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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Apr 19, 2024 • 23min

JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Die Fischacher Laubhütte

Sie ist das wohl weitest gereiste Schmuckstück des "Israel Museum" in Jerusalem: eine aufwendig bemalte Laubhütte aus dem bayerisch-schwäbischen Fischach. Irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab der Kaufmann Jakob Deller diese "Sukkah" in Auftrag. Mit der rituellen Nutzung einer solchen Laubhütte erinnern gläubige Jüdinnen und Juden an den Auszug aus Ägypten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Laubhütte durch einen waghalsigen Transport per Zug und Schiff nach Palästina gebracht. Von Lukas Grasberger (BR 2023)Credits Autor: Lukas Grasberger Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Susanne Schroeder, Annette Wunsch Technik: Roland Böhm Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Rahel Sarfati, Bernhard Purin, Klaus Wolf, Bernd Päffgen, Naomi Feuchtwanger-Sarig Ein besonderer Linktipp der Redaktion: Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER. Linktipps: Die Fischacher Laubhütte im Isreal Museum, Jerusalem Jüdisches Leben in Fischach, Infos des Hauses der Bayerischen Geschichte Literaturtipp: Heike Specht (2006): Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis. Wallstein Verlag Sie waren Stammgäste im Hofbräuhaus, fühlten sich in den Alpen wie zu Hause, liebten die Theater und Museen der Stadt, pflegten die landesübliche Feindschaft gegenüber Preußen und in »unserem München« galt ihnen auch der Berliner Jude als Zugereister. Über drei Generationen verband die Familie Feuchtwanger eine strenge jüdische Orthodoxie mit einer ausgeprägt bayerisch-barocken Lebensweise. Die Geschichte der Feuchtwangers ist aber auch eine Geschichte von Familienzusammenhalt und Familienzwist, von arrangierten Ehen und leidenschaftlicher Liebe, von glänzenden Erfolgen und bitteren Niederlagen. Hier geht’s zum BUCH. Rachel Sarfati (2013): Restoring the Fischach Succa In early 2004 the Israel Museum presented the exhibition “Succot from around the World.” A painted wooden succa that had been part of the permanent exhibition for many years was taken apart and rebuilt in the exhibition hall. When the exhibition closed, it was decided that the succa’s being dismantled and the museum’s being closed for renovations provided a fortuitous opportunity to have the 19th-century succa sent out for restoration - this revealed an intriguing history. Hier geht’s zum ARTIKEL. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:39 – Ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnenTC 05:15 – Die Kunst aus FischachTC 09:20 – Ein Inventar für jüdische KulturTC 13:15 – Holz, das die Welt verbindetTC 21:50 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Musik ErzählerinDer Münchner Hauptbahnhof, ein Tag im Jahr 1937. Reisende wuseln zu ihren Bahnsteigen, Abschiede allerorten, herzlich hier, wehmütig dort. Eine Mutter mit fünf Kindern und schwer beladen erregt Aufmerksamkeit. Berta Fränkel ist Jüdin – bald wird sie den Zug nach Triest besteigen, um dann per Schiff nach Palästina auszuwandern: Ob ihres sperrigen Gepäcks argwöhnisch beäugt von der allgegenwärtigen nationalsozialistischen Ordnungsmacht. O-Ton 1 Rachel Sarfati, Kuratorin, Israel Museum, Jerusalem engl. Sprecherin dt. OV„...und dieser Polizist beobachtete sie eine Weile, wie sie ihre Sachen in einer riesigen Holzkiste verstaute. Er ging zu ihr, und fragte Berta Fränkel: „Warum schleppen Sie diese riesige Holzkiste in die neue Heimat?“ Und sie antwortete: „Dort, in der Wüste, gibt es kaum Bäume. Ich brauche dieses Holz, um mir dort, in Israel, ein neues Haus zu bauen.“ Musik ErzählerinDer neugierige Polizist gab sich zufrieden, und ließ ab von Berta Fränkel. Dadurch entging ihm – Überlieferungen zufolge - der wahre Charakter der vermeintlichen Frachtverpackung. O-Ton 2 Sarfati Sprecherin OV„Die Innenseite dieser Holzplanken war nämlich kunstvoll bemalt. Es waren die Wände einer Sukkah, einer Laubhütte. Es war sehr mutig, sie so außer Landes zu schmuggeln. Denn damals hatten die Nazis den Export von Kulturgütern bereits untersagt. Durch diese Aktion Berta Fränkels blieb die Sukkah erhalten: Als eine von ganz wenigen Laubhütten, die die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg überleben sollten. Bis heute ist die Fischacher Sukkah ein faszinierendes Ausstellungsobjekt.“ Erzählerin ...sagt die israelische Historikerin Rachel Sarfati, Kuratorin am Jerusalemer Israel Museum, wohin die aus Bayerisch-Schwaben stammende Laubhütte letztlich auf abenteuerlichen Wegen gelangen wird. Mit Objekten wie der Fischacher Laubhütte beschäftigt sich auch die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in einem Teilprojekt namens „Spurensuche“. TC 02:39 – Ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen Musik Doch: Was ist das überhaupt - eine Laubhütte? Und welche Rolle spielt eine „Sukkah“ in der jüdischen Kultur und Religion? O-Ton 3 Bernhard Purin, Leiter Jüdisches Museum München, Teil 1„In der Bibel ist – unter den vielen Geboten die man dort findet – ein Gebot: „Und ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen“. Das soll an den Auszug aus Ägypten und die Rückkehr ins Heilige Land erinnern.“ Erzählerin ...erklärt der Kulturwissenschaftler Bernhard Purin. Er leitet das Jüdische Museum München. O-Ton 3 Purin Teil 2„Darum gibt’s jedes Jahr im Herbst das Laubhüttenfest, wo man aus seinem Haus quasi auszieht, und im Garten oder vor dem Haus, am Balkon – oder wo auch immer – eine Holzhütte aufstellt, die als besonderes Merkmal hat, dass sie kein Dach hat. Sondern nur ein Gitter, auf dem Laub liegt.“ O-Ton Bernd Päffgen NEU 1„Die Laubhütte wird eine Woche lang aufgestellt, vom 15. bis 21. Tag im jüdischen Herbstmonat Tischri. Hier geht es, ja, um Erntedank, vor allem aber um Gastfreundschaft. Diese einmal ganz konkret, im Kreis der eigenen Familie. Aber auch enge Freunde werden eingeladen.“ Erzählerin...ergänzt der Münchner Archäologieprofessor Bernd Päffgen, der die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ leitet. O-Ton Päffgen NEU 2„Und dann gibt es aber auch den höheren Sinn: Man lädt auch Abraham, Isaak, Jakob, Moses, Aaron, Josef und David ein. Man feiert nicht nur, man besinnt sich, bekennt sich zum jüdischen Glauben.“  Musik ErzählerinIn der Laubhütte wird gebetet, gegessen, und zuweilen auch übernachtet. Was in unseren Breiten zuweilen empfindlich kalt werden kann – wenn das Laubhüttenfest dem jüdischen Kalender gemäß, in die zweite Oktoberhälfte fällt. Hierzulande nutzt und nutzte man daher auch Dachböden mit zum Himmel offenen Luken als Laubhütten. Doch auch die traditionellen, mobilen Holz-Sukkot waren verbreitet, erklärt Bernhard Purin. Diese boten ein Erscheinungsbild... O-Ton 4 Purin„...ähnlich wie man sich heute Gartenhütten vorstellen kann: Die außen ganz einfach waren, mit Fenster und einer Tür. Zerlegbare Hütten, die man im Garten aufgestellt hat. Die innen aber oft sehr reich bemalt waren, mit Bildern, die auf die Feiertage, auf´s Laubhüttenfest Bezug nehmen. (…) Man hat großen Wert auf diese Laubhütten gelegt – und die auch sehr schön ausgestaltet.“ TC 05:15 – Die Kunst aus Fischach ErzählerinWohlhabendere Juden beauftragten Maler, um die Innenseiten der Laubhütten künstlerisch auszuschmücken. Wie etwa der Kaufmann Jakob Deller aus Fischach, einem Dorf gut 20 Kilometer südwestlich von Augsburg. Dort, im ländlichen Bayerisch-Schwaben, waren Juden von christlichen Grundherren aus wirtschaftlichen Motiven angesiedelt worden, erklärt der Augsburger Mittelalter-Experte und Universitätsprofessor Klaus Wolf.    O-Ton 5 Klaus Wolf, Prof. für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern, Uni Augsburg„Wir wissen ja, dass ab 1438/40 die Juden aus der Reichsstadt Augsburg vertrieben wurden. (…) Fischach gehörte zu Bayerisch-Schwaben, das damals natürlich kein Bestandteil von Bayern war, sondern weite Teile gehörten zum sogenannten Vorder-Österreich, waren also Habsburgisch. Und in diesen Territorien wurde es den Juden ermöglicht, sich anzusiedeln. Das hat die Obrigkeit natürlich nicht aus philanthropischen Gründen getan, sondern der steuerlichen Einnahmen wegen.“ Musik ErzählerinJüdische Familien eröffneten für das wirtschaftliche Leben des Ortes bedeutsame Betriebe: Bald gab es jüdische Metzger und Bäcker, dazu kamen Textilgeschäfte, Viehhandlungen – oder der Laden für Zigarren, Wein und Spirituosen des Kaufmanns Deller. Fischach wuchs und florierte. Mitte des 19. Jahrhunderts war nahezu die Hälfte der gut 500 Einwohner jüdisch. Juden engagierten sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: In der Freiwilligen Feuerwehr, im Gemeinderat. Es gab eine israelitische Volks- und Religionsschule, eine Synagoge und auch einen jüdischen Friedhof. Und die Juden von Fischach begingen ihre Feiertage – wie das Laubhüttenfest. Die wohlhabenderen, weiß Bernd Päffgen, gaben bei örtlichen Künstlern und Handwerkern hölzerne Laubhütten in Auftrag. O-Ton 6 Prof. Bernd Paeffgen, Prof. für Archäologie, LMU München und Co-Sprecher der Ad hoc-AG „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“, BAdW„In der Biedermeierzeit, da beauftragten kurz vor 1840 Jakob und Esther Deller in Fischach einen einheimischen Schreiner mit dem Bau dieser Laubhütte. Ein schwäbischer Maler bekam den Auftrag, die Innenwände der Sukkah in diesen sehr kräftigen Farben zu gestalten. (…) ErzählerinWie damals auch in Kunstwerken der christlichen Kultur nicht unüblich, ließ sich auch der Auftraggeber der Fischacher Laubhütte, Jakob Deller, mit seiner Frau Esther in seiner Sukkah verewigen. O-Ton Päffgen NEU 3„Zu sehen ist da eben Fischach, mit dem jüdischen Viertel und der Synagoge. Das ist gewissermaßen ein kleines Jerusalem in Bayerisch Schwaben, das da dargestellt ist. (…) Und Frau Deller steht mit weißer Kittelschürze stolz vor der Eingangstüre ihres Hauses - so als will sie gleich Gäste in Empfang nehmen. Und ein ganz vornehmer Herr mit Gehrock und Zylinder geht mit einem Jäger und Jagdhund in den westlichen Wäldern auf die Jagd.ErzählerinKlaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern und Vorsitzender der Synagogenstiftung im schwäbischen Ichenhausen ergänzt: O-Ton 7 Wolf„Ja, das ist so die Zeit zwischen Wiener Kongress und 1848, und das ist hier wunderbar eingefangen. Und das ist in dieser Form, will ich sagen, einzigartig. Es ist ein ganz wichtiges Zeitdokument und auch ein wichtiges kunstgeschichtliches Dokument.