Alles Geschichte - Der History-Podcast cover image

Alles Geschichte - Der History-Podcast

AUFERSTANDEN AUS RUINEN - Der Volkseigene Betrieb in der DDR

Oct 4, 2024
24:02

Die Volkseigenen Betriebe (VEB) waren für die meisten Bürgerinnen und Bürger der DDR viel mehr als nur eine Arbeitsstätte. Von der Theatergruppe bis zum Ferienlager organisierten die VEB zahllose Freizeitangebote. Auch für das soziale Leben der Beschäftigten und wurden so zum Lebensmittelpunkt. Von Ulrike Beck (BR 2024)

Credits
Autorin: Ulrike Beck
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Jenny Güzel
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Prof. Dr. André Steiner, Dr. Anna Kaminsky

Besonderer Linktipp der Redaktion:

ARD (2024): Diagnose Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg

Machtsysteme, die Frauen systematisch unterdrücken. Der sechsteilige Podcast “Diagnose: Unangepasst” macht Geschichten von Frauen unter Macht- und Kontrollsystemen zum Thema. Dazu wird das düstere Kapitel der grausamen geschlossenen venerologischen Stationen in der DDR aufgearbeitet. Hier wurden scheinbar “unangepasste” Mädchen und junge Frauen eingesperrt und misshandelt, um sie nach sozialistischem Vorbild umzuerziehen. Die Journalistin Charlotte Witt begibt sich mit drei betroffenen Frauen auf eine emotionale Reise in die Vergangenheit. Sie blicken auf Machtsysteme damals wie heute und suchen nach Antworten. ZUM PODCAST

Linktipps:

ARD (1965): Frauen in Industrieberufen – VEB Leuna-Werke

In den Volkseigenen Betrieben (VEB) herrscht Arbeitskräftemangel. Am Beispiel des VEB Leuna-Werks "Walter Ulbricht" wird das Umdenken der Betriebsleitungen bezüglich der Beschäftigung ungelernter Frauen dargestellt. JETZT ANSEHEN

Deutschlandfunk (2019): Zwischen Dichtung und Wahrheit

Auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall ist das Trauma um die Treuhand noch nicht vorbei. Die Behörde, die volkseigene DDR-Betriebe in gut funktionierende private Unternehmen umwandeln sollte, sorgt bis heute für Debatten. Sogar ein erneuter Untersuchungsausschuss wird gefordert. JETZT ANHÖREN

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:


Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN

Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 02:59 – Der Weg der VEBs
TC 05:19 – Monotonie, Mangel und Meckern
TC 09:06 – Viele Angebote - wenig Freizeit
TC 11:34 – Die Ära Honecker
TC 14:15 – Entscheidungen treffen andere
TC 17:26 – Und nach der Wiedervereinigung?
TC 21:50 - Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

MUSIK

1.O-Ton (Kaminsky ab 7:16)
Also nun läuft das Praktikum schon fast eine Woche. Ich bin in der Möbelfabrik in Ammendorf. Dort ist die Zweigstelle fürs Schneidern untergebracht. Wir schneiden Filzmatten. Zwei Pausen sind zulässig, fünf werden gemacht, ungeachtet der Zigarettenpäuschen, die nicht zählen. Die Norm wird immer erfüllt, und wenn Normer kommen, arbeiten die Leute betont langsam. Und statt einmal rennen sie fünfmal um den Tisch, um irgendetwas zu holen. So kommen die Normen, die erfüllten Pläne und die Pausen zustande.

Erzähler
Anna Kaminsky liest aus ihrem Tagebuch. Es sind Eindrücke, die sie mit 15 Jahren festgehalten hat. 1977 während ihres Schülerpraktikums, bei dem sie im Volkseigenen Betrieb der Möbelproduktion die sozialistische Arbeitswelt kennenlernen soll. So wie es damals auch für alle anderen Schüler und Schülerinnen in der DDR Pflicht ist:

2.O-Ton (Kaminsky ab 7:16)
Ab der achten Klasse gab es den sogenannten Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion. Das war ein Tag in der Woche oder alle zwei Wochen, wo man in einen Betrieb gehen musste als Schüler, um dort die sozialistische Arbeitswelt kennenzulernen. Und zusätzlich gab es immer am Ende des Schuljahres (…) zwei oder drei Wochen ein sogenanntes Praktikum. Und mein erstes Praktikum habe ich in der Möbelfabrik in Ammendorf in Halle absolviert, und dort war eine Zweigstelle untergebracht, die unter anderem für Neckermann Kissenbezüge und so Polsterbezüge schneiderte.

