verschiedenen Aktien teilhaben können. SPRECHERUnd 1967 gab es noch ein Novum: Die erste Frau erhielt einen festen Sitz an der New York Stock Exchange - nach mehr als 170 Jahren Wertpapierhandel. Die Mitgliedschaft kostete übrigens knapp eine halbe Million US-Dollar – denn noch immer war der Börsenhandel den Reichen vorbehalten. MUSIK SPRECHERIN 2Der Aufstieg der USA – oder: Als Staatsschulden zur Ware wurden SPRECHERINAuch auf der weltpolitischen Bühne änderte sich einiges für die USA. Das Land etablierte sich immer mehr als größte Handelsmacht und wurde von einer Schuldner- zu einer Gläubigernation. Sie verlieh und investierten also mehr Geld im Ausland als umgekehrt. Spätestens ab dieser Zeit war die Wall Street nicht mehr nur das Finanzzentrum Amerikas, sondern der Welt. SPRECHEREin Beispiel für Auslandsinvestitionen war der sogenannte Eurodollarmarkt. Er entstand während der Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre. Die Preise für Erdöl stiegen zu dieser Zeit enorm an. 13 O-TON (Rischbieter)Das bedeutet, dass die ölfördernden Länder auf einmal sehr hohe Gewinne machen. Und diese Ölförderländer hatten natürlich ein hohes Interesse, ihre Gewinne gut zu verzinsen und einzulegen bei Banken. Und das haben sie getan, vor allem bei europäischen Banken und New Yorker Banken. SPRECHERINUm die Zinsen auf die eingelegten Gelder zahlen zu können, mussten die Banken es investieren. Es gab zu dieser Zeit allerdings an Überangebot an Kapital – die Banken wussten kaum, wohin damit. 14 O-TON (Rischbieter)Und somit befanden sich ja diese großen Banken dann in der Situation, dass sie ja Verluste gemacht hätten. Sie hätten eigentlich Zinsen auszahlen müssen und hatten aber gar nicht die Gewinne dafür. Und in dieser spezifischen Situation haben sie angefangen, Ländern weltweit Kredite anzubieten, und diese Länder waren aber nicht unbedingt immer so kreditwürdig wie europäische Länder. SPRECHERDie Staatsverschuldung stieg zu dieser Zeit stark an, insbesondere in den lateinamerikanischen Staaten. Das wurde zum Problem, als die amerikanische Fed in den 1980er die Zinsen massiv anhob, wodurch sich die Kredite stark verteuerten. Als eines der ersten gab Mexico 1982 seine Zahlungsfähigkeit bekannt. Die Lage war für viele Staaten dramatisch. 15 O-TON (Rischbieter)Die Folgen waren desaströs, weil alle Sozialindikatoren sich verschlechtert haben, also Kindersterblichkeit, Lebenserwartung. Und in Lateinamerika heißt das Jahrzehnt deshalb auch lost decade, also das verlorene Jahrzehnt. SPRECHERINAls absehbar war, dass viele Länder ihre Schulden bei Banken, auch bei den Wall Street Banken, nicht bedienen konnten, suchte man auf internationaler Ebene nach Lösungen. Einige Kredite wurden umgeschuldet, Schuldenerlasse debattiert – und auch ein Mann der Wall Street machte einen Lösungsvorschlag. Er hieß Richard A. Debs, der spätere Gründer von Morgan Stanley International. SPRECHERDebs Idee war, die Kredite umzuwandeln in handelbare Anleihen. So konnten diejenigen sie kaufen, die große Risiken eingehen wollten. Internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank unterstützten das Vorhaben. Und so wurde der Plan 1989 umgesetzt – und viele Banken wurden ihre Kredite auf diese Weise los, während die verschuldeten Staaten zum Teil noch höhere Zinsen berappen mussten … MUSIK SPRECHERINEtwa zu dieser Zeit passierte der nächste Börsensturz, der heftigste seit über 50 Jahren. Der Handel mit den Wertpapieren wurde ausgesetzt, die Fed stellte Liquidität bereit, viele Unternehmen kauften eigene Aktien auf, um den Kurs zu stabilisieren. Das beruhigte die Lage. SPRECHERNach diesem Börsensturz von 1987 gab es erneut eine Debatte über die Risiken, die von den Finanzmärkten ausgehen. Aber anders als früher sprachen sich nun viele nicht für mehr, sondern für weniger Regulierung aus. Das würde die Finanzmärkte sicherer machen, meinte etwa Alan Greenspan, lange Zeit Chef der amerikanischen Zentralbank. 16 O-TON (Rischbieter)Er hat argumentiert, dass die bisherige Regulierung, die man habe, nicht nur ausreicht, sondern die würde eigentlich die Geschäfte behindern. Wenn wir diese verschiedenen Regularien aufheben, dann hätten wir eine Situation, in der nämlich die Banken eigenverantwortlich überhaupt handeln könnten und dann könnten sie sozusagen erstens mehr Gewinne machen und würden auch im Sinne des Staates besser handeln können. SPRECHERINDas führte letztlich zur Abschaffung des Trennbankensystems, das mit dem Glass-Steagall-Act eingeführt worden war, und zu weiteren Liberalisierungen der Finanzmärkte. MUSIK SPRECHERIN 2Finanzinnovationen – oder: Rettungsschirme für die Banken MUSIK SPRECHERDie Geschäfte weiteten sich aus, immer neue Finanzprodukte wurden an der Wall Street ersonnen. Derivate wurden der Renner. Damit kann man zum Beispiel auf Kursentwicklungen wetten. Solche hoch spekulativen Wertpapiere gab es schon länger, aber ab den 1990ern wurden sie im großen Stil gehandelt. SPRECHERINMit Derivaten kann man auch fallende Kurse setzen, deswegen gab es die Vorstellung, sie würden die Finanzmärkte sicherer machen. Das Gegenteil war allerdings der Fall. Es kam zur Dotcom-Blase, investiert wurde in alles, was mit dem damals neuartigen Internet zu tun hatte. Die Blase platzte im Jahr 2000. SPRECHERWenige Jahre später folgte die weltweite Finanzkrise. Auslöser war eine geplatzte Immobilienblase in den USA. Dort hatten sich viele Menschen teils ohne Vermögen oder Einkommen Häuser auf Kredit gekauft. Man hielt diese „Risiken“ für beherrschbar, weil man sie als komplexe Wertpapiere handelbar machte und in die ganze Welt verkaufte. Das funktionierte allerdings nur solange, wie die Preise am Häusermarkt nicht fielen – was 2007 aber der Fall war. Einige kleinere Banken gingen Pleite – und drohten größere mitzureißen. MUSIK SPRECHERINRegierungen unterstützten sie und stellten Liquidität bereit. Sie schossen also Geld in astronomischem Ausmaß zu, indem sie milliardenschwere Rettungsschirme aufspannten. Die Banken seien too big to fail hieß es, sie würden ganze Volkswirtschaften mit in den Abgrund reißen. Teilweise überforderte das die Staaten. Aus der Finanzkrise wurde erst eine Euro- und dann mancherorts eine Staatsschuldenkrise, zum Beispiel in Griechenland. Zeitweise war knapp ein Drittel der Menschen in Griechenland ohne Arbeit. Sozialausgaben wurden zusammengestrichen, Krankenhäuser geschlossen, viele Menschen wurden obdachlos. SPRECHERUm die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, senkten Zentralbanken weltweit die Zinsen auf neue Tiefststände. Das sollte die Kreditvergabe stimulieren. Auch viele Kleinanlegerinnen und Kleinanleger investierten ihr Geld, weil das Ersparte auf der Bank keine Zinsen mehr einbrachte – der nächste Börsenboom. SPRECHERINUnd ist das nun das Ende der Geschichte? Keineswegs. Denn wenn man eines aus der Geschichte der Wall Street lernen kann, dann das: Auf jeden Boom folgt ein Bust, nach jedem Aufschwung kommt ein Niedergang. Bleibt die Frage, wann es soweit ist – und wie schlimm es dann wird. MUSIK
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Oct 18, 2024 • 24min