“ O-Ton 8 Naomi Feuchtwanger-Sarig, Kunsthistorikerin, Jerusalem, engl., Sprecherin dt. OV„Die Darstellungen sind einerseits eingebettet in die örtliche Umgebung, sehr typische Volkskunst aus dieser Region Deutschlands. Buchstäblich auf der anderen Seite der Sukkah findet man aber Bilder aus Jerusalem wie den Felsendom - oder biblische Motive wie etwa Moses auf dem Berg Sinai oder jüdische Festtage. Wie die Fischacher Sukkah solche Szenen verschmilzt: Das ist sehr besonders – und einzigartig.“ TC 09:20 – Ein Inventar für jüdische Kultur Musik Erzählerin Die Einzigartigkeit der Fischacher Sukkah, von der die Kunsthistorikerin Naomi Feuchtwanger-Sarig hier spricht: Sie musste auch ihrem Großvater Heinrich Feuchtwanger bewusst gewesen sein, als er sie entdeckte. Dieser hatte vor rund hundert Jahre eine Mission: zusammen mit dem Kunsthistoriker Theodor Harburger reiste er quer durch Bayern, um jüdische Kunst- und Kulturdenkmäler zu inventarisieren. Von Feuchtwangers und Harburgers akribischer Arbeit profitiert der Münchner Museumsleiter Bernhard Purin für ein Editionsprojekt zu den Inventaren der bayerischen Synagogen noch heute. O-Ton NEU Purin Er hat an die 3000 Objekte schriftlich beschrieben, handschriftlich auf kleinen Zetteln, die er mit nach Palästina genommen hat. Die seit vielen Jahrzehnten in einem Archiv in Jerusalem liegen. (…) Und es ist ein Ziel von unserem Projekt, herauszufinden, welche Objekte noch erhalten sind. ErzählerinWas nach einer nüchternen schlicht bürokratischen Aufgabe klingt, war dennoch fundamental, um jüdische Kultur zu bewahren -  auch diese Fischacher Laubhütte, wie sich später herausstellen wird. Denn zu jener Zeit der Weimarer Republik lösten sich die jüdischen Landgemeinden in Bayern auf – ursprünglich mehrere Hundert an der Zahl. Da viele Juden seit dem 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert waren und auch immer mehr Landjuden in Städte wie München oder Nürnberg zogen. O-Ton 9 Purin„Und dann hat irgendwann mal im ausgehenden 19. Jahrhundert der Punkt begonnen, wo Antiquitätenhändler durchs Land gezogen sind und von den letzten Gemeindemitgliedern die Sachen abgekauft haben. Und da hat dann der Landesverband der jüdischen Gemeinden gesagt: Das müssen wir verhindern und hat Anfang der 20er Jahre die Regelung beschlossen, dass sich auflösende Gemeinden ihre Ritualgegenstände an den Landesverband geben müssen. Aber so eine Vorschrift kann man nur vollziehen, wenn man weiß, was es gibt. Und darum hat man dann den Kunsthistoriker Theodor Harburger beauftragt. Der hat über 200 Synagogen besucht und hat genaue Inventare gemacht und hat dann aber auch, wenn er an den einzelnen Synagogenorten war, sich so ein bisschen umgesehen, weil ihn das als Kunsthistoriker interessiert hat, was in Privatbesitz ist. Und so hat er dann die Fischacher Laubhütte gesehen.“ ErzählerinDie bevorstehende NS-Herrschaft, die Zerstörung der jüdischen Kultur, die Shoah: Sie waren also nicht der Anlass der Bestandsaufnahme. Spätestens mit Beginn der NS-Diktatur muss Heinrich Feuchtwanger aber die existentielle Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland geahnt haben. Noch zu Zeiten der Weimarer Republik plante Feuchtwanger ein Museum, das die Vielfalt jüdischer Kultur und Geschichte darstellt und bewahrt – ähnlich dem jüdischen Museum, das 2007 schließlich am Münchner Jakobsplatz eröffnet wurde. Seine Enkelin Naomi Feuchtwanger-Sarig erinnert sich. O-Ton 11 Feuchtwanger-Sarig OVSprecherin dt. OV„Er und Harburger hatten versucht, ein solches Museum in München zu etablieren, aber es kamen schreckliche Zeiten auf. Deshalb streckte mein Großvater seine Fühler zum Museum nach Palästina aus, denn dorthin hatte er bereits Kontakte. Er selber war bereits 1935 emigriert, seine Familie folgte Anfang 1936. Erzählerin Die Fischacher Laubhütte, so hatte er es geplant, sollte einen Platz im Museum in Palästina finden. Fortsetzung O-Ton 11Sprecherin dt. OVDoch wie sollte er jetzt die Sukkah heraus aus Deutschland bekommen? Er fragte Berta Fränkel, eine enge Verwandte, die in München lebte, und ebenfalls auf dem Sprung nach Palästina war, ob sie die Laubhütte nicht mit einpacken könnte. Und so entstand die Idee, die Laubhütte als Kisten-Verpackung zu tarnen.“   TC 13:15 – Holz, das die Welt verbindet Musik Erzählerin Es sollte noch bis 1937 dauern, bis die Fischacher Sukkah ins damals britische Mandatsgebiet Palästina gelangte. Der Transport war ein heikles Unterfangen. Denn die Nationalsozialisten hatten schon ein Auge auf die Feuchtwangersche Sammlung geworfen und bereits einige wertvolle Goldmünzen beschlagnahmt. Die Sorge, auch die Sukkah könnte den Nazis in die Hände fallen, war groß. O-Ton 13 Päffgen„... Man hat die einzelnen Bretter auseinandergenommen und hat daraus großformatige hölzerne Transportkisten (...) gemacht, die nach Palästina ausreisten, die bemalten Innenseiten, die hat man mit billigem Stoff bespannt, damit die nicht beschädigt wurden, aber auch nicht gesehen werden konnten. Und die Kisten wurden dann also von München nach Jerusalem verschifft. Kontrolliert wurde natürlich nur der Inhalt. An diesen Holzkisten war man natürlich nicht interessiert, und so kam die Fischacher Sukkah nach Jerusalem, da wurde sie wieder zusammengesetzt, und zunächst verwahrte sie Doktor Heinrich Feuchtwanger bei sich, in seinem Haus.“ Erzählerin...ergänzt der Archäologe Bernd Päffgen, der zur jüdischen Geschichte in Bayern forscht. Die Laubhütte aus Bayerisch-Schwaben sollte schnell zum Schmuckstück und Anziehungspunkt im Bezalel Museum werden. Der Münchner Museumsleiter Bernhard Purin schreibt es der unermüdlichen Inventarisierungs-Arbeit von Feuchtwanger und Harburger am Vorabend der Shoah zu, dass die Sukkah, zahlreiche liturgische Gegenstände, weltliche wie religiöse Kunst und Kunsthandwerk gerettet und nach Palästina gebracht werden konnten. O-Ton 14 Purin„Das gab´s nur in Bayern, an keinem anderen Ort Deutschlands. Und Harburger ist dann immer an den Ort Deutschlands gefahren, wo es Synagogengemeinden gab, (...) und Stücke, die ihm interessant erschienen, hat er dann auch fotografiert. Und wir haben schon vor fast 25 Jahren die Fotos veröffentlicht: So circa 800. Und da kann man mit Erstaunen feststellen, dass sich doch relativ viel erhalten hat.“ ErzählerinWie die Fischacher Laubhütte, deren wechselvolle Geschichte mit ihrer Ankunft in Palästina noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Für Naomi Feuchtwanger-Sarig ist diese Geschichte auch eine Familiengeschichte. Die Sukkah aus Schwaben: Sie ist der Enkelin von Heinrich Feuchtwanger seit ihrer Kindheit präsent. O-Ton 15 Feuchtwanger-Sarig Teil 1 Sprecherin OV„Ich erinnere mich an lebhafte Diskussionen, als ich ein kleines Mädchen war. Ich habe nicht viel verstanden – aber es ging wohl darum, ob man die Sukkah noch einmal nach Deutschland transportieren sollte. In Köln war für das Jahr 1964 eine Ausstellung von jüdischem Kulturgut geplant, bei der die Fischacher Laubhütte gezeigt werden sollte. Mein Vater – damals Kurator im Bezalel-Museum, wo diese Sukkah ausgestellt war – war vor allem aus konservatorischen Gründen dagegen, denn sie war in relativ schlechtem Zustand. ErzählerinDie Fischacher Laubhütte erneut auf Reisen nach Deutschland zu schicken – das war für Heinrich Feuchtwanger aber auch aus einem anderen Grund problematisch, sagt seine Enkelin. O-Ton 15 Feuchtwanger-Sarig Teil 2 Sprecherin OV„Als Jude, der vor den Nazis geflohen war, war er der Meinung, dass aus Deutschland gerettete jüdische Kulturgüter nicht mehr dorthin zurückkehren sollten. Er hat sich dann letztlich doch gebeugt. Er konnte überzeugt werden davon, dass mit einer erneuten Reise dieser Sukkah nach Deutschland quasi eine verbindende Brücke gebaut werden könnte. Mein Großvater wollte dieses Zeugnis des Judentums all dem Hass, all der Entfremdung entgegenhalten, und er reiste zur Vorbereitung der Ausstellung Anfang der 60er-Jahre dann auch selber in die Bundesrepublik. Diese Reise war sehr schwer für ihn, und möglicherweise emotional zu anstrengend. Er ist kurz danach gestorben.“  ErzählerinHeinrich Feuchtwangers Sorge um die Unversehrtheit der Fischacher Sukkah – sie sollte sich letztlich als berechtigt herausstellen. O-Ton 16 Sarfati Sprecherin OV„Die Ausstellungsmacher in Köln haben quasi als Dankeschön eine Restaurierung der Laubhütte vorgenommen. So kam es zu diesen, sagen wir mal, unprofessionellen Veränderungen der Fischacher Sukkah.“ Erzählerin…weiß die Jerusalemer Kuratorin Rachel Sarfati. O-Ton 17 Safarti Sprecherin OV„Ich habe eine neue Farbschicht entdeckt, die viele Fehler enthielt. Farben wurden von Hell nach Dunkel, und von Dunkel nach Hell verändert.“ ErzählerinVeränderungen, die zunächst unbemerkt blieben, sagt die Kunsthistorikerin Naomi Feuchtwanger-Sarig. Es erstaune sie, dass die „Verschlimmbesserung“ der Malereien bei einem so bekannten Objekt – das zudem als Leihgabe in anderen Museen ausgestellt war – zunächst niemandem auffielen. Naomi Feuchtwanger-Sarig veröffentlichte zwar 1988 eine Forschungsarbeit zur Sukkah aus Fischach und deren schicksalhafter Historie. Dass die Laubhütte vor Jahrzehnten unsachgemäß übermalt worden war – das fiel indes erst Mitte der 2000er-Jahre auf. Damals wurde die Sukkah abgebaut, um sie während der Renovierung des Museums routinemäßig einer Überholung zu unterziehen. O-Ton 19 Feuchtwanger-Sarig Sprecherin OV„Ursprünglich wollte man nur das Holz konservieren. Es war dann ein großer Schock, als man bei der Reinigung der Paneele entdeckte, dass es unter der oberen Farbschicht eine weitere gab.“ ErzählerinDie weitgereiste Fischacher Laubhütte ging daher erneut auf große Fahrt. Diesmal auf Erholungsurlaub, sozusagen. O-Ton 20 Sarfati Sprecherin OV „Ja, die Sukkah und ich, wir haben dann eine nette Zeit zusammen in Frankreich verbracht“ (lacht). Aber im Ernst: Israel ist ein sehr junger Staat, wir haben daher keine Tradition und Erfahrung mit Holzmalerei. Deshalb haben wir ein Labor im Ausland gesucht – und eines in West-Frankreich gefunden. Musik ErzählerinDie Restaurierung zog sich hin. Dass die Fischacher Laubhütte in ihren Originalzustand überhaupt zurückversetzt werden konnte – das ist einem Nachfahren ihres ursprünglichen Besitzers Jacob Deller zu verdanken: Alberto Deller, der als Kind vor den Nationalsozialisten nach Ecuador floh, besuchte Israel – und wollte dort die Sukkah seiner Vorfahren besichtigen. O-Ton 21 Sarfati Sprecherin OV„Alberto Deller stand jedoch vor verschlossenen Türen, denn das Museum war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Die Sukkah seiner Familie war abgebaut und im Depot zwischengelagert worden – bis wir das Geld für ihre Restaurierung auftreiben würden. Diese Geschichte war also das Einzige, womit ich aufwarten konnte. Und ich erzählte ihm von der schwierigen Finanzierung der Restaurierung. Ich wusste damals nicht, dass Deller sehr wohlhabend ist und sich bereits einen Namen als Mäzen der Hebräischen Universität hier in Jerusalem gemacht hatte. Schließlich bot er an, die Kosten für die Restaurierung zu übernehmen.“ Erzählerin Nun ist die Fischacher Laubhütte wieder in ihrem Originalzustand, in ihrer alten, neuen Heimat Israel Museum. Musik ErzählerinDie Laubhütte von Fischach: Sie verbinde Familien und Generationen, über die Kontinente hinweg, sagt die israelische Kuratorin und Kunsthistorikerin Rachel Sarfati. O-Ton 23 Sarfati Sprecherin OV„Ja, es gibt Verbindungen, die sich über die ganze Welt erstrecken. Die Sukkah verbindet die Deller-Familie und ihre Nachfahren, die Sterns. Sie verbindet die Familien Fränkel und Feuchtwanger. Sie verknüpft die Kontinente und Länder: Israel, Europa – und Lateinamerika. Die Fischacher Laubhütte ist ein so seltenes und einzigartiges Stück, dass auch ich mich in besonderer Weise verbunden fühle.“   TC 21:50 – Outro