Erzählerin
Anna Kaminsky hat die Geschichte der DDR zu ihrem Beruf gemacht. Seit 2001 ist sie Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in der die Arbeit einen ganz besonderen Stellenwert hatte:

3.O-Ton (Kaminsky ab 1:02)
Grundsätzlich muss man sagen, dass die DDR ja eine Arbeitsgesellschaft war. Also es gab keine Arbeitslosigkeit, auch wenn das natürlich staatlich ja besonders herbeigeführt worden ist, denn auch in internen Wirtschaftsanalysen ist immer wieder die Rede davon, dass, wenn man sich ehrlich machen würde, hätte die DDR auch so etwa 20 Prozent Arbeitslose. Aber aus ideologischen Gründen und aus politischen Gründen konnte man keine Arbeitslosigkeit zulassen, sondern jeder musste irgendwie beschäftigt werden. Und nach 1968 der damaligen Verfassungsreform in der DDR gab es ja nicht nur das Recht auf Arbeit, sondern auch die Pflicht zur Arbeit. Ich denke, dass das auch ganz wichtig ist zu verstehen, dass Arbeit im Prinzip den Lebensmittelpunkt der Menschen darstellte.

TC 02:59 – Der Weg der VEBs

MUSIK

Erzähler
Den Grundstein dafür, dass die Volkseigenen Betriebe zum größten Arbeitgeber der DDR-Industrie werden, legen die vier alliierten Siegermächte im Sommer 1945 mit dem Potsdamer Abkommen. Wie der Wirtschaftshistoriker Professor André Steiner vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ausführt. Er ist einer der profundesten Kenner der Wirtschaftsgeschichte der DDR.

4.O-Ton (Steiner ab 0:17)
Nazi-Funktionäre oder höhere Nazi-Funktionäre und Kriegsverbrecher sollten auf jeden Fall enteignet werden. Das war ja erstmal zunächst sozusagen der Ansatz, der von allen Alliierten vertreten wurde, der dann allerdings in den Westzonen nicht in dem Maße umgesetzt wurde, wie das in der sowjetischen Besatzungszone geschah. […] Die sowjetische Besatzungsmacht hat dann mit einem Befehl im Oktober 1945 faktisch alle Großbetriebe beschlagnahmt und unter Sequester gestellt.

MUSIK

Erzählerin
Schon ab dem September 1945 beginnt die Sowjetische Militäradministration, kurz SMAD mit wichtigen Strukturveränderungen innerhalb der sowjetisch besetzten Zone.

Erzähler
Mit der Bodenreform werden Großbauern entschädigungslos enteignet, die mehr als 100 Hektar Land besitzen. Ab Oktober werden sogenannte Sequester-Kommissionen gebildet, die darüber entscheiden, welche Betriebe beschlagnahmt und enteignet werden.

5.O-Ton (Steiner ab 1:46)
Politisch war das dann so, dass (…) insbesondere von zunächst der KPD und SPD und dann später der SED und den Gewerkschaften wurde sehr schnell dort eine Linie vertreten, dass man im Grunde genommen alle Großbetriebe unabhängig von der politischen Belastung enteignen wollte.

Erzählerin
Bis 1948 sind es rund 4000 Großbetriebe, die in sogenanntes Landeseigentum, beziehungsweise Volkseigentum überführt werden. Und nun verstaatlicht in Volkseigene Betriebe umgewandelt werden.

6.O-Ton (Steiner ab 2:47)
Juristisch wurde es gefasst als Volkseigentum, aber in der Umsetzung war es natürlich faktisch Staatseigentum.

TC 05:19 – Monotonie, Mangel und Meckern

MUSIK

Erzähler
Nach der Staatsgründung der DDR werden es über die Jahrzehnte immer mehr Volkseigene Betriebe. Die im Laufe der Zeit in immer größere Organisationseinheiten eingegliedert werden.

Erzählerin
Zunächst in die Vereinigung Volkseigener Betriebe, ab dem Ende der 60er Jahre in Kombinate. Dadurch entstehen gigantische Unternehmen, so wie das Kombinat Carl Zeiss Jena, zu dem in den Achtziger-Jahren 25 Betriebe gehören, in denen rund 70.000 Beschäftigte arbeiten.