WACHSTUM UND PLEITE - Die großen Strategien der Wirtschaftspolitik

It's the economy, stupid! Bill Clinton hat diesen Ausdruck in den 1990ern im US-Wahlkampf berühmt gemacht. Er beschreibt, dass vor allem die Wirtschaftslage darüber entscheidet, ob ein Politiker gewählt wird oder nicht. Weil die Wirtschaft so zentral ist, versuchen auch Ökonominnen und Ökonomen Einfluss auf sie zu nehmen - und hatten immer wieder neue Ansätze, um die Wirtschaft in den Griff zu kriegen. Von Maike Brzoska (BR 2023) Credits Autorin: Maike Brzoska Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger, Frank Manhold, Maren Ulrich Technik: Susanne Herzig Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Peter Spahn, Prof. Alexander Nützenadel, Katrin Hirte Besonderer Linktipps der Redaktion: mdr aktuell & hr (2024): Wendehausen – Heimat im Todesstreifen Zu DDR-Zeiten lag das Dorf Wendehausen im Sperrgebiet der innerdeutschen Grenze. Das Grenzregime der DDR war hart, die Kontrollen scharf. Zeitzeugen berichten von Vertreibung, Flucht und zerstörten Existenzen. Wendehausen an der thüringisch-hessischen Grenze hat eine Vielzahl von dramatischen Familiengeschichten zu bieten, voll von Brüchen, Tragik und teilweise Tod. Dieser Podcast zeichnet die Geschichte des Ortes und der Menschen im Todesstreifen nach. Es geht auch darum, wie die DDR-Geschichte die Menschen vor Ort bis heute prägt. Und was das über das Ost-West-Verhältnis aussagt, 35 Jahre nach dem Fall der Mauer. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2024): Verliert Deutschland Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit? Die deutsche Wirtschaft rutscht tiefer in die Krise. Die Industrie will die Transformation zur Klimaneutralität, fordert aber einen klaren politischen Rahmen und bessere Infrastruktur. Kann das Konzept soziale Marktwirtschaft den Standort retten? JETZT ANHÖREN ARD alpha (2022): Arbeit, Zins und Geld – Keynesianismus Nichts hat den britischen Ökonomen John Maynard Keynes mehr geprägt als die Folgen der dramatischen Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den vielen Millionen Arbeitslosen war sein Glaube an den Kapitalismus jedoch nicht erschüttert. Doch statt auf die Selbstheilungskräfte des freien Marktes, setzte er lieber auf die wirtschaftliche Gestaltungskraft des Staates. Der Staat sollte das ewige Auf und Ab zwischen Wirtschaftskrise und -boom entschärfen. Vor allem in den 50er, 60er und 70er Jahren bestimmte die von Keynes angeregte Wirtschaftspolitik die weltweiten Märkte. Vollbeschäftigung, Wachstum und Stabilität  - war dies endlich ein verlässliches Programm für die Zukunft? JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ZITATORDie Ideen der Ökonomen und Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger als man im Allgemeinen glaubt. Um die Wahrheit zu sagen, es gibt nichts anderes, das die Welt beherrscht. SPRECHERINIdeen von Ökonomen und Philosophen sollen die Welt beherrschen – eine merkwürdige Aussage. War es Größenwahn, was John Maynard Keynes zu dieser Aussage veranlasste? Jedenfalls gilt der Brite gilt als einflussreichster Ökonom des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen haben nicht nur die Wirtschaftstheorie revolutioniert, sondern hatten auch ganz praktischen Einfluss auf die Politik, genauer: auf die Wirtschaftspolitik. Keynes hat seine Theorie vor gut hundert Jahren entworfen. Anlass waren die damaligen Krisen, sagt der Ökonom Peter Spahn. Er ist emeritierter Professor der Universität Hohenheim. 01 O-TON (Spahn)Der Börsencrash und die Große Depression, die danach kam, das bildete sicherlich den Anstoß für die Keynsche Theorie. Das war so eine Art Anschauungsmaterial für ihn. Aber auch schon in den 1920er Jahren war die englische Wirtschaft durch anhaltende Arbeitslosigkeit geprägt, und das hat Keynes eigentlich auch umgetrieben. SPRECHERIN Wie funktioniert eine Volkswirtschaft? Wenn man so will, ist sie das Ergebnis von zig Tausenden Entscheidungen, die wir alle täglich treffen. Was kaufe ich ein? Wie viel gebe ich dafür aus? Soll ich mehr sparen? Oder, von der Warte von Unternehmerinnen und Unternehmer aus betrachtet: Zu welchem Preis biete ich meine Waren an? Investiere ich in neue Maschinen oder muss ich demnächst Mitarbeitende entlassen? Ökonominnen und Ökonomen sind nun diejenigen, die verstehen wollen, wie das alles zusammenhängt. Das beschäftigte auch Keynes. 02 O-TON (Spahn)Keynes kam zu der Einsicht, dass es gar keine überzeugende Theorie über die normale Funktionsweise der Gesamtwirtschaft gab. Und das hat ihn umgetrieben und ihn dann dazu gebracht, 1936 seine Allgemeine Theorie vorzulegen. SPRECHERINUm zu verstehen, was Keynes Ideen so revolutionär machte, muss man wissen, wie man sich das Zusammenspiel in der Wirtschaft vorher vorgestellt hat. 03 O-TON (Spahn)Es gab immer so die Idee, na ja, die Volkswirtschaft reguliert sich selber. Das ist ja die Idee einer Marktwirtschaft. Wenn einzelne Märkte im Ungleichgewicht sind, wenn es irgendwie ein Überangebot von bestimmten Gütern gibt, dann vertraut man darauf, dass die Preise sich entsprechend anpassen. Und so funktioniert das gewissermaßen im Sinne einer Selbstregulierung. SPRECHERINEin Beispiel: Nehmen wir an, auf einem Markt ist das Angebot an Broten größer als die Nachfrage. Dann senken die Bäckerinnen den Preis, damit die Markbesucher denken; oh, wie günstig! und ein paar Brote mehr kaufen. Am Ende sind trotz des übergroßen Angebots alle Brote verkauft und für den nächsten Markttag backen die Bäckerinnen ein paar weniger. So regulieren sich Angebot und Nachfrage über den Preis, der Knappheit oder Überfluss signalisiert. Der Markt ist am Ende wieder im Gleichgewicht. Diese Art der Selbstregulation ist eine der grundlegenden Ideen von klassischen ökonomischen Denkern wie Adam Smith oder Jean-Baptiste Say. Keynes beobachtete allerdings, dass sich die Gesamtwirtschaft nicht unbedingt mit einzelnen Märkten vergleichen lässt. 04 O-TON (Spahn)Und dann stieß er auf zwei zentrale Gegenargumente in Bezug auf den Glauben, dass sich das alles gesamtwirtschaftlich selbstreguliert. SPRECHERINEines seiner Argumente bezog sich auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeit ist, wenn man so will, die Ware, die auf diesem Markt angeboten wird. Der Lohn ist der Preis der Arbeit. Nach der klassischen Logik sinken die Löhne, wenn es Arbeitslosigkeit gibt – denn es gibt mehr Menschen, die Arbeit suchen. Die niedrigeren Löhne führen nun dazu, dass mehr Menschen eingestellt werden. Für die Unternehmen mag das erst mal Sinn machen, allerdings haben sinkende Löhne – gesamtwirtschaftlich betrachtet – auch noch andere Effekte, so Keynes. 05 O-TON (Spahn)Er hat gesagt, gerade wenn die Löhne bei Arbeitslosigkeit sinken, macht das die Sache möglicherweise schlimmer. Weil wenn die Löhne sinken, dann sinken natürlich auch die Haushaltseinkommen der Arbeitnehmer, dann geht der Konsum zurück und das vertieft wieder die Krise. Das bedeutet, was die Unternehmen bei den Kosten durch sinkende Löhne an Entlastung gewinnen, das verlieren sie dann auf der Nachfrageseite, weil eben der Konsum zurückgeht. MUSIK SPRECHERINDaneben zeigte Keynes, dass auch der Geldmarkt besonders ist und gesamtwirtschaftliche Auswirkungen hat. Heute sind solche Zusammenhänge bekannt – vor gut hundert Jahren war das anders.  Da sahen Politiker dem Abwärtstrend, der in die Große Depression führte, weitgehend untätig zu. Am Ende lag in zahlreichen Ländern der Welt die Wirtschaft brach und die Menschen verzweifelten, viele hungerten auch. Eine traumatische Erfahrung. Aber der Rat lautete damals eben: Stillhalten, Krisen gehen vorbei – und können sogar positive Effekte haben. Sagt der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel. Er ist Professor am Institut für Geschichtswissenschaften der Berliner Humboldt Universität. 06 O-TON (Nützenadel)Das Problem war natürlich auch, dass man eine solche Krise bislang noch nie erlebt hatte und deswegen nicht wusste, was für Folgen sich daraus ergeben können. Aber tatsächlich war das für viele der damaligen Akteure eigentlich selbstverständlich zu sagen: Wir müssen durch diese Krise durchgehen und sie hat auch reinigende Effekte und danach stehen wir eigentlich wieder besser da. SPRECHERINVon sogenannten Reinigungskrisen war damals die Rede. Erst die Theorien von Keynes lieferten das Verständnis für makroökonomische, das heißt gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge – und damit auch Instrumente, um eine Volkswirtschaft zu beeinflussen. Deshalb hielten Keynes Ideen in vielen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg Einzug in die Wirtschaftspolitik. Hierzulande allerdings sollte es noch etwas dauern– Keynes Ideen der gesamtwirtschaftlichen Steuerung waren vielen Politikern in der Bundesrepublik sehr suspekt. 07 O-TON (Spahn)Das galt merkwürdigerweise in Deutschland als geradezu planwirtschaftlich verdächtig. Und die damals herrschende Partei, die CDU, war also strikt dagegen. SPRECHERINInsbesondere CDU-Kanzler Konrad Adenauer, ab 1949 Bundeskanzler, war es wichtig, sich von den Planwirtschaften der DDR und des Ostblocks abzugrenzen. 08 O-TON (Nützenadel)In den 50er Jahren hatten viele den Eindruck, dass die Planwirtschaften des kommunistischen Bereichs durchaus in der Lage waren, Investitionen gezielt auf bestimmte Wachstumsfaktoren zu lenken und dass da vielleicht sogar mehr Wachstum entstehen könnte als im Westen. Also es gab durchaus so eine Art von Wettbewerb zwischen Ost und West. SPRECHERINDie zentral geplante Wirtschaft der DDR wollte man mit einer Marktwirtschaft übertrumpfen. Allerdings gab es auch in der Bundesrepublik die Überzeugung, dass eine Marktwirtschaft einen starken ordnungspolitischen Rahmen braucht. Der sogenannte Ordoliberalismus war zu dieser Zeit in der Bundesrepublik dominierend. Nach dieser Spielart hält sich der Staat aus dem Markt raus, setzt also auf die Selbstregulierung von Angebot und Nachfrage. Dennoch spielt der Staat im Ordoliberalismus eine wichtige Rolle, denn er legt die Regeln für den Markt fest. 09 O-TON (Nützenadel)Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu setzen, um etwa fairen Wettbewerb zu ermöglichen oder auch eine Vermachtung von großen Unternehmen zu verhindern. SPRECHERINDenn eine Vermachtung von Unternehmen, also eine Machtanhäufung, geht in der Regel zulasten von Verbraucherinnen und Verbraucher. Noch mal das Beispiel Wochenmarkt: Wenn alle Bäckerinnen sich absprechen und darauf einigen, einen doppelt so hohen Preis zu verlangen, haben die Käufer das Nachsehen. Das „Brotkartell“ hat den Wettbewerb außer Kraft gesetzt. Solche Kartelle wollte insbesondere der CDU-Politiker Ludwig Erhard verhindern. Der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler war in der Nachkriegszeit zuständig für die Wirtschaftspolitik in den westlichen Besatzungszonen. 10 O-TON (Hirte)Das Gesetz gegen Marktmacht-Missbrauch – das sind Kartelle, das sind Syndikate – das war sein Kind, was er gegen alle Widerstände damals durchgesetzt hat. SPRECHERINSagt die Soziologin Katrin Hirte. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft der Universität Linz. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg musste vieles neu gedacht und umgebaut werden, auch staatliche Institutionen und Regeln für die Märkte. Erhard wollte einen starken Rahmen setzen, wandte sich aber gegen jedwede Umverteilung, etwa in Form eines Rentensystems. 11 O-TON (Hirte)Weil die Wirtschaft ja so eingerichtet ist, dass sie sich die Menschen ja selber versorgen können. Weil jeder wird ja in einer funktionierenden Marktwirtschaft reich und nimmt Anteil. Wir brauchen diese ganzen Versorgungssysteme gar nicht. SPRECHERINSo Erhards Begründung. Auf Druck von CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer musste Erhard allerdings Alfred Müller-Armack, Professor für Wirtschaftspolitik, in seine Grundsatzabteilung holen. Und Müller-Armack sprach sich für Umverteilungen aus. 12 O-TON (Hirte)Deswegen nennt man ihn dann den Erfinder der sozialen Marktwirtschaft. SPRECHERINDie neue Ordnung in der Bundesrepublik sollte laut Müller-Armack… ZITATOR… das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbinden. SPRECHERINDie soziale Marktwirtschaft gilt als zentrale Errungenschaft der jungen Bundesrepublik. Auch andere Institutionen, die das Land bis heute prägen, entstanden zu dieser Zeit. Zum Beispiel die Bundesbank, die – anders als etwa in Frankreich oder in Italien –, allein der Stabilität der D-Mark verpflichtet war und nicht etwa noch die Konjunktur im Blick haben sollte. 