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Apr 15, 2024 • 22min

ALTES ARABIEN - Die Nabatäer und die Felsenstadt Petra

Es war eine Sensation, als Archäologen vor rund 100 Jahren "Petra" ausgegraben haben: eine in Fels gehauene Stadt, die den Nabatäern als Handelsmetropole diente. Ihre Blütezeit hatten die Nabatäer zur Zeit Jesu. Sie beherrschten die Weihrauchstraße und organisierten den Handel zwischen Arabien und dem Mittelmeerraum. Bis heute stoßen Archäologen immer noch auf neue Erkenntnisse. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2016) Credits Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Irene Schuck Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Silke von Walkhoff Technik: Gerhard Wicho Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Stephan Schmid, Jane Taylor Linktipps: Das Kalenderblatt (2013): J.L. Burckhardt entdeckt Petra (22.08.1812) Die Felsenstadt Petra im heutigen Jordanien war bis ins 3.Jahrhundert n. Chr. als blühende Handelsstadt der Nabatäer bekannt. Am 22. August 1812 entdeckte der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt die sagenhaften Ruinen. JETZT ANHÖREN ZDFinfo (2020): Petra – Felsentempel in der Wüste Beeindruckende Felsformationen und mächtige Fassaden – mitten in der jordanischen Wüste fasziniert die antike Felsenstadt Petra Archäologen, Historiker und Touristen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:37 – Luxus mitten im NirgendwoTC 03:36 – Eine schlecht zu verteidigende LageTC 05:18 – Der NomadenstammTC 08:44 -  Ein Leben wie ihre VorfahrenTC 12:00 – Die Wallstreet der WüsteTC 15:06 – Im arabischen OlympTC 17:46 – Verantwortungsvoll, gut organisiert und stets bemühtTC 21:06 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK ATMO 1 Aufstieg Erzähler:Der Aufstieg ist beschwerlich. Von Petra, der faszinierenden Felsenstadt unten im Canyon, hinauf zum 1.200 Meter hohen Gipfelplateau des Umm al-Bijara (sprich: Umm all Bichara), übersetzt der „Mutter der Zisternen“. Hunderte von Stufen wurden in den vergangenen zwei Jahrtausenden in den Kalk - und Sandstein geschlagen, um auf den höchsten Berg der Gegend zu gelangen. Erzählerin:Immer wieder wurde der Weg von Sandstürmen verweht, von Geröll verschüttet, von Erdbeben zerstört und ein ums andere Mal wiederhergestellt. In den vergangenen beiden Jahrhunderten von Archäologen, zuvor von Beduinen, zur Zeitenwende vom geheimnisumwitterten Volk der Nabatäer! ATMO 2 Archäologengespräch Erzähler:Seit den neunziger Jahren graben und forschen Archäologen der Berliner Humboldt-Universität rund um Petra. Zahlreiche Gebäudekomplexe - Tempel, Gräber, Villen aus den ersten Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende - haben sie bereits freigelegt und dokumentiert. Auf dem Umm al-Bijara sind sie auf eine erstaunliche Anlage gestoßen. ATMO 3 kratzen TC 01:37 – Luxus mitten im Nirgendwo Erzählerin:Eine luxuriöse Wellness-Oase auf einem Berg mitten in der Wüste: mit Marmor-Badewannen, kunstvollen Mosaiken, Steinfiguren von badenden Jünglingen. Prof. Dr. Stephan Schmid ist der Ausgrabungsleiter: O-Ton 1 Schmid Luxusbad:„Man darf sich da durchaus den damals üblichen Luxus vorstellen, der dadurch fast pervers wirkt, dass er an einem sehr unwirtlichen Ort praktiziert wird. Wir haben eine Badeanlage gefunden, die mit 20 auf 30 Metern ein ganz anständige Dimension erreicht. Da gab`s beheizbare Räume mit Boden - und Wandheizung, es gab für den Endnutzer fließendes Wasser, das kommt zwar aus den Zisternen, wird aber in Zwischentanks erst mal eingefüllt und der Endnutzer kann richtig seine Badewanne mit fließend Wasser füllen lassen und das ist natürlich für ehemalige Nomaden schon eine Leistung.“ MUSIK    Erzähler:Feinkeramik - und Glasscherben lassen vermuten, dass es sich die Badenden auf dem Berg gut gehen ließen. Die größte Badewanne, die mehreren Personen Platz bot, also eine Art antiker Whirlpool, ist direkt an der Felskante installiert, hinter der es Hunderte von Metern in die Tiefe geht – antike Wellness mit Nervenkitzel und einem fantastischen Panorama: Vom Plateau reicht der Blick über ganz Petra und auf der anderen Seite bis ins Jordantal, ins heutige Israel. Lage und Luxusausstattung des Berg-Bades waren vermutlich so etwas wie ein Architekturwettstreit mit Herodes dem Großen, der nebenan in Judäa pompöse Paläste bauen ließ. Ziel war es, Macht und Reichtum zur Schau zu stellen. MUSIK AUS TC 03:36 – Eine schlecht zu verteidigende Lage O-Ton 2 Schmid Herodes:„Die Nabatäer waren ja die direkten Nachbarn und auch direkt verschwägert mit Herodes dem Großen und seinen Nachfolgern, da gab`s einen regen Austausch von Heiratspolitik, man hat sich auch hin und wieder bekriegt, man kannte sich jedenfalls sehr gut. Und im Königsreich von Herodes dem Großen und seinen Nachfolgern kennen wir zahlreiche Höhenresidenzen, und unser Schlagwort ist, dass Um-el-Bijara, dieser Berg hier, die nabatäische Antwort auf Masada, die große Palastanlage von Herodes dem Großen am Toten Meer darstellen könnte.“ Erzählerin:Die exponierte Position dieser Anlage, die nicht nur aus Badewannen, sondern auch aus Wohn – und Wachgebäuden bestand, hatte auch einen strategischen Grund. O-Ton 3 Schmid Königsberg:„Unsere Arbeits-Hypothese ist die, dass sich hier oben eine Königsresidenz befunden haben könnte aus folgenden Gründen: Der Berg ist der Stadtberg von Petra, der überblickt das Stadtgebiet mit 300 Metern Höhendifferenz, Umm-al-Bijara, Mutter der Zisternen, also da wurde auch Wasser in Zisternen gesammelt. Offenbar wollte man hier oben größere Menschenmengen oder Menschen mit hohem Wasserbedarf bewirtschaften können. Der andere Punkt: Der Berg ist extrem wichtig für die Kontrolle des ganzen Gebietes. Petra selbst liegt ja in einem tiefen Talkessel, da hat man keine Sicht, keine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Und das ist ab dem Zeitpunkt, wo man aus der nomadischen in die sesshafte Lebensweise wechselt, denkbar ungünstig. Und dazu dient dieser hohe Berg, man hat hier eine perfekte Fernsicht und kann kommunizieren mit einer ganzen Reihe von Wachtürmen die sich rund ums Siedlungsgebiet von Petra  und befunden haben und diese Informationen eben mit dem Stadtgebiet eben austauschen und kommunizieren.“ TC 05:18 – Der Nomadenstamm MUSIK & ATMO 5 Kelle Erzähler:Wer waren diese Nabatäer, die in solch einem unwirtlichen, labyrinthartigen Schluchtensystem ihre Hauptstadt errichteten? ATMO 6 Schaufel Erzählerin:Neben den Tonscherben, Münzen oder Steinreliefs, die Archäologen wie Stephan Schmid zutage fördern, haben die Forscher nur einige schriftliche antike Quellen zur Verfügung: von den Geschichtsschreibern Strabon, Flavius Josephus oder Diodorus. Von den Nabatäern selbst wurden bisher nur wenige schriftliche Zeugnisse gefunden. Erzähler:In der Bibel tauchen die Nabatäer bei Paulus auf. Und zwar in Person von König Arétas, der als König von Damaskus bezeichnet wurde. Zu Jesu Zeiten reichte das Herrschaftsgebiet der Nabatäer bis ins heutige Syrien.  Erzählerin:Zum ersten Mal wird der semitische Nomadenstamm vom griechischen Historiker Diodorus erwähnt: Im Jahr 312 v. Chr. kämpfte demnach ein griechisch-makedonisches Heer von fast 5.000 Mann gegen die Nabatäer, eroberte vorübergehend Petra und erbeutete große Mengen an Weihrauch und Myrrhe sowie 500 Talente Silber, was 70 Tonnen entspricht! MUSIK AUS O-Ton 4 Schmid Könige:„Die frühesten Belege stammen aus der hellenistischen Zeit, wo ein König der Araber genannt wird, der eigentlich nur Nabatäer sein kann und dann ab dem späten zweiten Jahrhundert werden sie dann auch richtig König der Nabatäer genannt. Auch auf ihren eigenen Münzen treten sie als solche auf. Zumindest nach außen muss das als monarchische Form wahrgenommen worden sein. Man kann sich gut vorstellen, dass es eine Art Scheichtum war, es gab eben einen Oberscheich und weil er der Oberscheich war, galt er für die Griechen und Römer als König.“ MUSIK Erzähler:Aus ihrer Nomadenzeit hatten die Nabatäer die Stammesstrukturen bewahrt, auch als sie rund um Petra sesshaft wurden. Wie früher, als sie durch die Wüstengegenden im heutigen Syrien, Jordanien, Irak, Palästina und Saudi Arabien zogen, lebten sie in Großfamilien und Clans. Davon zeugen große Versammlungsräume, die in die Felswände von Petra gebaut wurden. In diesen Bankettsälen finden sich sogenannte Triklinien, abgetrennte Räume, die an drei Seiten Sitzbänke hatten. In diesen Räumen wurde rituell gekocht, es wurden Tieropfer dargebracht und es wurde beratschlagt und zu Gericht gesessen. Erzählerin:Als Nomaden hatten die Nabatäer keine eigene Schriftsprache. Sie bedienten sich des Aramäischen, also der Sprache Jesu, vor allem, wenn es um Handelsverträge, Bauinschriften etc. ging. Mythische, rituelle oder alltägliche Dinge wurden mündlich überliefert. MUSIK AUS O-Ton Schmid 5 aramäisch:„Da muss man offenbar unterscheiden zwischen dem, was sie gesprochen haben, das scheint wirklich Arabisch gewesen zu sein, ein Früh-Arabisch, und dem, was sie geschrieben haben. Geschrieben haben sie tatsächlich Aramäisch, das war damals die lingua franca, die in diesem Teil der antiken Welt durch das persische Achämenidenreich flächendeckend als Verwaltungssprache eingeführt wurde. In dieser Sprache schreiben die Nabatäer, das ist eigentlich schriftmäßig die Ursprungssprache des modernen Arabisch und des Hebräisch. Aramäisch ist die Sprache von Jesus und auch die Bibel ist in Aramäisch abgefasst in weiten Strecken.“ Erzähler:Aus diesem frühen Aramäisch hat sich dann die Arabische Schrift entwickelt, wie wir sie kennen. TC 08:44 -  Ein Leben wie ihre Vorfahren Erzählerin:Und wie sie die Nachfahren der Nabatäer benutzen, die heute in den Hügeln rund um Petra leben: ohne Strom und fließendes Wasser, in Zelten aus Tierleder, einem für die Männer, einem für die Frauen. ATMO 7 Mörser Kardamom O-Ton 6 Schäferin Name over weiblich:„Mein Name ist Haje (sprich: Ha-je), ich bin 50 Jahre alt und ich habe sechs Kinder.