Alles Geschichte - Der History-Podcast

ARD
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Nov 18, 2024 • 22min

DAS KOLOSSEUM - Ein Bau für Blut, Brot und Spiele

Gladiatorenspiele, Tierkämpfe und Schiffsschlachten - die Veranstaltungen im Kolosseum sollten unterhalten und die Macht des Kaisers feiern. Genauso wie der Bau - ein architektonisches Meisterwerk der Antike. Von Lukas Grasberger (BR 2020) Credits Autor dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Martin Trauner Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Jerzy May, Marlene Reichert Technik: Robin Auld Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview:Dr. Marcus Junkelmann: Historiker und Experimentalarchäologe, Mainburg Dr. Heinz-Jürgen Beste: Archäologe, Deutsches Archäologisches Institut, RomMarie Jackson: Professorin für Geologie und Geophysik, University of Utah Martin Crapper: Professor für Maschinenbau und Bauingenieurwesen, Northumbria University, Newcastle Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
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Nov 15, 2024 • 25min

DER WESTEN - Was kann aus ihm werden? (3/3)

Der Westen wird als ambivalenter Akteur in einer sich wandelnden globalen Ordnung beleuchtet. Die Experten diskutieren den Einfluss neuer Mächte wie China und die Herausforderungen für die traditionelle NATO. Zuwanderung und ihre Erfolge in der Gesellschaft stehen ebenfalls im Fokus, während Nostalgie in politischen Bewegungen kritisch hinterfragt wird. Schließlich wird die globale Wahrnehmung des Westens untersucht, insbesondere in Hinblick auf seine koloniale Vergangenheit und den Umgang mit Menschenrechten.
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Nov 15, 2024 • 25min

DER WESTEN - Wie uns die anderen sehen (2/3)

Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch. Credits Autor: Jean-Marie Magro Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak Im Interview: Joseph Hendrich, Sadiq Abba, Abubakar Umar Kari, Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Yasheng Huang Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Putin und der Westen – Strategien der Destabilisierung   Der russische Präsident Wladimir Putin tut alles, um sich aus der Schlinge der Kriegsfolgen zu winden und seine Partner auf eine neue Allianz einzuschwören. Das gemeinsame Ziel: dem Westen schaden. Aber was hat Westen dem entgegenzusetzen? JETZT  ANHÖREN ARD alpha (2022): China und wir Innerhalb von wenigen Jahrzehnten haben sich die Machtverhältnisse zwischen China und Deutschland fundamental verschoben. Aus dem einstigen Empfängerland deutscher Entwicklungshilfe ist eine Weltmacht geworden, wirtschaftlich und politisch. Unsere Abhängigkeit von China würden wir gern verringern - aber in welchem Maß ist das überhaupt möglich? alpha-demokratie befasst sich mit den zentralen Fragen und Entwicklungen unserer Demokratie in einer unruhigen Welt - über die Aktualität hinaus. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERFreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das sind, so behaupten viele, historische Errungenschaften des Westens. Gegen diese Werte kann man doch gar nichts haben, denken viele. Aber so einfach ist es nicht. Ich bin Jean-Marie Magro und das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 2: Wie uns die anderen sehen. In vielen Teilen der Welt wird das Auftreten des Westens als anmaßend und belehrend wahrgenommen. Andere gehen sogar so weit zu sagen, die internationale Weltordnung sei von westlichen Staaten allein zu deren Vorteilen errichtet worden und müsse umgebaut werden. 2023 ging ein Zitat um den Erdball, ein Satz der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala. Sie sagte auf einer Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt in Berlin: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Joseph Henrich, Harvard-Professor für biologische Anthropologie und Autor von „Die seltsamsten Menschen der Welt“, kam schon in Folge eins zu Wort. Als ich den Satz zitiere, muss er lachen: 1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard 10„Ja, ich glaube, das ist wahr. Und eines der Dinge, die ich in dem Buch versucht habe anzusprechen, ist, obwohl die allgemeinen Menschenrechte für mich einfach zu verstehen und wichtig sind: Es ist nicht so, dass alle von ihnen überzeugt sind.“ SPRECHERDer Westen dominiert seit Jahrhunderten Weltpolitik und Weltwirtschaft. Und, aus Sicht vieler Staaten im sogenannten Globalen Süden, zulasten der anderen. Selbst viele Jahre nach Kolonialismus und Sklaverei beuten westliche Länder noch immer andere aus – so lautet zumindest der Vorwurf. Besonders deutlich wird dieser in afrikanischen Staaten formuliert. Sadiq Abba ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Abuja, der Hauptstadt Nigerias: 2 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 5„Wir haben genug. Afrika ist der westlichen Welt überdrüssig.  Es ist sehr wichtig, dass die westliche Welt damit beginnt, offen über ihr bösartiges Verhalten gegenüber Afrika zu sprechen.“ SPRECHERSadiq Abba spitzt in seiner Kritik sehr zu: Er sagt, Zitat: Die angeblich universellen Menschenrechte haben keinen Wert, weil für die Europäer ein Menschenleben in Westafrika weniger Wert hat als ein Straßenköter in Paris. Das sind die Doppelstandards des Westens. Zitat Ende. In den vergangenen Jahren habe ich häufig aus Marokko berichtet. Dort ist mir immer wieder der Vorwurf begegnet, dass sich westliche Staaten empört zeigen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Wenn aber in Afrika Menschen sterben, interessiere das die Weltgemeinschaft recht wenig. Besonders häufig wird auch der Vergleich zwischen Israel und Palästina gezogen. Hier verweisen Kritiker des Westens auf die Todeszahlen: Egal, ob man denen der Hamas glauben möchte oder nicht, klar ist: Auf palästinensischer Seite sterben viel mehr Menschen als auf israelischer. Trotzdem verurteilen westliche Staaten das Vorgehen der Netanjahu-Regierung zögerlicher als das der Hamas und liefern Israel sogar Waffen. Ein Vorwurf, der sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Der Westen misst mit unterschiedlichem Maß. Egal, ob man sich dem Urteil anschließen will oder nicht: Es verdeutlicht, dass in einigen Teilen der Welt der Eindruck vorherrscht: Der Westen fordere andere auf, seine Regeln zu befolgen, halte sich selbst aber nur an diese, wenn sie ihm passen. Abubakar Umar Kari lehrt wie Sadiq Abba ebenfalls an der Universität Abuja. Der Politologe meint mit einem Blick auf die Geschichte: 3 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni Abuja 5„Die westlichen Staaten predigen Dinge, die sie nicht ernsthaft glauben. Es gibt so viele Beispiele, z. B. sprechen sie von Demokratie und Freiheit, aber sie haben in der Vergangenheit diktatorische Regime unterstützt und Militärjuntas gefördert. Sie schaffen Monopole, sorgen für Instabilitäten und sie tolerieren Despoten. Das steht im Widerspruch zu ihrem Engagement.“ SPRECHERUnd der Vorwurf wird noch eine Runde weitergedreht: Einer der Hauptkritikpunkte, die sich der Westen immer wieder anhören muss, ist: „Eure Werte sind nicht die unseren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit – klingt gut, aber diese Werte habt ihr entworfen. Nicht wir.“ Bertrand Badie ist emeritierter Professor an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po. Er sagt: 4 Bertrand Badie 2, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, ein sehr schönes Dokument. Es wurde von einer Kommission ausgearbeitet, in der nur Europäer und Amerikaner vertreten waren, mit zwei kleinen Ausnahmen:“ SPRECHEREine Ausnahme, so Badie, war ein Libanese, der aber als Maronit den katholischen Glauben praktizierte. Der andere war ein Chinese, der in den USA studiert hatte. Ein Ähnliches Bild liegt bei den Institutionen vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: Die Vereinten Nationen mit fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat, die jeweils ein Veto-Recht besitzen. Drei davon sind westlich, womit eine Machtverteilung entsteht, die weder im Verhältnis zur Bevölkerung noch zur wirtschaftlichen Stärke dieser Länder steht. Als Sonderorganisation der UN wurde auch der Internationale Währungsfonds gegründet, der Ländern in Zahlungsschwierigkeiten helfen soll, aber unter anderem wegen seiner drakonischen Sparforderungen immer wieder in der Kritik steht. Seit 1946 stammen alle seine Präsidentinnen und Präsidenten aus Europa. Ebenso eine Sonderorganisation der UN ist die Weltbank, die Entwicklungsprojekte finanzieren soll: Seit ihrer Gründung hatte nur eine Präsidentin keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft, die Bulgarin Kristalina Georgiewa 2019, die nur kommissarisch für kurze Zeit übernahm. In den vergangenen Jahren wurden deshalb die Rufe nach einer neuen Weltordnung immer lauter. Einer Weltordnung, die nicht den Westen bevorteilt, sondern aufstrebende Mächte aus den unterschiedlichen Teilen der Welt mehr einbezieht. Das bekannteste und wahrscheinlich auch einflussreichste Bündnis haben die sogenannten BRICS-Staaten geschlossen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Nigerianer Sadiq Abba setzt hierauf große Hoffnungen: 5 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 7„BRICS Ist ein Wind der Veränderung, der 1979 angefangen hat zu blasen. BRICS steht am Ende einer langen Geschichte der unterentwickelten, der unterdrückten, der ausgebeuteten Welt. Eine Welt, die endlich aufatmen und einen Hauch von Freiheit und Wohlstand spüren kann.“SPRECHERBRICS nahm zu Jahresbeginn 2024 weitere Mitglieder auf: Ägypten, Äthiopien, die Emirate und Iran. Eigentlich sollten Argentinien und Irans Erzfeind Saudi-Arabien noch dazukommen. Argentinien lehnte ab, Saudi-Arabien prüft den Beitritt noch. Dass Länder mit so entgegengesetzten Interessen, gar offen ausgetragenen Feindschaften, sich verbünden, überrascht den Soziologen Stephan Lessenich von der Goethe-Universität in Frankfurt nicht. Er hat sich in seiner Forschung mit dem sogenannten Globalen Süden befasst. Diese vermeintlichen Partner vereint alle, dass sie, wie Lessenich es nennt, „Geschädigte westlicher Modernisierungsfantasien“ sind. 6 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt 4„Das rechtfertigt überhaupt nicht das chinesische Land Grabbing in Afrika oder die neuen Machtasymmetrien, die jetzt in der Weltwirtschaft entstehen. In Lateinamerika gilt ähnliches: Riesige Abhängigkeit der argentinischen Sojaindustrie von den Lieferungen nach China und so weiter. Also da verschieben sich dann auch wiederum Abhängigkeiten. Aber dass es in zentralafrikanischen Staaten keine Lust mehr gibt, sich von Frankreich irgendwie sagen zu lassen, was man zu tun und zu lassen hat, das liegt irgendwie auf der Hand und ist nachvollziehbar.“ SPRECHERBleiben wir beim Beispiel Frankreich und Afrika: Die meisten Kolonien erklärten sich in den Jahren zwischen 1956 und 1960 unabhängig. So zum Beispiel Tunesien, Marokko und auch westafrikanische Länder wie Senegal, Mali und Niger. 1962, nach einem blutigen Krieg, zog Frankreich auch aus Algerien ab. Doch noch Jahre danach bauen französische Konzerne wertvolle Ressourcen in Afrika ab. Bis Juli 2024 hatte etwa der Kernbrennstoffhersteller Orano im Norden Nigers eine Uran-Mine unterhalten, damit die französischen Atomkraftwerke versorgt sind. Der schwerwiegendste Vorwurf aber, der Frankreich in den vergangenen Jahren gemacht wurde, hängt mit der Terrorbekämpfung in Westafrika zusammen. Länder wie Mali, Burkina Faso und Niger müssen seit Jahren gegen dschihadistische Terrormilizen kämpfen. Frankreich schickte zwar Soldaten, die Attentate wurden aber nicht weniger. Das nutzte vor allem ein Land, um seinen Einfluss auszuweiten: Russland. Thomas Gomart leitet den Pariser Thinktank Institut francais des relations internationales, kurz Ifri. Er beschreibt: 7 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 4Viele dieser Länder hatten nach ihrer Unabhängigkeit marxistisch-leninistische Regime. Ihre Führungskräfte wurden oft in Moskau ausgebildet oder haben von sowjetischen Helfern gelernt. Besonders stark ist das zum Beispiel in Mali ausgeprägt. Während wir im Westen Russland als imperiale Macht wahrnehmen, verbinden diese jungen Nationen Moskau mit ihrer Unabhängigkeit, die sie erst 1960 oder 1962 errungen haben. Das hat Russland ausgenutzt. SPRECHERSeit Jahren ist Moskau mit Paramilitärs in Afrika aktiv. Sie unterstützen die Staaten im Kampf gegen die Terroristen. Die westafrikanischen Militärregierungen wie Mali und Burkina Faso schätzen sehr, dass Putin keine Bedingungen wie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien für seine Hilfe stellt. Dafür dürfen die Russen Minen abbauen, in denen sich seltene Erden, Gold und Diamanten befinden. Russland zeigt sich aufmerksam, liefert Waffen, schenkt Getreide und bringt Radiosender an den Start. Doch nicht nur wegen Afrika ist Putin-Russland unbestritten eine der größten Herausforderungen für den Westen. Putin betrachtet die USA, die Europäer, die Nato als Feinde. Der Westen wolle die Entwicklung Russlands ausbremsen und es unterworfen, so Russlands Präsident. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 sagte Putin noch im Deutschen Bundestag, der Kalte Krieg sei vorbei. Doch mit den Jahren ändert sich der Ton. Immer wieder spricht er vom dekadenten Westen und kritisiert die Nato-Osterweiterung. 2014 annektiert Russland die Krim völkerrechtswidrig, weil sich die Ukraine Europa annähern möchte. Acht Jahre später, am 24. Februar 2022, startet Putin-Russland einen Großangriff. Schuld daran sei auch der Westen, sagt Putin: 9 Wladimir Putin, Russischer Staatspräsident„Der Westen nutzt die Ukraine als Rammbock und als Testfeld gegen Russland. Aber eines sollte allen klar sein: Je mehr Langstreckenwaffen in die Ukraine geliefert werden, desto weiter müssen wir die Gefahr von unseren Grenzen verschieben. Sie sollten sich bewusst sein, Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen.“ SPRECHERDen Historiker Heinrich August Winkler kam auch schon in der ersten Folge zu Wort. Er hat vier große Bände über die Geschichte des Westens geschrieben: 10 Heinrich August Winkler, Historiker 8Putin knüpft an eine alte russische, von der orthodoxen Kirche gepflegte Tradition an. Russland sieht sich seit langem als wahrer Erbe des Christentums, von dem der aufgeklärte, liberale, der angeblich dekadente Westen vor langem schon abgefallen sei.SPRECHERPutins Vorgehen verwundert Heinrich August Winkler nicht. Es sei logisch für einen Mann, der den Zusammenbruch der Sowjetunion nie überwinden konnte: 11 Heinrich August Winkler, Historiker 9Die Ukraine hat sich 1991, wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken, für unabhängig erklärt und die Russische Föderation hat diese Unabhängigkeit anerkannt. Aber abgefunden hat sich Putins Russland mit der Unabhängigkeit der Ukraine nicht. Putin betreibt die Wiederherstellung eines Großrussischen Reiches, in dem kein Platz ist für eine selbstständige Ukraine. Seine Politik ist radikal-revisionistisch, ja offen imperialistisch. SPRECHERWill Putin die Sowjetunion wiederherstellen? Oder steht hinter den Partnerschaften, die er mit Iran und Nordkorea eingeht, und der Annäherung an China noch mehr? Thomas Gomart ist ebenfalls Historiker und Kenner Russlands: 12 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 3Ich glaube, Putin hat ein Kalkül: Seiner Meinung nach befinden wir uns in einem Moment, in dem weltweit der Westen, aber vor allem Europa abgelehnt wird. Weil Europa schrumpft und an Bedeutung verliert. Putin möchte diese Situation auf brutale Weise für sich nutzen. SPRECHERIn diesem Zusammenhang, nimmt Thomas Gomart an, wäre ein Erfolg für Putin: 13 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 6Wenn sich die USA zunehmend aus Europa zurückziehen. Dadurch, dass die Europäer sicherheitspolitisch und strategisch nicht reif sind, wäre das für Putin gleichbedeutend mit einer Art Vorherrschaft über einen Teil Europas und damit könnte er China mehr auf Augenhöhe entgegentreten. SPRECHERChina: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Exportweltmeister, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Atommacht… Präsident Xi Jinping verurteilt nicht die russische Invasion in der Ukraine. Das kritisierte unter anderem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Peking im April 2023 – und fuhr sofort die Retourkutsche ihres Amtskollegen Qin Gang ein: 14 Qin Gang, Außenminister Volksrepublik China"Diese Meinungsverschiedenheiten sollten uns nicht davon abhalten, im Austausch zu bleiben. Aber dieser Austausch sollte auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung basieren. Was China am wenigsten braucht, sind Lehrmeister aus dem Westen." SPRECHERWas verbindet die Volksrepublik mit Putin-Russland, Iran und anderen Mächten, die sich gegen den Westen stellen? Die amerikanische Journalistin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum: 15 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin 13„Sie sehen die liberale Welt als eine Bedrohung für sich und arbeiten zusammen, um die Verbreitung liberaler Ideen in ihrem Land zu verhindern. Und sie glauben, dass ihr eigenes Überleben davon abhängt, liberale Ideen zu unterdrücken, wo auch immer in der Welt sie zu finden sind.“ SPRECHERUnter „liberalen Ideen“ fasst Applebaum vieles zusammen: Freie Wahlen, ein unabhängiger Rechtsstaat, aber auch der Schutz von Minderheiten. Gerade Letzteres wird von Putin immer wieder aufgegriffen als ein Beispiel des Verfalls des dekadenten Westens. Doch so sehr Putin und der chinesische Außenminister auch poltern: Sind sie die größte Gefahr für den Westen? Nein, findet Yasheng Huang: 16 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 6„Sie brauchen doch nicht China, um Amerika zu untergraben. Das ist einfach lächerlich.“ SPRECHERDie größte Bedrohung für westliche Demokratien, ist der Direktor des China und India Lab am MIT in Boston überzeugt, stellen antiliberale Kräfte im Westen selbst dar. Menschen, die das politische System aus dem Inneren heraus zerstören wollen. Egal ob aus Politik oder Wirtschaft. Für die USA, wo er lebt, nennt er Elon Musk als Beispiel, der auf seinem sozialen Medium X und mit seinem Vermögen eine politische Agenda verfolge. Wo hingegen liege das Problem, wenn China Brücken, Autobahnen, Zugtrassen und Häfen in Afrika baue, fragt Huang: 17 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 10„Falls die Neue-Seidenstraße-Initiative objektiv dafür sorgen sollte, dass das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern gefördert wird, dann sollten wir das feiern. Warum schadet es dem Westen, wenn Afrika nicht mehr in Armut und Hunger versinkt?“ MUSIK SPRECHERKönnen Sie sich noch an den Anfang der Folge erinnern und das Zitat der Präsidentin der Welthandelsorganisation? „Wenn wir mit China reden, kriegen wir einen Flughafen – Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Wenn Yasheng Huang diesen Satz hört, reagiert er fast schon beleidigt. Er ist Professor, verdient sein Geld mit Vorträgen und ist der festen Überzeugung, dass ein richtiger Vortrag mehr wert sein kann als ein Flughafen. So nämlich sei China von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft geworden – in einem Zeitraum von nicht einmal 50 Jahren: 18 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 12„Im Jahr 1978 wurde den Führern der Kommunistischen Partei von amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern erklärt, dass die zentrale Planung versagt habe und marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet werden müssen. Das war ein Vortrag, kein Flughafen. Nachdem sie die Wirtschaftsreformen eingeleitet hatten, wuchs die Wirtschaft, der Staat sparte und nahm Geld ein, das dann verwendet wurde, um Flughäfen zu bauen. Ich würde sagen, dass sie zu viele Flughäfen bauen, aber das ist eine andere Diskussion.“ SPRECHERMan darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen, meint Yasheng Huang. China habe einen Vortrag bekommen – und genau zugehört: 19 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 8„China ist reich geworden, weil es sich dem Westen angenähert hat. Ein bekanntes Zitat von Deng Xiaoping lautet: "Schauen Sie sich die Freunde der Sowjetunion an. Sie sind alle arm geworden. Die DDR, Rumänien, Polen. Und schauen sie auf die Freunde der Vereinigten Staaten, die sind alle reich geworden: Japan und Südkorea und auch Westdeutschland." Die Kommunistische Partei Chinas hat als Institution enorm von der engeren Bindung an den Westen profitiert.“ SPRECHERWährend die Sowjetunion zusammenbrach, weil sie die Wirtschaft nicht entwickelte und zu viel Geld für Militär ausgegeben habe, habe China wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung profitiert, so Huang. Wer aber wirtschaftlich erfolgreich ist, wolle auch mehr Macht: Wie ein Pilzgeflecht breite China sich mit seiner Neue-Seidenstraßen-Initiative auf unterschiedlichen Kontinenten aus. Eine gute Entwicklung, meint der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen Sadiq Abba: 20 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 8„Die Welt von morgen wird bereits ohne den Westen gebaut. Der Westen versucht nur verzweifelt, seinen Rückstand aufzuholen. Die Welt braucht den Westen nicht. Der Westen braucht die Welt.“ SPRECHERDas sind Worte, die sitzen. Vorhin hatte Abba schon gesagt, dass BRICS ein Wind der Hoffnung sei. Die Sehnsucht, dass sich etwas ändert, ist in China, in Afrika, aber auch in anderen Regionen groß. Thomas Gomart aus Paris kann die Kritik nachvollziehen. Der Westen sei nicht unfehlbar. Trotzdem, so Gomart, müssten sich dieselben Staaten, die Vorwürfe erheben, auch welche gefallen lassen: 21 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 15„Wir beobachten auch, dass die Führer der Länder, die den Westen heftig kritisieren, Vermögen im Westen haben, ihre Kinder hier auf Schulen und Universitäten schicken. Sie kaufen Privilegien und Sicherheit. Und das ist auch ein Paradoxon, das man ansprechen muss. Menschen machen sich auf den Weg nach Europa, nach Kanada, in die USA, in offene Systeme. Da sieht man, welch Anziehungskraft die westlichen Gesellschaften haben.“ SPRECHERAn Gomarts Argument merkt man, dass es der Debatte guttut, wenn man sie differenziert führt. Ja, die westlichen Länder haben viele Fehler gemacht und sich auf Kosten von schwächeren Staaten bereichert. Aber heißt das, dass sie für alles verantwortlich gemacht werden können? Als erstes müsse der Westen vor allem eines schaffen, meint der Leiter des Thinktanks Ifri: Entwicklungsländer als gleichwertige Partner anzuerkennen. Und Anerkennung fängt damit an, verstehen zu wollen, wie der andere die Welt sieht: 22 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 18„Der grundlegende Unterschied zwischen dem Westen und dem globalen, ich sage lieber transaktionalen, also geschäftsorientierten Süden auf der anderen Seite ist meiner Meinung nach der historische Referenzpunkt. Wir bauen unsere Politik, unsere politische Kultur, unsere philosophischen und intellektuellen Debatten seit 1945 auf der Erinnerung an die Shoah auf. Im globalen Süden wiederum, so kommt es mir vor, ist der Referenzpunkt die Erinnerung an den Kolonialismus.“SPRECHERNatürlich müssten auch konkrete politische und wirtschaftliche Ergebnisse aus einer Zusammenarbeit folgen. Aber dem vorgeschaltet ist, so Gomart, dass der Westen nicht mehr als belehrend und anmaßend wahrgenommen werden darf. Sondern dass sich die ehemals unterworfenen Länder von denen, die sie einst beherrschten, ernstgenommen und gleichberechtigt fühlen. Der Historiker Heinrich August Winkler bleibt zuversichtlich, dass das möglich ist: 23 Heinrich August Winkler, Historiker 10„Sklaverei und Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, die gehören zum historischen Sündenregister des Westens. Die Geschichte des Westens war immer auch eine Geschichte von brutalen Verstößen gegen die eigenen Werte, sie ist aber auch eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen.“ SPRECHERDer Westen hat es über Jahrhunderte geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden, sagt Heinrich August Winkler. Gelingt ihm das auch dieses Mal? Oder steht das, wie Winkler es nennt, „normative Projekt des Westens“ vor dem Aus? Darum wird es in der dritten und letzten Folge gehen.Ich bin Jean-Marie Magro, und das die zweite Folge unseres Dreiteilers „Der Westen“: Wie uns die anderen sehen. Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. 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Nov 15, 2024 • 25min