13 O-TON (Nützenadel)Das war eine Grundsatzentscheidung, die gerade von vielen Ordoliberalen gefordert wurde. SPRECHERINEinen Paradigmenwechsel gab es hierzulande Mitte der 1960er Jahre. Eingeleitet 1963 mit Gründung des Sachverständigenrates, den sogenannten Wirtschaftsweisen. ZITATORDer Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen: Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (…) wird ein Rat von unabhängigen Sachverständigen gebildet. 14 O-TON (Spahn)Und dieser Sachverständigenrat hatte ja auch die Aufgabe, die Grundlagen einer makroökonomischen Politik zu entwerfen, um konkrete Dinge dem Staat auch vorzuschlagen. Und auf der anderen Seite gab es dann das sogenannte Stabilitätsgesetz von 1967. MUSIK SPRECHERINIm Stabilitäts- und Wachstumsgesetz waren vier Ziele für die Wirtschaftspolitik festgeschrieben, das ist das sogenannte Magische Viereck: ZITATORVollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wirtschaftswachstum SPRECHERINAngemessenes Wirtschaftswachstum bedeutete: nicht zu viel und nicht zu wenig wachsen. Dahinter steckt die Annahme, dass man die Konjunktur entsprechend steuern kann. 15 O-TON (Nützenadel)Natürlich geht es auf die Vorstellung zurück, die auch durch Keynes in den dreißiger Jahren geprägt worden ist, dass der Staat durch eine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die wirtschaftliche Entwicklung stabilisieren und auch langfristig positiv beeinflussen kann. Das ist sozusagen das Keynesianische Modell, das hier 1967 auch in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat. SPRECHERINKeynes Ideen passten gut in die Zeit, die geprägt war von allgemeinem Fortschrittsoptimismus. Das konjunkturelle Auf und Ab der Wirtschaft, so hoffte man, gehört der Vergangenheit an. Von nun an sollte es dauerhaft angemessenes Wachstum geben. Erreichen wollte man das vor allem mit der antizyklischen Konjunkturpolitik. MUSIK 16 O-TON (Spahn) Das heißt ganz praktisch: Wenn wir eine schwache Konjunktur haben, dann soll der Staat also mehr Geld ausgeben, Budgetdefizite zulassen … SPRECHERIN… um die schwächelnde Konjunktur durch mehr Nachfrage anzukurbeln. Zum Beispiel durch Steuersenkungen, damit die Menschen mehr Geld zum Einkaufen haben, oder indem der Staat selbst Waren nachfragt. 17 O-TON (Spahn)Aber in der Hochkonjunktur soll er gewissermaßen Kaufkraft stilllegen. Er soll also die Steuern vielleicht ein bisschen erhöhen und soll dazu beitragen, die Nachfrage zu bremsen. SPRECHERINEin schöner Plan – allerdings kam bald schon Ernüchterung auf. 18 O-TON (Nützenadel)Man merkte schon in den frühen 70er Jahren, dass es sehr schwer war, alle vier Ziele gleichzeitig zu erreichen. Das hing damit zusammen, dass durch die Ölpreiskrise ein exogener Schock, ein Angebotsschock, in die Wirtschaft getragen wurde, den man durch eine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, und das ist ja der keynesianische Ansatz, nicht begegnen konnte. SPRECHERIN Durch die stark steigenden Ölpreise 1973 und 1979 gerieten viele Länder, auch die Bundesrepublik, in schwere wirtschaftliche Krisen. Die ohnehin schon hohe Inflation stieg weiter an. 19 O-TON (Nützenadel)Man hatte dann die berühmte Stagflation der 70er Jahre, wo hohe Inflationsraten und stagnierendes Wirtschaftswachstum zusammen auftreten, und damit auch diese ganze keynesianische Konzeption doch sehr stark in die Kritik gerät. SPRECHERINUnter anderem weil die keynesianische Politik die Inflation durch die zusätzliche Nachfrage tendenziell noch weiter verschärft. Hinzu kam, dass es zunehmend Einflüsse von außen gab, nicht nur in Form von exogenen Schocks wie der Ölpreiskrise, sondern auch in Form von internationalen Handels- und Finanzströmen, die immer weiter zulegten. In dieser Zeit kam es zum nächsten Paradigmenwechsel. 20 O-TON (Nützenadel)Die Bundesbank hat im Grunde in den frühen 70er Jahren schon eine monetaristische Wende vollzogen ab 1973, auch wegen der hohen Inflation. SPRECHERINDer Monetarismus ist gewissermaßen der Gegenentwurf zum Keynesianismus. Hinter diesem Konzept steht vor allem der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman. Der Monetarismus geht davon aus, dass es langfristig zum besten wirtschaftlichen Ergebnis kommt, wenn der Staat sich raushält. 21 O-TON (Nützenadel)Diese kurzfristige Steuerung von Konjunktur, das war ja die Idee von Keynes, die lehnte man ab, sondern man sagte eben, wir müssen eigentlich nur ganz langfristig die Geldmenge so wachsen lassen, dass es sich dem Wachstum der Realwirtschaft anpasst. SPRECHERINDie Geldmenge sollte so gesteuert werden, dass es weder zu Inflation noch zu Deflation kommt. Denn sowohl sinkende als auch stark steigende Preise schaden der Wirtschaft, so die Meinung der Monetaristen. Darüber hinaus sollte die Wirtschaftspolitik aber möglichst wenig eingreifen und stattdessen auf die Selbstregulation der Märkte setzen. Diese Idee verfolgten ab 1976 auch die Wirtschaftsweisen, als sie den Begriff der Angebotspolitik in die Debatte einbrachten. Angebotspolitik bedeutet, dass man die Unternehmensseite langfristig stärkt. 22 O-TON (Spahn)Was bedeutet das praktisch? Es geht darum, genügend Arbeitsangebot, genügend Bildung, genügend Forschung, genügend technischen Fortschritt, genügend Energie in der Volkswirtschaft zu haben, aber auch so schwierige Dinge zu fördern wie die Bereitschaft, unternehmerische Risiken zu tragen und anderes mehr. SPRECHERINDer Fokus liegt also auf der Seite von Unternehmerinnen und Unternehmern. Wie das konkret aussah, war je nach Land verschieden. 23 O-TON (Spahn)Wir unterscheiden bei der Angebotspolitik noch mal zwei Spielarten. Diese englische und amerikanische Variante, das ist im Grunde genommen so eine Art Deregulierungsstrategie, oder man kann auch sagen Privatisierungsstrategie. Die These war, der Staat sei eigentlich eine Wachstumsbremse. Seine vielfältigen Regulierungen würden die privaten Aktivitäten bremsen und man müsse den Staat aus vielen Bereichen zurückziehen. SPRECHERINBekannt für diese Spielart sind insbesondere die britische Premierministerin Margret Thatcher und der US-Präsident Ronald Reagan. Aber auch in der Bundesrepublik wurden in den 1980ern und 90ern viele Märkte privatisiert, zum Beispiel der Telefonmarkt. 24 O-TON (Spahn)Wir hatten ja in den 80er Jahren noch das staatliche Telefon, und das kann man sich heutzutage ja gar nicht mehr vorstellen, dass wenn man ein Telefon haben wollte, dann musste man einen Antrag stellen. Der wurde dann nach ein paar Monaten auch bestätigt und nach weiteren Monaten kam dann ein Techniker von der Post und stellte uns diesen staatlichen Apparat dahin. Das war eine staatliche, eine hoheitliche Angelegenheit. SPRECHERINIn der Bundesrepublik und mehr noch in Frankreich gab es aber auch noch eine zweite Spielart. 25 O-TON (Spahn)Da kann man sagen, Angebotspolitik geht in Richtung von Industriepolitik oder vielleicht sogar in Planification. Da ist die Idee, dass der Staat bestimmte Bereiche als zukunftsträchtig einschätzt und sich aktiv dafür einsetzt, dass die Firmen in diesem Bereich was machen, also etwa heutzutage Halbleiter-Produktion oder Chip-Produktion. MUSIK SPRECHERINAb 2008 dann die große weltweite Finanzkrise. Die Preise auf dem US-Immobilienmarkt brachen ein, Immobilienfinanzierer gingen Pleite, das brachte auch Banken und Versicherungen in große Schwierigkeiten. Die Staaten spannten milliardenschwere Rettungsschirme auf – und mussten in den Jahren danach teils selbst gerettet werden. Nicht wenige fragten sich danach: Wie konnte das passieren? So auch die britische Queen Elizabeth II, die auf einer Veranstaltung der renommierten Londoner School of Economics fragte: ZITATORIN (britischer Akzent)Why did nobody see this coming? SPRECHERINJa, warum hat niemand die Krise kommen sehen? Hatten Ökonominnen und Ökonomen zu sehr auf die Selbstregulation der Märkte vertraut? Braucht es vielleicht eine neue Theorie, ähnlich wie nach der Großen Depression? Peter Spahn meint Nein. 26 O-TON (Spahn)Die Finanzkrise war ein Betriebsunfall innerhalb des Banksystems, allerdings dann mit desaströsen Folgen für die Gesamtwirtschaft. Aber man brauchte eigentlich keine makroökonomisch neuen Theorien, um zu verstehen, welche Folgen diese Finanzkrise hatte. Das war eben ein wichtiger Unterschied zu den dreißiger Jahren. SPRECHERINWährend der Finanzkrise und auch während Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg zeigte sich aber erneut ein Umdenken. Denn anders als früher ist Wirtschaftspolitik heute recht pragmatisch. 27 O-TON (Nützenadel)Die meisten versuchen eigentlich undogmatisch an solche Fragen heran zu treten, ich würde sagen, das Fach hat sich insgesamt sehr stark pluralisiert. Man versucht ganz pragmatisch einzelne Elemente herauszugreifen. SPRECHERINZwei Beispiele: Als die Konjunktur während der Corona-Pandemie einzubrechen drohte, beschloss die Regierung kurzerhand den Konsum über eine Senkung der Mehrwertsteuer anzukurbeln – das ist klassische Nachfrage-Politik im Sinne von Keynes. Auf der anderen Seite sollen ein verändertes Einwanderungsgesetz und der Zuzug von Fachkräften langfristig die wirtschaftlichen Aussichten von Unternehmen, also der Angebotsseite stärken. 28 O-TON (Nützenadel)Insofern würde ich sagen, es gibt diese Schulen in dem Sinne heute nicht mehr, wie wir sie früher beobachtet haben. SPRECHERINVielleicht auch, weil ihre Verheißungen ein Stück weit entzaubert worden sind im Laufe der Jahrzehnte. 29 O-TON (Nützenadel)Die Nachkriegszeit war schon von einem sehr großen Optimismus geprägt, dass man Wirtschaft steuern könnte, dass man wirtschaftliches Wachstum auf Dauer gewährleisten könne und dass die Wirtschaftspolitik hierzu einen positiven Beitrag leisten könne. Ich glaube, dieser Optimismus, der ist doch sehr stark erschüttert worden. Man weiß, dass Prognosen sehr komplex sind. Spätestens seit der Finanzkrise hat man gesehen, dass die Prognosen eigentlich oft gar nicht so gut sind. Gerade die etablierten Prognose-Verfahren haben sich eigentlich nicht immer bewährt. Aber nach wie vor sind Ökonominnen und Ökonomen in der öffentlichen Debatte sehr prominent vertreten, mehr als andere Fächer. SPRECHERINDiese herausragende Stellung der Wirtschaftswissenschaften hat sich vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet, aus mehreren Gründen. 30 O-TON (Nützenadel)Das hing zum einen damit zusammen, dass natürlich die Schwankungen in der Wirtschaft viel extremer geworden sind und dass damit auch große Krisen politische Systeme vernichten können. Und dass natürlich auch die Politik immer stärker auch von der Wirtschaft abhängt. SPRECHERINZum Beispiel von den Steuereinnahmen, die in Boom-Zeiten sehr viel höher ausfallen und damit mehr Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. 31 O-TON (Nützenadel)Das war vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht so sehr der Fall, da waren die Staatseinnahmen ja viel geringer. Die Staatsquote war irgendwo bei unter 10 Prozent, und das hat sich natürlich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert. SPRECHERINHeute liegt die Staatsquote hierzulande bei rund 50 Prozent, das bedeutet, die Staatsausgaben entsprechen etwa der Hälfte der Wirtschaftsleistung. Und nicht zuletzt machen Wähler die Politik für ihre wirtschaftliche Situation verantwortlich. It´s the economy, stupid! – Es kommt auf die Wirtschaft an! lautet ein geflügelter Satz, der das beschreibt. Politik und Wirtschaft sind also in mehrfacher Hinsicht eng miteinander verknüpft. MUSIK 32 O-TON (Nützenadel)Insofern ist es ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, was sich im 20. Jahrhundert verändert hat im Vergleich zu früheren Epochen. SPRECHERINDeshalb stimmt es schon irgendwie, was Keynes gesagt hat: Es sind auch die Ideen von Ökonomen, die die Welt beherrschen. Seien sie nun richtig oder falsch.
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Oct 18, 2024 • 25min