“ Erzähler:Die Frau sitzt auf einer staubigen Wolldecke vor dem Zelt, im Mörser zerkleinert sie Kardamom-Körner. Ihr schwarzer Umhang verhüllt den ganzen Körper, bis auf die Augen. O-Ton 7 Schäferin Tag over weiblich:„Unser Tag sieht so aus: Erst mache ich das Frühstück, meine Söhne gehen zum Wasser holen, die Töchter bringen die Ziegen zum Grasen. Wir essen Joghurt, Zwiebeln, Brot, trinken Tee. Sonst gibt`s kaum etwas. Fleisch nur, wenn Gäste kommen, dann schlachten wir eine Ziege “ ATMO 8 Brotbacken Erzählerin:Jetzt knetet die Frau Brotteig, den sie zu Fladen formt. Statt in einen Ofen steckt sie diese Fladen einfach in den heißen Wüstensand. Eine Viertelstunde später ist das Brot fertig gebacken und wird mit etwas Ziegenkäse und Wildkräutern gegessen. Erzähler:Das karge Leben der Beduinen dürfte sich kaum vom Lebensstil früherer Nomaden unterscheiden. Mit Geld kommen sie selten in Berührung, vielmehr tauschen sie Lebensmittel, Tiere oder Stoffe mit anderen Beduinen. MUSIK Erzählerin:Auch die Nabatäer haben in ihrer Nomadenzeit wohl so gelebt. Durch ihre steigenden Handelsaktivitäten und den aufkommenden Wohlstand änderte sich aber die Gesellschaftsform. MUSIK AUS Die Nabatäer suchten ein Zuhause, ein Zentrum, und fanden es in Petra. ATMO 11 Markt Erzähler:Den Marktplatz von Petra muss man sich wie einen großen Souk vorstellen, wie man ihn heute noch in Jordaniens Hauptstadt Amman findet. MUSIK An den Ständen bieten die Händler Gewürze, Gemüse, Fleisch, Fisch, Kaffee und Tee sowie Gebrauchsgegenstände aller Art feil. Erzählerin:Die Hauptstraße von Petra ist noch deutlich zu erkennen: die Pflastersteine sind gut erhalten und weisen keine Spuren von Rädern auf – der Boulevard war also eine frühe Fußgängerzone! Gesäumt von Brunnen, Badehäusern, Theater, Mausoleen. Zu Zeiten der Nabatäer war diese Prachtstraße noch beeindruckender als heute. Denn die meisten Gebäude waren mit kunstvollem Stuck verziert und farbenfroh gestrichen, während die Überbleibsel sandfarben sind. ATMO 12 Marktschreier Erzähler:Petras Marktschreier brachten die wertvollsten Produkte der damaligen Zeit unter die Leute: Luxusgüter wie Alabaster, Elfenbein, Perlen, Purpur oder Pfeffer. Auch Aromata wie Weihrauch, Myrrhe, Balsam oder Zedernduft. Vor allem die Einkäufer aus Rom rissen sich um die Zutaten für Salben, Cremes oder Badewasser, da die römische Kanalisation zum Himmel stank und mit Düften übertüncht werden musste.TC 12:00 – Die Wallstreet der Wüste Erzähler:In der Hochzeit reichte der nabatäische Karawanenstaat von Damaskus im Nordosten bis nach Medina im Süden, im Westen bis zum Sinai. Auf der arabischen Halbinsel kontrollierten sie die so genannte Weihrauchstraße, die von Jemen und Oman bis zum Mittelmeer führte und auf der neben Gewürzen aus Indien auch chinesische Seide transportiert wurde. Erzählerin:In der Oase Hegra im heutigen Saudi-Arabien übernahmen die nabatäischen Kaufleute die Ware von südarabischen Händlern, brachten sie in 30 bis 40 Tagesmärschen in Kamel- und Dromedarkolonnen nach Petra oder nach Gaza, dem wichtigsten Umschlagplatz am Mittelmeer. Von dort führte die Handelsroute nach Rom oder Athen. Die wichtigsten Karawanen-Strecken waren mit bewachten Brunnen, Warendepots und Versorgungsstationen versehen. MUSIK AUS ATMO 13 Petra Sprachen Erzählerin:Kaufleute aus vielen Regionen tummelten sich in Petra, das eine Art Wallstreet der Wüste war. Statt des Touristen-Mix‘ aus Englisch, Deutsch oder Japanisch war vor 2.000 Jahren ein Sprachengemisch aus Aramäisch, Persisch und Latein zu hören. Historiker schätzen, dass zur Hochzeit etwa 30.000 Menschen in Petra lebten, darunter zahlreiche Ausländer, die auch ihre Vorlieben mitbrachten. Der Archäologe Stephan Schmid stößt bei Grabungen immer wieder auf Keramik, Glas und Marmor aus Italien oder Griechenland. ATMO 14 Wasserplätschern Erzähler:Ein paar Kilometer von Petra entfernt sprudelt Quellwasser aus den Felsen. Laut Bibel soll Moses hier mit einem Stock auf einen Felsblock geschlagen und so die Quelle geöffnet haben. Diese Wasserstelle garantiert seit Tausenden von Jahren die Trinkwasserversorgung. MUSIK Erzählerin:Die Nabatäer entwickelten ein ausgeklügeltes Kanalsystem, das Wissenschaftler heute als „Wasserbaukunst“ bezeichnen: starke Regenfälle im Winter können die Schluchten rund um Petra komplett unter Wasser setzen, im Sommer fällt nahezu kein Regen. Diese Herausforderung meisterten die Ingenieure der Nabatäer, indem sie Dutzende von Barrieren bauten, um die Fließgeschwindigkeit des Wassers im Winter zu verringern. In Dämmen und unterirdischen Zisternen wurden enorme Wassermengen gesammelt, über ein weitverzweigtes Kanalsystem verbreitet. Erzähler:Rechnungen ergaben, dass rund ums Jahr etwa 45 Millionen Liter zur Verfügung standen. Eine immense Menge an Wasser, zumal mitten in der Wüste! Damit konnten die sesshaft gewordenen Nomaden auf bewässerten Terrassen Landwirtschaft betreiben, was den Fund zahlreicher Getreidemühlen, Wein – und Ölpressen erklärt. Luftaufnahmen deuten auch auf großzügig angelegte Gartenanlagen in Petra hin. Die Nabatäer hatten sich an einem der unwirtlichsten Plätze der Region ein Paradies geschaffen. ATMO 15 Petra KinderMUSIK AUSTC 15:06 – Im arabischen Olymp Erzählerin:Die Frage ist: Warum taten sie das in diesem staubigen Schluchten-Labyrinth? Erzähler:Eine Möglichkeit, die von Historikern und Archäologen diskutiert wird: Eventuell hatten die Nabatäer einen mystischen Bezug zu diesem Ort. MUSIK Jedenfalls fanden die Forscher zahlreiche Stein-Stelen, die Götter symbolisieren. Inschriften auf Reliefs lassen den Schluss zu, dass Petra nicht nur ein Handelszentrum, sondern auch eine Pilgerstätte war. Vielleicht vermuteten die Nabatäer, dass die von ihnen angebeteten Gottheiten hier zuhause sind. Petra wäre demnach eine Art arabischer Olymp gewesen. O-Ton 12 Schmid Duschara:„Die Nabatäer hatten ein relativ detailliertes Pantheon, da gibt es eine ganze Reihe von Göttern, allerdings scheint es sich ein bisschen auf einen Hauptgott zu fokussieren, also eine stark trichterförmige Verengung oder Konzentration auf einen Hauptgott. Hier in Petra ist das eindeutig Duschara, d.h. der von den Schara-Bergen. Und die Schara-Berge, das ist diese Gebirgskette, die den Übergang von der innerarabischen Hochebene in den arabisch-afrikanischen Grabenbruch, in dem auch der Jordan, das Rote und Tote Meer liegen, darstellt. Dieser Duschara war ganz wichtig, denn von den Schara-Bergen kommt das segens-und kulturbringende Wasser, von daher kommt aber auch das alles zerstörende Wasser, wenn man eben nicht aufpasst und das ein bisschen domestiziert. Lustigerweise oder interessanterweise, wenn es um die bildliche Darstellung von Duschara in Griechisch-Römischen Bildchiffren geht, dann taucht er als Dionysos oder Bacchus auf. Das gibt uns eine gewisse Vergleichbarkeit.“ Erzählerin:Hauptgott Duschara wurde auch mit Vollbart, als Verkörperung des griechischen Zeus, dargestellt! So anpassungsfähig die Nabatäer in ihren Handelsstrategien waren, so flexibel waren sie mit ihrer Religion: Sie passten sich den Umständen an, lernten Gottheiten der Nachbarvölker kennen und adaptierten sie. Je nach Region beteten sie die lokalen Götter an, das konnten auch Flüsse, Quellen, Berge oder Bäume sein. In der Beschreibung der nabatäischen Gottheiten finden sich Merkmale arabischer, persischer und vor allem hellenistischer Götter wieder. So hatte jede Siedlung einen eigenen Hauptgott, zum Teil glaubten einzelne Familien an eigene Wesen. MUSIK AUS O-Ton 13 Jane gods OV weiblich:“Außerdem wissen wir von drei Haupt-Göttinnen in Petra, deren wichtigste Al-Huzza war. Ihr Name kann mit „Die Große“ übersetzt werden. TC 17:46 – Verantwortungsvoll, gut organisiert und stets bemüht Erzählerin:Die britische Schriftstellerin und Fotografin Jane Taylor lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Jordanien, hat mehrere Dokumentationen über die Nabatäer veröffentlicht. Neben der sehr variablen Religion beeindruckt sie auch die relativ gleichberechtigte Rolle der nabatäischen Frauen: O-Ton 14 Jane women OV weiblich:„Es gibt Hinweise, dass die Nabatäer ihre Frauen wesentlich höher ansahen als etwa die Römer oder die Juden der Epoche. Ein Anzeichen dafür ist die Tatsache, dass auf den Münzen der Nabatäer nicht nur Könige, sondern auch Königinnen abgebildet waren. Das gab`s weder bei Römern noch bei den Juden. Es ist leider sehr wenig über das Alltagsleben der Ehefrauen, Mütter, Töchter überliefert, aber wir kennen relativ viele Namen von Königinnen und auch von Königstöchtern. Und diese wurden offenbar nicht viel anders behandelt als die Königssöhne.“ Erzähler:Die wenigen historischen Quellen vermitteln den Eindruck, dass die Nabatäer ein sehr verantwortungsvolles, gut organisiertes und um Frieden bemühtes Volk bildeten. Laut Geschichtsschreibern versuchten sie, mögliche Feinde eher mit Strategie und Diplomatie zu bezwingen als mit militärischer Gewalt. So führten sie ein römisches Heer fehl, damit dieses an keiner Oase vorbeikam und schließlich geschwächt ohne jeden Kampf aufgeben musste. MUSIK Als die Römer alternative Handelsrouten auf dem Seewege etablierten, verloren die Nabatäer ihr Handelsmonopol und wurden als Unterhändler quasi überflüssig. Relativ unspektakulär wurde ihr Reich von Rom geschluckt und ging in der Provinz Arabia auf. Aus Händlern wurden sesshafte Bauern. Erzählerin:Das Handelszentrum Petra geriet in Vergessenheit, stattdessen zogen die Karawanen nach Palmyra oder Aleppo. MUSIK AUS O-Ton 16 Schmid Ende:„Das nominelle Ende des nabatäischen Königreiches kommt 106 nach Christus, als die Römer hier einmarschieren und das Nabatäer-Reich in die Provinz Arabien umwandeln. Es ist immer noch nicht ganz klar, warum zu diesem Zeitpunkt, wenige Jahre später unternimmt der gleiche Römische Kaiser Trajan einen groß angelegten Feldzug in den damaligen Osten, das Partherreich wird bekriegt und teilweise erobert. Und möglicherweise war es für die Römische Verwaltung und Planung wichtig, in dieser Ecke der antiken Welt, wo wichtige Zufahrtsstraßen auch auf die künftigen Kriegsschauplätze hin durchführen, für Ruhe zu sorgen, prophylaktisch sozusagen.“ Erzähler:In der Folge vernachlässigten die Römer Petra. Viele Bewohner zogen weg, nur einige Christen nutzten die Höhlenverstecke auf ihrer Flucht vor den Römern. Die Stadt verfiel. Erzählerin:Und erlitt im Jahr 363 nach Christus sozusagen den Todesstoß. Ein schweres Erdbeben machte den Resten eines einst blühenden Handelsreichs ein Ende. Als der Schweizer Forscher Johann Ludwig Burckhardt alias Scheich Ibrahim 1812 Petra erreichte, existierte die Stadt schon lange nicht mehr. Wüstensand überdeckte die ehemalige Metropole wie ein Mantel des Schweigens.TC 21:06 – Outro
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Apr 15, 2024 • 23min