DER WESTEN - Wer sind wir eigentlich? (1/3)

Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch. Korrigierte Version vom 28.11.2024Credits Autor: Jean-Marie Magro Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Benjamin Stedler, Heinz Gorr, Jerzy May und Hemma Michel Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak Im Interview: Joseph Hendrich, Tappei Nagatsuki, Yasheng Huang, Sadiq Abba, Anne ApplebaumBesonderer Linktipp der Redaktion: WDR (2024): Killing Jack – Warum der Ripper-Mythos uns nicht loslässt Es ist der wohl bekannteste True-Crime-Fall der Welt: Jack the Ripper. Was fasziniert uns am Mythos eines brutalen Frauenmörders? Und muss die Geschichte vom Ripper heute nicht ganz anders erzählt werden? In „Killing Jack“ gehen die Hosts Caro und Jürg zurück zur Geburt des vielleicht bekanntesten Cold Case der Welt. Dem Godfather of True Crime. Sie stoßen auf brutale Fakten; fragen, wie der Mythos entstand - und versuchen ihn zu killen. Warum? Und wie das gehen soll? ZUM PODCAST Linktipps: ARD alpha (2019): Andere Länder, andere Verbote Wann darf der Staat etwas verbieten? Dana Newman, gebürtige Amerikanerin, fragt nach den Grenzen der individuellen Freiheit in Deutschland. Die ist zwar in der Verfassung vielfach garantiert, aber sie endet dort, wo sie Freiheiten anderer oder das Gemeinwohl berührt. Wo diese Grenze konkret erreicht ist, darüber wird in der Demokratie oft heftig gestritten. Die Reportage zeigt verschiedene Freiheitskämpfende – von Klimaaktivisten bis zum Ernährungswissenschaftler – und zeigt, dass Fakten und Vernunft längst nicht immer entscheiden sind, wenn es um die Freiheit geht. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2019): Warum sich der Westen neu erfinden muss Viel zu lang habe der Westen gebraucht, um die Veränderungen im weltpolitischen Machtgefüge nach 1990 zu begreifen, kritisiert Ramon Schack. Und hat dabei vor allem den Aufstieg Chinas im Blick. Uns dagegen droht der Rückfall in die Mittelmäßigkeit. JETZT ANHÖREN  Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHERWer bin ich?... Wenn Sie jetzt befürchten, das könnte eine Folge über den Existenzialismus werden: Keine Angst. Aber je nachdem, wo Sie aufgewachsen sind, werden Sie diese Frage „Wer bin ich?“ höchstwahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Wenn Sie mich, den Autor dieser Folge fragen, wer ich bin, dann würde ich Ihnen so antworten:Jean-Marie Magro, Journalist, ich spreche in Mikrofone, fahre viel Rad, lese in meiner Freizeit, mal ein Sachbuch, mal eine japanische Romanreihe oder einen Manga. So in der Art. Ich definiere mich also über meinen Beruf und das, was ich gerne tue. In anderen Teilen der Welt klingt das völlig anders. Wenn Sie in einem malischen Dorf fragen würden, würde die Person höchstwahrscheinlich erst die Namen ihrer Eltern zitieren. In Südkorea ist das Alter entscheidend, weil man die Älteren respektieren muss. Und so gibt es ganz viele Beispiele. Joseph Henrich ist leidenschaftlicher Kayakfahrer, aber deshalb habe ich ihn nicht für diese Reihe interviewt. Henrich ist Professor für biologische Anthropologe an der Harvard University in Boston. Er sagt, dass viele Psychologen jahrzehntelang einem großen Irrtum aufgesessen seien: 1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardWir haben festgestellt, dass viele Forscher fast ausschließlich amerikanische Studenten oder Menschen in westlichen Gesellschaften, aber nur sehr wenige Menschen aus anderen Weltregionen untersucht haben. Und so haben diese Wissenschaftler allgemeine Annahmen vorgenommen und formuliert, die verzerrt waren. SPRECHERIn Wahrheit ist nämlich nicht der Rest der Welt eigenartig, sondern wir – meint jedenfalls Joseph Henrich. Wer sind wir, wer ist der Westen? MUSIK Das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 1: Wer sind wir eigentlich? Da fängt das Problem schon an, weil es keine scharfe Trennlinie gibt. Sollte man die Mitgliedsstaaten der OECD nehmen, die NATO oder allgemein jene Länder, die Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte vertreten? Letzteres könnte auch Japan oder Taiwan miteinschließen. In den drei Folgen dieser Reihe möchte ich mich auf Nordamerika und die Europäische Union konzentrieren. Knapp über 800 Millionen Menschen. MUSIK Wir, die wir in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind und leben, sind also laut Joseph Henrich komisch. Wir tanzen aus der Reihe. Henrich hat einen weltweiten Bestseller geschrieben. Auf Deutsch heißt er „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Das Wort seltsam ist die Übersetzung für das englische WEIRD, ein Akronym, das Henrich und andere Psychologen gewählt haben. WEIRD steht in diesem Fall für Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Also westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch. Henrich meint, aus seinen Studien gehe hervor, dass wir im Westen, in Nordamerika und den europäischen Staaten, ganz anders auf die Welt blicken als alle anderen. 2 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardEin klassisches Beispiel: Sie geben einer Versuchsperson ein Bild mit einem Kaninchen und fragen, ob das Kaninchen besser zu einer Karotte oder zu einem Hund passt. Wenn Sie analytisch denken, würden Sie sagen: Kaninchen und Hund, beides Tiere. Wenn Sie aber holistisch, also ganzheitlich denken, suchen Sie nach Beziehungen. Diese Menschen denken: "Kaninchen fressen gerne Karotten, also gehören Kaninchen und Karotten zusammen. Und wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist es so, dass die westlichen Gesellschaften die Orte sind, an denen das analytische Denken sehr stark ausgeprägt ist, und an anderen Orten ist es schwer, jemanden dazu zu finden, der eine analytische Entscheidung trifft. MUSIK SPRECHERIch persönlich habe mich immer als eine Person gesehen, die versucht, die Welt aus anderen Blickwinkeln und nicht nur durch meine deutsche Brille zu sehen. Das kommt alleine daher, dass ich einen französischen Vater habe und zweisprachig aufgewachsen bin. Ich bin schon lange von japanischer und südkoreanischer Popkultur fasziniert, habe mehrfach für die ARD in Nordwestafrika gearbeitet. Aber ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich bemerkt habe, dass ich WEIRD bin. MUSIK Es war in Tokio im Mai 2023. Ich habe den Schriftsteller Tappei Nagatsuki interviewt, der meine Lieblingsfantasy-Reihe schreibt. Nagatsuki schreibt darin echt gruselige Szenen, sein Protagonist Subaru muss unheimlich leiden. Ich habe dem Japaner dann die Frage gestellt, was er von dem, wie ich dachte, weltbekannten US-amerikanischen Autor John Irving hält. Der hat einmal gesagt, er entwerfe in seinen Romanen Figuren, die er wirklich liebt – und dann tue er ihnen das Schlimmste an, das ihm einfiele. Hier antwortet mir Tappei Nagatsuki: 3 Tappei Nagatsuki, japanischer SchriftstellerWas dieser John Irving sagt, damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Je mehr ich Charaktere mag, umso schlimmere Sachen möchte ich Ihnen antun. Und da Subaru mein Protagonist ist, kriegt er am meisten ab. (lacht) MUSIK SPRECHERMein erster Reflex war: Er kennt John Irving nicht? Und kurz darauf fiel mir dann auf, wie sehr ich die Welt durch meine westliche Brille betrachtet hatte. Woher soll ein japanischer Fantasyautor vom anderen Ende der Welt einen amerikanischen Schriftsteller kennen? Nicht nur hierin unterscheidet sich unsere westliche, deutsche Öffentlichkeit von der östlich-japanischen. Der Anthropologe Joseph Henrich sagt, das hinge damit zusammen, dass im Westen die Schuld eine treibende Kraft für menschliches Handeln sei. In anderen Teilen der Welt dominiere jedoch die Scham: 4 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardIn einigen Regionen der Welt ist es besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. Das führt oft zu Konformität und einer großen Sorge, wie man sich selbst darstellt. Der innere Geisteszustand spielt dabei keine große Rolle. Es geht um das äußere Verhalten und darum, wie sich die Menschen der Welt präsentieren. In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein. Hier neigen Menschen dazu, nicht Scham-, sondern Schuldgefühle zu haben. SPRECHEREin Beispiel für solche Schuldgefühle: Sie können sich schlecht fühlen, weil sie nicht ins Fitnessstudio gegangen sind. Ihrem Nachbarn ist das wohl egal. Schämen würden sie sich also vor ihm nicht. Stattdessen fühlten sich im Westen viele dazu verpflichtet, etwas für sich und ihren Körper zu tun, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht also um uns selbst, das Individuum. Ein Beispiel dafür ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes. In Japan gab es während der Corona-Pandemie nie eine Maskenpflicht – das war gar nicht nötig, die Menschen trugen sie freiwillig. In fast allen westlichen Staaten dagegen schon. In Europa und den USA wurde das Tragen von Masken zunehmend heftig kritisiert. Eines der am häufigsten genannten Argumente dabei war: Die Maskenpflicht schränke die individuelle Freiheit ein. MUSIK Warum sind wir so „eigenartig“? Und es geht ja noch viel weiter: Warum sind wir im Westen verhältnismäßig wohlhabend? Für Joseph Henrich ist dabei zentral, wie schnell sich Lesen und Schreiben in Europa ausgebreitet haben. Dabei hat ein gewisser Martin Luther vor über 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt: 5 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardMan kann an den deutschen historischen Daten tatsächlich ablesen, dass die Nähe zu Wittenberg einen Einfluss auf die Lese- und Schreibfähigkeit hatte. Je näher man also dem Zentrum der Reformation war, desto wahrscheinlicher war es, dass man auch im 19. Jahrhundert noch lesen und schreiben konnte. SPRECHERDie Reformation war also der Grundstein dafür, dass das sogenannte Abendland abhob? An dieser Stelle hilft vielleicht ein Blick von außen. Der Wirtschaftswissenschaftler Yasheng Huang ist Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, kurz MIT. Er unterrichtet Internationales Management und leitet das China und India Lab an der Universität. Huang sagt, die Alphabetisierung allein kann nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein, warum die Vereinigten Staaten und Europa über Jahrhunderte mehr Wohlstand schufen als China. 6 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MITIn China konnten schon recht früh verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben. Die Zahl stagnierte dann aber. Im Westen war es umgekehrt. Am Anfang gab es relativ wenige Alphabeten, dann aber wurden es schnell immer mehr. SPRECHERHuang hat ein Buch geschrieben, das sich fast wie eine Fortsetzung von Joseph Henrichs „Die seltsamsten Menschen der Welt“ liest. Huangs Buch trägt den Titel: „The Rise and Fall of the EAST”, also Aufstieg und Fall des Ostens. Huang, 1960 in Peking geboren, meint: Die Stärke des Westens liegt in seiner Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Und das lasse sich schon vor rund 1000 Jahren sehen: 7 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MITDie katholische Kirche erhob sich, um die damalige politische Autorität herauszufordern, und dann wurde die katholische Kirche selbst von anderen Ideen wie dem Protestantismus und weltlichen Ideen herausgefordert. Es entstand also ein Markt der Ideen. MUSIK SPRECHERVor dem sechsten Jahrhundert hatte es auch in China so einen Marktplatz der Ideen und auch einen regen Handel gegeben, sagt Huang. Es gab unterschiedliche Glaubensrichtungen: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus. Westen und Osten waren sich ähnlich, meint der Professor. Doch dann endete das abrupt. Huang meint, das hänge damit zusammen, dass in China ein Regime die Macht übernahm, das andere Ideen unterdrückte und nicht mehr herausgefordert wurde. Während im Westen die Revolutionen in den USA und Frankreich Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaatlichkeit hervorbrachten, wurden in China trotz mehrerer Rebellionen nur die Köpfe ausgetauscht, die Ordnung blieb gleich. Der Harvard-Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich stimmt dem China-Experten zu: Die westliche Kirche spielt für den Westen und wie unsere Gesellschaften heute strukturiert sind, eine besonders wichtige Rolle. Verbot der Vielehe und des Heiratens enger Verwandter waren nur eine Sache. Die katholische Kirche hatte auch ihre eigene Streitmacht, erhob gegen die Königshäuser das Schwert. Rund 900 bis 1000 nach Christus schließen sich Menschen zu freiwilligen Vereinigungen zusammen. Auch und vor allem innerhalb der Kirche. 8 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardMan schloss sich einer Stadt oder einem Verein an, und wenn sich jemand von ihnen verletzte oder alt wurde, kümmerten sich die anderen um diese Person. Es handelte sich also um eine Art Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte. An einigen Orten entstanden daraus Gilden. Das waren Berufsgilden vorstellen müssen, die als gegenseitige Selbsthilfe begannen und bestanden lange Zeit als Gesellschaften bestanden. MUSIK SPRECHERViele Historiker und Anthropologen sagen, dass diese freiwilligen sozialen Versicherungssysteme, die über die Familienbande hinausgehen, eine frühe Besonderheit westlicher Gesellschaften waren. Später, als es zu Abkommen zwischen Königen und Kirchen kam, wurde die katholische Kirche selbst durch den Protestantismus herausgefordert. Dazu kommen Revolutionen. Politische, wie etwa die amerikanische 1776 und die französische 1789, die jeweils zu gesellschaftlichen Umstürzen führten. Aber auch technologische wie die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität. Westliche Gesellschaften erlangen so einen Vorsprung, auch auf Kosten anderer Weltregionen. Dem Thema Kolonialismus wollen wir uns aber erst näher in der zweiten Folge widmen. Zuerst einmal sollten wir klären: Welche sind die Pfeiler des Westens? Einer, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker hat vier Bände über die Geschichte des Westens geschrieben. Er schlägt dabei einen weiten Bogen, über die alten Ägypter und das byzantinische Reich, die Magna Carta und die Bill of Rights bis ins Heute. Winkler spricht vom „normativen Projekt des Westens“: 9 Heinrich August Winkler, HistorikerZu diesem Projekt gehören die Ideen der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaates oder der Rule of Law, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Man kann diese Ideen, auch die politische Konsequenz der Aufklärung nennen. SPRECHERFassen wir mal all diese Punkte in einem Satz zusammen: Der Westen gründet auf dieser einen Idee: 10 Heinrich August Winkler, HistorikerDie Maxime, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, ist die säkularisierte Fassung des Satzes, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. MUSIK SPRECHERSprich: Die Trennung zwischen Staat und Religion, die Säkularisierung. Die hat auch im Westen unterschiedliche Formen. In Deutschland wird Kirchensteuer fällig und Religion an Schulen unterrichtet, in den USA werden Millionen Kinder zuhause unterrichtet, was vor allem Evangelikale und Erzkonservative in Anspruch nehmen. Frankreich hingegen bezeichnet sich als laizistischen Staat, Religion darf in öffentlichen Gebäuden im Prinzip nicht stattfinden. Die Trennung zwischen Staat und Religion, sagt Heinrich August Winkler, gehe auf ein Wort Jesu zurück. In der Bibel heißt es nämlich: 11 Heinrich August Winkler, Historiker "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Damit wird der weltlichen Gewalt eine Eigenverantwortung zugestanden und einem Gottesstaat oder einer Priesterherrschaft eine Absage erteilt. SPRECHERWobei man natürlich immer wieder Einschränkungen machen muss. In einigen osteuropäischen Ländern spielt die Kirche in der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Sie werden nun vielleicht denken, dass die Kommunistische Partei in China auch keine Priesterherrschaft anstrebt. Doch was bei westlichen Demokratien besonders wichtig ist, sagt Heinrich August Winkler, ist die Gewaltenteilung, die Checks and Balances. Dass Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Gerichte unabhängig voneinander sind: 12 Heinrich August Winkler, HistorikerFür den Westen, das sogenannte Abendland, war diese Entwicklung grundlegend. Im Europa der Ostkirche, dem byzantinisch-orthodoxen Osten Europas, kam es nicht zu einer solchen Ausdifferenzierung der Gewalten und damit auch nicht zu einer freiheitlichen Evolution wie sie sich im Westen vollzogen hat. MUSIK SPRECHERGrundlegend für das normative Projekt des Westens ist also die Teilung der Gewalten. Aus dem Vertrauen in den Rechtsstaat leiten Menschen im Westen ein Verständnis von Gerechtigkeit ab, das sich im Vergleich zu anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheidet, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich beobachtet. Ein Gedankenexperiment veranschaulicht das deutlich: das sogenannte Passagierdilemma. 13 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardSie sind mit einem Freund oder einem Familienmitglied im Auto unterwegs. Sie stoßen mit jemandem zusammen, weil ihr Freund rücksichtslos gefahren ist und dabei stirbt die andere Person. Es gibt einen Rechtsstreit. Der Anwalt Ihres Freundes sagt Ihnen, dass niemand sonst den Unfall gesehen habe und wenn Sie aussagen, dass Ihr Freund nicht zu schnell gefahren ist, wird er freigesprochen.  Wenn Sie aber die Wahrheit sagen, kommt Ihr Freund ins Gefängnis. Was also tun? An vielen Orten auf der Welt scheint es absurd, die Frage überhaupt zu stellen: Natürlich werde ich meinen Freund bzw. mein Familienmitglied unterstützen. Aber an manchen Orten sind die Menschen der Meinung, dass sie den Rechtsstaat respektieren müssen. Sie sind also eher geneigt, die Wahrheit zu sagen. SPRECHERWährend also die einen – komme, was wolle – zu ihren Nächsten halten, finden in westlichen Gesellschaften die meisten Menschen, der Übeltäter habe eine Strafe verdient. Um also nochmal zusammenfassen: Westliche Gesellschaften sind im Vergleich zum Rest der Welt individueller, sie zeichnen sich dadurch aus, dass Staat und Religion zumindest zu einem gewissen Grad voneinander getrennt sind – und sie haben mehrheitlich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Dieser Prozess hat nicht gleichzeitig in allen westlichen Gesellschaften stattgefunden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution im Alten Westen selbst durchgesetzt haben. Heinrich August Winkler: 14 Heinrich August Winkler, HistorikerIn Deutschland etwa wurde im 19. Jahrhundert zwar der Rechtsstaat verwirklicht, gegen die Ideen der allgemeinen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie aber gab es bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem bei den Herrschaftseliten und im gebildeten Bürgertum massive Vorbehalte. Der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die Ideen des Westens war die Herrschaft des Nationalsozialismus. Erst nach der totalen Niederlage von 1945 öffnete sich der westliche Teil Deutschlands auf breiter Front der politischen Kultur des Westens. SPRECHERUnd in Ostdeutschland sind die Ideen des Westens erst nach dem Fall der Mauer eingeführt worden. Auch wenn die DDR rhetorisch versuchte, diese Werte zu repräsentieren: Es gab keine freien Wahlen und erst recht keinen von der Partei unabhängigen, funktionierenden Rechtsstaat. Keine individuelle Freiheit, sondern der Versuch der absoluten Kontrolle. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde damals mit seiner These berühmt, die liberale Demokratie habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesiegt. Die Geschichte sei nun zu Ende. 15 Heinrich August Winkler, HistorikerDer Sieg der Freiheit, der 1989 gefeiert wurde, war aber kein weltweiter Sieg. Russland wurde nur zeitweise und oberflächlich von den revolutionären Ideen des Westens erfasst. In China wurden die Freiheitsbestrebungen der akademischen Jugend im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig unterdrückt. Die Geschichte ist 1989 / 90 eben nicht zu Ende gegangen, sie ist in ein neues Stadium eingetreten. MUSIK SPRECHERDie westlichen Ideen – Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Medien, der Schutz von Minderheiten – , sie müssen sich heute aber in jeder westlichen Gesellschaft Angriffen erwehren, sagt Anne Applebaum. Die Journalistin ist eine der anerkanntesten Expertinnen für Osteuropa und Russland. Für ihr Werk „Der Gulag“, in dem sie über die sowjetischen Gefangenenlager schreibt, erhielt sie den weltweit wichtigsten Journalistenpreis, den Pulitzer-Preis. Im Oktober 2024 wurde außerdem sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem aktuellen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und lebt seit vielen Jahren in Polen. Die Amerikanerin schrieb seit Jahren über die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau, die Staatsmedien und Gerichte nach ihrem Geschmack besetzte. 2023 verlor die PiS jedoch die Mehrheit an eine Koalition aus Liberalen, Konservativen und Linken. Das Bündnis versucht nun, die Entscheidungen der PiS rückabzuwickeln. 16 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und HistorikerinDiese Veränderung wird von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Die Regierungskoalition verfügt über eine klare Mehrheit und hat eine große öffentliche Unterstützung. Aber es wird hart. Es ist viel einfacher, den Rechtsstaat zu zerstören, als ihn wiederherzustellen. 17 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und HistorikerinFast jede westliche Demokratie ist von diesen ideologischen Angriffen gegen die Demokratie ausgesetzt, wenn sie auch an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annehmen. Die extreme Rechte und die extreme Linke könnten sowohl die französische als auch die deutsche Demokratie bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Polen und Ungarn: Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit. MUSIK SPRECHERWas sind die Gründe für die Krise des Westens? Es ist unstrittig, dass die westlichen Staaten, allen voran die europäischen, international an Bedeutung verlieren. Ihr Anteil an der Bevölkerung und an der Weltwirtschaft wird kleiner. Diese Tatsachen sind aber nur eine Erklärung für die Krise. Wesentlich sind für Anne Applebaum die Folgen der gegenwärtigen Kommunikationstechnologie. Sie führen dazu, befürchtet die Journalistin, dass in westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen Vertrauen in Demokratie und seine Repräsentanten verlieren: 18 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und HistorikerinEs geht um eine demokratische Krise, die mit den Entwicklungen zusammenhängt, die uns die moderne Wirtschaft und das moderne Informationssystem gebracht haben. Also wie Menschen untereinander kommunizieren und an politische Informationen gelangen und sie verarbeiten. Da gibt es ähnliche Muster in wirklich jeder westlichen Demokratie. SPRECHERZu einer gut funktionierenden Demokratie gehört, dass die Bevölkerung frei und geheim ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen kann. Das Ergebnis muss von allen Seiten akzeptiert werden. Schon hier merkt man, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr in westlichen Ländern ist. MUSIK In dieser Folge haben wir uns damit beschäftigt, was uns Menschen im Westen ausmacht, was die Grundpfeiler des Westens sind und wie sie entstanden sind, und wir haben angeschnitten, warum sich westliche Demokratien in der Krise befinden. Freiheit, die Gleichheit von Menschen, Demokratie und der Rechtsstaat. Viele würden diese Grundsätze wahrscheinlich unterschreiben und stolz auf sie sein. In der nächsten Folge wollen wir uns aber damit beschäftigen, wie der Rest der Welt auf den Westen blickt. Und was soll man sagen: Dort wird ganz anders empfunden: 19 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 1Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird. MUSIK SPRECHERIch bin Jean-Marie Magro, und das war die erste Folge des Dreiteilers „Der Westen“: Wer sind wir eigentlich? Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.
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Nov 8, 2024 • 32min