Erzähler
1972 werden auch die letzten privaten und halbstaatlichen Firmen verstaatlicht. Was sich laut André Steiner auf das ohnehin beschränkte Warenangebot eher kontraproduktiv auswirkt:

7.O-Ton (Steiner ab ca. 10:27)
… weil letztendlich wurden dadurch verschiedene Produktionen eingestellt. Diese Betriebe wurden oftmals größeren VEBs dann zugeordnet, von denen wiederum nur als Zulieferer eingesetzt, sodass man letztendlich auch ein bestimmtes Warenangebot, was von diesen kleinen und mittleren Betrieben noch angeboten, sozusagen produziert worden war, verloren hat. Also letztendlich war das eher sozusagen ein Schritt, mit denen man sich ins eigene Knie geschossen hat.

Erzählerin
Nach der Verstaatlichung der kleinen Handwerksbetriebe und mittelständischen Unternehmen steht VEB fortan auch für „Vaters ehemaliger Betrieb“.

MUSIK

Erzähler
Nicht jeder nimmt diesen Prozess hin. Es gibt durchaus Kritik und Protest gegen die Verstaatlichung der Industrie- und Handwerksbetriebe. Nicht erst in den Siebzigern. Schon das Traditionsunternehmen Carl-Zeiss Jena wird 1948 gegen den Widerstand der Belegschaft verstaatlicht:

8. O-Ton (Steiner ab ca. 9:35)
Die hatten ein eigenes Rentensystem und die Zeiss-Stiftung hatte in Jena verschiedene soziale Einrichtungen betrieben. Und das war ja damals sozusagen noch etwas Besonderes. Und darum fürchteten die natürlich. Natürlich gab es auch an anderen Stellen Widerstände gegen Verstaatlichungen, gerade auch bei den kleinen und mittleren Betrieben. Aber 1972 entstand ein solcher politischer Druck, dass letztendlich alle es gab gar keine Möglichkeit also, sich dem dann tatsächlich zu entziehen, dieser Enteignung.

ATMO

Erzählerin
Doch gerade, was die Sozialleistungen angeht, müssen sich die Beschäftigten der Kombinate oder VEB keine Sorgen machen. Viel umfassender als im Westen wird dafür gesorgt.

9.O-Ton (Steiner ab 4:18)
Die Funktion der Betriebe wurde nach und nach sozusagen ausgeweitet dahingehend, dass eben doch viele Sozialfunktionen den Betrieben übertragen wurden. Also das fängt an bei Betriebspolikliniken oder Kindergärten und hörte im darauf bei Ferienlager oder anderen Erholungsobjekten auf, die zu einem nicht geringen Teil tatsächlich dann innerhalb der Industrie mit angesiedelt waren.
Erzähler
Die Beschäftigten der kleineren Betriebe müssen sich außerhalb des Betriebes selbst um Kinderbetreuung oder Krankenversorgung kümmern. Eine Poliklinik oder Kantine haben allerdings nur die Großbetriebe zu bieten.

TC 09:06 – Viele Angebote - wenig Freizeit

MUSIK
Erzählerin
Die Volkseigenen Betriebe bieten nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz und Sozialleistungen, sondern organisieren auch die Freizeit der Beschäftigten. Dank zahlreicher Kulturangebote vom Literatur- bis zum Fotozirkel können die Arbeitenden ihren Hobbys mit Kollegen nachgehen. Anna Kaminsky:

10.O-Ton (Kaminsky ab 2:00)
Also zumindest die größeren Betriebe organisierten auch das Kulturleben mit Theaterbesuchen, mit Konzertbesuchen, mit ja Angeboten für die Belegschaft, was Sportgymnastik, vielleicht Singegruppen und so weiter betroffen hat.

MUSIK

Erzähler
Betriebseigene Polikliniken, Kindergärten und - krippen, Ferienlager, Handballmannschaften, Singegruppen und regelmäßige Betriebsvergnügen mit der Belegschaft.
Erzählerin
Das klingt nach einem Angebot, an das man sich gewöhnen könnte. Die Betriebe haben aber nicht nur das Wohlbefinden ihrer Beschäftigten im Sinn, sondern wollen auch ein Umfeld schaffen, in dem möglichst produktiv gearbeitet werden können soll.