ALTES ARABIEN - Frühzeitlicher Fernhandel

Lange bevor Erdöl und Erdgas die Arabischen Emirate reich machten, wurde von dort Fernhandel bis nach Indien betrieben. Gold, Perlen, Waffen im Tausch gegen Edelsteine, Hölzer, Gewürze. Die Region um Dubai war schon in der Stein-, Bronze-und Eisenzeit ein wichtiges Handelszentrum. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2023) Credits Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Christian Baumann, Jenny Güzel Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Christian Velde, Ali Al Mansoori, Aisha Ahmet, Mansour Boraik, Abdullah Mansouri, Abdulla Rashed Al Suwaidi Linktipps: radioWissen (2023): Das Dromedar – Überlebenskünstler und Luxusrenntier Dromedar oder Kamel? Die Zahl der Höcker macht den Unterschied, Dromedare sind die mit einem Höcker. Der darin gespeicherte Fettspeicher ist einer der vielen Überlebenstricks der Schwielensohler in der Wüste. JETZT ANHÖREN 3sat (2020): Der Duft des Orient – Die Weihrauchstraße Weihrauch ist der Wundsaft eines knorrigen Wüsten-Baumes. Dieter Moor folgt den Spuren dieses gleichermaßen mythischen wie aromatischen Rauchs auf einer der ältesten Karawanen-Handelsstrasse der Geschichte. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:59 – Mehr als Palmen, Datteln und FischTC 05:00 – Lehren aus dem GrabTC 07:30 – Ein Industriegebiet mitten in der WüsteTC 11:43 – Das Allrounder-DromedarTC 14:03 – Auf der WeihrauchrouteTC 16:57 – Die Macht der PerlenTC 19:06 – Äußere EinflüsseTC 22:20 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK & ATMO 01 Geröll + ATMO Wüste Sprecherin:Er trägt immer sehr robuste Lederstiefel, denn er steht oft bis zu den Knöcheln in Haufen von scharfkantigen Muschelschalen und Knochenresten. Seit über 30 Jahren stochert der deutsche Archäologe Christian Velde in den Müllbergen der frühesten Bewohner von Ras al Khaimah, O 01 Muscheln:„Diese Hügel bezeichnen wir als Muschelhaufen, im Grunde ein Abfallhaufen, von dem, was Menschen gegessen haben. Für uns fantastisch, das ist das, was wir brauchen! Wir graben im Abfall der Menschen, die einmal gelebt haben. Man muss das nur wirklich aufheben (…) das hat ein Mensch vor drei bis vier Tausend Jahren ausgeschlürft und dann hierhin geworfen.“ ATMO Muschelhaufen Sprecher:Austern waren wohl schon in der Vorzeit eine Delikatesse oder eher ein Grundnahrungsmittel in dem nördlichsten der Vereinigten Arabischen Emirate. MUSIK Sprecherin:Der Archäologe steht in einer steinigen, staubigen Ebene. Ein paar Kilometer östlich beginnen die steilen Berghänge des Hajar-Gebirges, im Westen glänzt der Arabisch-Persische Golf in der Sonne. Sprecher:Aus dem Gebirge fließt nach Regenfällen kostbares Wasser herab. Und in den bergigen Regionen können Wildtiere gejagt werden. Aus dem Meer wiederum gibt es reichlich Fische und Meeresfrüchte zu essen. Diese Lage hat die Arabische Golfküste schon sehr früh attraktiv für eine Besiedlung gemacht.TC 01:59 – Mehr als Palmen, Datteln und Fisch O 02 Steinzeit:„Die frühesten Nachweise, wie wir jetzt wissen, sind etwa 200.000 vor der Jetzt-Zeit. Das ist die sogenannte Alt-Steinzeit, das ist die Zeit, in der sich die ersten Wellen früher Menschen aus Afrika weiter ausbreiten und das Faszinierende ist, dass man heute annimmt, dass sie auch über die Arabische Halbinsel nach Asien gekommen sind. Man kann das wirklich nachweisen, dass von 200.000 bis jetzt Menschen in diesem Raum gelebt haben.“ Sprecherin:Auf einer Insel, die zum Emirat Sharjah gehört, haben Forscher im Jahr 2022 Hinweise auf eine Siedlung aus der Altsteinzeit entdeckt, die ältesten Spuren der ganzen Region. Sprecher:Das hat die Wissenschaftler überrascht, weil in dieser Epoche lange Trockenzeiten auf der Arabischen Halbinsel vorherrschten. Offenbar waren die Menschen damals in der Lage, trotz der harschen Bedingungen zu überleben. Sprecherin:In der Jungsteinzeit, also etwa ab 10.000 vor unserer Zeitrechnung, haben sich die Lebensbedingungen erheblich verbessert.  O 03 Monsun:„Vom Neolithikum mit einer kurzen Unterbrechung bis zum dritten Jahrtausend hat es hier eindeutig mehr geregnet als heute. Und zwar deswegen, weil in dieser Zeit der Monsun, der sich heute praktisch auf Indien beschränkt, damals bis in den Norden gekommen, d.h. es hat hier im Grunde zwei Regenzeiten gegeben.“ MUSIK Sprecher:Die Ebene, die heute auf dem Staatsgebiet von Ras al Khaimah liegt, hat sich damals zum Obst-und Gemüsegarten der Region entwickelt. ATMO 02 Wedel Sprecherin:Die Grabungsstätten des Archäologen Christian Velde sind eingerahmt von ausgedehnten Palmgärten. O 04 Datteln:„Wir wissen, dass es von etwa von 3000 vor bis in die Moderne hier Palmengärten gegeben hat, auch wenn wir die ersten Dattelkerne schon aus dem Neolithikum kennen.“ ATMO 03 Palmgarten Sprecher:Einer dieser Palmgärten gehört Ali Al Mansoori (sprich: Mansuri). Weiße Haare, weißer Vollbart, weißes Scheichsgewand, so steht der Dattelbauer zwischen seinen Palmen: O 05 dades OV männl.:OV- männlich „Die Menschen früher hatten wenig zu essen hier, eigentlich nur Datteln und Fisch. Das Gute an den Datteln: man kann sie auch ohne Kühlschrank ein Jahr lang aufbewahren. Und sie sind auch noch gesund! Eine Palme versorgt dich mit 120 Kilo Datteln, davon kann sich eine Familie ein Jahr lang ernähren.“ Sprecher:Zwischen den Palmen dringt Sonnenlicht hindurch, so können darunter zwei weitere Ebenen mit Obstbäumen und Boden-Gemüse gedeihen. MUSIK Sprecherin:Aber die Menschen lebten auch damals nicht nur von Datteln und Fischen. Tonscherben und Steinwerkzeuge, die in Ras al Khaimah ausgegraben wurden, deuten darauf hin, dass bereits im sechsten Jahrtausend vor Christus, in der sogenannten Obed-Zeit, Tauschhandel mit Mesopotamien betrieben wurde. TC 05:00 – Lehren aus dem Grab Sprecher: Im dritten Jahrtausend vor Christus lebte die Umm-an-Nar-Kultur im heutigen Emirat, im Anschluss die Wadi-Suq-Kultur. Aus dieser Epoche stammen bedeutende Funde von Christian Velde: Hunderte von Gräbern! Zusp. O 08 Gräber:„Wo wir etwas finden, ist jenseits der Palmengärten, wo die Menschen meistens ihre Toten bestattet haben und deswegen finden wir sehr häufig Gräber. Und die findet man tatsächlich in diesem Gebiet zwischen den Palmengärten, in den Schotterflächen am Rand der Berge. Das Faszinierende ist Shimal, wo sich ein gewaltiger Friedhof befindet mit mehr als 100 megalithischen Gräbern, die aus einer Zeit zu Beginn des zweiten Jahrtausends stammen, aus einer Kultur, die wir Wadi Suk-Kultur nennen, aus der Zeit zwischen 2000 und 1600 v.Chr.“ ATMO 06 Grab Sprecherin:Blickt man über die Ebene, reiht sich Hügel an Hügel, unter jedem Hügel ruhen Gruppen-Gräber, die meist für 30 bis 60 Personen angelegt wurden. Nur einige der Grabhügel sind bisher freigelegt worden, mit teils erstaunlichen Funden: O 09 Hund:„Ein komplettes Skelett einer jungen Frau, die angehockt – das sind alles Hockerbestattungen im 2. und 3. Jahrtausend – dort bestattet worden ist und das Faszinierende an dieser Bestattung ist, dass oberhalb ihres Kopfes ein Hund bestattet war. Sie ist also scheinbar mit ihrem Hund bestattet worden. Es ist ein Hund, der nachweislich seit den Beduinen hier existiert, aber sehr wahrscheinlich schon Jahrtausende davor existiert hat.“ Sprecher:Für Archäologen sind es oftmals die unspektakulären Entdeckungen, die für neue Erkenntnisse sorgen. So ergaben Untersuchungen an abgenagten Hühnerknochen, dass schon in der Bronzezeit Handel mit dem fernen Indien stattgefunden hat: 0 10 Huhn:„Das Huhn ist faszinierenderweise im Industal, also in Indien domestiziert worden, die Urform des Huhns. Und tatsächlich hat man die Reste von Hühnern auch hier gefunden. Tatsächlich scheinen im dritten Jahrtausend Hühner hierher exportiert worden zu sein.“ Sprecherin:Da sich abgeknabberte Hühnerknochen nicht so gut als Ausstellungsstücke für ein Museum eignen, werden im Nationalmuseum von Ras al Khaimah Steinpfannen, bemalte Becher, Bronzewerkzeuge und Waffen, etwa Dolche oder Pfeilspitzen gezeigt. TC 07:30 – Ein Industriegebiet mitten in der Wüste ATMO 07 Innenhof Sprecher:Im Innenhof des Museums hat die Museums-Führerin Aisha Ahmet gerade eine Studentengruppe verabschiedet. Für sie als Einheimische ist es etwas Besonderes, dass sich Besucher aus anderen Weltgegenden für die frühzeitliche Geschichte von Ras al Khaimah interessieren: O 11 map OV weibl.:OV- weiblich „Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich mir die alten Karten anschaue und sehe, dass mein Land schon vor sehr langer Zeit mit weit entfernten Gegenden der Welt vernetzt war. Und auch die Gäste hier im Museum - etwa die aus China oder Indien - staunen, dass unsere Länder schon in der Frühzeit Handel miteinander getrieben haben.“ MUSIK Sprecherin:Aufgrund seiner Lage in dem schmalen Streifen zwischen Meer und Berg war das heutige Ras al Khaimah prädestiniert für frühe Siedlungen. Aber auch in den anderen Emiraten entlang der Küste des Arabisch-Persischen Golfes wurden Belege für weitreichende Handelsaktivitäten gefunden. Sprecher:Eine Zufallsentdeckung sorgte im Jahr 2002 in Dubai für Schlagzeilen: Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum, der Herrscher von Dubai, erspähte während eines Helikopterfluges ungewöhnliche dunkle Schattierungen im Wüstensand. Wie Wissenschaftler kurze Zeit später analysierten, handelte es sich um Schlacke, ein Abfallprodukt von Schmelzöfen aus der Eisenzeit.   Sprecherin:Die umfangreichen Grabungsarbeiten förderten Tausende Metall-Objekte zu Tage, vor allem Waffen und Schmuck. Der Archäologe Dr. Mansour Boraik ist der Direktor des Saruq al Hadid-Museums, in dem die Exponate zu sehen sind: 0 13 Gold OV männl.:OV- männlich „Das war ein richtiges Industriegebiet für Metallarbeiten. Vor allem Waffen wurden hergestellt: Speerspitzen, Äxte, Pfeile. Daneben haben wir aber auch analysiert, dass hier Gold zu Schmuck verarbeitet wurde. Wir haben Goldkettchen gefunden, unbearbeitetes Gold, und auch Goldschmuck mit Perlen. Das Gold kam wohl aus Saudi-Arabien und Jemen und wurde hier bearbeitet.“ MUSIK Sprecher:Der Großteil der Fundstücke wird auf das Zeitfenster 1300 bis 800 vor Christus datiert. In den Öfen wurde Eisen geschmolzen, und aus Kupfer und Zink wurde Bronze hergestellt. Sprecherin:Für diese Prozesse sind Öfen notwendig, die auf über 1200 Grad heizen können. Für damalige Verhältnisse ein Kraftakt – mitten in der Wüste! Sprecher:Zwar gab es aufgrund höherer Niederschläge mehr Vegetation als heute, also mehr Bäume, etwa Akazien, trotzdem musste das Brenn-Holz für die Öfen aus einem weiten Gebiet zusammengetragen werden. Vermutlich holten die Arbeiter sogar aus dem Hajar-Gebirge brennbares Material. Sprecherin:Neben den industriell betriebenen Öfen waren aber auch Goldschmiede vor Ort. Das beweisen kunstvoll gestaltete Schmuckstücke, zum Beispiel Halsketten oder Armreife – besetzt mit wertvollen Steinen von weit her. Mansour Boraik: O 14 stones OV männl.:OV- männlich „Die Juwelen waren aus verschiedenen Edelsteinen und Halbedelsteinen gemacht: Amethysten, Achate, Karneole, Lapislazuli, Muscheln, Kristall, alles Mögliche. Das heißt, sie waren in Verbindung mit verschiedenen Handelsvölkern in Mesopotamien, Anatolien, im Industal oder Ägypten. Steine, Silber und Gold wurden weit gehandelt.