PAULA SUCHT PAULA (4/4) - Ein Podcast und seine Folgen

Die faszinierende Geschichte der Undercover-Reporterin Paula Schlier wird lebendig. Persönliche Berichte enthüllen ihre Herausforderungen während der NS-Zeit. Dramatische Begegnungen spiegeln die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen wider. Eine erschütternde Entdeckung über einen Nazi-Laden führt zu einem unerwarteten Dialog. Die Reflexion über Verlust und das Erbe von Paula Schlier bietet tiefgreifende Einsichten in die Bedeutung historischer Erinnerungen. Der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart bleibt alarmierend relevant.
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Nov 8, 2024 • 36min

PAULA SUCHT PAULA (3/4) - Paula Schlier und die Gestapo

Paula Schlier wird während eines Osterfrühstücks von der Gestapo verhaftet, was die angespannten Zustände jener Zeit verdeutlicht. Ihr mutiger Einsatz, um als Undercover-Reporterin beim "Völkischen Beobachter" zu agieren, wird lebhaft erzählt. Die düsteren Bedingungen im Garmischer Gefängnis und ihre Erfahrungen in der psychiatrischen Anstalt zeigen ihren Überlebenswillen. Ihre literarischen Beiträge und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind beeindruckend. Die Bedeutung von Demokratie und individueller Freiheit wird durch ihre Geschichte beleuchtet.
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Nov 8, 2024 • 34min