WACHSTUM UND PLEITE - Eine Idee kommt nach Europa

Wirtschaftswachstum - da ist erstmal nur eine Zahl. Aber was für eine! Geht die Zahl nach oben, dann steigt die Stimmung. Und umgekehrt genauso. Denn unsere Wirtschaft soll wachsen, da sind sich die meisten einig. Dabei ist diese Idee historisch betrachtet relativ neu. Sie hat mit dem Kalten Krieg zu tun. Von Maike Brzoska (BR 2024) *** Podcast-Tipp: mdr & detektor.fm (2024): Deutschland - ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall https://1.ard.de/dhl?cp=br Credits Autorin: Maike Brzoska Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Dorothea Anzinger, Frank Manhold Technik: Ruth-Maria Ostermann Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Matthias Schmelzer, Robert Groß Besonderer Linktipps der Redaktion: mdr & detektor.fm (2024): Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall In diesem Herbst feiern die Deutschen den 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Nach Plauen am 7. Oktober, Leipzig am 9. Oktober und dann dem Höhepunkt am 9. November 1989 in Berlin, ist der Weg zu einem wiedervereinten Deutschland im Herbst 89 frei. In dem sechsteiligen Storytelling-Podcast trifft der  ostdeutsche Journalist Christian Bollert drei Menschen, die zufälligerweise an diesem historischen Tag geboren worden sind und die er bereits seit ihrem 18. Geburtstag begleitet. Mit ihnen blickt er auf ihr Leben, Deutschland und die Zukunft. ZUM PODCAST Linktipps: Bundeszentrale für politische Bildung (1980): Die Bedeutung des Marshall-Plans für die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland Das „European Recovery Program" (ERP) - auch nach seinem Urheber, dem US-Außenminister Georg C. Marshall, als Marshall-Plan bezeichnet - hat die europäische und vor allem die deutsche Nachkriegsentwicklung in einem solch starken Maße beeinflusst, wie kaum ein anderes Ereignis dieser Zeit. Aber was bedeutete das Programm für die wachsenden wirtschaftlichen Probleme damals? Und was wirft er für ein Licht auf die amerikanische Nachkriegspolitik? JETZT LESEN ARD alpha (2022): Arbeit und Mehrwert – Kommunismus   Was würde Karl Marx  (1818 - 1883) tun, wenn er noch einmal auf diese Welt käme? Er würde in ein Einkaufszentrum gehen und staunen, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft seit seiner Zeit entwickelt haben. Das wird ihn aber nicht davon abhalten, seine Theorie des Kommunismus unter die Leute zu bringen. Die Ware, die Arbeitskraft, das Tauschproblem, die Arbeitszeit und den Mehrwert: Marx findet auch in einem modernen Einkaufszentrum genügend Beispiele, die seine Theorien belegen. Denn für ihn liegt der Kommunismus nicht etwa in der Vergangenheit, sondern noch in (weiter) Zukunft. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHERINKaum zu glauben: Da stehen die beiden mächtigsten Männer der Welt – und streiten über Haushaltsgeräte. So geschehen auf einer Weltausstellung in Moskau 1959, mitten im Kalten Krieg. Der Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon machten einen Rundgang durch die Ausstellung und stoppten in einer amerikanischen Musterküche, die dort gezeigt wurde. Zwischen Waschmaschine und Backmischung kippte dann plötzlich die Stimmung. Chruschtschow bezeichnete die Neuerungen der Musterküche als nutzlose Spielereien und warnte vor dem Blendwerk des Kapitalismus. Nixon hingegen pries die Überlegenheit von US-Konsumgütern wie dem Farbfernseher. Als kitchen debate, Küchendebatte, ging der Schlagabtausch in die Geschichte ein, sagt der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer. Er vertritt die Professur für sozial-ökologische Transformationsforschung an der Universität Flensburg. 01 O-TON (Schmelzer)Diese Debatte steht eben symbolisch für diesen hegemonialen Streit über unterschiedliche Wachstums- und Entwicklungsmodelle, die damals sehr virulent waren. SPRECHERINBegonnen hatte dieser Streit bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Vieles war nach dem Krieg zerstört, den Menschen fehlte es praktisch an allem: Nahrungsmitteln, Kleidung, Kohlen zum Heizen. Die Situation schien aussichtslos. MUSIK SPRECHERINAbhilfe schaffen sollte ein US-amerikanisches Hilfsprogramm: Der Marshall-Plan, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall. 02 O-TON (Groß)Der Marshallplan war im Prinzip das Wiederaufbauprogramm der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Es erstreckte sich von 1948 bis 1952 und umfasste Hilfen im Wert von ungefähr 13 Milliarden US-Dollar, was heute einem Wert von ungefähr 135 Milliarden Dollar entspricht. SPRECHERINSagt der Umwelthistoriker Robert Groß. Er forscht am Institut für Soziale Ökologie der Universität Wien. Begleitet wurde der Marshall-Plan durch eine breit angelegte Informations-Kampagne, die der Bevölkerung den Marshall-Plan erklären sollte. SPRECHERINEin Beitrag aus der Wochenschau zeigt das deutlich. Anlass für den Bericht war der Europa-Zug, der in München startete. 03 TON (Wochenschau)Feierliche Eröffnung des Europa-Zuges auf dem Münchner Hauptbahnhof. Als Erstes besichtigten hohe amerikanische und deutsche Politiker diese fahrende ERP-Ausstellung. Sie steht unter dem Motto: Zusammenarbeit der freien Völker. SPRECHERINAm ERP, also am europäischen Wiederaufbau-Programm, nahmen allerdings nur westeuropäische Staaten teil. MUSIK SPRECHERINDie Staaten im sowjetischen Einflussbereich verzichteten auf die US-Hilfe. ZITATORWir brauchen keinen Marshall-Plan, wir kurbeln selbst die Wirtschaft an! SPRECHERINHieß es auf Plakaten in der sowjetischen Besatzungszone. Die Ablehnung hatte ihren Grund, denn der Marshall-Plan entsprang nicht der reinen Menschenliebe. Sondern war auch ein politisches Projekt. Ein Ziel war, sozialistische Ideen einzudämmen – denn die breiteten sich in Europa immer weiter aus. 04 O-TON (Groß)Ganz konkret ging es da um die Kommunisten, die in Frankreich, in Deutschland, in Österreich und auch in Italien - also fast über ganz Westeuropa - Protestaktionen organisierten, was den Amerikanern ein Riesendorn im Auge war und auch als destabilisierender Faktor wahrgenommen wurde. Und das ist sozusagen ein ganz zentrales Motiv im Marshallplan drinnen, nämlich die Arbeits-, die Lebensbedingungen zu verbessern, mehr Menschen in die Beschäftigung zu bringen, den Menschen Einkommen zur ermöglichen, Nahrungsmittel bereitzustellen, um sie eben vor dieser Radikalisierung durch kommunistische Gruppierungen zu schützen. SPRECHERINNeben solchen kurzfristigen Hilfen gab es auch längerfristige Projekte. So wurden mithilfe der Gelder aus dem Marshall-Plan Industrie und Infrastruktur in den europäischen Ländern wiederauf- und teilweise auch umgebaut. Davon sollte auch die US-Wirtschaft profitieren – jedenfalls erhoffte sich die US-Administration das. Daneben gründeten die Regierungen internationale Organisationen. Man wollte Handelsschranken wie Zölle abbauen und den Freihandel etablieren. 05 O-TON (Groß)Es ging darum, die nationalen Industriepolitiken aufeinander abzustimmen, um so eben gute Bedingungen für das Wirtschaftswachstum in den Nachkriegsjahren herzustellen. SPRECHERINZentral dafür war die Gründung der OEEC, der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1948. 16 Staaten waren Mitglied. Die USA gehörten nicht dazu, dennoch waren sie allgegenwärtig. 06 O-TON (Schmelzer)Nicht als Mitglied dieser Organisation, aber eben als der dominante Geldgeber und auch als ein sehr entscheidender Akteur in den Politiken, die durch die OEEC eben verfolgt worden sind, die auf eine spezifische, sehr marktorientierte liberale Wirtschaftsordnung abzielten und dann eben zunehmend Wachstum als Ziel in den Vordergrund stellten. MUSIK SPRECHERINDie Idee: Eine expandierende, sprich: wachsende Wirtschaft sollte die Menschen wieder in Lohn und Brot bringen und mehr Wohlstand schaffen. Heute ist uns dieser Gedanke vertraut, historisch betrachtet war diese Idee aber relativ neu. 07 O-TON (Schmelzer)Es gibt eigentlich erst seit den 1820er Jahren relevante Wirtschaftswachstumsraten, die über das Bevölkerungswachstum hinausgehen. SPRECHERINDamals begann man fossile Energieträger wie Kohle oder Öl zu nutzen. 08 O-TON (Schmelzer)Und noch viel jüngeren Datums ist die Dominanz von Wachstumsdiskursen in unseren Gesellschaften, die nämlich erst auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. SPRECHERINWachstumsdiskurse – also etwa Fragen wie: Muss unsere Wirtschaft ständig wachsen? Was genau wächst da eigentlich, wenn „die“ Wirtschaft wächst? Und können wir gleichzeitig wachsen und das Klima schonen? Heute sind das zentrale Zukunfts-Fragen. Aber Ende der 1940er Jahre waren solche Probleme noch weit weg. Stattdessen ging es um ganz anderes. Zum Beispiel um den Wiederaufbau. Für den brauchte man eine Messgröße, um zu wissen, wie er in den einzelnen europäischen Staaten läuft. Denn nur so konnte man die Gelder aus dem Marshall-Plan sinnvoll verteilen. Und daneben brauchte man eine Zahl für die Wirtschaftskraft der Länder, um festlegen zu können, wer welchen Beitrag an die OEEC zahlt. Länder, die wirtschaftlich besser dastehen, sollten mehr beisteuern, andere weniger. Um da eine vergleichbare Größe zu haben, einigte man sich schließlich auf das Bruttosozialprodukt. 09 O-TON (Schmelzer)Das Bruttosozialprodukt ist das statistische Messwerkzeug, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist und was überhaupt erst möglich machte, zu messen, was denn eigentlich wachsen soll. SPRECHERINDas Bruttosozialprodukt wächst, wenn es mehr Waren und Dienstleistungen als im Vorjahr gibt. Eine klare und einfache Rechnung – zu einfach, fanden schon damals viele, auch in der OEEC. 10 O-TON (Schmelzer)Es war tatsächlich so, dass die Ökonom*innen davor gewarnt haben, diese Zahlen zu nutzen für eben diese weitreichenden Zwecke der Wohlstandsmessung und des Vergleichs von Ländern und Ähnliches. SPRECHERINUnter anderem weil wichtige Bereiche ausgeklammert werden, zum Beispiel die Hausarbeit. 11 O-TON (Schmelzer)Die Sorge-Tätigkeiten, die im Haushalt passieren, aber auch außerhalb des Haushalts, sehr stark weiblich geprägt sind, die aber essenziell sind, damit wir als Menschen und menschliche Gesellschaften überhaupt funktionieren können, die werden quasi überhaupt gar nicht mitberücksichtigt in diesem statistischen Standard. MUSIK SPRECHERINDas neue Bruttosozialprodukt, aus dem später das Bruttoinlandsprodukt wurde, erwies sich jedenfalls als äußerst nützliche Zahl. Für Regierungen war sie bald schon eine feste Zielgröße, auf die sie hinarbeiten konnten. Auf die sie politischen Maßnahmen abstimmten. Im großen Stil steigern wollten sie das Bruttosozialprodukt, indem Industrie und Landwirtschaft mechanisiert wurden. 13 O-TON (Groß)Es ging darum, wo immer es möglich war, menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. Und da war der Verbrennungsmotor ein ganz zentrales Element. SPRECHERINBis dahin gab es in Europa große Dampfmaschinen, wie etwa Dampflokomotiven, die mit Kohlen angeheizt wurden. Die kleineren Verbrennungsmotoren konnten vielseitiger eingesetzt werden – in Traktoren und Autos etwa. Statt Kohle brauchte man nun Benzin oder Diesel, also Erdölprodukte. Erdöl war das Schmiermittel, das die Wirtschaft antreiben und das Wachstum entfachen sollte. SPRECHERINAber neben diesen praktischen Hilfen, um Erträge zu erhöhen – oder, auf die gesamte Gesellschaft bezogen: um das Wachstum zu steigern –, war aus Sicht der Amerikaner auch noch etwas anderes nötig. MUSIK SPRECHERINDie Europäer brauchten ihrer Meinung nach eine andere Erwartungshaltung. Ein anderes mindset. Dafür etablierte man 1953 die Europäische Produktivitätsagentur. Man wollte allen Teilen der Gesellschaft die Steigerung der Produktion schmackhaft machen. Nicht nur Unternehmerinnen und Unternehmern, sondern auch der arbeitenden Bevölkerung. 15 O-TON (Schmelzer)Und vor dem Hintergrund wurden quasi dezidiert auch Workshops veranstaltet mit eben diesen Akteuren, um so ein neues Set an Mentalitäten zu verbreiten, das darauf abzielt, die Idee von einem Positivsummenspiel in Europa zu etablieren. Also wegzukommen von der Idee, die Gesellschaft ist ein Nullsummenspiel. Wenn eine Gruppe mehr bekommt, dann muss eine andere weniger bekommen, hin zu einer Mentalität, in dem der Kuchen für alle wächst und alle davon profitieren können. SPRECHERINUm von den Amerikanern zu lernen, reisten Tausende Europäerinnen und Europäer in den 1950er und -60er Jahren in die USA. Dort konnten sie mit eigenen Augen sehen, wie sich der Output steigern lässt. Sie schauten sich zum Beispiel an, wie PKW an Fließbändern gefertigt werden. Oder wie die just-in-time-Produktion funktioniert. Manche der Reisenden, darunter hochrangige Manager, waren danach regelrecht schockiert. So erfuhren sie in einem Ford-Werk in Cleveland, wie mehrere Tausend Motoren pro Tag gefertigt werden. Zum Vergleich: Bei Daimler-Benz dauerte der Bau eines einzigen Motors fast einen ganzen Tag. Der Schock war auch deshalb so groß, weil US-Firmen zu dieser Zeit begannen, nach Europa zu exportieren. Die europäischen Unternehmen mussten nachziehen, wollten sie nicht Pleite gehen. Aber es ging nicht nur um Profit: Die Modernisierung der Wirtschaft und die Steigerung der Produktion hatten zu dieser Zeit auch eine starke geopolitische Komponente. Es ging darum, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Der Kalte Krieg nahm an Fahrt auf Ende der 1950er Jahre – und damit der Kampf um das bessere Wirtschaftssystem. So sah es auch Nikita Chruschtschow, Regierungschef der Sowjetunion. 16 O-TON (Schmelzer)Chruschtschow hat bereits 1958 auf einem Parteikongress argumentiert, dass Wirtschaftswachstum, das Wachstum der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion in der Sowjetunion, eigentlich der Rammbock ist, mit dem das kapitalistische System zerschlagen werden soll. Und die Sowjetunion legte damals sehr, sehr ambitionierte Wachstumspläne vor, die deutlich über den statistischen Wachstumsprognosen in den westlichen Ländern lagen. Was eben dazu geführt hat, dass in westlichen Politiken viel stärker auch geplante Wachstumspolitik in den Vordergrund rückte. MUSIK SPRECHERINWo lebt es sich besser – im Kommunismus oder im Kapitalismus? Wer bietet seinen Bürgern die besseren Produkte? Wer hat technologisch die Nase vorn? Tatsächlich war die Frage damals nicht, ob die Sowjetunion die USA beim Wirtschaftswachstum einholen würde, sondern wann. Man rechnete damit, dass es Mitte der 1960er Jahre so weit sein würde. Das Wachstum der Wirtschaft wurde deshalb zur alles entscheidenden Frage. Die Devise lautete: ZITATORExpand or die – expandiere oder stirb. SPRECHERINWeiter angeheizt wurde die Stimmung, als die Sowjets ihre technologische Überlegenheit in der Raumfahrt aller Welt vor Augen führten. 17 TON (Sputnik)Denn sie waren es, die den ersten Satelliten ins Weltall schossen, wie der Wochenspiegel 1957 berichtete: MUSIK & ATMO ZITATOR Meine Damen und Herren, ein uralter Traum der Menschheit, der Vorstoß ins All, scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Denn gestern Abend, genau 23.35 Minuten, erreichte eine sogenannte Flash-Meldung die Agenturen der Welt. (…) Und in dieser Meldung heißt es: Am 4. Oktober wurde in der Sowjetunion ein künstlicher Erdsatellit, der erste auf der Welt, erfolgreich aufgelassen. Der Satellit beschreibt jetzt elliptische Flugbahnen um die Erde, wie anzunehmen ist in Höhe bis zu 900 km. (…) Der Wettkampf der USA mit der Sowjetunion um den ersten Erdsatelliten wurde von den Sowjetrussen gewonnen. SPRECHERINZwei Jahre später trafen dann Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow und US-Vizepräsident Richard Nixon direkt aufeinander. Der Schlagabtausch in der amerikanischen Modellküche war ein symbolischer Höhepunkt der Systemkonkurrenz der beiden Supermächte. 18 O-TON (Schmelzer)Diese Küche spielte darin eine entscheidende Rolle, weil sie eben quasi verdeutlichen sollte auf einer ganz konkreten Ebene, was die Vorteile sind, die eben verschiedene Wirtschaftssysteme haben. MUSIK SPRECHERINDer Wiederaufbau in den kapitalistischen Staaten Westeuropas lief nach Plan. Die von der OEEC ausgerufenen Wachstumsziele für die 1950er Jahre wurden sogar übertroffen. Und tatsächlich ging es den meisten Menschen in materieller Hinsicht sehr viel besser als noch vor ein paar Jahren: Die meisten wohnten wieder in einer warmen Wohnung, hatten genug zu essen, viele sparten für ein Auto oder einen Italien-Urlaub. Der neue Wohlstand befriedete die Gesellschaft. Die Frage bei der OEEC, die den Wiederaufbau koordiniert hatte, war nun: Wie geht es weiter? 19 O-TON (Schmelzer)Nach dem Auslaufen der Marshall-Plan-Gelder war im Prinzip unklar, was passiert eigentlich mit dieser Organisation? Und damals intervenierte sehr stark die USA und hat quasi die OECD neu gegründet als ein Club der westlichen reichen Länder. Neue Mitglieder waren dann eben zuerst die USA und Kanada und dann später auch Japan. SPRECHERIN1961 wurde aus der OEEC die noch heute existierende OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aber trotz des neuen Namens blieb sie bei ihrem bewährten Rezept: Wirtschaftswachstum. 20 O-TON (Schmelzer)Damals proklamierte die OECD ein Wachstumsziel von 50 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Das heißt, das kollektive Bruttoinlandsprodukt aller Mitgliedsländer sollte um 50 Prozent gesteigert werden in zehn Jahren. SPRECHERINWobei die ambitionierten Ziele auch Kritik hervorriefen. Manche fragten damals, ob es überhaupt möglich ist, dass die Wirtschaft immer weiter wächst, dass jedes Jahr mehr produziert wird. 21 O-TON (Schmelzer)Und diese Debatte ist vor allem deswegen interessant, weil sie deutlich macht, dass es damals überhaupt nicht selbstverständlich war, vor allem in Europa, längerfristige Wirtschaftsentwicklung als Expansion zu denken. Die Hauptperspektive in dieser Phase des Wiederaufbaus war ein Zurück-zu-dem-Zustand-vor-dem-Krieg. MUSIK SPRECHERINAber genau das änderte sich zu dieser Zeit. Statt Wiederaufbau galt nun: dauerhafte Expansion. Statt Genügsamkeit hieß es: Immer-mehr. Das ständige Wachstum der Wirtschaft wurde zum unhinterfragten Politikziel. Auch weil sich irgendwann zwischen Wiederaufbau und Kaltem Krieg, zwischen Automatisierung und Erdöl-Motoren eine neue Sichtweise etabliert hatte. Matthias Schmelzer spricht von einem Wachstums-Paradigma. Und meint damit: 22 O-TON (Schmelzer)Dass Wachstum auch ein Versprechen ist, ein Mythos, ein mächtiges Narrativ in unseren Gesellschaften, das sehr stark die Politik prägt und eigentlich auch quasi international zu dem primären Ziel von Wirtschaftspolitik geworden ist. SPRECHERINWirtschaftswachstum ist seitdem nicht nur die Steigerung des Bruttosozialproduktes, sondern gleichbedeutend mit Fortschritt, Wohlstand und besserem Leben. Das gilt für die meisten bis heute. Dabei zeigt die Forschung, dass dieser Zusammenhang nur bedingt existiert. 23 O-TON (Schmelzer)Es gibt keine direkte Kopplung von Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand. Es scheint so zu sein, dass es in den meisten Gesellschaften bis zu einem bestimmten Einkommensniveau tatsächlich diesen Zusammenhang gibt. Aber wenn diese Einkommens-Schwelle überschritten wird, die eben in europäischen Gesellschaften in den 1970er, 80er Jahren überschritten worden ist, dann führte historisch gesehen mehr Wachstum nicht zu steigendem Wohlergehen. SPRECHERINTrotzdem hielt man daran fest, trotz wachsender Kritik aus verschiedenen Richtungen. 24 O-TON (Schmelzer)Zum einen eine starke Kritik an den Verteilungswirkungen von Wachstum, die eben sehr ungleich sind. SPRECHERINDenn ein stark steigendes Bruttosozial- oder Inlandsprodukt bedeutet nicht automatisch, dass es allen besser geht. Es kann auch nur einer bestimmten Gruppe – theoretisch auch nur einer einzigen Person – zugutekommen. MUSIK 25 O-TON (Schmelzer)Gleichzeitig kam auch eine sehr starke ökologische Kritik, Stichwort Grenzen des Wachstums, 1972, auf, die nochmal diese Abhängigkeit von Ressourcen und auch das Problem der Emission in den Vordergrund rückten. SPRECHERINKönnen wir auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen überhaupt unendlich wachsen? Spätestens ab den 1970ern gab es grundlegende Kritik an einer Wirtschaftsweise, die unsere natürlichen Ressourcen über Gebühr beansprucht. Zu einer Abkehr von der Wachstumsidee führte das allerdings nicht. Stattdessen wollte man anders wachsen. 26 O-TON (Schmelzer)Der erste Versuch lief unter dem Stichwort qualitatives Wachstum. Aber sehr schnell folgten dann auch andere Begrifflichkeiten, die sich eigentlich über die Jahrzehnte bis heute ziehen. SPRECHERINInklusives Wachstum, nachhaltiges Wachstum oder grünes Wachstum, zum Beispiel. Wobei sich vor einigen Jahren auch der Begriff Post-Wachstum oder degrowth dazu gesellte, also die Idee weniger zu wachsen. Aber insbesondere in Krisenzeiten zeigt sich immer wieder dasselbe Muster. So etwa nach der Finanzkrise unter der Regierung Angela Merkel. 27 TON (Angela Merkel) Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung. (…) Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. (…) Und genau vor diesem Hintergrund beginnt die neue Bundesregierung ihre Arbeit mit einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. SPRECHERINOder 2023, als Finanzminister Christian Lindner erklärte, wie man den Konjunktureinbruch nach dem russischem Angriffs-Krieg bewältigen will. 28 TON (Christian Lindner) Die Voraussetzung für eine soziale Gesellschaft und dass wir unsere ökologischen Ziele erreichen, dass man auch individuell wirtschaftlich vorankommt, das ist eine starke Wirtschaft. Und hier müssen wir besser werden. Wir haben an Wachstumsdynamik verloren und deshalb legen wir ein Wachstumschancengesetz vor. MUSIK SPRECHERINEin Grund, warum so viele Politikerinnen und Politiker so auf Wachstum fokussiert sind, ist, dass unsere Systeme darauf ausgerichtet sind. Denn was passiert, wenn die Wirtschaft tatsächlich mal stark einbricht, zeigte sich nach der Finanzkrise in Griechenland, wo die Wirtschaft um 25 Prozent geschrumpft ist. 29 O-TON (Schmelzer)Die sozialen Folgen waren katastrophal. Das schlägt sich dann nieder in großen Wellen von Krankenhauspleiten, Versorgungskrisen und generell einer Situation, wo Jugendarbeitslosigkeit explodiert, Menschen auswandern, Perspektiven fehlen. Also Wachstum ist in diesen Gesellschaften eine zentrale Voraussetzung für Stabilität. SPRECHERINWeniger Wachstum führt in unserem Wirtschaftssystem früher oder später zu Arbeitslosigkeit. Das belastet die Sozialsysteme – es wird weniger eingezahlt und gleichzeitig brauchen mehr Menschen Unterstützung. Daneben sinken die Steuereinnahmen – und damit der politische Handlungsspielraum. Unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht unabhängiger, resilienter zu machen, wäre eine wichtige Aufgabe. Dementsprechend wichtig wäre es, Entwürfe für ein gutes individuelles als auch gesellschaftliches Leben zu stärken, für die ständiges Wachstum keine Bedingung ist. MUSIK 30 O-TON (Schmelzer)Für die meisten Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, dass es ohne Wirtschaftswachstum überhaupt diese Sachen geben kann: Fortschritt, Entwicklung, eine bessere Zukunft. Und das ist, glaube ich, der Kern der ideologischen Zugkraft dieser Wachstumsidee, der moderne Gesellschaften heute vor Herausforderungen stellt. SPRECHERINMan denkt, dass es gar nicht mehr anders geht. Dass unsere Wirtschaft immerzu wachsen muss. Aber eigentlich ist es eine recht neue Idee, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Gut möglich, dass diese Epoche nun langsam zu Ende geht.
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Oct 15, 2024 • 23min