“ Sprecher:So spektakulär die Funde in Saruq al Hadid waren, so rätselhaft sind die Hintergründe dieser eisenzeitlichen Industriestadt:  O 15 mysteries OV männl.:OV- männlich „Wir haben über 20.000 Objekte ausgegraben. Aber wir stehen immer noch vor vielen Rätseln. Wir wissen nicht, wer diese Menschen waren, wohin sie gegangen sind, warum sind sie verschwunden. Warum haben sie so viele Gegenstände hier zurückgelassen? Diese Geheimnisse müssen erst noch enträtselt werden.“TC 11:43 – Das Allrounder-Dromedar ATMO 08 Kamel + ATMO Wüste Sprecherin:In der Übergangsphase von der Bronze- zur Eisenzeit ist auf der Arabischen Halbinsel etwas geschehen, was die gesamte Region massiv verändert hat: Die Menschen erkannten, dass die einheimischen einhöckrigen Kamele, also Dromedare, als Reit- und Tragetiere benutzt werden können. Für Christian Velde war das ein Quantensprung: 0 16 Domestizierung:„Plötzlich haben die Menschen angefangen zu überlegen: Wir fangen die ein, packen sie in einen Pferch und haben unsere Fleischvorräte direkt bei der Hand. Damit fängt die Domestizierung des Kamels an, um 1500, wahrscheinlich als Fleischlieferant. Bis man dann entdeckt hat, die Viecher eignen sich hervorragend, um sie mit Gütern zu bepacken und durch die Gegend wandern zu lassen, weil sie ewig lange ohne oder mit sehr wenig Wasser auskommen. Und dann zweitrangig mit der Domestizierung und Nahrungsmittel-Fleisch-Lieferant Nummer 1 hat man gesehen: Mensch, das sind unsere Lasttiere!“ Sprecher:Damit war der Handelsweg zu Land nach Süden, Norden und Westen frei: 0 17 Wüste:„Und plötzlich ist die Wüste, die immer eine Trennung war – plötzlich konnte man die Wüste durchqueren mit diesen Kamelen. Und plötzlich, das sieht man im ersten Jahrtausend, fangen Handelskontakte mit Jemen an oder mit anderen Teilen der Arabischen Halbinsel weiter im Norden. Weil die weiten Strecken, die man durch den Sand durchgehen muss, mit sehr wenigen Wasserquellen, kann man jetzt überwinden. Das Kamel also, erst als Fleischlieferant und dann als das Lasttier, hat die Arabische Halbinsel in der Eisenzeit, also im ersten Jahrtausend v.Chr. sehr verändert.“ MUSIK Sprecherin:Mit den Karawanen fingen Menschen an zu wandern. Beduinen, also Nomaden, die vorher nur in gebirgsnahen Gegenden mit Wasserquellen unterwegs waren, konnten jetzt weite Handlungsreisen unternehmen. Sprecher:Die Königreiche im südlichen Arabien, wie die der Sabäer und Minäer, konnten ihre Waren auf dem Kamelrücken über die ganze Halbinsel bis nach Palästina, Syrien und zum Mittelmeer transportieren. Bekanntestes Beispiel ist die Weihrauch-Route: ATMO WüsteTC 14:03 – Auf der Weihrauchroute O 18 Weihrauch: „Mit der Entwicklung des Kamels und der Karawanenwege wurde dieses Produkt ein Verkaufsschlager Jemens in der gesamten mediterranen Welt, aber auch hier im Golf und der Arabischen Welt. Sprecherin:Die Karawanen funktionierten ähnlich wie heute Aktiengesellschaften. Kleine Händler konnten sich mit ihren Produkten einkaufen und auf einen großen Gewinn beim Weiterverkauf hoffen. Bezahlt wurde zunächst mit Gold und Silber, bis sich die ersten Münzen etablierten: O 19 Münzen:„Es hat sogar in dieser Zeit tatsächlich zum ersten Mal in diesem Bereich das Prägen von Münzen gegeben. Man hat Münzen aus dieser Zeit, man hat sogar eine Prägeform oder Gießform für Münzen gefunden. Das ist also die Zeit eines Beduinenreichs und diese Beduinen haben alle vom Handel gelebt, der Handel war der Kern dieses Beduinenreichs.“ Sprecher:Die Zeit von 300 vor bis 300 nach Christus war die Ära der Beduinenreiche an der Golfküste. ATMO Meeresbrandung Sprecherin:Da die Technik der Bootsbauer voranschritt und die Schiffe immer weiter segeln konnten, entwickelte sich ein wahrer Fernhandel. Die frühesten Seefahrer konnten mit ihren Schilfbooten nur überschaubare Distanzen zurücklegen. Sprecher:Die für den Arabisch-Persischen Golf typischen Holz-Dhaus kamen dann bis nach Indien und China. ATMO 10 Werft 1 + ATMO 11 Werft 2 Sprecherin:Dhaus, wie sie in der Werft von Abdullah Mansouri in Ras al Khaimah noch heute fabriziert werden: 0 20 Bootsbauer OV männl.:OV- männlich „Mein Großvater und mein Vater haben auch schon Dhaus gebaut. Sie haben es mir beigebracht, als ich 13 Jahre war. Seitdem bin ich jeden Werk-Tag hier in der Werft. Wir verwenden ausschließlich Holz, was Anderes kommt für mich nicht in Frage. Die Inspiration für die Boote hole ich mir aus alten Büchern.“ ATMO 11 Werft 2 + ATMO 12 Werft 3 Sprecher:Gewürze aus Indien, Keramik aus China, Silber aus Anatolien, Marmor aus Ägypten, Weihrauch aus Jemen - wo heute Dubai, Katar, Bahrain oder Ras al Khaimah globale Handelszentren bilden, waren auch in den Jahrhunderten vor unserer Zeitenwende schon Verkehrs-Knotenpunkte. O 22 Händler:„Es war sowohl in der islamischen als auch in der vorislamischen Zeit immer ein Handelsmittelpunkt- und Schwerpunkt und Händler ziehen immer andere Religionen, andere Sprachen an, also es dürfte hier immer multikulturell gewesen sein, auch im dritten und zweiten Jahrtausend v.Chr. und in den späteren Perioden auch. Händler sind immer offen, Händler nehmen alles auf, sind tolerant gegenüber allen Religionen, Völkern, Kulturen. Denn das Wichtigste ist für sie, Geld und Handel zu machen und nicht, irgendwelche Ideologien zu verbreiten.“ MUSIKTC 16:57 – Die Macht der Perlen Sprecherin:Das wertvollste Handelsgut, das Ras al Khaimah zu bieten hatte, waren: Perlen. In den von Mangroven gebildeten sandigen Lagunen entlang der Küste haben Austernmuscheln ideale Lebensbedingungen. Sprecher:Früher mussten Perlentaucher ohne technische Hilfsmittel auf mühsame und lebensgefährliche Art und Weise am Meeresboden nach den Muscheln suchen. Im 20. Jahrhundert ist die Zucht von Perlenaustern aufgebaut worden.  Sprecherin:Die älteste Austern-Perle wurde in Abu Dhabi an einer Halskette als Grabbeilage einer Frau aus der Jungsteinzeit gefunden. Auch im Gilgamensch-Epos aus dem dritten Jahrtausend vor Christus werden Perlen erwähnt. Und der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere lobte die Perlen aus dem Arabisch-Persischen Golf als die feinsten der Welt. ATMO 13 Perlen Sprecher:Abdulla Rashed Al Suwaidi (sprich: Su-wa-i-di) betreibt in einer der Lagunen in Ras al Khaimah eine Perlausternfarm und demonstriert dort, wie die Perlen aus den scharfkantigen Muscheln gelöst werden. O 23 pearls OV männl.:OV- männlich „Wenn man wilde Austernmuscheln vom Meeresboden aufpickt, findet man in einer von 100 Muscheln eine Natur-Perle. Also etwa eine Quote von einem Prozent. Wenn man also 1000 öffnet, hat man zehn und davon sollte zumindest eine so groß und wertvoll sein, um die Ausgaben dafür zu begleichen. Es ist kein einfacher Job!“ ATMO 13 Perlen Sprecherin:Die weißen Naturperlen landeten und landen bis heute in Kronen, Zeptern oder kostbaren Schmuckstücken. O 24 power OV männl.:OV- männlich „Wer hat Perlen getragen? Könige, Sultane, Prinzen, Maharadschas, Kaiser, begehrten Perlen. Egal ob im alten Persien, in Indien, in China. Warum waren sie so angetan von Perlen? Weil sie Symbole sind für Geld und Vermögen und daraus resultiert: Macht. Perlen zeigten also ihre Macht!“TC 19:06 – Äußere Einflüsse ATMO Meeresbrandung Sprecher:Durch die Erreichbarkeit und die Handelsaktivitäten wurde die Arabische Golfküste, die bis dato nahezu unbehelligt von Feinden war, für andere Völker attraktiv. MUSIK Sprecherin:Im vierten Jahrhundert vor Christus versuchte Alexander der Große, Fuß zu fassen an der Küste, starb allerdings auf dem Weg ins südliche Arabien in Babylon. Einer seiner Feldherren schaffte es bis zum nordwestlichen Ufer des Golfes. Erst Alexanders Nachfolger, die Seleukiden, konnten ihr Reich bis zu den heutigen Arabischen Emiraten ausweiten, wurden aber schon im zweiten Jahrhundert vor der Zeitenwende von den Parthern abgelöst. Sprecher:Mit den verschiedenen Völkern kamen immer auch unterschiedliche Religionen an die Golfküste. Einige der lokalen Gottheiten waren über die Grenzen bekannt und wurden Jahrhunderte lang verehrt. Etwa die Göttinnen Allat und Aluzza, die von Gläubigen in Mekka genauso angebetet wurden wie im nabatäischen Petra. Es existierten auch jüdische Gemeinden auf der Arabischen Halbinsel und später kamen christliche Gruppierungen dazu: O 25 Christen:„Man darf nicht vergessen, dass die Arabische Halbinsel vor der Islamisierung sehr stark christianisiert war. Es gab viele christliche arabische Stämme in allen Teilen Arabiens. Es gab auch jüdische Stämme, der Jemen war zwischendurch ein jüdisches Königtum. Und man weiß inzwischen auch, dass es Christen hier an der Küste gegeben hat, gerade vor kurzer Zeit ist eine Kirchenanlage, vielleicht ein Kloster, vielleicht eine Kirche und Kloster gleichzeitig, ausgegraben worden, eine sensationelle Neuentdeckung! 5. bis 7. Jahrhundert. Sehr wahrscheinlich sind das alles nestorianische Christen.“ ATMO 15 Strandfußball Sprecherin:An Stränden wie dem in Ras al Khaimah, wo heute Kinder Fußball spielen, landeten um 300 nach Christus persische Streitkräfte und setzten sich für mehrere Jahrhunderte fest: O 26 Sassaniden:„Die Sassaniden, die letzte große vorislamische Dynastie Persiens, die auch Mesopotamien beherrscht hat, die etwa genauso groß und mächtig gewesen sind wie die Römer. Und die haben vom 4./5. Jahrhundert an auch diese Seite des Golfes dominiert, sind mit ihren Schiffen und Truppen rübergekommen. Wir haben z.B. sassanidenzeitliche Überreste gefunden von einer größeren Gebäudestruktur, die eventuell ein Verwaltungsgebäude dargestellt hat. Denn wir wissen, dass die Sassaniden hier saßen und versucht haben, den Oman zu erobern. Das Ganze ist dann relativ abrupt zu Ende gekommen mit dem Beginn des Islam.“ MUSIK Sprecher:Im siebten Jahrhundert schließlich bewegten sich muslimische Truppen von Medina und Mekka aus über die gesamte Arabische Halbinsel. Auch an der Golfküste übernahmen sie die Macht von den Sassaniden – der Beginn einer neuen Zeitrechnung. MUSIK hoch und aus TC 22:20 - Outro
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Apr 15, 2024 • 23min

ALTES ARABIEN - Als Spanien arabisch war