PAULA SUCHT PAULA (2/4) - Paula Schlier und #MeToo vor 100 Jahren

Die Geschichte von Paula Schlier entfaltet sich im Schatten des Hitlerputschs 1923. Sie kämpft um Unabhängigkeit in einer männerdominierten Gesellschaft. Das Podcast beleuchtet die Herausforderungen von Frauen gegen sexuelle Ausbeutung, die noch heute relevant sind. Die Sprache der neuen Sachlichkeit thematisiert schwerwiegende soziale Probleme wie sexuelle Belästigung und Kindesmissbrauch. Paula Schlier’s Tagebuch bietet eine kritische Reflexion ihrer journalistischen Rolle und der politischen Situation, die Frauen oft in den Hintergrund drängt.
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Nov 8, 2024 • 29min

PAULA SUCHT PAULA (1/4) - Paula Schlier und der Hitlerputsch 1923

Xenia Tiling, die talentierte Sprecherin, verkörpert Paula Schlier, eine mutige Journalistin der 1920er Jahre. Sie diskutiert Schliers geheime Untersuchungen beim 'Völkischen Beobachter' und ihre riskanten Erlebnisse während des Hitlerputsches 1923. Chargiert von den politischen Unruhen, thematisiert sie die Herausforderungen für Frauen und deren aufkommende Rolle. Zudem beleuchtet Tiling den Einfluss von Propaganda und die persönlichen Schicksale hinter den politischen Kämpfen, die in dieser turbulenten Zeit unser Verständnis von Mut und Widerstand prägen.
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Nov 1, 2024 • 24min

DIE FIRST LADY UND DIE KÖNIGIN - Martha Washington und Marie Antoinette (3/3)

Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 3. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024) Credits Autorin & Regie : Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Kalte Füße Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind ständig Orte in den Nachrichten, die die italienische Autorin Francesca Melandri aus Erzählungen und Büchern ihres Vaters kennt, aus seinen Geschichten über den Zweiten Weltkrieg bei den Alpini, den italienischen Soldaten, die an der Seite Hitler-Deutschlands in die Sowjetunion, eigentlich aber in die Ukraine einmarschierten. Was wurde nicht erzählt? Bestsellerautorin Melandri verknüpft in ihrem neuen Buch Familiengeschichte mit Weltgeschichte angesichts des erneuten Endes des Friedens in Europa. Vollständige Lesung mit Nina Kunzendorf. ZUM HÖRBUCH Linktipps: Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution  In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“  Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERINDie Independence Hall in Philadelphia, Pennsylvania – ein breites Backsteingebäude mit weißem Glockenturm. Es ist der 4. Juli 1776. Die 13 britischen Kolonien in Nordamerika proklamieren die Loslösung von Großbritannien und das Recht einen eigenen, souveränen Staatenbund zu bilden. Als Gründerväter gehen in die Geschichte ein Washington, Franklin, Jefferson, Adams, Madison – 2 ERZÄHLERINInsgesamt nur Männer. 1 ERZÄHLERINMartha Washington zum Beispiel hätte es auch verdient gehabt. 2 ERZÄHLERINSie kümmert sich nun bald um ihr erstes Enkelkind: ein Mädchen. Elizabeth. Kurz: Betsy. 1 ERZÄHLERINDass die Oma demnächst die erste First Lady der Vereinigten Staaten sein wird, ahnt zu dem Zeitpunkt noch niemand. 2 ERZÄHLERINDie Vereinigten Staaten erringen nach dem Frieden von Paris endgültig ihre Eigenständigkeit. Die Arbeit scheint jetzt beendet. Die Geschichtsbücher schließen sich für die Washingtons. 1 ERZÄHLERINVorrübergehend. MUSIK 05 ZITATOR PRESSE 1Am 23. Dezember 1783 tritt George Washington vor den versammelten Kongress in Annapolis. Die Anspannung der Abgeordneten ist groß. Kaum jemals hat ein siegreicher Feldherr alle Macht einfach wieder zurückgeben an eine zivile Gesellschaft. Kein Cäsar und kein Cromwell. Aber ein George Washington. Ein gutes Omen für den jungen amerikanischen Staat. 1 ERZÄHLERINUnd eine Erleichterung für seine Frau Martha. Nach langen Jahren des Krieges wird Weihnachten 1783 wieder zusammen daheim gefeiert. Zuhause auf Mount Vernon.  1 ERZÄHLERINWas in den USA weiter passiert, ist offen. Die neue Nation geht auf volles Risiko, wagt etwas Unbekanntes. Wie der Staat künftig aussehen wird? Wer ihm wie vorsteht? Eine Schablone dafür existiert nicht.MUSIK 2 ERZÄHLERINBloß der überkommene Entwurf aus dem alten Europa, den viele in Amerika nicht wollen. Genauso wie sich Europa dagegen auflehnt. Die Menschen begehren auf gegen Monarchie, Despotie und Willkür. Das absolutistische System muss weg. Frankreich ächzt unter Hungersnöten. Die Staatskasse ist leer. Der König baut groß um in Versailles. Denkmäler im eigenen Land will er sich setzen. International mitmischen auch, also beteiligt er sich am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Damit möchte Louis XVI. dem großen Rivalen Großbritannien eins auswischen. MUSIK ZITATOR INFOBeide Länder versuchen Fuß zu fassen in Nordamerika und kommen sich in die Quere. Auseinandersetzungen gibt es mit indigenen Bevölkerungsgruppen und untereinander: Wer kolonisiert wo was und wen? Die Briten erkämpfen sich die Vorherrschaft. Frankreich will Revanche und unterstützt die amerikanischen Rebellen finanziell wie militärisch. Handels- und Bündnisverträge sichern schließlich zu, dass Frankreich bis zur Unabhängigkeit an der Seite der jetzt noch abhängigen Kolonien stehen wird. In der entscheidenden Schlacht bei Yorktown verhelfen französische Truppen der amerikanischen Revolution zum Sieg. 1783 fädelt Frankreich ein, dass die Briten im „Frieden von Paris“ die Souveränität der USA anerkennen. 2 ERZÄHLERINProblem bloß: Frankreich ist nach dem amerikanischen Einsatz erst recht pleite. Die Bevölkerung begeistert sich noch mehr als eh schon für die antimonarchistische Sache. MUSIK 2 ERZÄHLERINUnd Die Zeitungen erfinden immer wildere Geschichten über die Königin: Verschwendungssucht! Sex mit Frauen. Mit Männern. Mit allen zugleich. Der Versailler Intrigenstadel bestätigt die Gerüchte.  1 ERZÄHLERINMarie Antoinette ist jung und unbedarft. Das wird ihr immer wieder zum Verhängnis. 6 ZU Lindinger 24:54Ich glaube, wie sie gemerkt hat, dass gar nix mehr geht. Ich glaube, das war erst die Halsband Affäre. 2 ERZÄHLERINWertet Biografin Michaela Lindinger. 7 ZU Lindinger 25:44Das war dann schon in Richtung auf die Revolution hin, wie man ihr unterstellt hat, sie habe mehr oder weniger das teuerste Halsband der Welt auf Kredit gekauft, was überhaupt nicht gestimmt hatten. 1 ERZÄHLERINDas Komplett ist vertrackt. Adel und Klerus übervorteilen sich gegenseitig, wer am Ende was war, weiß man nicht.2 ERZÄHLERINNur eins: Schuld an allem ist Marie Antoinette. Die von nichts eine Ahnung hat. 1 ERZÄHLERINDas will aber niemand glauben. Man traut der prunksüchtigen Königin eine solche Charade zu. 8 ZU Lindinger 25.44Ja, da war dann gar nichts mehr für sie zu machen. (26:36) Man wollte diese Königin fertigmachen. MUSIK 2 ERZÄHLERINUnd diese Königin hat nichts entgegenzusetzen. Sie kriegt in Frankreich keinen Fuß auf den Boden. Man mag sie nicht. Kollektiv. 1 ERZÄHLERINDabei hatte ihr die Mutter Kaiserin Maria Theresia eingeschärft: Sieh zu, dass die Leute Dich lieben! Die Menschen müssen ihre Monarchen lieben.  2 ERZÄHLERINAber wie bringt man die Menschen dazu? 1 ERZÄHLERINVielleicht in dem man es gar nicht erst versucht. Weil man es nicht versuchen muss. Martha Washington betreibt null Eigen-PR. MUSIK 1 ERZÄHLERINDie amerikanischen Unabhängigkeitskriege sind vorbei. George und sie leiten wieder die florierende Plantage Mount Vernon an den Ufern des Potomac, kümmern sich um die Enkelkinder, empfangen Gäste aus der Alten und Neuen Welt. Viele wollen den berühmten Feldherren sehen. Der etwas ungelenk und ein bisschen kühl wirkt. Anders als seine Frau: 06 ZITATOR PRESSE 1„Mrs. Washington ist die Güte in Person. Ihre Seele scheint damit überzufließen wie ein sprudelnder Springbrunnen.“ 1 ERZÄHLERINNotiert ein junger Besucher. 07 ZITATOR PRESSE 1„Und ihre Fröhlichkeit bemisst sich ganz nach der Zahl der Menschen, denen sie ihr Wohlwollen schenken kann“. (Brady 2005: 185) MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERINMartha wird dieses ungezwungene Leben vermissen. Ihr Mann wird gewählt. Ab 1789 ist George Washington Mister President. An seiner Seite geht es erst nach New York, Ende 1790 steht der Umzug an in die damalige Hauptstadt Philadelphia. 05 ZITATOR INFOFür angemeldete Besucher gibt es zweimal wöchentlich Empfänge zur Mittagszeit. Niemand Wichtiges darf bevorzugt oder übergangen werden. Regelmäßig stehen Theaterbesuche an. Datum und Uhrzeit erfährt man aus der Zeitung. Wenn Präsident und Gattin die Loge betreten, erhebt sich das Publikum, das Orchester intoniert „The President´s March“. 2 ERZÄHLERINPendant heute ist „Hail to the Chief”... Bälle muss das Paar geben oder Einladungen dazu folgen. Wobei: „Muss“ ist relativ, sagt die Bostoner Historikerin Catherine Algor: 9 ZU (1.07 Algor) I would say…OV wMartha Washington hat schon deshalb eine Sonderrolle, weil sie die erste der First Ladies ist. Sie muss innovativ sein, ein Protokoll erfinden. An Europas Höfen gibt es solche Protokolle längst. In Marthas DNA liegt ein steifes Zeremoniell aber nun mal einfach nicht. 10 ZU (2.14 Algor) Martha had to invent …OV wSie soll aus dem Stand Veranstaltungs- und Dialogformen ausdenken für eine neue Nation, die ausgesprochen antiaristokratisch und antimonarchisch ist. Jetzt. ATMO Pferdekutsche 2 ERZÄHLERINIhr Mann grübelt ebenfalls: Wie viele Pferde soll Mister President anspannen lassen, wenn er durch die Straßen fährt? Zehn? Zwei? Er entscheidet sich für sechs. 11 ZU Algor 20:58 He wants enoughOVwEr will genug Pferde, um anerkannt zu werden als Autorität, aber nicht so viele, dass man ihn für einen König halten könnte. Und das sind die Herausforderungen: Spricht man den Präsidenten an als Hoheit? Sollen Kongressabgeordnete Titel bekommen wie „Lord“? Das ist ja eigentlich verrückt, denn gegen all das Aristokratische hatte man ja jahrelang in der Revolution gekämpft.     MUSIK 1 ERZÄHLERINAber: Alles ist jetzt Statement. 2 ERZÄHLERINUnd Kalkül. 1 ERZÄHLERINMartha fühlt sich mit den Jahren füllig. Sie tanzt nicht mehr so gern wie früher. 2 ERZÄHLERINGeorge schon. Am liebsten Menuette bis nach Mitternacht. 1 ERZÄHLERINUms Gernemachen geht es aber nicht mehr. 12 ZU (Algor 8.28) This is a very patriarchal society…OVwDas ist damals eine patriarchale Gesellschaft. Ob das jetzt bei Hofe ist oder eine brandneue Republik: Wer Politik machen will, braucht zwei Sphären. Eine offizielle, da entstehen Gesetze und Verträge. Wichtig ist aber genauso eine zweite Ebene, die politische Prozesse überhaupt ermöglicht. Das ist meist eine inoffizielle Ebene, da finden Gespräch statt bei Partys, beim Abendessen, im heimischen Umfeld. Und hier kommen besonders die Frauen ins Spiel. 1 ERZÄHLERIN Raum geben für sozialen und damit politischen Austausch. Frauensache. Martha beherrscht das aus dem Effeff. 2 ERZÄHLERINDer neue Staat hat noch keine Bürokratie. Wer welchen Job im System bekommt, machen wenige unter sich aus. MUSIK 1 ERZÄHLERIN Bevorzugt beim Abendessen. Die Tage sind aus Marthas Sicht viel zu fremdbestimmt. Sie kümmert sich um ihren Mann, wie sie es in all den Jahren auf Mount Vernon getan hat oder während der Revolution in den Heerlagern der Armee. 1 ERZÄHLERINDas wertet sie als ihre Hauptaufgabe als First Lady. 2 ERZÄHLERINAndere sehen das anders. Plötzlich sind da Repräsentationspflichten, weil die Menschen das zu erwarten scheinen und weil Macht offenbar Repräsentation braucht. Und eine gewisse Aura. 1 ERZÄHLERIN Die – oder eine sehr ähnliche - Aura, wie sie in der alten Welt oftmals Könige und Kaiser umgab. MUSIK 06 ZITATOR INFOBis Mitte der 1770er Jahre betrachten sich viele Einwanderer in Amerika als Europäerinnen und Europäer. Etliche kommen gerade erst aus der alten Welt, die meisten aus Großbritannien und Deutschland. Selbstverständlich gilt: Herrschaft ist Aristokratie, und das wiederum meint Autorität. Nach den Unabhängigkeitskriegen ist die Frage: Die Monarchie ist man los, wer oder was soll aber nun Autorität verkörpern? Und kann oder muss man aus Europa bekannte aristokratische Modelle adaptieren – wenn auch dezent - für ein neues, republikanisches Zeremoniell? Weil einen sonst keiner als Staatsoberhaupt ernst nimmt? 1 ERZÄHLERINMartha Washington als erste Präsidentengattin nimmt es pragmatisch. Zuerst rekrutiert sie einen eigenen Stab. Mit Polly Lear verfügt sie über eine Sekretärin, die ihr vor allem bei der Korrespondenz behilflich ist. Bob Lewis wird Sekretär und Leibwächter. 2 ERZÄHLERINBuchhaltung beherrscht sie als langjährige Managerin von Mount Vernon. Mit spitzem Stift rechnet sie nach, ob die Repräsentationskosten die monetäre Ausstattung des Präsidentenamtes übersteigen. 1 ERZÄHLERINSamuel Francis ist Wirt einer Taverne. Ihn macht Martha zu ihrem Caterer um tea times auszurichten, Parties und Abendessen. 02 ZITATOR„Ich habe Bälle anlässlich des Geburtstags des Präsidenten erlebt“ - 2 ERZÄHLERINBerichtet ein französischer Besucher, der Herzog de la Rouchefoucauld-Liancourt. 03 ZITATOR„Die an Glanz der Räumlichkeiten, an Vielfalt und Pracht der Kleider keinen Vergleich mit Europa zu scheuen brauchen“. (Gerste 2000:24) MUSIK 1 ERZÄHLERINWann immer es geht, versucht Martha ein bisschen altes Leben zurückzugewinnen. Mit einigen Frauen anderer führender Politiker ist sie seit den Revolutionsjahren befreundet. Abigail Adams, Betsy Hamilton oder Lucy Knox bilden ihren inneren Zirkel. Vertraute, die es braucht. 2 ERZÄHLERINUnd die es bleiben, selbst als die Ehemänner anfangen, politisch sehr andere Richtungen einzuschlagen. MUSIK 1 ERZÄHLERINÜber Kinder reden, echte Freunde haben statt nur Intriganten in Versailles und vor den Palasttoren das aufgebrachte Volk und eine geifernde Presse - Das würde Frankreichs Königin Marie Antoinette auch gerne. Die jüngste Tochter hat sie verloren, den ältesten Sohn nach langer Krankheit ebenso. 13 ZU Lindinger 30.52Das war 1789 eben, da hat sie sagen müssen ja, mein Sohn ist tot, und es interessiert niemanden. 2 ERZÄHLERINDie Revolutionäre nehmen es als Zeichen von oben: Der Kronprinz ist tot, der Adel kann weg. 1 ERZÄHLERINMarie Antoinette will auch weg. Ins Exil, in Sicherheit mit den beiden verbliebenen Kindern. 14 ZU Lindinger 35:54Das Problem war es, dass ihr Mann nicht mitgezogen hat. Er war grundsätzlich ein unfassbar unentschlossener Mensch. Und dann ist Ludwig XVI. in einen Alkoholismus und in eine Depression verfallen. Und das war dann auch die Zeit, wo Marie Antoinette bei den diversen politischen Sitzungen präsidiert hat. Weil ihr Mann unpässlich war, wie man offiziell gesagt hat, also, der ist durch die Gegend getorkelt und ist vor den Ministern gestürzt. Es war relativ kurz vor der Revolution und dann, als die Revolution wirklich ausgebrochen ist im Juli 1789, da wollte sie fliehen. Wie alle anderen Adeligen auch. 15 ZU Lindinger 35:54Und dann ist aber der König gekommen und hat gesagt „Nein, ich bin der König von Frankreich, ich bleibe in meinem Land“. Und es geht natürlich nicht, dass sie Entscheidungen ganz allein trifft, hat sie die Koffer wieder ausgepackt. MUSIK & ATMO Revolutionsmenge ZITATOR INFOIm Oktober 1789 ziehen die Arbeiterfrauen – darunter auch viele Männer – nach Versailles. Sie singen Revolutionslieder, schlagen alles kurz und klein, holen die Pferde aus den Stallungen, schlachten und braten sie. Die Königsfamilie muss nach Paris umziehen, in den seit Jahrhunderten unbewohnten Tuilerien-Palast. Kein Schritt mehr ohne Erlaubnis. Ausflüge in den Garten oder in die Stadt – nur unter Bewachung. Nach der Versammlung der Generalstände geht die Macht über an die Volksvertretung. Eine Verfassung gilt es noch auszuarbeiten, man gestünde dem König sogar eine Art Machtposition zu. Der will von einer konstitutionellen Monarchie wie andernorts in Europa nichts wissen. Er regiert. Nein, entgegnet die Volksvertretung: Dann ist die Monarchie eben ganz vorbei. MUSIK 1 ERZÄHLERINZum ersten Mal in ihrer Zeit auf dem Thron nimmt Marie Antoinette das strategische Heft in die Hand. 2 ERZÄHLERINIhr schwedischer Geliebter Hans Axel von Fersen ist zu der Zeit wieder in Paris. 1 ERZÄHLERINDie beiden werden zum politischen Powerpaar wie George und Martha Washington. 16 ZU Lindinger 41.18Der war in Europa sehr gut vernetzt, und sie hat dann alle mögliche Geheimpost, verschlüsselte Post, nicht sichtbare Post mit Zitronensaft versucht, hinauszuschmuggeln. Und manche von diesen Briefen sind ja auch durchaus angekommen, mit den exilierten Adeligen hat es Versuche gegeben, die Monarchie in Frankreich wieder zu reinstallieren sozusagen. MUSIK 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette verhandelt, arbeitet Ideen aus zusammen mit Fersen. Fluchtrouten werden erstellt. 1 ERZÄHLERINDer König sitzt in seinem Zimmer, trinkt Wein und tut nichts. 2 ERZÄHLERINAls Frau allein gelingen Allianzen unter solchen Umständen nicht. 17 ZU Lindinger 41.18Ich glaube, dass Marie Antoinette keine reale Chance gehabt hat, sich selber wieder zu installieren als Königin. Und das hat sie dann auch eingesehen. MUSIK 2 ERZÄHLERINEin letzter Fluchtversuch aus dem Gefängnis scheitert. Das Urteil Tod durch die Guillotine ist längst gefällt. Auch auf Basis einer erzwungenen Falschaussage ihres kleinen Sohnes. Der König ist zu diesem Zeitpunkt schon hingerichtet. Einzig die älteste Tochter wird es außer Landes schaffen und die Revolution überleben. 1 ERZÄHLERINIn ihrer engen dunklen Zelle im schlichten dunklen Gewand wäre Marie Antoinette jetzt die züchtige Königin, die Frankreich immer aus ihr machen wollte. 2 ERZÄHLERINSie betet für ihre Kinder und wünscht sich eines: Ein letztes Mal den geliebten Fersen sehen. 1 ERZÄHLERINSelbst der hat aufgegeben. Und was sie nie erfahren wird, schon eine neue Herzensdame gefunden weit weg von Paris. Dort wird Marie Antoinette am 16. Oktober 1793 auf der Guillotine hingerichtet. 2 ERZÄHLERINWährend in der Alten Welt das Ende der des Absolutismus eingeläutet ist, bahnt sich in der Neuen längst ein republikanischer Anfang. MUSIK 1 ERZÄHLERINMartha Washington hätte gerne mehr Zeit für die Enkel, würde gerne endlich wieder heim auf die Plantage Mount Vernon. Sie sieht aber auch, wie sehr politische Freunde auf eine zweite Amtszeit ihres Mannes drängen, wie sehr die jungen Vereinigten Staaten noch ein bisschen länger diesen Vater der Nation brauchen, um stabil zu werden. Die Kongressarbeit läuft, aber es bilden sich Parteien heraus, die sich nichts schenken. Die Kluft zwischen Nord- und Südstaaten klafft tiefer. George berät sich mit seiner Frau. 1 ERZÄHLERINWenn er bereit ist, ist sie es auch. 2 ERZÄHLERINWie immer. 1 ERZÄHLERINIm Frühjahr 1793 ist er zum zweiten Mal der erste Mann im Staat. Die innen- und außenpolitischen Umstände sind verschärft. Die Französische Revolution radikalisiert sich zunehmend. MUSIK 07 ZITATOR INFOWeniger als eine Woche nach Georges erneutem Amtsantritt kommt die Nachricht aus Frankreich: Nach König Louis XVI. ist jetzt auch seine Frau Marie Antoinette hingerichtet worden. Viele der aristokratischen französischen Offiziere, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, sind eingekerkert und warten auf die Guillotine. In Philadelphia und anderen Städten feiern Anhänger den Sieg der französischen Revolution. Die reiche konservative Oberschicht an der Ostküste dagegen fordert lautstark, nun wieder Großbritannien zu unterstützen. Theoretisch sind die USA noch als Partner an Frankreich gebunden, das ja einst die amerikanische Unabhängigkeit unterstützt hatte.       2 ERZÄHLERINAber das Frankreich Louis XVI. gibt es nicht mehr, argumentiert Washington. Er versucht vehement, sein Land zu den französischen Ereignissen auf Abstand zu halten. 1 ERZÄHLERINMartha unterstützt ihn. Sie hat genug gesehen von Krieg. Die Gräuel in Frankreich machen sie fassungslos. Das junge amerikanische Staatswesen hat aus ihrer Sicht Europa einiges voraus. 08 ZITATOR PRESSE 1„Das außerordentliche Wissen, das sie erworben hat im Austausch mit Menschen aus aller Welt, macht sie zu einer besonders interessanten Gesprächspartnerin.“ 1 ERZÄHLERINSchreiben Journalisten über sie. 09 ZITATOR PRESSE 1„Sie hat ein lebhaftes Gedächtnis und kann die komplette Historie eines halben Jahrhunderts aufleben lassen.“ (Brady 2005:215) MUSIK 1 ERZÄHLERINIm März 1797 zieht Martha Washington mit ihrem Mann zurück nach Mount Vernon, endgültig. Ihr bekanntester Satz in den Geschichtsbüchern wird sein: 08 ZITATORIN MARTHA Bleiben sie standhaft meine Herren. George wird es auch sein. 1 ERZÄHLERINVon Marie Antoinette bleibt als prominentestes Zitat: 03 ZITATORIN MARIEWenn das Volk kein Brot hat, soll es Kuchen essen. 2 ERZÄHLERINDas hat sie so nie gesagt. 1 ERZÄHLERINEs traute ihr nur jeder zu. Und das ist typisch für Marie Antoinette, die Dauerverleumdete. Der die Presse alles unterstellte – die aber vielleicht auch einfach nur sie selbst sein wollte, doch zerrieben wurde in einem überkommenen System, das sie zeitlebens vor das Rätsel stellte: Was will die Welt denn nun von einer Königin Frankreichs? 2 ERZÄHLERINMartha Washington hatte eine ganz ähnliche Frage: Was wollen die USA von der Gattin des ersten Präsidenten? Auch sie gab einfach mal sich selbst – im Unterschied zu Marie Antoinette durfte sie das. Weil es für sie noch keine Folie gab, kein Zeremoniell und keine dynastischen Verpflichtungen, weil das Amt des Mannes es in sich hat, dass man es irgendwann abgibt, und der nächste ist gewählt. 1 ERZÄHLERINMartha und Marie – Marie und Martha: Mit der einen geht eine Ära zu Ende. 2 ERZÄHLERINMit der anderen beginnt ein neues Zeitalter.
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Nov 1, 2024 • 23min