DER KOREAKRIEG - Wie aus Brüdern Feinde wurden

Der Koreakrieg, ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg zwischen 1950 und `53, forderte mehrere Millionen Menschenleben. Wirklich beendet ist er bis heute nicht. Im Juli 1953 wurde nur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Von Isabella Arcucci (BR 2013)Autorin: Isabella ArcucciRegie: Susi WeichselbaumerEs sprachen: Rahel Comtesse, Armin Berger, Clemens NicolTechnik: Susanne HarasimRedaktion: Brigitte Reimer Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN
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Oct 9, 2024 • 32min

WIE WAR DAS DAMALS? Als Homosexualität strafbar war

Schwul sein war in Deutschland fast das ganze 20. Jahrhundert lang verboten. Im Kaiserreich wurde Paragraph 175 ins Strafgesetzbuch aufgenommen, dann durch die Nationalsozialisten verschärft. Sie bestraften gleichgeschlechtliche Liebe mit Gefängnis oder gar KZ-Haft. Nach der NS-Herrschaft wurde das Gesetz unverändert in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik und der DDR übernommen. Erst vor 30 Jahren, am 10. März 1994 beschloss der Bundestag, den Paragraphen ersatzlos zu streichen. Insgesamt wurden über 50.000 Männer wegen dieses Gesetzes verurteilt. Ihre Entschädigung hat erst 2017 begonnen. (BR 2024) Credits Autoren: Christian Schaaf und Michael Zametzer Redaktion: Heike Simon und Eva Kötting Linktipps: BR2 Radioreportage (2024): Vergessene Opfer – Homosexuelle im KZ Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit, und so ist der 27. Januar heute der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Opfer, das waren Juden und Jüdinnen, aber auch Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung und außerdem Menschen, die lange darum kämpfen mussten, als Opfergruppe Anerkennung zu finden: Homosexuelle. JETZT ANHÖREN BR2 Tatort Geschichte (2023): Die „Nacht der langen Messer“ – Der „Röhm-Putsch“ 1934 Im Sommer 1934 brechen die Grabenkämpfe innerhalb der NSDAP offen aus und steigern sich bald zu einem "nationalsozialistischem Bruderkrieg", der dutzende Opfer fordern wird. Allen voran der Stabschef der SA, Ernst Röhm, und weitere wichtige SA-Führer werden in der "Nacht der langen Messer" hingerichtet. Im Anschluss beginnt eine Schmutzkampagne, die ihresgleichen sucht. Im Fokus steht Röhms Homosexualität, weshalb sich bald homosexuelle Menschen im ganzen Reich nicht mehr sicher fühlen können. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk Nova Eine Stunde Liebe (2024): Im Geheimen – Lesbisches Leben in der Weimarer Republik und der NS-Zeit   "Der Aufsteiger" heißt die erste Folge der dreiteiligen ZDF-Dokumentation "Hitlers Macht", die das ZDF 90 Jahre nach Hitlers Regierungsübernahme am 30. Januar 1933 zeigt. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Oct 7, 2024 • 25min

NAHOSTKONFLIKT - Der Sechstagekrieg

Mit dem Sechstagekrieg eskaliert Mitte 1967 die Situation im Nahen Osten. Israel schlägt die arabischen Nachbarstaaten vernichtend. Zwar ist der Krieg nach wenigen Tagen wieder vorbei. Aber er hat Folgen bis heute. Von Linus Lüring (BR 2024)Credits Autor: Linus LüringRegie: Sabine KienhöferEs sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Dirscherl, Christian BaumannTechnik: Wolfgang LöschRedaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Dr. Jan Busse, Tom SegevLinktipps:BR24: Lost in Nahost - Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Am 7. Oktober 2023 greifen Terroristen der Hamas Israel an - seitdem ist Krieg in Israel und Gaza. Was ist damals genau passiert - und warum eskaliert die Gewalt dort immer weiter? Dieser Podcast erklärt die Hintergründe - einmal mit Hilfe unserer Korrespondentinnen und Korrespondenten – und indem wir mit Menschen aus Israel und den palästinensischen Gebieten sprechen, die eine sehr unterschiedliche Sicht auf den Konflikt haben. ZUM PODCAST Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Palästinenser und die Nakba Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. JETZT ANHÖREN Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Die Staatsgründung Israels Am 14.05.1948 endet das britische Mandat über Palästina. Noch am gleichen Nachmittag ruft David Ben Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Damit geht der Wunsch vieler Jüdinnen und Juden in Erfüllung, nach den letzten Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung zurückkehren zu können nach Zion, dem "Land der Väter". Der Weg von der Idee Theodor Herzls, in Palästina eine "Heimstätte" für das jüdische Volk zu schaffen, bis zum Staat Israel war lang. Von Beginn an war er von Konflikten und Interessenskollisionen bestimmt. JETZT ANHÖRENUnd hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO ErzählerinEs ist früh am Morgen, als am 5. Juni 1967 dutzende Kampfflugzeuge der israelischen Armee abheben. Ihr Ziel Ägypten. Tom Segev ist damals 22 Jahre alt. Der Israeli kann die Situation erst nicht ganz einschätzen.. 1 Segev Viele Flugzeuge, die haben wir schon gehört. Keine Ahnung was das bedeutet. Nicht mal gewusst, ob das unsere sind. Aber ja, nach der Richtung konnte man schon sehen. ErzählerinDass es zu einem Krieg kommen wird, lag damals bereits in der Luft. Tom Segev ist zu der Zeit im Süden des Landes, in einem sogenannten Kibbuz – einer Gemeinschaftssiedlung. Nicht weit entfernt vom Gaza-Streifen, der damals unter ägyptischer Verwaltung steht. Tom Segev hat sich damals für die Verteidigung des Kibbuz gemeldet. 2 SegevWir lagen auf dem Boden. Man hat mir ein Gewehr gegeben. Und wir sahen weit weg die Lichter von Gaza und wir wussten eigentlich nicht, was wir jetzt tun sollen. ErzählerinDie Frage, die sich Tom Segev und die anderen um ihn herum stellen – Werden bald schon ägyptische Panzer hier angreifen? Was Tom Segev zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß – es wird zu keinem Gegenangriff kommen. Der Krieg, der gerade erst begonnen hat – er wird schon wenige Tage später wieder vorbei sein.  Und er wird die Machtverhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf stellen, erklärt der Nahost-Experte Jan Busse. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr in München. 3 BusseVorher war es so, dass Israel sich selber und auch von außen so betrachtet wurde: Da ist der kleine David, umgeben von einem übermächtigen arabischen Goliath, und durch diesen Krieg von 1967 hat sich dieses eigentlich ins komplette Gegenteil verkehrt. ErzählerinIsrael hat nicht nur gegen Ägypten, sondern auch gegen Syrien und Jordanien gekämpft und einen überwältigenden Sieg errungen. Nach nicht mal einer Woche wird das Territorium, das Israel kontrolliert, dreimal größer sein als vor dem Krieg. In weiten Teilen der Welt ist der Krieg von 1967 heute nach seiner Dauer benannt. Der Sechstagekrieg. Dabei ist dieser Titel eine israelische Wortschöpfung und soll die eigene Dominanz betonen. In der arabischen Welt ist die Wahrnehmung eine völlig andere. Dort spricht man von “Naksa”, arabisch für Rückschlag. Fest steht: Der Krieg und die Ergebnisse prägen die Region bis heute.Wie aber konnte es zu dieser bewaffneten Konfrontation kommen? MUSIK ErzählerinMitentscheidend ist das Jahr 1948. Damals erklärt sich Israel für unabhängig. Nur wenige Stunden später wird der junge Staat von seinen arabischen Nachbarn angegriffen, darunter Ägypten, Jordanien und Syrien. Erklärtes Ziel war es, den entstehenden jüdischen Staat zu vernichten. Israel konnte in diesem Krieg allerdings große militärische Erfolge erreichen. Zwischen allen Parteien wurden später zwar Waffenstillstandsabkommen geschlossen, allerdings keine dauerhaften Friedensverträge. Keines der arabischen Nachbarländer akzeptierte Israel als souveränen Staat. Die Lage bleibt unsicher und es kommt immer wieder zu massiven militärischen Auseinandersetzungen und Drohungen. In den 1960er Jahren gerät die Situation dann außer Kontrolle, analysiert Jan Busse. 5 BusseDas heißt, wir haben dort eine Situation, wo eigentlich alle Seiten befürchtet hatten: Es kommt zu einem Angriff, ohne dass es wirklich gewollt war. Also man ist ein Stück weit hineingeschlittert, und die Situation hat sich sukzessive seit Beginn der 1960er-Jahre eigentlich immer weiter verschärft. MUSIK ErzählerinEin erster Auslöser in der trockenen Region ist die Wasserproblematik. Israel beginnt Wasser aus dem See Genezareth abzuleiten, um Bewässerungssysteme auf eigenem Territorium aufzubauen. Dies gefährdet allerdings die Wasserversorgung Jordaniens, wogegen das Land scharf protestiert. Zudem greift in dieser Zeit Israel immer häufiger Ziele in Syrien oder Jordanien an, weil von dort palästinensische Befreiungskämpfer nach Israel eindringen und Anschläge verüben. Anfang 1967 eskaliert die Situation dann weiter. Im Mittelpunkt dabei: Ägyptens Präsident Nasser. Führer der arabischen Welt, das ist die Rolle, die er für sich sieht. Von Jordanien oder Syrien wird er allerdings kritisch gesehen. Vor allem gegenüber Israel sei er zu wenig durchsetzungsstark. Nasser weiß, dass er jetzt liefern muss. 6 Nasser (bereits overvoiced)Mit der Existenz des Staates Israel werden wir uns nicht abfinden. Jede israelische Aggression wird zum totalen Krieg führen. Ägypten wird jedoch nicht als erster angreifen. Truppen der Vereinten Nationen sollen nicht mehr auf ägyptischem Boden stationiert werden. ErzählerinDie Truppen der Vereinten Nationen, gegen die Nasser sich hier in einer Rede richtet, sind auf der Sinai-Halbinsel stationiert, an der Grenze zu Israel. Sie sichern auf ägyptischem Boden eine Pufferzone zwischen den beiden verfeindeten Ländern. Im Mai 1967 kommt es dann zu einer Entwicklung, die viele internationale Beobachter verwundert und Israel schockiert. Die Vereinten Nationen geben Nassers Forderung tatsächlich nach: Die UN-Friedenstruppen werden abgezogen. Sofort rückt das ägyptische Militär nach und hunderte Panzer werden auf dem Sinai stationiert. Auch Syrien zieht Truppen an der Grenze zu Israel zusammen. Und aus anderen arabischen Staaten sind ähnliche Pläne zu hören. MUSIK ErzählerinTom Segev, der als junger Israeli damals im Kibbuz im Süden Israels lebt, erinnert sich, dass diese Eskalation und die Vernichtungsdrohungen aus Ägypten in der israelischen Gesellschaft damals traumatischste Erfahrungen wachrufen: 7 SegevDas war zu einer Zeit als die meisten Israelis noch gar nicht Hebräisch konnten. Die meisten Israelis waren neue Einwanderer. Viele waren Holocaust-Überlebende. Und wenn man auf schlechtem Hebräisch aus dem arabischen Radio das Wort Vernichtung hört, dann meint man Holocaust. Und diese Angst war ganz authentisch. ErzählerinZu dieser existenziellen Angst vor einem erneuten Holocaust kommt, dass die israelische Gesellschaft ohnehin tief verunsichert ist. Das Land erlebt Mitte der 1960er Jahre eine tiefgreifende wirtschaftliche Rezession, immer mehr Menschen werden arbeitslos. Und immer mehr verlassen Israel – es kommt zu einer Auswanderungswelle von zehntausenden Menschen. Eine Zeitung schreibt bereits davon, dass das “Unternehmen gescheitert sei”. Gemeint ist die Vision des Staates Israel. Die Situation ist 1967 also nicht nur international, sondern auch innerhalb des Landes angespannt. MUSIK ErzählerinAm 20. Mai reagiert Israels Premierminister Levi Eschkol. Er befiehlt die Mobilmachung der israelischen Streitkräfte. Davon fühlt sich wiederum Ägyptens Präsident Nasser provoziert. Mit Kriegsschiffen lässt er zwei Tage später die Meerenge von Tiran blockieren. Israelische Schiffe können nun nicht mehr passieren. Israels einziger Zugang zum Roten Meer ist geschlossen. Das bedeutet unter anderem, dass wichtige Ölimporte nun nicht mehr ins Land kommen können. Die Reaktion in der arabischen Welt ist geradezu euphorisch. Endlich droht Nasser nicht nur, sondern zeigt Stärke gegenüber dem verhassten Israel. Gleichzeitig überrascht Nasser mit diesem Schritt viele internationale Beobachter und auch die Sowjetunion, die damals Ägypten militärisch unterstützt. Allen ist klar: Die Sperrung der Meerenge von Tiran kann als Kriegserklärung gegenüber Israel aufgefasst werden.Wie wird Israel reagieren? Die Angst vor einem Krieg bestimmt jetzt den Alltag im Land und im Kabinett beginnen hektische Beratungen. Der populäre Mosche Dajan wird am 1. Juni neuer Verteidigungsminister. Er war früher Generalstabschef der israelischen Streitkräfte. In einer seiner ersten Pressekonferenzen versucht Dajan, die Stärke Israels zu demonstrieren. 8 DajanLet me say I don’t want anyone else to fight for us. Whatever can be done in a diplomatic way I would welcome and encourage but if fighting does come to Israel I would not like American or British boys to get killed here and I do not think we need them. Sprecher 1 - Voice Over 1Ich erwarte es nicht und möchte auch nicht, dass jemand anderes für uns kämpft. Ich unterstütze alles, was auf diplomatischem Weg getan werden kann. Aber wenn es zu Kämpfen kommt, möchte ich nicht, dass britische oder amerikanische Soldaten hier getötet werden. Und ich glaube auch nicht, dass wir sie brauchen! ErzählerinIn internen Beratungen in der israelischen Regierung sind die Einschätzungen aber keineswegs so eindeutig. Ministerpräsident Eshkol zögert. Wie stark sind die eigenen Truppen wirklich? Wie weit wird Nasser gehen? Bis heute gibt es darauf keine eindeutige Antwort, erklärt der Nahost-Experte Jan Busse. 9 BusseAlso so eine Konfrontation entwickelt der immer irgendwann eine gewisse Eigendynamik, die schwer kontrollierbar ist. Ob ein Krieg unvermeidbar ist, ist natürlich in der Rückschau ganz, ganz schwer zu beurteilen. Klar ist auf jeden Fall: Es gibt Hinweise darauf, dass Nasser eigentlich gar keinen Krieg wollte und sich eigentlich mit seiner Drohkulisse verkalkuliert hat. TC 10:10 – Angriff ist die beste Verteidigung? MUSIK ErzählerinIn den ersten Juni-Tagen 1967 wächst in der israelischen Führung die Überzeugung: Nur wenn man selbst angreift und den hochgerüsteten ägyptischen Gegner überrascht, dann gibt es eine realistische Chance aus einem Krieg als Sieger hervorzugehen. Von einem „präventiven Angriff“ ist unter israelischen Militärs die Rede. Dafür gilt es aber noch, einen Punkt zu klären: Zwar ist man überzeugt, allein kämpfen zu müssen. Trotzdem möchte man so einen Angriff mit dem wichtigsten Verbündeten abstimmen: Den USA. Der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson versucht in größter Eile einen Vermittlungsversuch zu starten. Allerdings ohne Erfolg. In Israel fällt die Entscheidung zum Angriff. Am frühen Morgen des 5. Juni 1967 soll es so weit sein. Tom Segev hält damals regelmäßig Wache an der Grenze zu Gaza. 10 Segev Meine Befürchtung war, dass ich einschlafe. Aber das ist natürlich nicht passiert. Wir hatten ein kleines Transistorradio mit uns und haben die Nachrichten gehört. ErzählerinDann kommt der Moment, wo Tom Segev die Flugzeuge über sich hinweg donnern hört. Sie fliegen wenige Meter über der Erde, um vom ägyptischen Radar nicht entdeckt zu werden. Tom Segev realisiert: 11 SegevJa es war Krieg, es war ganz klar Krieg. Lauter Bombardierungen … MUSIK & ATMO ErzählerinWas Tom Segev hier erlebt, ist die Operation “Fokus”, der Beginn des Sechstagekriegs. Gegen 7 Uhr am Morgen greifen rund 200 israelische Kampfflugzeuge ägyptische Luftwaffenbasen an. In drei Wellen laufen die Attacken ab. Die israelischen Piloten haben einen solchen Angriff lange trainiert. Sie wissen genau, wo die ägyptischen Flugzeuge stationiert sind. Die Ägypter sind von dem Angriff völlig überrascht. Viele von ihnen sitzen noch beim Frühstück, heißt es. Die Bilanz nach wenigen Stunden – Dutzende ägyptische Piloten sind tot und die meisten der Kampfflugzeuge Ägyptens wurden am Boden zerstört. An die 400 sollen es sein. Außerdem sind die Start- und Landebahnen im Land weitgehend nicht mehr einsatzfähig. Ägypten gelingt es im Gegenzug nicht israelische Flugzeuge in großer Zahl abzuschießen. Damit werden auf israelischer Seite auch nur wenige Soldaten getötet. Noch wichtiger aber: Israel hat jetzt uneingeschränkte Lufthoheit. In dieser Situation rücken israelische Bodentruppen vor auf der Sinai-Halbinsel. Sie kommen schnell voran. Ägyptische Soldaten flüchten zu Tausenden. Geräte und Fahrzeuge lassen sie in Panik in der Wüste zurück. Am Ende des Tages stellt die Führung fest: Von Ägypten droht keine Gefahr mehr für Israel. 12 SegevIrgendwann in der Nacht hat man uns dann gesagt, der Krieg ist zu Ende! ErzählerinDies ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Auf der Sinai-Halbinsel wird weitergekämpft. Bald schon werden israelische Kräfte bis zum Suez-Kanal vorstoßen. Und auch in anderen Teilen des Landes sind Kämpfe ausgebrochen. Dabei ist Jordanien der ägyptischen Propaganda aufgesessen. Dort heißt es, Israel sei bereits am Rande der Niederlage. Deshalb greift Jordanien jetzt auch israelische Städte an. Israel reagiert und rückt in Gebiete vor, die von Jordanien annektiert wurden. Dabei handelt es sich um Gebiete westlich des Jordan-Flusses, das sogenannte Westjordanland. Schnell erobern die Israelis Städte wie Dschenin. Dann rückt eine andere Metropole ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Jerusalem, die Heilige Stadt. Israel hat sie zu seiner Hauptstadt erklärt. Allerdings ist Jerusalem geteilt. Israel kontrolliert nur den Westteil. Seit 1948 besetzt Jordanien den Osten. Hier befinden sich die Altstadt und eine der heiligsten Stätten im Judentum, die Klagemauer. Auch bedeutende religiöse Orte des Christentums und des Islam liegen dort. MUSIK ErzählerinDie Kämpfe um Jerusalem sind hart. In den engen Straßen wird um jeden Meter erbittert gekämpft. Dutzende Soldaten sterben auf beiden Seiten. Doch schließlich sind die Truppen Jordaniens besiegt. Zwei Tage nach dem Beginn des Krieges, am 7. Juni, gegen 10 Uhr vormittags ist der Weg in die Altstadt Jerusalems frei. Wenig später stehen dann erste israelische Soldaten an der Klagemauer. Im Land hören die Menschen im Radio wie ein General die Einnahme der Altstadt verkündet. ATMO ErzählerinDie Euphorie im Land ist grenzenlos.Jerusalem war der Sehnsuchtsort vieler Juden. Nun ist sie wieder vollständig unter israelischer Kontrolle. Auch Tom Segev macht sich elektrisiert auf den Weg nach Jerusalem, in die Stadt, in der er geboren wurde und die er nur geteilt kannte. 14 SegevIch war begeistert davon, dass ich ein Teil einer unglaublichen Story bin. Ich war mit einem Freund zusammen. Wir sind ja aufgewachsen in der geteilten Stadt. Und die Altstadt war hinter dem Mond. Weiter weg als Ostberlin von Westberlin. Und auf einmal sind wir dort. ErzählerinDie Freude, die er damals spürt und die die gesamte israelische Gesellschaft ergreift, sieht Tom Segev heute differenzierter. Er hat vor einigen Jahren ein umfangreiches Buch über den Sechstagekrieg geschrieben. Dabei hat er auch rekonstruiert, wie damals die Planungen im israelischen Kabinett abgelaufen sind. 15 SegevDas Interessante ist, dass nicht einer von den Ministern die Frage stellt, sagt mal liebe Kollegen, warum ist das eigentlich gut für uns, Ostjerusalem zu erobern? Niemand fragt, was bedeutet das, dass wir jetzt heilige Plätze erobern, die das Allerwichtigste sind für viele hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt. ErzählerinDer Nahost-Experte Jan Busse hinterfragt in diesem Zusammenhang die Strategie Israels generell. 16 BusseAlso, was die israelischen Ziele angeht, ist auffällig, dass es eigentlich keine klar politisch formulierte Zielsetzung bei diesem Krieg gegeben hat, außer dass man sich verteidigen wollte vor einer als existenziell wahrgenommenen Bedrohung durch Ägypten, das heißt vorrangig ging es darum, die eigene Sicherheit zu schützen und nicht darum, Gebiet zu erobern. Das hat sich tatsächlich erst im Kriegsverlauf ergeben und war auch zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich politisch vorgegeben. Man ist strategielos an diesen Krieg herangegangen und das ist immer etwas, das problematisch ist. MUSIK ErzählerinAn die Folgen denkt aber in diesem Moment niemand. Die Gesellschaft ist euphorisiert von der eigenen Stärke. Israels Truppen sind vor allem strategisch überlegen und eilen von Sieg zu Sieg. Am 10. Juni hat Israel von Ägypten die komplette Sinai-Halbinsel und den Gaza-Streifen erobert. Außerdem sind die jordanischen Truppen aus dem Westjordanland und Ostjerusalem vertrieben. Gekämpft wird noch im Norden. Dort sind israelische Truppen dabei, im Kampf mit syrischen Einheiten noch die Kontrolle über die Golan-Höhen zu bekommen. Das Gebiet ist strategisch wichtig und bietet Zugang zum wertvollen Wasser des Jordan, der hier entspringt. Am 10. Juni gegen 18 Uhr tritt dann - auch auf Vermittlung der USA und der Vereinten Nationen - eine Waffenruhe zwischen Israel und Syrien in Kraft. Damit sind die letzten Kämpfe beendet, der Krieg ist vorbei. Nach 6 Tagen… MUSIK ...
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Oct 7, 2024 • 23min