Erzähler
Trotz allgemein bekannter Widrigkeiten, dass Maschinen immer wieder ausfallen und erst Stunden oder Tage später repariert werden können. Oder Material nicht lieferbar ist und die Beschäftigten oft stundenlang zum Nichtstun verdammt sind.

11.O-Ton (Kaminsky ab 23:39)
Aber ansonsten war ja der Arbeitsalltag in der DDR sehr, sehr hart. Also viele Betriebe haben um sechs oder 06:30 Uhr mit der Arbeit begonnen. (…) Das heißt, die Leute mussten in der Regel um fünf aufstehen, um rechtzeitig im Betrieb zu sein. Wenn sie Kinder hatten, mussten die Kinder ja vorher in die Betreuungseinrichtungen gebracht werden. Und dann betrug der Arbeitstag oft bis 16:30 Uhr, 16:45 Uhr also auch sehr lange. Und bis man dann aus dem Betrieb raus war und vielleicht noch einkaufen gehen musste - insbesondere die Frauen mit ihrer doppelten Schicht. Wenn die dann endlich zu Hause waren, waren die natürlich auch kaputt und fertig. (…) Das ergibt eine Umfrage unter Frauen aus der DDR aus den 1980er-Jahren. Und da werden die gefragt, was ihr liebstes Hobby ist - und es sagt eine große Mehrzahl der Frauen: Schlafen.

Erzähler
Für die Frauen beginnt nämlich nach Dienstende die so genannte Mutti-Schicht, in der sie sich vorwiegend alleine um den Haushalt und die Kinder kümmern.

TC 11:34 – Die Ära Honecker

MUSIK

Erzählerin
Nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker steigt der Anteil der staatlichen Industriebetriebe in der DDR auf 99 Prozent. Erich Honecker verfolgt zunächst als Erster Sekretär, dann als Generalsekretär des SED-Zentralkomitees eine etwas andere Wirtschaftspolitik, als sein Vorgänger.

Erzähler
In der Ära Honecker wird mehr Wert auf die Konsum- und Sozialpolitik gelegt. Um die Wertschätzung für den „einfachen Arbeiter“ zum Ausdruck zu bringen. Auf dieser Grundlage sollen nicht nur die Lebensbedingungen für die Beschäftigten verbessert, sondern auch die Produktivität gesteigert werden. So das Kalkül. Das nicht ganz aufgeht. André Steiner:

12.O-Ton (Steiner ab (28:50)
Letztendlich hat sich tendenziell gerade in den 60er-Jahren schon der Lebensstandard deutlich verbessert und in den 70er-Jahren auch noch. Das bröckelt dann ab Ende der 70er-Jahre, weil da wird nach und nach klar, dass die eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten jetzt überschritten sind, und auch mit der Verschuldungskrise Anfang der 80er-Jahre geht das dann mehr oder weniger in Stagnation über. Und das Problem ist dann eben, dass man sich nicht dazu durchringen kann, an dieser Politik jetzt irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Also das berühmteste Beispiel sind immer die Preissubvention, die ja Ende der 50er-Jahre bei der Abschaffung der Lebensmittelkarten eingeführt wurden. Und die Preise, die damals für Grundnahrungsmittel festgelegt worden waren, die blieben bis zum Ende der DDR so.

MUSIK

Erzählerin
Die Arbeiterinnen und Arbeiter stehen in der Hierarchie der Betriebe ganz unten. Vor ihnen kommen vom Direktor abwärts über die Fachdirektoren jede Menge andere Menschen, die mehr zu melden haben als sie. André Steiner:

13.O-Ton (Steiner ab 14:40)
Es gab die Meister-Bereiche dann unten auf der Ebene der praktischen Fertigung. Und innerhalb der Meister Bereiche gab es dann wiederum die sogenannten Brigaden. Und da gab es einen Brigadier, der die geleitet hat, und in denen waren die Beschäftigten dann faktisch organisiert. Die Parteileitung, das ist jetzt wiederum dann abhängig, wie groß das jeweilige Unternehmen war. Es gab ja große Unternehmen wie Leuna beispielsweise, die hatten ja eine eigene SED-Kreisleitung. Also da war dann sehr viel Einfluss der SED dann von vornherein auch gegeben. In dieser Kreisleitung war dann natürlich auch wieder der Betriebsdirektor, der saß da auch mit drinnen. Also das war wechselseitig miteinander verflochten.