Fast 800 Jahre lang herrschten auf der Iberischen Halbinsel arabische Fürsten, Emire, Kalifen. Diese Epoche wird Al Andalus genannt. Al Andalus war eine Glanzzeit für Kultur und Naturwissenschaften. Aber nicht nur das: Christen, Juden und Muslime lebten in dieser Epoche lange meist friedlich mit- und nebeneinander. Aber ab dem 12. Jahrhundert kam es zu immer mehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2013) Credits Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Martin Trauner Es sprachen: Alex Wostry, Friedrich Schloffer, Katja Schild Technik: Christiane Gerheuser-Kamp, Michael Zöllner Redaktion: Brigitte Reimer Im Interview: Isabel Martínez-Richter, Prof. Juan Pedro Monferrer-Sala, Georg Bossong, Antonia Alcántara Luque, Carlos López-Obrero, Manuel Vinuelas, Daniel Grammatico, Sebastián de la ObraEine besondere Link-Empfehlung der Redaktion:SWR (2024): Geisterjäger Gibt es das Unerklärliche wirklich? Hans Bender ist der größte Geisterjäger der deutschen Geschichte. Mehr als drei Jahrzehnte lang reist der Parapsychologe als Experte für Unerklärliches durch die Republik und untersucht ein merkwürdiges Phänomen nach dem anderen. Bender ist überzeugt: Spuk, PSI-Kräfte, Hellsehen und Telekinese sind echt. Angeblich hat er das sogar bewiesen. Aber kann das wirklich sein? Die Psychologie-Podcasterin Verena Fiebiger geht zusammen mit ihrem Team auf Spurensuche in der Welt des Paranormalen. HIER GEHT’S ZUM PODCAST Linktipps: SWR Kultur (2022): Al-Andalus heute – Spanien muslimisches  Erbe Bis 1492 stand Andalusien unter muslimischem Einfluss. Heute vermarktet die Region rund um Granada und Cordoba ihr arabisches Erbe, marokkanische Einwanderer verdienen Geld mit orientalischen Souvenirs und Teestuben für Touristen. Nicht alle finden das gut, manche sprechen von einer schleichenden erneuten Eroberung. Denn heute ist den meisten Spanierinnen und Spaniern die arabische Kultur fremd, die 800 Jahre lang auch ihre war. Immerhin: Die junge Generation hat mit der Rückbesinnung auf die muslimische Vergangenheit begonnen. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2022): Mit der Aufhebung des „Alhambra-Edikts“ endete offiziell die Verbannung der JudenAm 1. April 1992 widerrief der spanische König Juan Carlos das „Edikt von Alhambra“ – mit ihm waren genau 500 Jahre zuvor im Zuge der Reconquista die sephardischen Juden aus Spanien verbannt worden. De facto galt das Edikt zwar schon seit 1869 nicht mehr, aber für die Juden war es eine historische Wiedergutmachung. Zum Beitrag geht es HIER Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:00 – Wie eins zum anderen kamTC 04:44 – Die Kunst der SpracheTC 07:16 – Florierendes HandwerkTC 11:47 – Ein tragisches EndeTC 15:40 – Die Leidenszeit der jüdischen GemeindeTC 17:28 – Drei Religionen und eine StadtTC 21:41 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro ATMO 1 Glocken MUSIK Zusp. 1 Moschee-Kathedrale:„Es ist, denke ich, eines der faszinierendsten Bauwerke der Geschichte. So was gibt es sonst nirgends. Wir haben diesen neuen Namen Moschee-Kathedrale geprägt, der etwas verwirrend ist. Der Bischof ist damit überhaupt nicht einverstanden. 80 Prozent dieses Gebäudes sehen noch immer aus wie Moschee. 20 Prozent des Gebäudes wurden im frühen 16. Jahrhundert zerstört, um inmitten dieser Gebetshalle der Muslime eine Kirche zu verankern. Das gesamte Gebäude wurde geweiht mit dem Datum der Reconquista schon 1236 und ist entsprechend hochheiliges Gotteshaus.“ MUSIK  UND ATMO ENDE ATMO 2 Kathedrale Gesang Erzähler:Córdoba: Die Kunsthistorikerin Isabel Martínez-Richter steht in der Mezquita Catedral und blickt hoch zum Gewölbe. Islamische Hufeisenbögen, die auf über 800 Säulen ruhen, unterteilen den riesigen Gebetssaal in 19 Seitenschiffe. Die Moschee-Kathedrale ist einer der größten Sakralbauten weltweit. Wie ein notgelandetes Ufo haben die christlichen Herrscher im 16. Jahrhundert ein Kirchenschiff mitten in die Moschee gepflanzt - Rache der katholischen Könige an den Muslimen, die in den vier Jahrhunderten zuvor Córdoba dominiert hatten. Noch heute ist die Moschee-Kathedrale ein Symbol für das Mit- bzw. Gegeneinander von Muslimen und Christen in Spanien. ATMO ENDE Erzähler:Maurische Einwanderer hatten im Jahr 785 auf dem Fundament einer westgotischen Kapelle ihre Moschee errichtet. Der Bauherr war Abd ar-Rahman I., ein Emir, der für die erste Glanzzeit der Araber in Andalusien steht. Die Moschee von Córdoba wurde rasch zu einer der wichtigsten islamischen Gebetsstätten in der westlichen Welt. MUSIK TC 02:00 – Wie eins zum anderen kam Erzähler:74 Jahre zuvor - 711 - war ein Invasionsheer von Arabern und Berbern in der Nähe des heutigen Gibraltar gelandet, angeführt hatte es Tariq ibn Ziyad, im Auftrag des Kalifen von Damaskus. Ohne besondere Mühe besiegte es die Truppen des Westgoten-Königs Roderich. Es folgte ein siebenjähriger Feldzug, an dessen Ende die Iberische Halbinsel fast komplett arabisch besetzt war. Juan Pedro Monferrer-Sala, Professor für Arabistik und Islamwissenschaften an der Universität von Córdoba: MUSIK ENDE Zusp. 2 Prof. ocupacion: VOICEOVER (männlich)„Als die islamischen Truppen ankommen, ist die Iberische Halbinsel militärisch ziemlich desorganisiert. Es gibt keine Staatsgewalt. Als die Berber-Soldaten an Land gehen, ist der Weg frei für sie. Sie treffen auf keinerlei Hindernisse. Insofern muss man von einer Besetzung sprechen und nicht von einer militärischen Eroberung.“ Erzähler:Eine wichtige Voraussetzung: Die vielen jüdischen Bewohner waren von den Westgoten schlecht behandelt worden. Für sie konnte die Lage nur besser werden, zumal sie in Bagdad, Damaskus oder Kairo gute Erfahrungen mit den Muslimen gemacht hatten. Also öffneten sie den Mauren Tor und Tür. So begann die fast 800 Jahre dauernde Epoche al-Andalus: 929 ernannte sich Abd ar-Rahman III. zum Kalifen und damit zum direkten Nachfolger des Propheten Mohamed. Aus dem Emirat Córdoba wurde ein Kalifat, das auf einer Stufe mit den Kalifaten in Bagdad und Kairo stand. Córdoba war auf dem Weg, die wichtigste und auch modernste Stadt Europas zu werden. MUSIK 3 – Suhail Ensemble Erzähler:Der orientalische Palast des Kalifen hatte weit angelegte Säulengänge, Innenhöfe, Kuppeldächer, Gartenanlagen. Auf teuren Marmorböden lagen kostbare Seidenteppiche; Diwane und andere Möbel waren aus edelsten Hölzern, man dinierte auf kunstvoller Keramik, trank aus feinem Glas, die Luft war erfüllt von exotischen Düften. Insgesamt lebten 6000 Frauen am Hof: Haremsdamen, Dichtersklavinnen, Tänzerinnen, Köchinnen. Sie waren in eigenen Häusern für Bedienstete untergebracht. Der Hofstaat, also die Fürsten, ihre bis zu vier Ehefrauen, die Kinder, die engsten Vertrauten, Berater und Gäste bewegten sich mit handbetriebenen Aufzügen, damit die feinen Damen und Herren nicht Treppensteigen mussten. In Schreibstuben wurden wissenschaftliche, religiöse und literarische Werke aus diversen Sprachen für die Bibliothek des Kalifen übersetzt und kopiert: MUSIK ENDETC 04:44 – Die Kunst der Sprache Zusp. 3 Sprache:„Dabei muss man sich vor Augen führen, dass das Vordringen des Islam, die Ausbreitung des Islam ganz wesentlich ein Sprachereignis war. Das heißt: Der Koran ist nicht nur etwas, das man mit dem Kopf aufnimmt als Inhalt, sondern eben auch ein gewaltiges Sprach¬kunstwerk von einem überwältigenden Klang und das hat die Menschen überall in Bann gezogen. Insofern kam es in dieser ersten Zeit zu einem Nebeneinander nicht nur der drei Religionen, sondern auch der Sprachen, der jeweiligen Sprachen, und das Arabische spielt dabei eine beherrschende Rolle.“ Erzähler:Der Sprachwissenschaftler Georg Bossong von der Universität Zürich hat mehrere Abhandlungen über al-Andalus veröffentlicht. Besonders fasziniert ist er vom intellektuellen Austausch, der damals stattfand: Zusp. 4 Übersetzer:„Wir haben ja heute die Tendenz, eine strikte Trennung zwischen Orient und Okzident zu ziehen. Das Mittelmeer als eine Scheidelinie. Das war ja in der Antike überhaupt nicht der Fall. Ägypten gehörte genauso zum Römischen Reich wie Tunesien. Das war das Mare Nostrum auf dem Südufer genauso wie auf dem Nordufer. Und es war eine der vornehmsten Aufgaben der frühen Kalifen, die Quellen der griechischen Weisheit ins Arabische zu übersetzen. Diese Fülle der antiken Wissenschaft und Philosophie ist dann via al-Andalus nach Europa weitergegeben worden.“ Erzähler:Historische Quellen sprechen von 400.000 Büchern in der Bibliothek von Córdoba - es war vermutlich die umfangreichste Sammlung der Zeit. Die Stadt am Guadalquivir war Europas Kultur-Hauptstadt. Sogar bürokratische Mitteilungen oder buchhalterische Aufstellungen aus dem neunten und zehnten Jahrhundert waren hin und wieder in Versform geschrieben. Beamte mussten zum Teil in Reimen Bericht erstatten. Talentierte Poeten wurden mit Minister-Ämtern belohnt. Einer der berühmtesten Hof-Poeten, Ibn al-Chatib, dichtete so blumig, dass er seinen Zuhörern ein Wörterbuch mitbrachte, damit sie ihn verstanden. Zusp. 5 Sprachkunst:„Man kann sich das eigentlich in unseren Breiten kaum vorstellen, wie sprach-begeistert, ja, ich möchte sagen sprachverrückt die Araber sind oder sein können oder in der Vergangenheit immer waren. Sprachliche Schönheit ist etwas, was die Menschen so verzückt hat, dass es Anekdoten gibt, dass sie vor lauter Begeisterung über diese Schönheit einfach gestorben sind. Sie hat quasi der Schlag getroffen.“ MUSIK TC 07:16 – Florierendes Handwerk ATMO 4 Straße Erzähler:Die Bewohner sprachen Arabisch, Hebräisch, Koptisch, Aramäisch, Persisch, Romanisch-Spanisch, Latein. In einer Zeit, in der London oder Paris noch Dörfer waren, wohnten in Córdoba 200.000 Menschen. Als erste europäische Stadt hatte es gepflasterte Straßen mit Laternen, 300 Moscheen sind bekannt, 50 Krankenhäuser, Hunderte öffentlicher Bäder. Neben Hygiene und Poesie brachten die Araber Vieles auf die Iberische Halbinsel, was den Lebensstil der Einheimischen deutlich verfeinerte: Papier, Seide, Keramik, Schmiede- und Glaskunst sowie eine spezielle Lederwarenherstellung. Der Lederhandwerker Carlos López-Obrero aus Cordoba: Zusp. 7 Leder:VOICEOVER (männlich)„In Córdoba geht die Lederverarbeitung auf die arabische Zeit zurück: Truhen, Koffer, Schatullen, Wandbehänge, alles aus Pferde-Leder. Der Córdoba-Stil ist wegen seiner einzigartigen Gerb-Technik berühmt geworden. Nur hier wurde das Leder mit dem Sumach-Pflanzensaft gegerbt. Das macht das Leder besonders weich. So entstand der Begriff „cordovan-Leder“!