NAHOSTKONFLIKT - Palästina zwischen den Weltkriegen

Während des Ersten Weltkriegs trafen im Nahen Osten sehr gegensätzliche Interessen aufeinander: die kriegführenden europäischen Großmächte, das späte Osmanische Reich, arabische Bevölkerung und bald eine immer größere Gruppe von jüdischen Zuwanderern. Unklare Versprechen, große Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen prägen die Jahre zwischen den Weltkriegen. In ihnen liegen die Wurzeln des Nahostkonflikts. Von Rainer Volk (BR 2024) Credits Autor: Rainer Volk Regie: Frank Halbach Es sprachen: Thomas Birnstiel, Carsten Fabian, Katja Schild Technik: Simon Lobenhofer Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Ulrike Freitag, Prof. Peter Wien, Prof. Michael Brenner, Linktipps: BR24: Lost in Nahost - Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Am 7. Oktober 2023 greifen Terroristen der Hamas Israel an - seitdem ist Krieg in Israel und Gaza. Was ist damals genau passiert - und warum eskaliert die Gewalt dort immer weiter? Dieser Podcast erklärt die Hintergründe - einmal mit Hilfe unserer Korrespondentinnen und Korrespondenten – und indem wir mit Menschen aus Israel und den palästinensischen Gebieten sprechen, die eine sehr unterschiedliche Sicht auf den Konflikt haben. ZUM PODCAST Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Palästinenser und die Nakba Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. JETZT ANHÖREN Alles Geschichte (2024): HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT – Die Staatsgründung Israels Am 14.05.1948 endet das britische Mandat über Palästina. Noch am gleichen Nachmittag ruft David Ben Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Damit geht der Wunsch vieler Jüdinnen und Juden in Erfüllung, nach den letzten Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung zurückkehren zu können nach Zion, dem "Land der Väter". Der Weg von der Idee Theodor Herzls, in Palästina eine "Heimstätte" für das jüdische Volk zu schaffen, bis zum Staat Israel war lang. Von Beginn an war er von Konflikten und Interessenskollisionen bestimmt. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem ManuskriptOT 1: Musik (Ouverture „Lawrence of Arabia – The voice of the guns”)Erzähler: Eigentlich beginnt die Geschichte Palästinas zwischen den Weltkriegenschon vor diesem Zeitabschnitt – nämlich etwa ab 1916. Denn von da an zeigen sich die Folgen der Allianzen im Ersten Weltkrieg: Das Osmanische Reich ist als Verbündeter des Deutschen Reiches auch Gegner der Weltmacht Großbritannien, das sich um seine Interessen im Nahen Osten sorgt. Ab 1916 versucht London daher massiv, das Osmanische Reich zu schwächen. Erzähler: Konkret geht es um den Suez-Kanal: Die Briten glauben, die Osmanen könnten diese schnellste Verbindung Richtung Indien angreifen und blockieren. Deshalb inszeniert der britische Geheimdienst auf der arabischen Halbinsel einen Aufstand der dortigen Stämme - eine berühmte Geschichte. Eine wichtige Rolle dabei spielt der britische Archäologe und Geheimdienst-Offizier Thomas Edward Lawrence. Die Historikerin Professor Ulrike Freitag, Direktorin am Berliner Zentrum Moderner Orient, hält den autobiografischen Bericht „Die sieben Säulen der Weisheit“, den Lawrence in den 1920er Jahren verfasst und den daran angelehnten Film „Lawrence von Arabien“ für ebenso informativ - wie einseitig: OT 2: (Freitag – Lawrence)„Man kann T.E. Lawrence lesen - aber man muss wissen, dass er natürlich unterwegs war, um britische Politik durchzusetzen. Das heißt: Er gibt eine – durchaus arabophile – aber eine britische Perspektive wieder. Und wenn Sie die arabische Perspektive wissen wollen, dann müssen Sie sich eher mit den arabischen Quellen auseinandersetzen.“              Erzähler: Anders als die Geschichte von T.E. Lawrence sind die Hintergründe und Biografien der wichtigen arabischen Akteure des Palästina-Konflikts zwischen den Weltkriegen in Europa weitgehend unbekannt. Dabei sind Herkunft, Leben und Nachkommen der politisch Handelnden teilweise bis heute prägend für die Staatenwelt in Arabien: OT 3: (Musik-Akzent aus „After bombing raid”) Zitator/in„Hussein bin-Ali, geboren 1854. Er ist Oberhaupt der Haschemiten-Dynastie; ein Nachfahre des Propheten Mohammed in 37. Generation. Der türkische Sultan hat Hussein bin-Ali 1908 zum Emir – also zum Prinzen - von Mekka ernannt. //Sein dritter Sohn ist Faisal bin al-Hussein, geboren 1885. Mit Faisal hat T.E. Lawrence intensiven Kontakt während des Arabischen Aufstands. // Abdulaziz-bin-Abdul Rahman, allgemein bekannt als Ibn Saud, Jahrgang 1876. Er ist das Oberhaupt des Saud-Klans; Ibn-Saud beherrscht Anfang der 1920er Jahre Mitte und Norden der arabischen Halbinsel bis zum Golf von Persien. Er ist Verbündeter der Briten und Rivale der Haschemiten.   Erzähler: Der Film „Lawrence von Arabien“ zeigt die Anfänge des Palästina-Konflikts als tragisches Abenteuer; die Gründe des so genannten „Großen Arabischen Aufstands“ ab 1916 bleiben Nebensache. Im Rückblick sagen Experten: Wichtig war, neben arabischem Nationalismus, auch die Not der Menschen. Denn im Weltkrieg haben Briten und Franzosen alle Häfen des Osmanischen Reiches blockiert. Die Folge: Fast überall sind Lebensmittel knapp und es wird gehungert, so Ulrike Freitag. OT 4: (Freitag – Blockade) „Da die Osmanen ja offiziell dort herrschten, betraf diese Blockade auch die arabische Halbinsel. Und deswegen waren eben nicht nur Gold, sondern auch Nahrungsmittel und Waffen sehr wichtig für diesen Aufstand. Dieser führte dann dazu, dass Hussein-bin-Ali sich – über seinen Sohn Faisal insbesondere – mit arabischen Nationalisten unter osmanischer Herrschaft in Damaskus und Beirut und Palästina zusammentat und einen Aufstand gegen die Osmanen durchführte.“   Erzähler: Das klingt einfacher als es ist: Denn in der Großregion kämpfen bald auch Araber gegen Araber: Ibn-Saud zieht gegen Hussein-bin-Ali in den Krieg; erobert 1924 Mekka und andere heilige Stätten des Islam, gründet damit das heutige Saudi-Arabien. Vor allem treten nun die Konsequenzen europäischer Großmachtpolitik hervor. Für die Friedensverhandlungen in Versailles ab 1919, bei den auch der Nahe Osten behandelt wird, sind drei Vorabsprachen wichtig:Zitator/Zitatorin: Zu Kriegsbeginn 1914 sagt der britische Militärgouverneur in Ägypten, McMahon, Hussein bin-Ali die Unabhängigkeit der Region unter seiner Herrschaft zu, wenn dieser mit dem Empire paktiert. //Im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 teilen Briten und Franzosen den Nahen Osten in Einfluss-Sphären ein – von der Levante bis zum Sinai, vom Mittelmeer bis zum Jemen. //Im November 1917 erklärt der britische Außenminister Balfour, London wolle jüdischen Siedlern in Palästina eine Heimat gewähren. OT 5: (Wien – Balfour I - ca. 10:50) – „Es wird darin nicht gesprochen von einem jüdischen Staat, der gegründet werden soll, sondern es geht dabei um eine „jüdische Heimstätte“.         Erzähler: Erklärt Peter Wien, Professor für moderne Geschichte des Nahen Ostens an der Universität von Maryland in den USA über das berühmte Dokument: OT 6: (Wien – Balfour II) – „Dass es dabei eine arabische Bevölkerung geben könnte, die selbst sowas wie nationale Interessen haben könnte, taucht ja in diesem Dokument gar nicht auf. Das heißt: Die Formulierungen sind sehr, sehr vorsichtig und teilweise auch in sich widersprüchlich gewählt und lassen viele Deutungen offen.“    Erzähler: Die komplizierte Ausgangssituation wird nicht einfacher, als der neu geschaffene Völkerbund Anfang der 1920er Jahre Franzosen und Briten Mandatsgebiete in der Region zuspricht. Denn diese schaffen Fakten, die nicht der über Jahrhunderte gewachsenen Lebenswelt der Einheimischen entsprechen. Die Historikerin Ulrike Freitag sagt über die Grenzen, die nun entstehen: OT 7: (Freitag – Grenzen) – „Diese Grenzen gingen eben durch historisch eng miteinander verknüpfte Gebiete, durch Handelsrouten hindurch, teilweise durch Familien hindurch. Also zwischen dem was Trans-Jordanien, heute Jordanien, wurde und Syrien beispielsweise, aber auch zwischen Syrien und dem Irak. Da war das Öl von Mossul ein besonderer Zankapfel zwischen Franzosen und Briten.“      0’25 OT 8: (Musik – „Ich fohr aheim“ – hist.) Erzähler: Ein jiddisches Lied aus dem frühen 20.Jahrhundert – es besingt die Alija – die Rückkehr europäischer Juden nach Palästina. Bis Anfang der 1920 Jahre ist das auch „Zionismus“ genannte Phänomen vor Ort wenig relevant. Im Oktober 1922, als die britische Verwaltung in Jerusalem die erste offizielle Einwohnerzählung in Palästina anordnet, scheint das Problem beherrschbar: Zitatorin:„Demnach leben zu diesem Zeitpunkt gut eine dreiviertel Million Menschen in dem Mandatsgebiet. 590-tausend davon sind Muslime, 84-tausend also etwa 14 Prozent sind Juden, 73-tausend Christen, 7-tausend gehören der drusischen Minderheit an.“  Erzähler: Forschungen zu den Ansichten der arabischen Mehrheitsbevölkerung der Region zeigen für die 20er Jahre ein sehr breites Meinungsspektrum. Ein Indikator hierfür sind die Zeitungen und Zeitschriften, die in Städten wie Jaffa, Haifa oder Beirut erscheinen. So hofft ein Teil der Elite aus Lokalpolitikern und Journalisten offenbar, zionistische Siedler könnten durch Investitionen in Landwirtschaft und Infrastruktur ihre Welt modernisieren. Der Nahost-Historiker Peter Wien sagt über das geteilte Stimmungsbild bei den Muslimen:   O-Ton 9: (Wien – Meinungen) – „Die einen empfinden es als Bedrohung, andere empfinden Solidarität mit den Juden, weil man sich klar darüber ist, dass Juden in Europa eine viel, viel schlechtere Position haben, als sie eigentlich über Jahrhunderte in den islamischen Ländern hatten. Also es gibt durchaus eine differenzierte Darstellung dieses Phänomens.“ Erzähler: In der Tat vergrößern Pogrome und Wirtschaftskrisen die Bedrängnis vieler Juden in Europa, besonders im Osten, Anfang der 1920er Jahre. Die Auswandererzahlen steigen – was den Wortführern des Zionismus politisch zupasskommt. Zumal der Begriff „Palästina“ erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Neuordnung des Nahen Ostens ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist – also auch propagandistisch nutzbar wird – erklärt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München: OT 10: (Brenner – Palästina-Begriff) – „Also zunächst müssen wir mal sagen, dass überhaupt zum ersten Mal in der Geschichte Palästina auf einer Landkarte verzeichnet war als britisches Mandatsgebiet. Unter der osmanischen Herrschaft waren das verschiedene Regionen. Und der Name Palästina tauchte auf keiner politischen Landkarte auf.“   Erzähler: Nur für eine sehr kurze Zeit hofft Großbritannien zunächst, es könne sein Mandatsgebiet mit politischem Geschick und Wachsamkeit halbwegs ruhig halten. Dann müssen Londons Vertreter in Jerusalem feststellen: Die Hitzköpfe auf arabischer wie jüdischer Seite lassen sich nur schwer im Zaum halten. Ulrike Freitag spricht von einem „Crescendo“ der Gewalt, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Palästinas der Zwischenkriegszeit zieht und sieht das Startsignal 1921 bei einer religiösen Festlichkeit: OT 11: (Freitag – Unruhen ab 1921) – „Da kommt es zu großen Auseinandersetzungen im Rahmen einer eigentlich sehr traditionellen muslimischen Prozession, die aber immer etwa gleichzeitig etwa stattfand mit christlichen und jüdischen Prozessionen. 1929 wäre dann zu nennen – in Jaffa, insbesondere. Aber auch Unruhen, die sich aber dann sehr schnell sehr breit ausbreiten.“ Erzähler: Diese Einschätzung wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Religion für den Konflikt. Vor allem Jerusalem mit seinen heiligen Stätten für Christen, Juden und Muslime wird zunehmend zum Zankapfel der Fanatiker. Einer von ihnen ist auf arabisch-muslimischer Seite der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini: Zitatorin: Das Geburtsjahr von Mohammed Amin al-Husseini – 1895, -96, oder -97, ist unklar. Seine Familie ist wohlhabend, der Vater bereits Mufti von Jerusalem – also: islamischer Rechtsgelehrter – und vehementer Anti-Zionist. Al-Husseini studiert in Kairo islamisches Recht und in Istanbul Verwaltungswissenschaft. Als 1921 sein Bruder stirbt, ernennen ihn die Briten zu dessen Nachfolger als Großmufti von Jerusalem, also zum politisch-religiösen Oberhaupt der Muslime in Palästina. Erzähler: Anders als der wegen der Namensähnlichkeit oft mit ihm verwechselte Emir bin-Husseini, der bei den Briten zunehmend in Ungnade fällt, erlebt der Großmufti einen Aufstieg. London unterschätzt lange, dass die Mischung aus Nationalismus und Religion ihn zur Galionsfigur muslimischer Fanatiker werden lässt. Peter Wien von der University of Maryland: OT 12: (Wien – Al-Husseini) – „Der genannte Amir-al-Husseini hält 1931 einen Kongress in Jerusalem und schafft es eben in dieser Veranstaltung, genau dieses Thema, dass Palästina zentral ist für islamische, politisierte, national-arabische Identitäten – zu etablieren. Und schafft auch den Felsendom – das klare Symbol, das alle mit Palästina und mit dem Ruf nach Freiheit für Palästina, der da formuliert wird – dass das damit verbunden wird.“       OT 13: (Musik „Shir Ha Emek”) Erzähler: Und doch braut sich der Sturm aus politisch-religiös motivierten Morden, Hinterhalten und Vergeltungstaten nur allmählich zusammen. So sind zeitgenössische Dokumentarfilme der 1920er und 30er Jahre über Palästina zum Beispiel „Land of promise – Land der Verheißung“, häufig unterlegt mit idyllischer Musik. Sie vermittelt den Eindruck einer blühenden Landwirtschaft und rasch wachsender Städte – einer besseren Zukunft für Juden. Zitator: Tel Aviv zum Beispiel, erst 1909 als Vorort der Hafenstadt Jaffa gegründet, wird rasch zum Vorzeige-Projekt für Einwanderer aus Europa. Viele Gebäude sind im Bauhaus-Stil errichtet – ein Sinnbild für Modernität und Fortschritt. 1931 hat Tel Aviv bereits 46-tausend Einwohner; kurz vor dem Zweiten Weltkrieg 150-tausend. Insgesamt verzehnfacht sich die jüdische Bevölkerung in Palästina bis Ende der 1930er Jahre, während sich die Zahl der arabischen Muslime nur verdoppelt. Erzähler: Aus heutiger Sicht erscheint es naiv, dass Großbritannien lange an eine friedliche Lösung für den Konflikt in Palästina glaubt. Seine Diplomaten lassen sich allerhand einfallen, um vor Ort Zeichen der Hoffnung zu geben. So ernennt die britische Regierung 1920 Herbert Samuel zum Hochkommissar für das Mandatsgebiet - einen praktizierenden Juden. Für Professor Michael Brenner hat diese Personalie besondere Bedeutung: OT 14: (Brenner – Samuel) – „Zum ersten Mal hat ein Jude sozusagen politische Gewalt über das Territorium. Aber Herbert Samuel war Brite und er hat vor allem als Brite gehandelt und hat damit viele der Zionisten auch enttäuscht, weil er doch die Versprechungen, die viele in der Balfour-Deklaration sahen, nicht unbedingt erfüllte. Und vor allem seine Nachfolger, die dann nicht mehr jüdisch waren, sind immer weiter abgerückt von der Erklärung, den Juden eine nationale Heimstätte zu schaffen.“ Erzähler: Ab Ende der 1920er Jahre werden die Phasen der Ruhe in Palästina immer kürzer. Ein Indikator dafür ist die Zahl der Soldaten und Polizisten, die Großbritannien braucht, um Herr der Lage zu bleiben. Besteht die britische Polizei in Palästina anfangs aus weniger als 800 Mann, so steigt deren Zahl bis 1926 bereits auf 1500. Im August 1929 müssen die Polizei-Oberen eilends um Verstärkung durch Soldaten bitten – mehrere tausend Mann werden aus Kairo per Flugzeug und Zug in Marsch gesetzt, weil Unruhen ausbrechen.  Die Konsequenzen für die Londoner Palästina-Politik sind drastisch – sagt die Historikerin Ulrike Freitag: OT 16: (Freitag  – Briten/Kontrolle) – „Nach 1929 haben sie die Gewalt so gesehen, dass sie dachten: Wir müssen jetzt die Einwanderung begrenzen. Und daraufhin haben sich die ersten auch zionistisch-terroristischen Gruppen gegründet, die dann auch begannen gegen die Briten, die dann nicht mehr als Förderer des Einwanderungsprojektes, sondern als dessen Verhinderer gesehen wurden, zu kämpfen.Erzähler: Ulrike Freitag meint mit „zionistisch-terroristische Gruppen“ unter anderem die „Irgun“ und die „Hagana“ – zwei anfangs verbündete, dann konkurrierende Untergrund-Organisationen, die Attentate gegen arabische und britische Einrichtungen verüben. Übrigens wird die Hagana nach der Staatsgründung zur Keimzelle der Armee des Staates Israel. – Ursache für den Zorn der militanten Zionisten sind offizielle britische Stellungnahmen wie das „Passfield White Paper“ von 1930. Es formuliert erstmals eine Begrenzung der Einwanderung von Juden nach Palästina – Zitat: Zitator: „Es ist essenziell sicherzustellen, dass die Einwandernden keine Last sind für die Menschen in Palästina insgesamt, und dass sie keinem Teil der gegenwärtigen Bevölkerung ihre Beschäftigung streitig machen.“ Erzähler: Ob derlei Papiere zu spät kommen oder zu zaghaft formuliert sind? Feststeht: Im April 1936 starten arabische Nationalisten unter Führung des Großmuftis von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, den so genannten „Großen Arabischen Aufstand“ in Palästina. 20-tausend britische Soldaten versuchen vergeblich, ihn zu unterdrücken. Die Zahl der Toten wird auf mindestens 6.000 geschätzt – ein Drittel davon sind Juden. Ulrike Freitag sagt zu den Konsequenzen: OT 17: (Freitag – Konsequenzen-Aufstand) – „Das heißt: Die Briten haben die Kontrolle zunehmend verloren. Und das ist ja auch der Hintergrund, dass die Briten angekündigt haben: Wir geben das Mandat zurück. Und dann sollen die Vereinten Nationen – ursprünglich war es ja der Völkerbund – damit machen, was sie wollen.“ Erzähler: Einen der letzten Versuche, den Konflikt friedlich zu lösen, startet London kurz nach Beginn des Aufstands: Eine sechsköpfige Kommission – nach dem Vorsitzenden William Peel „Peel-Kommission“ genannt – reist in die Region. Man spricht mit prominenten jüdischen Exponenten wie Chaim Weizmann, arabischen Potentaten wie Ibn-Saud oder Emir Abdallah Ibn-Hussein. Am Ende entsteht der „Peel-Plan“. Er sieht vor, Palästina zwischen Juden und Arabern zu teilen und prägt so die Entwicklung nach 1945 vor, sagt Michael Brenner: OT 18: (Brenner – Peel-Plan) – „Nämlich 1947, als die UNO entschied, dass das Gebiet westlich des Jordans in einen jüdischen und einen arabischen Staat geteilt werden sollte. Diese Teilung sah nun ein bisschen anders aus als der Peel-Plan. Aber das ist immer noch eine Grundlage, die für die Entwicklungen bis heute prägend war.“ Erzähler: 1937 hat der Peel-Plan keine Chance. Das zionistische Lager kritisiert, dass nur noch 12-tausend Jüdinnen und Juden pro Jahr ins Land gelassen werden sollen. Arabische Wortführer verdammen die Absicht, weit über 200-tausend muslimische Bewohner in den geplanten arabischen Teil umzusiedeln. – Das Scheitern des Peel-Plans freut Nazi-Deutschland, dessen Experten das Pulverfass, das im Nahen Osten offensichtlich entstanden ist, bald so sehr interessiert, dass sie Reisen dorthin unternehmen. So fährt im Sommer 1937 Adolf Eichmann, der spätere Mitorganisator des Holocaust, in offiziellem Auftrag nach Palästina. Der Nahost-Historiker Peter Wien: OT 19: (Wien – Eichmann)„Eichmann interessiert sich für den Zionismus – nicht so sehr für den arabischen Nationalismus in diesem Zusammenhang. Andere Reisende, die eben in die Region reisen, die interessieren sich für die deutschen Siedler in Palästina. Für die Templer und so weiter. Es gibt ja die Auslandsorganisation der NSDAP, die sehr aktiv unter Auslandsdeutschen in Palästina ist. Das sind Verbindungen, die da bestehen.“ Erzähler: Auch versucht Berlin zunehmend, politisch von der Eskalation des Konflikts zu profitieren. Als Großbritannien die Einwanderung nach Palästina begrenzt, verschärfen die Nazis die Judenverfolgung im Reich – auch um zu zeigen, dass kaum ein Land der Welt größere Kontingente von Juden aufnehmen will. Wie sehr die Lage in Palästina Hitlers Propaganda zupasskommt, spiegelt sich gelegentlich sogar in den Radio-Nachrichten. Subtil wird darin zum Beispiel im Sommer 1938 der Vorwurf erhoben, London engagiere sich einseitig auf Seiten des Zionismus. OT 20: (Drahtloser Dienst, 5.7.1938) – „Die wenigen noch nicht verbannten Araber-Führer Palästinas, darunter Nashah Shibi, forderten nach einer Meldung aus Jerusalem gestern den britischen Oberkommissar Sir McMichael erneut auf, für eine gleiche Behandlung der Juden und Araber Sorge zu tragen und nicht die Juden in auffälliger Weise zu bevorzugen.“  Erzähler: Als Hitler 1939 den Zweiten Weltkrieg vom Zaun bricht, ist damit jene toxische Gemengelage geschaffen, die die Welt bis heute in Atem hält: Falsche Versprechungen und gegenläufige Interessen haben in knapp zwei Jahrzehnten religiösen und ethnischen Fanatismus groß werden lassen. Dass sowohl jüdische wie arabische Soldaten im Zweiten Weltkrieg in britischen Diensten gegen Hitlers Reich kämpfen, gibt Palästina nur eine Atempause. Nach 1945 bricht erneut ein Krieg aller gegen alle aus – der moderne Nahost-Konflikt beginnt.
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Oct 4, 2024 • 23min