TC 14:15 – Entscheidungen treffen andere

Erzähler
Das Mitspracherecht der Beschäftigten in den Betrieben hält sich sehr in Grenzen. Auch, wenn sie formaljuristisch als Volk die Eigentümer sind: Die Entscheidungen treffen andere. Anna Kaminsky:

14.O-Ton (Kaminsky (ab ca. 34:25)
Die DDR war ja zentralistisch organisiert, dass viele Entscheidungen einfach in Berlin, in irgendeinem Ministerium oder im Staatsrat oder im Politbüro der SED getroffen worden sind. Und das wurde dann in Anführungsstrichen nach unten durchgestellt und kam dann in den Betrieben an. Und die Betriebe kriegten dann irgendeine Norm vorgesetzt oder irgendeinen Plan, den sie erfüllen sollten und wussten angesichts der maroden technischen Infrastruktur, des Materialmangels auch des Arbeitskräftemangels wussten sie teilweise überhaupt nicht, wie sie das hinkriegen sollten. Also ich denke, da gab es relativ wenig Mitspracherecht.

MUSIK

Erzählerin
Dennoch tun sich Möglichkeiten auf, die Stimme zu erheben und dabei weder ignoriert, noch sanktioniert zu werden.

15.O-Ton (Kaminsky ab ca. 35)
Aber was immer wieder erzählt wird, ist, dass dieses Rummotzen, dass das schon sehr stark war, und natürlich war das auch ein Druckmittel. Weil natürlich wollte die Staats- und Parteiführung, die sich ja selber als Vertreterin des Arbeiter- und Bauernstaates deklariert hatte, die wollten natürlich das Wohlwollen der Arbeiterschaft, also zum einen, weil sie um ihre Macht fürchteten, aber zum anderen, weil sie natürlich auch von sich überzeugt waren: Aber wir wollen doch nur das Beste für das Volk, (…) aber letztlich wurde das Volk gar nicht gefragt, was es eigentlich will.

MUSIK

Erzähler
Ein Volk, das sich im Laufe der SED-Diktatur mit den Gegebenheiten zufrieden gibt und versucht, innerhalb der bürokratischen Planwirtschaft und zunehmenden Mangelwirtschaft zurecht zu kommen.
Erzählerin
Verbunden durch einen großen sozialen Zusammenhalt, der von Zeitzeugen immer wieder beschrieben wird. Viele erinnern sich im Rückblick auch daran, dass Konflikte offen unter Kollegen ausgetragen wurden und es so etwas wie Mobbing nicht gab.

Erzähler
Dabei litten durchaus Menschen darunter, von ihren Kolleginnen und Kollegen regelrecht geschnitten zu werden.

16.O-Ton (Kaminsky ab ca. 48:00)
Diejenigen, die aus vielerlei Gründen aus dieser Gemeinschaft ausgestoßen wurden, die wurden ja auch mit einer unglaublichen Härte behandelt, Also wenn man sich anschaut, diejenigen, die dann in den 80er-Jahren oder auch in den 70er-Jahren gewagt hatten, einen Ausreiseantrag zu stellen, wie die in den Betrieben isoliert worden sind. Wir würden heute sagen, dass war Mobbing, was mit ihnen passiert ist. Das will ja heute auch kaum noch jemand auch thematisieren oder sich daran erinnern, wie ist eigentlich mit denen umgegangen worden, die angeblich außerhalb dieser sozialistischen Menschengemeinschaft gestellt worden sind. Also ich denke ja. Die DDR-Vergangenheit wird immer schöner, je länger sie zurückliegt.

TC 17:26 – Und nach der Wiedervereinigung?

MUSIK
Erzählerin
Die Wiedervereinigung Deutschlands und damit verbundene Einführung der Marktwirtschaft bedeutet das Ende der Volkseigenen Betriebe. Ab dem Sommer 1990 gehen rund 8500 VEB mit etwa vier Millionen Beschäftigten in das Portfolio der Treuhandanstalt.

Erzähler
Die nun beginnt, die Betriebe in Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Aufbau - also GmbH i.A. - umzuwandeln. Für die Menschen, die im Arbeitsalltag der DDR eine verlässliche Stelle und ein festes Gehalt hatten, ändert sich damit alles.