DIE FIRST LADY UND DIE KÖNIGIN - Martha Washington und Marie Antoinette (2/3)

Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 2. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024) Credits Autorin & Regie : Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger Besonderer Linktipp der Redaktion: NDR (2024): Föhr nach New York – eine Auswanderergeschichte Erst die Weltwirtschaftskrise, dann der Zweiter Weltkrieg – mittendrin zwei junge Friesen in New York. Inge und Hermann sind unabhängig voneinander hierher ausgewandert und verlieben sich 1938. Doch dann muss Hermann für die Amerikaner an die Front. Wird er als Deutscher auf Deutsche schießen? Wie geht es weiter? Ihr Enkel Bente Faust hat ihre Spuren bis nach Harlem, New York, verfolgt und erzählt in sechs Folgen ihre Liebesgeschichte. ZUM PODCAST Linktipps: Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution  In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“  Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERINEs ist Frühling 1789: Martha Washington ist gerade angekommen in New York, dem provisorischen Amtssitz des ersten, eben erst gewählten Präsidenten der neuen Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menge jubelt ihrem Mann George und ihr zu. Sie ist die erste First Lady. 2 ERZÄHLERINBloß, dass der Begriff „First Lady“ damals noch gar nicht richtig etabliert ist und auch keiner weiß, welche Aufgaben die Ehefrau eines gewählten Präsidenten so übernehmen könnte. Soziales Engagement zeigen? Politische Ämter übernehmen? Oder nichts tun, außer an Gattenseite huldvoll lächeln? ZITATORIN MARTHA„Ich schätze nur das, was von Herzen kommt.“ 1 ERZÄHLERINBetont Martha Washington in ersten Interviews häufig. 2 ERZÄHLERINUnd jedes Mal will die Presse direkt wissen: Wofür genau schlägt dieses Herz? Die Gazetten drängen auf Privates. MUSIK 2 ERZÄHLERINNicht verwunderlich, würde eine Königin wie Frankreichs Marie Antoinette urteilten. Für sie, wie überhaupt, den europäischen Hochadel der damaligen Zeit ist klar: Privatheit gibt es bei Königs nicht. Von Gottes Gnaden meint für alle, ganz und gar. Am besten, man legt sich ein dickes Fell zu. 1 ERZÄHLERINAber gilt das auch in einem demokratischen System, wie es zu der Zeit in den USA entsteht? Martha Washington ringt lange und oft mit der Frage: Was sollen und dürfen die Menschen sehen und erfahren von einer First Lady der Vereinigten Staaten? 2 ERZÄHLERINAls Frau eines gewählten Staatsoberhauptes für eine bestimmte Zeitspanne sich völlig ausliefern? 1 ERZÄHLERINMartha wird zu dem Schluss kommen: Sie ist der Geschichtsschreibung nichts schuldig. MUSIK 1 ERZÄHLERINNach dem Tod ihres Mannes 1799 verbrennt sie die Briefe der beiden. 41 gemeinsame Jahre, hunderte Dokumente. Weil sie die Nachwelt nichts angehen. 2 ERZÄHLERINÜbrigens: Ihre Korrespondenz schreibt sie selten selbst. 1 ERZÄHLERINVielleicht ausgenommen der Liebesbriefe an ihren George, den sie wirklich gerne hat, was für damalige Ehen keine Selbstverständlichkeit ist. Ansonsten diktiert sie einem Sekretär. 2 ERZÄHLERINIn Grammatik ist sie nicht firm. Geboren am 13. Juni 1731 ist Martha das ältestes von acht Kindern eines solide gestellten Tabakpflanzers. Auf dem weitläufigen Landgut am York River erzieht sie der Vater, wie für Oberschichtmädchen in der Region gängig: 05 ZITATOR PRESSE 2Lesen und Schreiben in Grundzügen genügt. ATMO Stadt viktorianisches England 1 ERZÄHLERIN   Der Vater setzt aufs Praktische, Kaufmännische. Weil das einer vermutlich angehenden Plantagenbesitzergattin nicht schaden kann, nimmt er die junge Martha oft die paar Kilometer mit nach Williamsburg, in die Hauptstadt des Commonwealth of Virginia, der ältesten englischen Kolonie in Nordamerika. MUSIK 1 ERZÄHLERIN   Im Provinzparlament beobachtet die Tochter, wie Politik gemacht wird. Die wohlhabenden Pflanzer dominieren – wiederum untereinander abgestuft nach Hektar, Ertrag, Gewinn. Geld, Beziehungen, Hierarchien bestimmen Entscheidungen, weniger die besseren Argumente. 2 ERZÄHLERIN Spannenderweise sind es genau diese Mechanismen von „Ober sticht Unter“, die man in der neuen Welt zwar selbst bedient, die man sich aber nicht gefallen lassen will von einem Kolonialherren. Geldadel – ja. Erbaristokratie – ganz und gar nicht. ATMO Offiziersclub 1 ERZÄHLERIN So verkürzt erfährt das auch Martha, wenn der Vater sie nach den Parlamentssitzungen mitnimmt in Tavernen wie „Raleigh´s“ oder den „Apollo Room“. Am Biertisch schmieden Revolutionäre erste Pläne, um sich loszulösen vom Mutterland England.   MUSIK & ATMO 2 ERZÄHLERIN Noch liegt die amerikanische Revolution in der Ferne. Mit 17 Jahren heiratet Martha ihren ersten Mann. Dem nahezu doppelt so alten Daniel Park Curtis gehören umfangreiche Ländereien und wie bei Virginias Grundherren damals üblich eine stattliche Anzahl von Sklavinnen und Sklaven. 1 ERZÄHLERIN  Die dunkelhaarige Martha mit den warmen braunen Augen ist hübsch, einfühlsam, grundsätzlich gut gelaunt, vertritt aber – wenn geboten –einen eigenen Standpunkt. So zierlich sie ist, so zupackend kann sie sein. Geldzählen interessiert sie peripher. Gesellschaftliche Verpflichtungen kümmern sie nur, wenn man dabei ausgelassen tanzen kann. 2 ERZÄHLERINSie ist in erster Linie ein Familienmensch. 1 ERZÄHLERINEs trifft sie schwer, als zwei ihrer vier Kinder früh sterben. 2 ERZÄHLERINDieses Schicksal teilt sie mit vielen Eltern in den Kolonien. Krankheiten grassieren, die medizinische Versorgung ist sogar in den Großstädten prekär. Die Kindersterblichkeit ist hoch. 1 ERZÄHLERIN   Martha trauert lange, will für sich sein. 2 ERZÄHLERINIst aber auf einen Schlag wieder ganz gefordert. 1 ERZÄHLERIN   Der überraschende Tod ihres Manns Daniel reißt sie aus der Lethargie. Sohn Jack und Tochter Patcy sind noch klein. MUSIK 2 ERZÄHLERINMartha ist 25 Jahre alt und die mit Abstand reichste Witwe in weitem Umkreis. Mit Verve übernimmt sie die Plantagengeschäfte. Die Herren geben sich die Klinke in die Hand. Anteilnahme und Brautwerbung gehen nahtlos ineinander über. 1 ERZÄHLERINBis dann der eine kommt, 1758. Sie kennt ihn von früheren gesellschaftlichen Anlässen, hat auf Bällen mit ihm getanzt. 2 ERZÄHLERINVirginias Oberschicht ist überschaubar. 1 ERZÄHLERIN George Washington, groß, athletisch, elegant – 2 ERZÄHLERINDie Nase etwas zu lang, die Haut leicht pockennarbig – 1 EZRÄHLERINDas rotbraune Haar kess gewellt, die grauen Augen - er schaut nur eben zum Dinner vorbei und reitet, wie es die Legende will… ZITATOR WASHINGTON„Erst am nächsten Morgen weiter als die Sonne schon hoch am Himmel stand“. 1 ERZÄHLERINLiebe auf den ersten Blick? 2 ERZÄHLERINEher praktische Überlegungen? 1 ERZÄHLERINSie finden sich und heiraten. MUSIK 1 ERZÄHLERINWashingtons Vita ist bereits zum Zeitpunkt des Dinners, das bis zum Frühstück dauert, beeindruckend. 02 ZITATOR INFOLändereien in Virginia, am Potomac und am Rappahannock. Geschäftssinn in Sachen Immobilienkauf und -verkauf. Plus der Ruf eines jungen Kriegshelden. Seit fast drei Jahren tobt der Kolonialkrieg Briten gegen Franzosen. Die Lage generell: chaotisch. Für Washington aber bislang durchaus ruhmreich. Beispiel: ZITATORINDie erfolgsverwöhnten britischen Soldaten versuchen den französischen Stützpunkt Fort Duquesne in der westlichen Wildnis, hinter dem heutigen Pittsburgh zu erobern. Die Franzosen aber stellen mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung eine Falle. Die Briten verlieren die Nerven, werfen die Waffen weg oder schießen aus Versehen auf die eigenen Leute. Der Einzige, der mit seiner Einheit einen einigermaßen geordneten Rückzug hinbekommt, ist George Washington, der Colonel der Miliz von Virginia. Die Briten nennen seine Truppe aus Freiwilligen lange „Freizeitmannschaft“. Nach dem Debakel bei Duquesne nicht mehr. 1 ERZÄHLERINAm 6. Januar 1759 ist Hochzeit. Ein Leben in der Politik an der Seite eines bekannten Feldherren bahnt sich für Martha Washington an. In der neuen Welt gerät vieles in Aufruhr. Die Unzufriedenheit mit dem despotischen Kolonialherren in Großbritannien, George III., wächst. 2 ERZÄHLERINWarum an irgendeine Hoheit horrende Steuern zahlen auf alles Mögliche – für nichts? MUSIK 1 ERZÄHLERINIm alten Europa fragen sich das die Menschen auch. Sei es in England oder Frankreich. Doch durch die dicken Schlossmauern Versailles beispielsweise, wo eine unglückliche Königin Marie Antoinette ihren Platz sucht, dringen solche Stimmen selten. 2 ERZÄHLERIN Man lebt weiterhin nach der bewährten Gebrauchsanleitung für Monarchen. Was soll schon schief gehen? ATMO Marktplatz Frankreich 1 ERZÄHLERINEs sind die 1780er, die Jahre vor der Französischen Revolution. In Paris schwirrt die Luft. An Straßenecken und in Cafés tauscht man Neuigkeiten aus, tratscht. Das Lieblingsthema egal welcher Gesellschaftsschicht: Die Eskapaden der Königin. Billige Heftchen, genannt „Libelles“, bringen einen Skandal nach dem anderen. Sex, Alkohol, Intrigen – 2 ERZÄHLERINWer nicht lesen kann, lässt es sich vorlesen. Wer sich die Libelles nicht leisten kann, klaubt sie aus dem Müll. ZITATORESl'Autrichien/ Die Ausländerin/ l'étranger/ Die Fremde 1 ERZÄHLERINIst offensichtlich zu allem fähig! 2 ERZÄHLERINTatsächlich will Marie Antoinette nur endlich zu einem fähig sein: Mama werden. Die Ehe mit Ludwig XVI. ist zu lange kinderlos. Ihre Mutter in Wien, Kaiserin Maria Theresia bangt um die Allianz mit Frankreich. 1 ERZÄHLERINEin Thronfolger muss her, bitte danke! 1 ZU Lindinger 15:50Deswegen hat sie dann zum Josef II. gesagt, der war Mitregent, dann schon später Kaiser, war sehr berühmt in Österreich für eben seine aufklärerischen Prinzipien, und der ist hinuntergefahren nach Paris, hat sich getroffen mit dem Ludwig XVI. und hat ihm erklärt, wie der eheliche Verkehr funktioniert. 1 ERZÄHLERINErzählt Michaela Lindinger. Die Kuratorin des Wien Museums hat 2023 eine Biografie veröffentlicht über Marie Antoinette. 