AUFERSTANDEN AUS RUINEN - DDR und BRD im Kalten Krieg

Gleich mit Beginn des Kalten Krieges 1945 befand sich Deutschland im Zentrum des Konflikts. Das zerbombte Land war wegen seiner geografischen Lage, seiner Größe und seines Wirtschafts-Potenzials für die Atommächte USA und Sowjetunion äußerst interessant. In Deutschland wurde der Konflikt ausgetragen. Von Rainer Volk (BR 2022)Credits Autor: Rainer Volk Regie: Martin Trauner Es sprachen: Friedrich Schloffer, Hemma Michel Technik: Andreas Lucke Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Susanne Schattenberg, Prof. Bernd Greiner Besonderer Linktipp der Redaktion: rbb (2024): Der Zerfall Babylons Wie war das in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg? Wie konnten Berlin und Deutschland so sehr zerfallen, das Verbrechen zum Gesetz werden? Der Podcast “Der Zerfall Babylons” taucht mit Bestseller-Autor Volker Kutscher tief ein in die Jahre 1929 bis 38. Er hat für seine Romane um Kommissar Gereon Rath präzise recherchiert in dieser Zeit. “Der Zerfall Babylons” ist ein Podcast, der Geschichte lebendig macht – zu hören überall, wo es Podcasts gibt. ZUM PODCAST Linktipps: ZDF (2018): Geheime Fronten – Spionage im Kalten Krieg Manche zählen Panzer, andere stehlen Baupläne von Atombomben - alles streng gehütete Geheimnisse des Gegners. Wer sie lüften will, riskiert sein Leben im Informationskrieg verfeindeter Blöcke. JETZT ANSEHEN BR24 (2024): 75 Jahre NATO – Kalter Krieg in Bayern Am 4. April 1949 gründeten zwölf Staaten die North Atlantic Treaty Organization, kurz: NATO, also das westliche Verteidigungsbündnis, das Gegengewicht zum Warschauer Pakt. Das Gründungsdatum jährt sich 2024 zum 75. Mal. Der einstige Zweck gilt den Mitgliedsländern wieder als zentral: Sie wollen gemeinsam Stärke zeigen und so einen potenziellen Angreifer von vorneherein abschrecken. Verteidigt worden wäre das Bündnisgebiet während des Kalten Krieges in Bayern ? an der einstigen innerdeutschen Grenze. Kilian Neuwert hat sich für die BR 24 Reportage auf Spurensuche begeben. Denn das, was einst zu gelten schien, wirkt heute wieder brandaktuell. Mit einem deutschen Heeresgeneral ist er zu den Anfängen von dessen Karriere zurückgekehrt. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:19 – Zwischen Panik & PokerfaceTC 05:26 – Politischer, ökonomischer und militärischer WettstreitTC 09:40 – Der Versuch kultureller FreundschaftTC 11:38 - BelastungsprobenTC 18:50 – Alles vorbei?TC 21:41 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO: (Gebet – Priester – Atombombenabwurf Hiroshima) – „We pray thee that the end of the war comes soon. And that we once more may know peace on earth. May the men who fly this night be kept safe in thy care. And may they be returned safely to us. We shall roam forward trusting in thee. Knowing that we are in thy care – now and forever. In the Name of Jesus Christ – Amen.“  SPRECHERZugespitzt formuliert beginnt der Kalte Krieg mit einem Gebet. Als Piloten der US-Luftwaffe am 6.August 1945 zum ersten Atombombenabwurf Richtung Hiroshima starten, bittet ein Priester um Frieden und die sichere Heimkehr der Flieger. Man wisse sich in Gottes Hand. Jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.MUSIK SPRECHERTatsächlich ist der Übergang vom 2.Weltkrieg zum Beginn des neuen globalen Konflikts fließend. Für den Historiker Bernd Greiner beginnt der Kalte Krieg bei der Konferenz der Siegermächte in Potsdam im Juli 1945 – Wochen vor der Kapitulation Japans. Denn hier tauche bereits dessen entscheidender Bestandteil erstmals auf - Atomraketen. TC 01:19 – Zwischen Panik & Pokerface OT Greiner Während der Potsdamer Konferenz bekommt Truman die Nachricht, dass der „Trinity-Test“ in der Wüste von New Mexico funktioniert hat. Und er raunt Churchill zu: Beobachte mich bitte mal – ich geh‘ jetzt mal zu Stalin und sage dem: Wir haben da eine Waffe, wir haben was von nie dagewesener Zerstörungskraft. Stalin reagiert wie Stalin reagiert. Nämlich erst mal gar nicht. Pokerface. Aber intern sagt er: Bestellt Kurtschakow, er möge sich beeilen, das war der Leiter des Atomprogramms.“  SPRECHERDie Sowjetunion braucht indes bis August 1949 für die Entwicklung ihrer eigenen Atombombe. In der Zwischenzeit fühlt sich Moskau dem weltweiten Auftrumpfen der Amerikaner ausgeliefert. Die Historikerin Professor Susanne Schattenberg verweist auf die Bedeutung des Jahres 1947 und die Verkündung der Truman-Doktrin: OT 3 Schattenberg – 1947  „1947 bringen das beide Seiten in programmatischen Reden letztlich auf den Punkt. Also dass der amerikanische Präsident, Harry Truman, sagt, wir haben hier zwei Welten, zwei Lager. Der Leningrader Parteichef Shdanov antwortet dann ein halbes Jahr später entsprechend, dass … die USA und Großbritannien eigentlich schon während des Krieges versucht hätten, die Sowjetunion zu unterdrücken und das nun endlich zutage fördern würde.“   SPRECHERDie Deutschen in Ost und West finden sich, sozusagen, mittendrin in diesem Kräftemessen. Vor allem, als 1948 die erste große Krise ausbricht: MUSIK & ATMOOT 4: Reportage Luftbrücke (Reporter) - „Alle drei Minuten landet auf dem Flughafen Tempelhof…SPRECHERIN: Ab Juni 1948 blockiert die Sowjetunion alle Land- und Wasser-Zugänge nach West-Berlin. Amerikaner, Briten und Franzosen versorgen die unter alliierter Kontrolle stehende Stadt elf Monate lang per Flugzeug – per „Luftbrücke“ - mit allem, was deren Einwohner brauchen. In seiner Selbstwahrnehmung wird West-Berlin zum Vorposten der freien Welt.MUSIK SPRECHERWeltpolitisch aber ist die erste Berlin-Krise anders zu deuten als im Kabarett-Song der „Insulaner“: Nämlich als Stalins Antwort auf Amerikas Muskelspiele. Sie soll beweisen: Der Besitz von Atomwaffen bedeutet nicht grenzenlose Macht. Bernd Greiner, ehemaliger Leiter des „Kolleg Kalter Krieg“ in Berlin, analysiert: OT 6: Greiner – Berlin „Da hat Stalin versucht zu zeigen, dass der Westen ein Kaiser ohne Kleider ist. Ja, was ist denn mit Euren Atomwaffen – wie wollt Ihr denn mit Atomwaffen Berlin schützen? Da sitz‘ ich am längeren Hebel – aus seiner Perspektive. Und signalisiert: Ich kann noch einen Schritt weitergehen. Und wenn ich diesen Schritt weiter gehe, dann steht Ihr, Eure drei oder vier Atomwaffen, die ihr habt - dann steht Ihr ohnmächtig vis à vis.“ SPRECHERDie ehemalige Reichshauptstadt hat Stalin bewusst ausgesucht für seine Strategie. Berlin symbolisiert den Kern der so genannten „Deutschen Frage“ - nämlich: Wo steht Deutschland in Europa – im Osten oder Westen? Weil dies für das Machtgleichgewicht enorm wichtig ist, beantworten die Großmächte die Frage mit der Teilung Deutschlands.TC 05:26 – Politischer, ökonomischer und militärischer Wettstreit MUSIK SPRECHERIN: Aus der sowjetischen Besatzungszone wird die DDR, aus den drei Westzonen die Bundesrepublik. Kanzler Adenauer forciert hier ab 1950 eine Integration in die Verteidigungsstrukturen des Westens – was Moskau durch die so genannte „Stalin-Note“ im März 1952 verhindern will. Der sowjetische Diktator verspricht in ihr eine Wiedervereinigung Deutschlands – falls das Land militärisch neutral bleibe. Die drei Westmächte und Adenauer halten dieses Angebot jedoch für pure Taktik – nicht ernst gemeint und lehnen es ab. Stattdessen tritt die Bundesrepublik 1954 der NATO bei, die sich auf Betreiben der USA gegründet hat. Und die DDR wird ein Jahr später Mitglied des östlichen Militärbündnisses „Warschauer Pakt“. SPRECHERGeografisch entspricht die innerdeutsche Grenze der Nahtstelle des Kalten Krieges. Das engt die Bewegungsfreiheit der deutschen Politik aber nicht ein – im Gegenteil. In den 1950er Jahren können etliche deutsch-deutsche Treffen stattfinden. Für viel Wirbel im Land sorgen die Reise einer Delegation der DDR-Volkskammer nach Bonn 1952 und, 1954, ein Besuch von Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) beim Evangelischen Kirchentag in Leipzig: OT 7: Ehlers – Radio 1954„Das haben wir bei diesem Kirchentag erfahren: Dass es etwas Erstaunliches ist, wenn Christen durch die Kraft ihrer Gemeinschaft den Mut finden, die Abschnürung und die Furcht zu überwinden und offen zu reden und miteinander zu reden. … Die politischen Auswirkungen werden sichtbar werden, denn hier ist die Einheit unseres Volkes an einer entscheidenden Stelle dokumentiert.“ SPRECHERDarüber hinaus profitieren Deutschland-West und -Ost wirtschaftlich von ihrer herausgehobenen Lage am „Eisernen Vorhang“. Denn der Kalte Krieg ist auch ein Systemwettstreit zwischen Markt- und Planwirtschaft. Das führt dazu, dass es den Deutschen, so meint der Historiker Bernd Greiner, zumindest ökonomisch bessergeht als ihren Nachbarn: OT 8: Greiner – Wohlergehen „Sie liefen auf der Butterbahn. Bei allem Gefälle zwischen West und Ost, zwischen der DDR und der Bundesrepublik darf man ja nicht aus dem Auge verlieren: Den höchsten Lebensstandard im Warschauer Pakt, inklusive Sowjetunion, hatte die DDR. Da lagen Welten dazwischen, zum Westen, aber immerhin.“ SPRECHERMilitärisch hingegen sind die Freiräume klein – sowohl für die Bundesrepublik in der NATO wie für die DDR im östlichen Militärbündnis, dem 1955 gegründeten „Warschauer Pakt“. Einer der Gründe ist, dass die Sieger des 2.Weltkriegs nie einen Friedensvertrag mit Deutschland unterzeichnen – weshalb die DDR und die Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung nicht voll souverän sind. OT 9: 1.Appell der Bundeswehr 1955 „Nochmal abzählen! „Eins-Zwo-Drei-Vier-Fünf-Sechs-Sieben-Acht-Neun-Zehn (Pause) – Elf! (Gelächter) – (Reporter): Der UvD, im taubengrauen Stahlhelm, der dem belgischen angeglichen hat, der sich am meisten bewährt hat, hat die Rekruten zusammengetrommelt. Und nun wird gleich der Kompaniechef, Major Busch, die Rekruten begrüßen…        SPRECHERDie Aufstellung der Bundeswehr – hier eine Radioreportage vom Empfang der ersten Freiwilligen 1955 – hat im Blick zurück zwei Seiten. Die eine ist das Eintreten der Bundesrepublik in die Militär-Phalanx des Westens – als Teil der Aufrüstung im Kalten Krieg. Selbst aus der Sicht der NATO hat der Schritt aber noch einen zweiten Aspekt, den Bernd Greiner erläutert:OT 10: Greiner – Bundeswehr/NATO „Dieser Satz des ersten NATO-Generalsekretärs, Lord Ismay, auf die Frage eines Journalisten „Wozu brauchen wir die NATO?“ – Na ja, klar: „To keep the Russians out, the Americans in – and the Germans down.“ Also wir brauchen ein Kontrollinstrument gegenüber den Deutschen. Und Kennedy, zum Beispiel, hat das Adenauer gegenüber sehr deutlich spüren lassen, wer Koch und wer Kellner ist.“         SPRECHERDas erklärt auch, weshalb Wünsche bundesdeutscher Politiker, die Bundeswehr mit Atomraketen auszurüsten, keine Aussicht auf Erfolg haben. TC 09:40 – Der Versuch kultureller Freundschaft OT 11:  (Jingle AFN)„High fellas, this is Jill with your all-time jukebox. (Musik) – Welcome to the all-time jukebox, fellas. Thirty minutes devoted to the replaying of some of the greatest phonograph records of all times.”MUSIK SPRECHERMindestens so wichtig wie Waffen sind für die Beziehungen die kulturellen Angebote der USA. AFN zum Beispiel - das „American Forces Network“. Die Senderkette versorgt im Kalten Krieg die in Deutschland stationierten US-Soldaten mit Nachrichten und Musik. Die Deutschen, die mithören können, lernen so Jazz, Rock’n’Roll und Pop kennen. AFN wird zu einem „Soft-power“-Instrument der USA. Ähnliches gelte auch für die „Amerika-Häuser“ in westdeutschen Großstädten, sagt Bernd Greiner. OT 12: Greiner – Kultur-Assimilation „Plus die ganzen Austauschprogramme. Also eine ganze Kohorte von bundesdeutschen Nachkriegspolitikern, Klaus von Dohnanyi, Eppler, Schmidt, inklusive Top-Journalisten - die waren in der einen oder anderen Weise in Stipendienprogramme eingebunden und waren natürlich mit Herz und Seele Atlantiker.“ OT 13: „Das deutsche Programm von Radio Berlin International setzt seine Sendung fort mit Berichten und Informationen aus sozialistischen Ländern – Musik (ca. 10 Sek.) – „Das Panorama. Informationen und Berichte aus sozialistischen Ländern – Musik SPRECHERINAuch im Osten versucht man es mit Kultur als Freundschafts-Faktor. Der Ton dieser Sendung des DDR-Programms „Radio Berlin International“ zeigt jedoch: Das klingt staatlich verordnet - und verpufft so zumeist. Deshalb kann die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, die Ost-Berlin und Moskau 1947 gründen, trotz ihrer bis zu sechs Millionen Mitglieder für ihre Seite nie erreichen, was im Westen gelingt: Traumland USA.TC 11:38 - Belastungsproben SPRECHERDie Harmonie zwischen Bundesdeutschen und Amerikanern wird allerdings auf eine harte Probe gestellt, wenn der Kalte Krieg eskaliert. Die Amerikaner lassen dann keinen Zweifel, wer das Sagen hat. Das zeigt sich vor allem im Krisenjahr 1961:MUSIKOT 14: Reportage vom Beginn des Mauerbaus „Seit etwa 1 Uhr heute Nacht rattern die Pressluftbohrer und bohren einen Graben quer durch die Eberstraße hier am Brandenburger Tor. Der Graben ist etwa einen halben Meter tief und etwa einen halben Meter breit…“MUSIK SPRECHER13. August 1961 – die DDR beginnt mit dem Bau der Berliner Mauer. Willy Brandt verlangt als Regierender Bürgermeister eine militärische Antwort der USA auf die Provokation des DDR-Regimes. Präsident Kennedy denkt aber gar nicht daran: Er verstärkt zwar die US-Truppen in der Stadt, schickt ansonsten aber nur seinen Vizepräsidenten Johnson – mit einem Brief – zu Brandt. Egon Bahr, Vertrauter von Brandt und Sprecher des Senats von Berlin, erinnert sich an dessen Inhalt noch Jahrzehnte später: OT 15: Bahr – Berlin-Krise/Brief „Der Brief von Kennedy hieß: „Die Mauer ist nur durch Krieg zu beseitigen. Und niemand will Krieg – Sie auch nicht. Und: Sie dürfen nicht verkennen, dass das im Grunde eine große Niederlage für Chruschtschow ist, denn er mauert ja seine Bevölkerung ein.“ – Wir haben das damals als graue Salbe empfunden und haben erst viel später gesehen: Der hatte Recht.“  SPRECHERDie Beziehungen zwischen den Regierungen in beiden Teilen Deutschlands und ihren Führungsmächten werden in den 60er Jahren komplizierter. Im Fall der DDR und der Sowjetunion liegt das an Walter Ulbricht. Der mächtigste Mann in Ost-Berlin ist ein Stalinist alter Schule. Stalins Nach-Nachfolger, Leonid Breschnew, der 1964 in Moskau die Macht erlangt, ist weniger dogmatisch. Susanne Schattenberg berichtet: OT 16: Schattenberg – Breschnew/DDR„Ich finde es sehr lustig, dass Breschnew furchtbar genervt ist von Ulbricht und dann ja auch, wie in vielen anderen sozialistischen Staaten um das Jahr 1970 herum, Führungswechsel herbeiführt – von Ulbricht zu Honecker in der DDR. Und auch Honecker findet er wahnsinnig dogmatisch und viel zu marxistisch-leninistisch. Und das heißt: Wer ist sozusagen eher der ‚Hardliner‘ - ist das eher die DDR, sowohl unter Ulbricht als auch Honecker, als letztlich Moskau selbst.“SPRECHERUm die gleiche Zeit entwickelt sich auch im Westen ein ernster Streit um die so genannte „Entspannungspolitik“. Der neue Bundeskanzler Willy Brandt streckt 1969 diplomatische Fühler Richtung Sowjetunion und Richtung Polen aus, um den Kalten Krieg zu deeskalieren. Im deutsch-deutschen Verhältnis will er den Alltag der Teilung etwa durch Verwandtenbesuche jenseits des Eisernen Vorhangs erleichtern. Die US-Regierung sieht das skeptisch. Das erste Gespräch in Washington zwischen Egon Bahr, der inzwischen Kanzleramtsminister ist, und Präsidentenberater Henry Kissinger verläuft daher sehr ungewöhnlich, wie Bernd Greiner erzählt: OT 17: Greiner – Bahr/Kissinger „Kissinger wird nervös und nervöser, rutscht in seinem Stuhl hin und her. Und stellt dauernd Zwischenfragen, aus denen man herauslesen konnte: Das geht dem von oben bis unten gegen den Strich. Und der Bahr hört sich das eine Zeit lang an und sagt dann irgendwann – und das ist protokolliert: „Henry, ich bin gekommen, um zu informieren – nicht um zu konsultieren.“ Das ist ein unerhörter Satz. Das ist ein unerhörter Satz für die deutsche Nachkriegspolitik.“      SPRECHERLetztlich kann Brandt seinen politischen Spielraum aber nutzen und mehrere Verträge zwischen der Bundesrepublik und Staaten Osteuropas schließen. Das liegt am Vietnamkrieg. Die zweite Langzeitkrise im Kalten Krieg verlangt von der Supermacht so viel Aufmerksamkeit, dass man die West-Deutschen gewähren lässt. MUSIK OT 18: Kekkonen – KSZE/Eröffnung „Ladies and Gentlemen. On behalf of the government and the people of Finland, I have the great honor to declare the third stage of the conference on security and cooperation in Europe open. It is a privilege for us to act as hosts of this conference for the second time… SPRECHERHelsinki, Finlandia-Halle, 1975. Der finnische Staatspräsident Kekkonen eröffnet die Abschluss-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE. Wenige Tage später unterzeichnen Staats- und Regierungschefs aus ganz Europa, den USA und Kanada einen Vertrag, der den Kalten Krieg zähmen soll. Die sogenannte „Schlussakte von Helsinki“ ist das Ergebnis von mehr als zwei Jahren Verhandlungen. Zentral ist eine Art Tauschgeschäft: Der Westen garantiert den Staaten Osteuropas, auch der Sowjetunion und der DDR, die Sicherheit ihrer Grenzen. Das zementiert die Nachkriegsordnung Europas. Im Gegenzug verspricht der Osten die Menschenrechte zu achten und einzuhalten. OT 19: Grüne – Wahlwerbung 1983„Guten Tag, ich komme im Auftrag der Allgemeinheit. Ich soll hier bei Ihnen im Garten diese funkelnagelneue, todsichere Atomrakete aufstellen. – Um Gottes Willen! Sowas ist doch gefährlich. Gehen Sie mir bloß aus dem Weg mit dem Ding… SPRECHERDie KSZE beendet den Kalten Krieg jedoch noch nicht: Das zeigt dieser leicht satirische Wahlwerbe-Spot der Grünen von1983. Zu den Momenten, in denen der Konflikt wieder aufflammt, zählt auch die Phase nach dem so genannten „NATO-Doppelbeschluss“.SPRECHERIN Ende der 1970er Jahre stellen westliche Experten fest: Die Sowjetunion baut neue, modernere Atomraketen. Die NATO beschließt daraufhin, amerikanische Pershing-2-Raketen in Deutschland zu stationieren und gleichzeitig mit Moskau über Abrüstung zu verhandeln. SPRECHERViele Bundesdeutsche halten diese Doppelstrategie für falsches Spiel - sie befürchten eine weitere Rüstungsspirale und demonstrieren vor US-Kasernen. Die politischen Wogen schlagen hoch. Politiker, die Moskaus Raketen als Bedrohung sehen, werfen der „Friedensbewegung“ Kollaboration mit dem Kreml vor. Das empört Willy Brandt, als er im Herbst 1983 bei einer Demo vor 300-tausend Menschen in Bonn auftritt: OT 20: Brandt – Hofgarten„Hier steht nicht die fünfte Kolonne. Wir stehen hier miteinander für die Mehrheit unseres Volks. Über 70 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik, und das ist gut so, halten nichts davon, dass Deutschland immer mehr vollgepackt wird mit atomarem Teufelszeug.“TC 18:50 – Alles vorbei? MUSIK SPRECHEREnde der 1980er Jahre scheint sich der Kalte Krieg zwischen Ost und West aber tatsächlich seinem Ende zuzuneigen. Durch Europa scheint ein Wind der Veränderung zu wehen – hier besungen von den „Scorpions“: SPRECHERIN Bei mehreren Gipfel-Treffen vereinbaren die US-Präsidenten Reagan und Bush mit Michael Gorbatschow, dem neuen Generalsekretär der sowjetischen Kommunistischen Partei, Atomraketen aus Europa abzuziehen und sie zu vernichten. Im Herbst 1989 gibt Gorbatschow sein Ja zur deutschen Wiedervereinigung, 1991 löst sich der Warschauer Pakt auf – anders als die NATO.SPRECHERIst der Kalte Krieg damit Geschichte? Experten sehen das skeptisch. Auf jeden Fall, so meint die Osteuropa-Historikerin Susanne Schattenberg, solle man sich davor hüten, den Westen für den Sieger und den Osten für den Verlierer des Konflikts zu halten: OT 22: Susanne Schattenberg - Ende „Das ist so eine Post-Facto-Interpretation, die heute vorgenommen wird. Ich bin der Meinung, dass das damals niemand so gesehen hat, dass beide Seiten es als enormen Sieg und Gewinn gesehen haben, dass diese Systemkonkurrenz sich auflöst. SPRECHERMittlerweile ist das offensichtlich nicht mehr der Fall. Viele Experten meinen: Putin tue alles, um die Machtverhältnisse zu ändern. Dazu zähle auch der Versuch, das Nachbarland Ukraine, das seit 1991 unabhängig ist, wieder unter die Kontrolle Moskaus zu bringen. Und sei es durch einen Krieg, wie er ihn Ende Februar 2022 vom Zaun brach. Der Kalte Krieg hat ein Erbe hinterlassen. Dazu zählt Bernd Greiner die stete Weiterentwicklung von Atomwaffen und die unverändert starke Rüstungslobby in Ost wie West. Vor allem, meint Greiner, dächten viele noch wie im Kalten Krieg.MUSIKEs kann sein, dass das Tauziehen um Macht und Werte, das der Kalte Krieg symbolisierte, also nur knapp drei Jahrzehnte ruhte – und nun wieder beginnt. Denn die Ukraine liegt da, wo Deutschland einst lag: An der Nahtstelle zwischen West und Ost. TC 21:41 – Outro
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Oct 4, 2024 • 24min