Erzählerin
Denn nun verlieren sie größtenteils nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihren Lebensmittelpunkt. Ein Trauma, das sich tief ins kollektive Gedächtnis gräbt. André Steiner:

17.O-Ton (Steiner ab ca. 36:30)
In den 90er-Jahren war das natürlich ein totaler Bruch (…) Es war ja der überwiegend größte Teil der ehemaligen DDR Bevölkerung, die Job-Veränderungen dann plötzlich erlebt haben. Was vorher im Grunde genommen nur in sehr begrenztem Maße stattfinden konnte. Und das war natürlich schon noch dazu, wie es abgelaufen ist zum Teil, oder wie es zumindest wahrgenommen wurde, dass es abgelaufen ist, war das natürlich schon traumatisch. Und also diese Erinnerung an die 90er-Jahre spielt, da glaube ich die entscheidende Rolle. Und vor dieser Folie wiederum wird dann natürlich schnell auch sozusagen der DDR Hintergrund idealisiert.

Erzähler
Die Treuhand wird zum Buhmann für alles, was in der Wahrnehmung der Menschen im Osten zu Beginn der deutschen Einheit nicht rund läuft. Teilweise zu Unrecht, wie Anna Kaminsky meint:

18.O-Ton (Kaminsky ab 42:09 )
Und natürlich wird den Mitarbeitern der Treuhand da auch Unrecht getan. Also zum einen ist die Treuhand ja keine West Erfindung. Die hat noch die letzte DDR-Regierung so eingesetzt, auch um eben dieses Volksvermögen die volkseigenen Betriebe wieder zu reprivatisieren, auch weil man wusste, die planwirtschaftlichen Strukturen, die sind nicht konkurrenzfähig, die sind nicht marktfähig. Und das, was die DDR sich an Wirtschaftsinfrastruktur gehalten hat, das sagen ja auch die geheimen Analysen des Politbüros, das war nicht marktfähig. (…ab ca. 45:30) Jenseits dessen, dass das, was da passiert ist, eben doch für einen Großteil der Menschen aus der ehemaligen DDR wirklich traumatisch war und traumatisierende Folgen hatte.

Erzählerin
Bis heute wirkt das Trauma, den Arbeitsplatz und damit auch den sozialen Lebensmittelpunkt verloren zu haben, bei vielen nach. Bei einigen offenbar mehr, als die Erleichterung, nach dem 9.November 1989 nicht mehr in einer Diktatur leben zu müssen.

Erzähler
Für Anna Kaminsky gibt es viele Gründe für diese Form der Erinnerungskultur.

17.O-Ton (Kaminsky ab ca. 47:30)
Also da werden auch Dinge beschworen, die viele von uns so wahrscheinlich gar nicht in der DDR in dieser Form erlebt haben. (…) Wenn man sich die Umfragen anschaut. 1990 sagt eine ganz große Mehrheit der DDR-Bürger das Leben in der DDR war unerträglich. Die Überwachung, die Bespitzelung, diese Unfreiheit, was man mitbekommen hat, wie mit anderen umgegangen wurde. Das war schlimm. Und je länger die DDR zurückliegt, (…) umso mehr tritt das in den Hintergrund. (…) Und ich glaube, das war ja für viele Menschen, die in den 1990er-Jahren gesehen haben, wie die Industrien zu zugrunde gegangen sind, die Betriebe geschlossen haben. Da hängt ja ganz viel dran. Wenn die Betriebe geschlossen haben, gab es keine Steuereinnahmen für die Kommunen mehr. Dann wurde die Kinderbetreuung schwierig. Wenn es keine Kinderbetreuung gab, war es schwierig, dass Frauen arbeiten gehen konnten. Dann wurde die Verkehrsanbindung ausgedünnt. Also es ist ja auch mit einer Form von Isolation und Isolierung verbunden gewesen, nicht nur im Infrastrukturbereich, sondern auch im sozialen Bereich, auf das niemand in dieser Form vorbereitet war. (…)

MUSIK

TC 21:50 - Outro

Get the Snipd
podcast app

Unlock the knowledge in podcasts with the podcast player of the future.
App store bannerPlay store banner

AI-powered
podcast player

Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features

Discover
highlights

Listen to the best highlights from the podcasts you love and dive into the full episode

Save any
moment

Hear something you like? Tap your headphones to save it with AI-generated key takeaways

Share
& Export

Send highlights to Twitter, WhatsApp or export them to Notion, Readwise & more

AI-powered
podcast player

Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features

Discover
highlights

Listen to the best highlights from the podcasts you love and dive into the full episode