2 ZU Lindinger 15:50Da gibt's einen Brief, den er geschrieben hat an seinen anderen Bruder zwar Leopold II., der war später auch Kaiser. Damals war er noch Fürst in der Toskana, und der Brief lässt wirklich an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und am Schluss steht halt dann ja, seine Schwester sei ja auch eine unfassbar leidenschaftslose Person, und gemeinsam sind sie die größten Stümper, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Es ist ein sehr, sehr böser Brief. Aber trotzdem es hat etwas gebracht. Es sind ja dann doch in relativ kurzer Zeit mehrere Kinder hintereinander zur Welt gekommen. MUSIK 2 ERZÄHLERINEndlich erfüllt die französische Königin die Erwartungen eines Volkes, das gar nicht ihres ist oder sein will. „Die Österreicherin“ nennt Frankreich Marie Antoinette hartnäckig. Am Versailler Hof fasst sie nicht Fuß, in den Straßen und Gassen Paris und an etlichen anderen Orten im Land köchelt bereits der Aufstand gegen das überkommene System der Monarchie. 1 ERZÄHLERINWährend in Frankreich eine Epoche zu Ende geht, beginnt einen Kontinent weiter eine neue: Die jungen Vereinigten Staaten von Amerika wählen ihren ersten Präsidenten an die Spitze des neuen Staates. An seiner Seite Martha Washington als – ja was? Das Konzept der First Lady wird sie definieren, während im alten Europa mit Marie Antoinette des Konstrukt Königin zu Grabe getragen wird zumindest in Frankreich. Zwei Frauen – zwei Schicksale, sehr verschieden, aber in vielem auch ganz ähnlich. 2 ERZÄHLERINTreffen werden sie sich nie. 1 ERZÄHLERINVerstanden hätten sie sich vielleicht. MUSIK & ATMO Kinder 2 ERZÄHLERINBeide sind Familienmenschen. Martha Washington, weil sie es liebt und sein darf. Marie Antoinette gegen alle Konventionen. Sie stillt ihre Kinder – 1 ERZÄHLERINEin No Go für französische Königinnen. 2 ERZÄHLERINSie liest den vier Kleinen vor, musiziert mit ihnen, tollt zusammen durch den Park. Kümmert sich um den Ältesten, der an einer Erbkrankheit leidet und nicht laufen kann – was das Volk nicht wissen darf. 1 ERZÄHLERIN Besser gestellte Damen in Paris sind längst beides: Begeisterte Mutter und Grand Dame. 2 ERZÄHLERINIn Versailles meckert man. Marie Antoinette ist von vornherein abonniert auf Kritik. Eine festgelegte Aufgabe für Königinnen gibt es nicht. Was soll sie machen? Hofzeremoniell? Weil das einengend ist und der Ehemann desinteressiert, schafft sie sich eine eigene Welt. MUSIK  2 ERZÄHLERINSie lässt einen pompösen Gartenpalast bauen und trifft in diesem Trianon ausgesuchte Freundinnen und Freundin. 1 ERZÄHLERINWählerisch ist die Königin nicht. Lust an Spiel und Tanz und neuster Mode genügt.  2 ERZÄHLERINEine Gast ist besonders: Der schwedische Diplomat Hans Axel von Fersen. 3 ZU Lindinger 17:35Es war ihre große Liebe, mit dem sie innerlich sehr eng verbunden war und ihr Mann, der natürlich selber gewusst hat, er kann sie nicht glücklich machen. Also er hat diese Beziehung zum Fersen ja auch definitiv erlaubt. 2 ERZÄHLERINFersen wird ihre Konstante sein. Als er Anfang der 1780er Jahre nach Amerika geht, um dort zu kämpfen für die Unabhängigkeit der Kolonien, fiebert Marie Antoinette mit. Freiheit – das ist ihr großer Wunsch, ihr Antrieb. Leben wie man will und sagen was man möchte und entscheiden, handeln und dafür nicht ständig angegriffen und verleumdet werden. 1 ERZÄHLERINMan kann alles auswarten, hat ihr die Mutter, Kaiserin Maria Theresia beigebracht. 2 ERZÄHLERINDie Wiener Boulevardzeitungen sind jedoch milde im Vergleich. Die französischen Spottschriften überbieten sich an reißerischen Fake News.   4 ZU Lindinger 24:54Es ist ein Pamphlet erschienen. Und das hieß „Vor Sonnenaufgang“. Da hat man so beschrieben wie sie mit ihren jugendlichen Freunden in irgendwelche Gebüsche in Versailles Schlosspark kriecht und sich dort mit Männern und Frauen vergnügt. Das war ein sehr, sehr langes Pamphlet, das so zahlreiche unterschiedliche sexuelle Beziehungen verdeutlicht hat. Und es ist immer wieder zitiert worden am Hof. MUSIK 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette bekommt Angst. Der König wimmelt sie ab. 1 ERZÄHLER  Er ist froh, als der enge Freund seiner Frau, Fersen, endlich aus den USA zurückkehrt und sich mit ihr beschäftigt. 2 ERZÄHLERIN Sie auch. MUSIK 5 ZU Lindinger 48.50Es war ihre Art der persönlichen Rettung. Ja, wenn ich mit einem Mann verheiratet bin, der so ist wie Ludwig XVI. - und wenn ich gleichzeitig diese ganze Hofgesellschaft rund um mich habe, die mich jeden Tag nur fertig macht. Und dann weiß ich auch noch, dass diese Hofgesellschaft in Paris die Journalisten zahlt, die Lügen über mich verbreiten. Ich glaube diese Beziehung mit dem Fersen, das war das große Glück in Marie Antoinettes Leben. Auf Dauer nicht, der war ja viel weg. 2 ERZÄHLERINFersen wird tatsächlich auch diesmal bald abkommandiert, er muss den schwedischen König auf einer Europa-Reise begleiten. Marie Antoinette lenkt sich ab: Sie designt Kleider, sitzt für Portraits, tobt im Garten mit den Kindern, abends ist Party. 1 ERZÄHLERINÜber die am nächsten Morgen die wildesten Gerüchte in den Spottzeitungen stehen. Das Leben der Königin von Frankreich: Ein infernalisches Chaos! MUSIK & ATMO 1 ERZÄHLERIN  Ganz anders das Eheleben der später ersten First Lady der USA, Martha Washington in den 1770er Jahren. Sie muss nicht lange überlegen, was ein Zeitvertreib sein könnte. Einen Ersatzalltag, eine Flucht braucht sie nicht. Sie hat reichlich Aufgaben auf der Plantage Mount Vernon. Um vier Uhr morgens steht sie auf, kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, sie ist auch die, die die Arbeitseinteilung der Sklaven organisiert, die vorwiegend auf den Feldern schuften müssen. Ihrem Mann hält sie den Rücken frei. Der engagiert sich politisch als Abgeordneter des House of Burgesses in Virginia. Höhen und Tiefen gehen beide an. An einem strahlenden Sommertag 1773 beim Familiendinner hat Marthas Tochter aus erster Ehe, Patcy, einen epileptischen Anfall. Wie oft. Nur diesmal weit heftiger als sonst. Der Teenager stirbt in den Armen des Stiefvaters. 2 ERZÄHLERINEs ist eine persönliche Tragödie. Auch Königin Marie Antoinette wird Kinder zu Grabe tragen, aber immer unter den Augen der französischen Öffentlichkeit. Der Fortbestand der Monarchie hängt an gesundem Nachwuchs. 1 ERZÄHLERINMartha und George Washington bewältigen den Schmerz über den Verlust gemeinsam, reden viel. Darüber und alles andere.  MUSIK 03 ZITATOR INFODie politische Situation spitzt sich zu. Im Dezember 1773 entern erboste Bürger im Hafen von Bosten Handelsschiffe und werfen deren Ladung ins Wasser: Es ist Tee aus Indien, den die britische Krone mit eklatanten Steuern belastet hat. In Virginia bilden sich Fronten. Auf der einen Seite steht der Gouverneur, der die Kolonie verwalten soll, zusammen mit englandtreuen Loyalisten. Auf der anderen Seite eine Opposition, die auf die Einhaltung ihrer Rechte pocht, sich den Menschen in Boston an die Seite stellt und Zulauf bekommt, aus den verschiedensten Schichten. Ihr Slogan: Keine Besteuerung ohne Repräsentation. Ihr Ziel: Entweder Mitspracherecht im britischen Parlament oder kein britischer König mehr als Kolonialherr. Der Erste Kontinental-Kongress in Philadelphia will ein gemeinsames Vorgehen der 13 Kolonien beraten gegen ein zunehmend repressives Mutterland Großbritannien. George Washington ist eingeladen als Repräsentant von Virginia. 2 ERZÄHLERINAm Vorabend des Kongresses treffen sich einige Delegierte auf Mount Vernon und diskutieren: 1 ERZÄHLERINÜberhaupt am nächsten Tag hinzufahren – das ist keine einfache Entscheidung. 2 ERZÄHLERINSchon die Teilnahme am Kongress werden die Engländer ansehen als Verschwörung zum Hochverrat. 1 ERZÄHLERIN     Washington entscheidet sich für Philadelphia. 2 ERZÄHLERIN  Seine Kollegen auch. 1 ERZÄHLERINUnd Martha. Als sich die Gesellschaft am Morgen auf den Weg macht dorthin, sagt sie ihren wohl berühmtesten Satz: 04 ZITATORIN MARTHA  „Bleiben Sie standhaft, Gentlemen – ich weiß, dass George es sein wird.“ MUSIK ZITATOR INFOIm Frühjahr 1775 eskaliert die Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und den Kolonien. Washington wird Oberbefehlshaber einer Armee, die er erst aufbauen muss. Und die der größten Militärmaschinerie der Welt trotzen soll. Er zieht direkt ins Feldlager der Freiwilligenarmee von Boston. MUSIK 1 ERZÄHLERINMartha folgt ihm – und später von Heerlager zu Heerlager. Sie pflegt verwundete Soldaten, spendet Trost, stopft Socken. Sie kümmert sich um die Menschen und um militärische Belange. Bei den strategischen Planungssitzungen in Washingtons Hauptquartier sitzt ist sie gerne dabei. Sie sitzt bei ihrem Mann an der Tafel, wenn bedeutende Besucher ins Heerlager der Kontinentalarmee kommen, etwa amerikanische Befehlshaber oder in der späteren Phase des Krieges französische. 2 ERZÄHLERINDer aus Deutschland stammende General von Steuben nennt sie: 01 ZITATOR„Eine römische Matrone!“ 1 ERZÄHLERINDas Kompliment amüsiert sie. Als Tochter eines Tabakpflanzers, Witwe eines Gutsbesitzers und nun wieder Frau eines solchen ist sie reine Männerrunden gewohnt. Ob Geschäftspartner daheim beim Diner – gewinnbringend – zu unterhalten oder eben jetzt am Tisch im Zelt des Kommandanten strategische Wogen zu glätten – Martha Washington schüttelt sowas aus dem Ärmel. 2 ERZÄHLERINWobei die Revolution langsam mal rum sein könnte. MUSIK 05 ZITATORIN MARTHA„Ich hoffe und vertraue darauf, dass alle Staaten den großen Durchbruch schaffen, die britischen Grausamkeiten stoppen und uns Frieden, Freiheit und Freude bringen, nach denen wir uns so lange bereits sehnen“. 1 ERZÄHLERINSchreibt Martha Washington in ihren Briefen. 06 ZITATORIN MARTHA „Ich wünschte, der Krieg ginge zu Ende.“ 2 ERZÄHLERINDer zieht sich. Mehrfach ist die Moral der Truppe am Boden. Es fehlt an Ausrüstung und Lebensmitteln, die Niederlagen gegen die oft übermächtig erscheinenden Briten sind schmerzlich. George Washingtons Charisma reißt seine Männer ein ums andere Mal mit. MUSIK 1 ERZÄHLERIN Und vielleicht überzeugt die Soldaten auch der unerschütterliche Glaube seiner Frau an ihn – nach wie vor gilt ihr: 07 ZITATORIN MARTHA  „Bleiben Sie standhaft, Gentlemen – ich weiß, dass George es sein wird.“ 2 ERZÄHLERINMarie Antoinette hat keine Ahnung, auf was sie sich bei Louis XVI. verlassen kann und ob überhaupt. Arrangierte Adelsehen sind politisch, nicht pathetisch. 1 ERZÄHLERINAltbewährtes Konzept. 2 ERZÄHLERINNein, es macht sie nicht glücklich – aber: … Was soll schiefgehen?

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