AUFERSTANDEN AUS RUINEN - Der Volkseigene Betrieb in der DDR

Die Volkseigenen Betriebe (VEB) waren für die meisten Bürgerinnen und Bürger der DDR viel mehr als nur eine Arbeitsstätte. Von der Theatergruppe bis zum Ferienlager organisierten die VEB zahllose Freizeitangebote. Auch für das soziale Leben der Beschäftigten und wurden so zum Lebensmittelpunkt. Von Ulrike Beck (BR 2024)Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Christian Baumann, Jenny Güzel Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. André Steiner, Dr. Anna Kaminsky Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Diagnose Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg Machtsysteme, die Frauen systematisch unterdrücken. Der sechsteilige Podcast “Diagnose: Unangepasst” macht Geschichten von Frauen unter Macht- und Kontrollsystemen zum Thema. Dazu wird das düstere Kapitel der grausamen geschlossenen venerologischen Stationen in der DDR aufgearbeitet. Hier wurden scheinbar “unangepasste” Mädchen und junge Frauen eingesperrt und misshandelt, um sie nach sozialistischem Vorbild umzuerziehen. Die Journalistin Charlotte Witt begibt sich mit drei betroffenen Frauen auf eine emotionale Reise in die Vergangenheit. Sie blicken auf Machtsysteme damals wie heute und suchen nach Antworten. ZUM PODCAST Linktipps: ARD (1965): Frauen in Industrieberufen – VEB Leuna-Werke In den Volkseigenen Betrieben (VEB) herrscht Arbeitskräftemangel. Am Beispiel des VEB Leuna-Werks "Walter Ulbricht" wird das Umdenken der Betriebsleitungen bezüglich der Beschäftigung ungelernter Frauen dargestellt. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2019): Zwischen Dichtung und Wahrheit Auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall ist das Trauma um die Treuhand noch nicht vorbei. Die Behörde, die volkseigene DDR-Betriebe in gut funktionierende private Unternehmen umwandeln sollte, sorgt bis heute für Debatten. Sogar ein erneuter Untersuchungsausschuss wird gefordert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:59 – Der Weg der VEBsTC 05:19 – Monotonie, Mangel und MeckernTC 09:06 – Viele Angebote - wenig FreizeitTC 11:34 – Die Ära HoneckerTC 14:15 – Entscheidungen treffen andereTC 17:26 – Und nach der Wiedervereinigung?TC 21:50 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK 1.O-Ton (Kaminsky ab 7:16)Also nun läuft das Praktikum schon fast eine Woche. Ich bin in der Möbelfabrik in Ammendorf. Dort ist die Zweigstelle fürs Schneidern untergebracht. Wir schneiden Filzmatten. Zwei Pausen sind zulässig, fünf werden gemacht, ungeachtet der Zigarettenpäuschen, die nicht zählen. Die Norm wird immer erfüllt, und wenn Normer kommen, arbeiten die Leute betont langsam. Und statt einmal rennen sie fünfmal um den Tisch, um irgendetwas zu holen. So kommen die Normen, die erfüllten Pläne und die Pausen zustande. ErzählerAnna Kaminsky liest aus ihrem Tagebuch. Es sind Eindrücke, die sie mit 15 Jahren festgehalten hat. 1977 während ihres Schülerpraktikums, bei dem sie im Volkseigenen Betrieb der Möbelproduktion die sozialistische Arbeitswelt kennenlernen soll. So wie es damals auch für alle anderen Schüler und Schülerinnen in der DDR Pflicht ist: 2.O-Ton (Kaminsky ab 7:16)Ab der achten Klasse gab es den sogenannten Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion. Das war ein Tag in der Woche oder alle zwei Wochen, wo man in einen Betrieb gehen musste als Schüler, um dort die sozialistische Arbeitswelt kennenzulernen. Und zusätzlich gab es immer am Ende des Schuljahres (…) zwei oder drei Wochen ein sogenanntes Praktikum. Und mein erstes Praktikum habe ich in der Möbelfabrik in Ammendorf in Halle absolviert, und dort war eine Zweigstelle untergebracht, die unter anderem für Neckermann Kissenbezüge und so Polsterbezüge schneiderte. ErzählerinAnna Kaminsky hat die Geschichte der DDR zu ihrem Beruf gemacht. Seit 2001 ist sie Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in der die Arbeit einen ganz besonderen Stellenwert hatte: 3.O-Ton (Kaminsky ab 1:02)Grundsätzlich muss man sagen, dass die DDR ja eine Arbeitsgesellschaft war. Also es gab keine Arbeitslosigkeit, auch wenn das natürlich staatlich ja besonders herbeigeführt worden ist, denn auch in internen Wirtschaftsanalysen ist immer wieder die Rede davon, dass, wenn man sich ehrlich machen würde, hätte die DDR auch so etwa 20 Prozent Arbeitslose. Aber aus ideologischen Gründen und aus politischen Gründen konnte man keine Arbeitslosigkeit zulassen, sondern jeder musste irgendwie beschäftigt werden. Und nach 1968 der damaligen Verfassungsreform in der DDR gab es ja nicht nur das Recht auf Arbeit, sondern auch die Pflicht zur Arbeit. Ich denke, dass das auch ganz wichtig ist zu verstehen, dass Arbeit im Prinzip den Lebensmittelpunkt der Menschen darstellte. TC 02:59 – Der Weg der VEBs MUSIK ErzählerDen Grundstein dafür, dass die Volkseigenen Betriebe zum größten Arbeitgeber der DDR-Industrie werden, legen die vier alliierten Siegermächte im Sommer 1945 mit dem Potsdamer Abkommen. Wie der Wirtschaftshistoriker Professor André Steiner vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ausführt. Er ist einer der profundesten Kenner der Wirtschaftsgeschichte der DDR. 4.O-Ton (Steiner ab 0:17)Nazi-Funktionäre oder höhere Nazi-Funktionäre und Kriegsverbrecher sollten auf jeden Fall enteignet werden. Das war ja erstmal zunächst sozusagen der Ansatz, der von allen Alliierten vertreten wurde, der dann allerdings in den Westzonen nicht in dem Maße umgesetzt wurde, wie das in der sowjetischen Besatzungszone geschah. […] Die sowjetische Besatzungsmacht hat dann mit einem Befehl im Oktober 1945 faktisch alle Großbetriebe beschlagnahmt und unter Sequester gestellt. MUSIK Erzählerin Schon ab dem September 1945 beginnt die Sowjetische Militäradministration, kurz SMAD mit wichtigen Strukturveränderungen innerhalb der sowjetisch besetzten Zone. ErzählerMit der Bodenreform werden Großbauern entschädigungslos enteignet, die mehr als 100 Hektar Land besitzen. Ab Oktober werden sogenannte Sequester-Kommissionen gebildet, die darüber entscheiden, welche Betriebe beschlagnahmt und enteignet werden. 5.O-Ton (Steiner ab 1:46)Politisch war das dann so, dass (…) insbesondere von zunächst der KPD und SPD und dann später der SED und den Gewerkschaften wurde sehr schnell dort eine Linie vertreten, dass man im Grunde genommen alle Großbetriebe unabhängig von der politischen Belastung enteignen wollte. ErzählerinBis 1948 sind es rund 4000 Großbetriebe, die in sogenanntes Landeseigentum, beziehungsweise Volkseigentum überführt werden. Und nun verstaatlicht in Volkseigene Betriebe umgewandelt werden. 6.O-Ton (Steiner ab 2:47)Juristisch wurde es gefasst als Volkseigentum, aber in der Umsetzung war es natürlich faktisch Staatseigentum.TC 05:19 – Monotonie, Mangel und Meckern MUSIK ErzählerNach der Staatsgründung der DDR werden es über die Jahrzehnte immer mehr Volkseigene Betriebe. Die im Laufe der Zeit in immer größere Organisationseinheiten eingegliedert werden. ErzählerinZunächst in die Vereinigung Volkseigener Betriebe, ab dem Ende der 60er Jahre in Kombinate. Dadurch entstehen gigantische Unternehmen, so wie das Kombinat Carl Zeiss Jena, zu dem in den Achtziger-Jahren 25 Betriebe gehören, in denen rund 70.000 Beschäftigte arbeiten. Erzähler1972 werden auch die letzten privaten und halbstaatlichen Firmen verstaatlicht. Was sich laut André Steiner auf das ohnehin beschränkte Warenangebot eher kontraproduktiv auswirkt: 7.O-Ton (Steiner ab ca. 10:27) … weil letztendlich wurden dadurch verschiedene Produktionen eingestellt. Diese Betriebe wurden oftmals größeren VEBs dann zugeordnet, von denen wiederum nur als Zulieferer eingesetzt, sodass man letztendlich auch ein bestimmtes Warenangebot, was von diesen kleinen und mittleren Betrieben noch angeboten, sozusagen produziert worden war, verloren hat. Also letztendlich war das eher sozusagen ein Schritt, mit denen man sich ins eigene Knie geschossen hat. ErzählerinNach der Verstaatlichung der kleinen Handwerksbetriebe und mittelständischen Unternehmen steht VEB fortan auch für „Vaters ehemaliger Betrieb“. MUSIKErzählerNicht jeder nimmt diesen Prozess hin. Es gibt durchaus Kritik und Protest gegen die Verstaatlichung der Industrie- und Handwerksbetriebe. Nicht erst in den Siebzigern. Schon das Traditionsunternehmen Carl-Zeiss Jena wird 1948 gegen den Widerstand der Belegschaft verstaatlicht: 8. O-Ton (Steiner ab ca. 9:35)Die hatten ein eigenes Rentensystem und die Zeiss-Stiftung hatte in Jena verschiedene soziale Einrichtungen betrieben. Und das war ja damals sozusagen noch etwas Besonderes. Und darum fürchteten die natürlich. Natürlich gab es auch an anderen Stellen Widerstände gegen Verstaatlichungen, gerade auch bei den kleinen und mittleren Betrieben. Aber 1972 entstand ein solcher politischer Druck, dass letztendlich alle es gab gar keine Möglichkeit also, sich dem dann tatsächlich zu entziehen, dieser Enteignung. ATMOErzählerinDoch gerade, was die Sozialleistungen angeht, müssen sich die Beschäftigten der Kombinate oder VEB keine Sorgen machen. Viel umfassender als im Westen wird dafür gesorgt. 9.O-Ton (Steiner ab 4:18)Die Funktion der Betriebe wurde nach und nach sozusagen ausgeweitet dahingehend, dass eben doch viele Sozialfunktionen den Betrieben übertragen wurden. Also das fängt an bei Betriebspolikliniken oder Kindergärten und hörte im darauf bei Ferienlager oder anderen Erholungsobjekten auf, die zu einem nicht geringen Teil tatsächlich dann innerhalb der Industrie mit angesiedelt waren.ErzählerDie Beschäftigten der kleineren Betriebe müssen sich außerhalb des Betriebes selbst um Kinderbetreuung oder Krankenversorgung kümmern. Eine Poliklinik oder Kantine haben allerdings nur die Großbetriebe zu bieten.TC 09:06 – Viele Angebote - wenig Freizeit MUSIKErzählerinDie Volkseigenen Betriebe bieten nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz und Sozialleistungen, sondern organisieren auch die Freizeit der Beschäftigten. Dank zahlreicher Kulturangebote vom Literatur- bis zum Fotozirkel können die Arbeitenden ihren Hobbys mit Kollegen nachgehen. Anna Kaminsky: 10.O-Ton (Kaminsky ab 2:00)Also zumindest die größeren Betriebe organisierten auch das Kulturleben mit Theaterbesuchen, mit Konzertbesuchen, mit ja Angeboten für die Belegschaft, was Sportgymnastik, vielleicht Singegruppen und so weiter betroffen hat. MUSIK ErzählerBetriebseigene Polikliniken, Kindergärten und - krippen, Ferienlager, Handballmannschaften, Singegruppen und regelmäßige Betriebsvergnügen mit der Belegschaft. ErzählerinDas klingt nach einem Angebot, an das man sich gewöhnen könnte. Die Betriebe haben aber nicht nur das Wohlbefinden ihrer Beschäftigten im Sinn, sondern wollen auch ein Umfeld schaffen, in dem möglichst produktiv gearbeitet werden können soll. ErzählerTrotz allgemein bekannter Widrigkeiten, dass Maschinen immer wieder ausfallen und erst Stunden oder Tage später repariert werden können. Oder Material nicht lieferbar ist und die Beschäftigten oft stundenlang zum Nichtstun verdammt sind. 11.O-Ton (Kaminsky ab 23:39)Aber ansonsten war ja der Arbeitsalltag in der DDR sehr, sehr hart. Also viele Betriebe haben um sechs oder 06:30 Uhr mit der Arbeit begonnen. (…) Das heißt, die Leute mussten in der Regel um fünf aufstehen, um rechtzeitig im Betrieb zu sein. Wenn sie Kinder hatten, mussten die Kinder ja vorher in die Betreuungseinrichtungen gebracht werden. Und dann betrug der Arbeitstag oft bis 16:30 Uhr, 16:45 Uhr also auch sehr lange. Und bis man dann aus dem Betrieb raus war und vielleicht noch einkaufen gehen musste - insbesondere die Frauen mit ihrer doppelten Schicht. Wenn die dann endlich zu Hause waren, waren die natürlich auch kaputt und fertig. (…) Das ergibt eine Umfrage unter Frauen aus der DDR aus den 1980er-Jahren. Und da werden die gefragt, was ihr liebstes Hobby ist - und es sagt eine große Mehrzahl der Frauen: Schlafen. ErzählerFür die Frauen beginnt nämlich nach Dienstende die so genannte Mutti-Schicht, in der sie sich vorwiegend alleine um den Haushalt und die Kinder kümmern. TC 11:34 – Die Ära Honecker MUSIK ErzählerinNach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker steigt der Anteil der staatlichen Industriebetriebe in der DDR auf 99 Prozent. Erich Honecker verfolgt zunächst als Erster Sekretär, dann als Generalsekretär des SED-Zentralkomitees eine etwas andere Wirtschaftspolitik, als sein Vorgänger. ErzählerIn der Ära Honecker wird mehr Wert auf die Konsum- und Sozialpolitik gelegt. Um die Wertschätzung für den „einfachen Arbeiter“ zum Ausdruck zu bringen. Auf dieser Grundlage sollen nicht nur die Lebensbedingungen für die Beschäftigten verbessert, sondern auch die Produktivität gesteigert werden. So das Kalkül. Das nicht ganz aufgeht. André Steiner: 12.O-Ton (Steiner ab (28:50)Letztendlich hat sich tendenziell gerade in den 60er-Jahren schon der Lebensstandard deutlich verbessert und in den 70er-Jahren auch noch. Das bröckelt dann ab Ende der 70er-Jahre, weil da wird nach und nach klar, dass die eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten jetzt überschritten sind, und auch mit der Verschuldungskrise Anfang der 80er-Jahre geht das dann mehr oder weniger in Stagnation über. Und das Problem ist dann eben, dass man sich nicht dazu durchringen kann, an dieser Politik jetzt irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Also das berühmteste Beispiel sind immer die Preissubvention, die ja Ende der 50er-Jahre bei der Abschaffung der Lebensmittelkarten eingeführt wurden. Und die Preise, die damals für Grundnahrungsmittel festgelegt worden waren, die blieben bis zum Ende der DDR so. MUSIK ErzählerinDie Arbeiterinnen und Arbeiter stehen in der Hierarchie der Betriebe ganz unten. Vor ihnen kommen vom Direktor abwärts über die Fachdirektoren jede Menge andere Menschen, die mehr zu melden haben als sie. André Steiner: 13.O-Ton (Steiner ab 14:40)Es gab die Meister-Bereiche dann unten auf der Ebene der praktischen Fertigung. Und innerhalb der Meister Bereiche gab es dann wiederum die sogenannten Brigaden. Und da gab es einen Brigadier, der die geleitet hat, und in denen waren die Beschäftigten dann faktisch organisiert. Die Parteileitung, das ist jetzt wiederum dann abhängig, wie groß das jeweilige Unternehmen war. Es gab ja große Unternehmen wie Leuna beispielsweise, die hatten ja eine eigene SED-Kreisleitung. Also da war dann sehr viel Einfluss der SED dann von vornherein auch gegeben. In dieser Kreisleitung war dann natürlich auch wieder der Betriebsdirektor, der saß da auch mit drinnen. Also das war wechselseitig miteinander verflochten.TC 14:15 – Entscheidungen treffen andere ErzählerDas Mitspracherecht der Beschäftigten in den Betrieben hält sich sehr in Grenzen. Auch, wenn sie formaljuristisch als Volk die Eigentümer sind: Die Entscheidungen treffen andere. Anna Kaminsky: 14.O-Ton (Kaminsky (ab ca. 34:25)Die DDR war ja zentralistisch organisiert, dass viele Entscheidungen einfach in Berlin, in irgendeinem Ministerium oder im Staatsrat oder im Politbüro der SED getroffen worden sind. Und das wurde dann in Anführungsstrichen nach unten durchgestellt und kam dann in den Betrieben an. Und die Betriebe kriegten dann irgendeine Norm vorgesetzt oder irgendeinen Plan, den sie erfüllen sollten und wussten angesichts der maroden technischen Infrastruktur, des Materialmangels auch des Arbeitskräftemangels wussten sie teilweise überhaupt nicht, wie sie das hinkriegen sollten. Also ich denke, da gab es relativ wenig Mitspracherecht. MUSIKErzählerinDennoch tun sich Möglichkeiten auf, die Stimme zu erheben und dabei weder ignoriert, noch sanktioniert zu werden. 15.O-Ton (Kaminsky ab ca. 35)Aber was immer wieder erzählt wird, ist, dass dieses Rummotzen, dass das schon sehr stark war, und natürlich war das auch ein Druckmittel. Weil natürlich wollte die Staats- und Parteiführung, die sich ja selber als Vertreterin des Arbeiter- und Bauernstaates deklariert hatte, die wollten natürlich das Wohlwollen der Arbeiterschaft, also zum einen, weil sie um ihre Macht fürchteten, aber zum anderen, weil sie natürlich auch von sich überzeugt waren: Aber wir wollen doch nur das Beste für das Volk, (…) aber letztlich wurde das Volk gar nicht gefragt, was es eigentlich will. MUSIK ErzählerEin Volk, das sich im Laufe der SED-Diktatur mit den Gegebenheiten zufrieden gibt und versucht, innerhalb der bürokratischen Planwirtschaft und zunehmenden Mangelwirtschaft zurecht zu kommen.ErzählerinVerbunden durch einen großen sozialen Zusammenhalt, der von Zeitzeugen immer wieder beschrieben wird. Viele erinnern sich im Rückblick auch daran, dass Konflikte offen unter Kollegen ausgetragen wurden und es so etwas wie Mobbing nicht gab. ErzählerDabei litten durchaus Menschen darunter, von ihren Kolleginnen und Kollegen regelrecht geschnitten zu werden. 16.O-Ton (Kaminsky ab ca. 48:00)Diejenigen, die aus vielerlei Gründen aus dieser Gemeinschaft ausgestoßen wurden, die wurden ja auch mit einer unglaublichen Härte behandelt, Also wenn man sich anschaut, diejenigen, die dann in den 80er-Jahren oder auch in den 70er-Jahren gewagt hatten, einen Ausreiseantrag zu stellen, wie die in den Betrieben isoliert worden sind. Wir würden heute sagen, dass war Mobbing, was mit ihnen passiert ist. Das will ja heute auch kaum noch jemand auch thematisieren oder sich daran erinnern, wie ist eigentlich mit denen umgegangen worden, die angeblich außerhalb dieser sozialistischen Menschengemeinschaft gestellt worden sind. Also ich denke ja. Die DDR-Vergangenheit wird immer schöner, je länger sie zurückliegt.TC 17:26 – Und nach der Wiedervereinigung? MUSIKErzählerinDie Wiedervereinigung Deutschlands und damit verbundene Einführung der Marktwirtschaft bedeutet das Ende der Volkseigenen Betriebe. Ab dem Sommer 1990 gehen rund 8500 VEB mit etwa vier Millionen Beschäftigten in das Portfolio der Treuhandanstalt. ErzählerDie nun beginnt, die Betriebe in Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Aufbau - also GmbH i.A. - umzuwandeln. Für die Menschen, die im Arbeitsalltag der DDR eine verlässliche Stelle und ein festes Gehalt hatten, ändert sich damit alles. ErzählerinDenn nun verlieren sie größtenteils nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihren Lebensmittelpunkt. Ein Trauma, das sich tief ins kollektive Gedächtnis gräbt. André Steiner: 17.O-Ton (Steiner ab ca. 36:30)In den 90er-Jahren war das natürlich ein totaler Bruch (…) Es war ja der überwiegend größte Teil der ehemaligen DDR Bevölkerung, die Job-Veränderungen dann plötzlich erlebt haben. Was vorher im Grunde genommen nur in sehr begrenztem Maße stattfinden konnte. Und das war natürlich schon noch dazu, wie es abgelaufen ist zum Teil, oder wie es zumindest wahrgenommen wurde, dass es abgelaufen ist, war das natürlich schon traumatisch. Und also diese Erinnerung an die 90er-Jahre spielt, da glaube ich die entscheidende Rolle. Und vor dieser Folie wiederum wird dann natürlich schnell auch sozusagen der DDR Hintergrund idealisiert. ErzählerDie Treuhand wird zum Buhmann für alles, was in der Wahrnehmung der Menschen im Osten zu Beginn der deutschen Einheit nicht rund läuft. Teilweise zu Unrecht, wie Anna Kaminsky meint: 18.O-Ton (Kaminsky ab 42:09 )Und natürlich wird den Mitarbeitern der Treuhand da auch Unrecht getan. Also zum einen ist die Treuhand ja keine West Erfindung. Die hat noch die letzte DDR-Regierung so eingesetzt, auch um eben dieses Volksvermögen die volkseigenen Betriebe wieder zu reprivatisieren, auch weil man wusste, die planwirtschaftlichen Strukturen, die sind nicht konkurrenzfähig, die sind nicht marktfähig. Und das, was die DDR sich an Wirtschaftsinfrastruktur gehalten hat, das sagen ja auch die geheimen Analysen des Politbüros, das war nicht marktfähig. (…ab ca. 45:30) Jenseits dessen, dass das, was da passiert ist, eben doch für einen Großteil der Menschen aus der ehemaligen DDR wirklich traumatisch war und traumatisierende Folgen hatte. ErzählerinBis heute wirkt das Trauma, den Arbeitsplatz und damit auch den sozialen Lebensmittelpunkt verloren zu haben, bei vielen nach. Bei einigen offenbar mehr, als die Erleichterung, nach dem 9.November 1989 nicht mehr in einer Diktatur leben zu müssen. ErzählerFür Anna Kaminsky gibt es viele Gründe für diese Form der Erinnerungskultur. 17.O-Ton (Kaminsky ab ca. 47:30)Also da werden auch Dinge beschworen, die viele von uns so wahrscheinlich gar nicht in der DDR in dieser Form erlebt haben. (…) Wenn man sich die Umfragen anschaut. 1990 sagt eine ganz große Mehrheit der DDR-Bürger das Leben in der DDR war unerträglich. Die Überwachung, die Bespitzelung, diese Unfreiheit, was man mitbekommen hat, wie mit anderen umgegangen wurde. Das war schlimm. Und je länger die DDR zurückliegt, (…) umso mehr tritt das in den Hintergrund. (…) Und ich glaube, das war ja für viele Menschen, die in den 1990er-Jahren gesehen haben, wie die Industrien zu zugrunde gegangen sind, die Betriebe geschlossen haben. Da hängt ja ganz viel dran. Wenn die Betriebe geschlossen haben, gab es keine Steuereinnahmen für die Kommunen mehr. Dann wurde die Kinderbetreuung schwierig. Wenn es keine Kinderbetreuung gab, war es schwierig, dass Frauen arbeiten gehen konnten. Dann wurde die Verkehrsanbindung ausgedünnt. Also es ist ja auch mit einer Form von Isolation und Isolierung verbunden gewesen, nicht nur im Infrastrukturbereich, sondern auch im sozialen Bereich, auf das niemand in dieser Form vorbereitet war. (…) MUSIKTC 21:50 - Outro

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