“ MUSIK ATMO 8 Alhambra Springbrunnen Erzähler:Die Mauren brachten ausgeklügelte Bewässerungssysteme ins trockene Andalusien und ließen die Liebe zur Gartenkunst aufblühen. Granada entwickelte sich zu einer Gartenstadt, deren eindringlichster Ort die Alhambra mit ihren weiten Parkanlagen ist. Die Burg erstreckt sich über eine Bergkette, umfasst Dutzende von kunstvoll verzierten Gebäuden. Zur Hochzeit der Sultane von Granada galt die Alhambra als „Irdisches Paradies“. Ein Traum aus 1001 Nacht - aus Marmor, Alabaster, aus Zedern- und Ebenholz, vor der imposanten Kulisse der schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada. Daniel Grammatico schreibt als Architektur-Journalist viel über die Bauwerke aus der al-Andalus-Zeit. Er deutet auf gut erhaltene arabische Schriftzüge an der Wand in einem der Alhambra-Säle: MUSIK Zusp. 9 Alhambra Sternenhimmel: VOICEOVER (männlich)„Für mich ist das die luxuriöseste Poesie, die jemals veröffentlicht wurde … (rezitiert auf Arabisch) … das hier bedeutet: Besucher, bewundert diesen Palast, schaut diese Kuppel über euch an, in diesem Thronsaal, der in einem Turm untergebracht ist! Jedes Stück Holz bildet einen Stern und alle zusammen das Firmament. Und wir sind die Töchter, die kleinen Kuppeln!“ Erzähler:Tausende von blauen Mosaiksteinchen und vergoldeten Holzplättchen zierten einst die Decken der Alhambra. Viele sind wunderbar erhalten bzw. restauriert. Ibn Zamrak, ein Hofdichter, schwärmte im 14. Jahrhundert: „Die Sterne selbst sehnen sich danach, in ihr zu verweilen, anstatt am Himmel endlos zu kreisen!“ MUSIK ZU ENDEATMO 8 Alhambra Springbrunnen Zusp. 10 Alhambra naturalezza:VOICEOVER (männlich) „Diese Architektur manifestiert sich mit drei Stoffen: nicht mit den wertvollen Keramiken, nicht mit dem teuren Marmor, nicht mit den edlen Hölzern, sondern mit: Licht, Wasser und Natürlichkeit. Die Natur und die Natürlichkeit sind existentiell für alle Häuser und die Innenhöfe in al-Andalus. Das Haus verwandelt sich quasi in einen Garten.“ MUSIK Erzähler:Lustgärten mit Pavillons, Terrassen mit Blick auf die Stadt und die Berge, Bassins, kleine Kanäle, Springbrunnen umschmeicheln die Alhambra. Das Wasser wird aus den umliegenden Bergen zur Burg und weiter in die Wohnviertel geleitet. Trotz der langen trockenen Sommer blüht es überall: MUSIK Zusp. 11 Alhambra Wasser:VOICEOVER (männlich) „Wasser ist Leben, Wasser schläft nie. Die Araber kamen mit hochentwickelter Hydraulik; was sie hier gemacht haben ist eine grüne Revolution. Mit Hilfe von Bewässerungssystemen und Kanälen. Sie nutzten das Wasser für das Hamam, für die Hygiene, aber auch für die berühmten Gärten, die sie hier zu Füßen des Alhambra-Hügels kultiviert haben.“TC 11:47 – Ein tragisches Ende ATMO 10 Trompeten Erzähler:Die Alhambra war auch der Ort, an dem die Epoche al-Andalus theatralisch zu Ende ging: Der letzte arabische Herrscher Boabdil musste 1492 mit seinem Tross die Burg verlassen, da christliche Truppen in Überzahl vor den Toren standen. Nachdem Boabdil mit den Seinen die Alhambra verlassen hatte, soll seine Mutter gesagt haben: „Weine nicht wie ein Weib, da du als Mann die Burg nicht verteidigen konntest!“ Boabdils Seufzer auf dem letzten Hügel, von dem aus die Alhambra zu sehen ist, gab dieser Stelle den bis heute gebräuchlichen Namen „El suspiro del moro“, der Seufzer des Mauren. MUSIK Erzähler:Wie war es dazu gekommen? Das Reich der Mauren auf der Iberischen Halbinsel war nie vereint. Es bestand all die Jahrhunderte aus Emiraten, Fürstentümern sowie dem großen Kalifat Córdoba. Waren unfähige arabische Herrscher an der Macht, zerfielen die Reiche. Außerdem versuchten christliche Heere immer wieder, Territorien zurückzugewinnen. Im 11. Jahrhundert war Andalusien in Dutzende Taifas - autonome Fürstentümer - zerstückelt. Womöglich lenkte ihre Prunk- und Genusssucht die muslimischen Herrscher vom Regieren ab. MUSIK & ATMO 11 Trommeln Erzähler:Der katholische König Ferdinand I. entwickelte besonders viel Energie im Kampf gegen die Mauren: 1064 eroberte er mit Unterstützung der päpstlichen Heere die symbolträchtige Festung Barbastro zurück. Tausende arabische Soldaten wurden getötet, 1500 junge Frauen versklavt. Erzähler:Mittelalter bedeutete für al-Andalus: Raubzüge, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Entführungen. Soldaten wurden zu Legenden, wie der „Cid“, eigentlich Rodrigo Diaz de Vivar, berühmtester Ritter und erfolgreichster Feldheer der Epoche. Immer wieder wechselte er die Seiten, verdingte sich als Söldner mal für christliche Könige, mal für muslimische Fürsten: MUSIK & ATMO 11 Trommeln Zusp. 12 Prof. cid:VOICEOVER (männlich) „This is business würde man heute sagen: Der Cid muss wirtschaftlich überleben, er muss sein Geschäft vorantreiben. Er wird immer wieder an und über die Grenzen seines Landes gedrängt, was typisch ist für diese Zeit: Die Menschen wechseln ihre Kultur, ihre Zugehörigkeit, je nachdem, wo sie gerade am besten ihr Auskommen finden. So war auch der Cid mal auf der einen, mal auf der anderen Seite.“ Erzähler:Christliche Heere aus den nördlichen Provinzen Galizien, Asturien und Kantabrien, aus dem Baskenland und aus Portugal rückten im 11. Jahrhundert nach Süden vor. Die muslimischen Taifa-Könige, wie der Dichterkönig Al Mutamid von Sevilla, konnten ihre Provinzreiche nicht alleine verteidigen und riefen strenggläubige Berber-Krieger aus Nordafrika zu Hilfe: die berüchtigten Almoraviden, denen später die ebenso orthodoxen Almohaden folgten. Diese Kriegermönche besiegten die katholischen Armeen, wandten sich aber danach gegen die maurischen Klein-Könige selbst, deren dekadenten Lebensstil sie verabscheuten. Der Sprachwissenschaftler Georg Bossong von der Universität Zürich: Zusp. 13 Lotterleben: „Es ist allerdings so, dass dieses „Lotterleben“ in al-Andalus, dieses schöne Leben ein jähes Ende fand, als Ende des elften Jahrhunderts auf der einen Seite die Christen Toledo erobert haben, denn die hatten für dieses Lotterleben im Süden auch nichts übrig, und auf der anderen Seite dann eben die Taifa-Könige, diese kleinen Königreiche, die kampferprobten und rauen Krieger aus Afrika, die Almoraviden, um Hilfe gebeten haben. Und diese Almoraviden, die kamen dann, aber die Geister, die man rief, wurde man dann nicht mehr los.“TC 15:40 – Die Leidenszeit der jüdischen Gemeinde Erzähler:Die Dekadenz hatte ein Ende, der Glanz an den Höfen, aber auch die Toleranz zwischen den unterschiedlichen Konfessionen. 1128 erließen die Almoraviden eine Fatwa: Die Juden wurden ausgewiesen! Es begann die lange Leidenszeit der großen jüdischen Gemeinde in Andalusien. Sebastián de la Obra ist der Direktor des Sephardischen Hauses, eines jüdischen Museums in Córdoba: Zusp. 14 persecuciones:VOICEOVER (männlich) „Judenverfolgungen gab es in der Römischen Zeit, unter den Westgoten, während der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden, aber vor allem mit dem Beginn der spanischen Inquisition. Dieser spezielle spanische Anti-Judaismus dauert bis zum 19. Jahrhundert und wird dann zu einem Teil des europäischen Antisemitismus.“ Erzähler:Synagogen wurden zerstört, Tribunale eingerichtet, Scheiterhaufen angezündet. Hunderttausende flohen. Von denen, die blieben, wurden viele ermordet. Für die grausame Inquisition entschuldigte sich erst Papst Johannes Paul II. 500 Jahre später in seiner Ansprache „Mea culpa“: Zusp. 15 judio memoria:VOICEOVER (männlich) „Das christliche Erbe in Südspanien ist immens. Das maurische Erbe ist wunderschön und einzigartig. Das jüdische Erbe dagegen ist unsichtbar. Das Erbe der jüdischen Diaspora steckt in den Köpfen der Menschen, in ihrer kulturellen Entwicklung. Wenn die Leute fragen: Was ist denn von den Juden noch zu sehen, muss man antworten: Die Kultur der Juden findet sich nicht in Bauwerken und Steinen, sondern in Erinnerungen.“ MUSIK TC 17:28 – Drei Religionen und eine Stadt Erzähler:Ab dem 13. Jahrhundert ging al-Andalus seinem Ende entgegen. Den Berberkriegern fehlten das bürokratische und das diplomatische Geschick, um ein europäisches Reich zu beherrschen, aber auch die Unterstützung im Volk. Die christlichen Heere rückten immer weiter vor, gewannen eine Schlacht nach der anderen. Am 2. Januar 1492 wurde auf der Alhambra der Halbmond durch ein großes silbernes Kreuz ersetzt. Die letzte arabische Bastion auf spanischem Boden war gefallen. Die Eroberer, die so genannten „Katholischen Könige“, ließen sich als Befreier Europas feiern: Zusp. 16 Granada capilla terminar:VOICEOVER (männlich) „Das war eine dynastische Hochzeit zwischen Isabella, der Königin von Kastilien, die sie auch Isabella die Katholische nannten, und Ferdinand, dem König von Aragon. Sie vereinten ihre Kräfte und beschlossen, die Präsenz der Muslime hier zu beenden. Sie besiegelten das Ende der knapp 800 Jahre al-Andalus in Granada.Wir sind jetzt in der Königlichen Kapelle, wo die „Reyes católicos“ beerdigt sind. Zehn Jahre lang dauerte ihr Kampf, oder besser ihr Kreuzzug gegen die Araber. Granada war die letzte muslimische Bastion. Der letzte arabische Herrscher, der berühmte Boabdil, wurde aus der Stadt vertrieben und übergab symbolisch beim Hinausreiten aus dem Haupttor den Schlüssel zur Stadt.“ Erzähler:1492 ist auch das Jahr, in dem der genueser Seemann in spanischen Diensten Christoph Kolumbus nach Amerika segelte. Spanien war auf dem Weg zur Weltmacht. Über die „reconquista“, die Rückeroberung durch die Christen, streiten spanische Historiker noch heute: Zusp. 17 Identität: (Bossong)„Es gab und es gibt in Spanien eine Auseinandersetzung über die historische Bedeutung dieser muslimischen Geschichts-Epoche. Es gibt auf der einen Seite ein Lager von Konservativen, die der Auffassung sind, das war ein fremdes Element, das von außen gekommen ist und das nie in Spanien heimisch wurde; und die eigentliche Essenz des Spaniertums ist römisch, katholisch, christlich. Auf der anderen Seite gibt es Historiker, die der Auffassung sind, dass das semitische Element, und zwar sowohl das arabischsprachige als auch das hebräischsprachige jüdische Element, zum spanischen Nationalcharakter unauflöslich dazugehören.“ Erzähler:Nirgendwo sonst lebten Muslime, Christen und Juden so eng zusammen, hatten so intensive Beziehungen. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Gewalt, dennoch einigermaßen gleichberechtigt. Das lange Zeit friedliche Zusammenleben, die „convivencia“ war keine Utopie, sondern vorübergehende Realität. Zusp. 18 Prof. tolerancia:VOICEOVER (männlich)„Sie leben gemeinsam, aber jeder in seinem Viertel. Wir wissen von jüdischen, christlichen und muslimischen Stadtteilen. Kontakte bestehen durchaus: auf dem Markt oder auf dem Stadtplatz. Man trifft sich, aber bei der Religionsausübung bleibt man unter sich, die Andersgläubigen müssen draußen bleiben! Toleranz ist deshalb der falsche Ausdruck, denn Toleranz bedeutet auch religiöse Freiheit und die existiert hier erst im 19. Jahrhundert.“ MUSIK Erzähler:Auch wenn al-Andalus kein Paradies auf Erden war, die Epoche brachte weitreichende Veränderungen in Politik, Kultur, Wissenschaft und Religion mit sich. Für viele Historiker wie Professor Bossong bleibt die maurische Ära im westlichen Europa ein Vorbild: Zusp. 19 Konflikt:„Natürlich bin ich auch fasziniert von der aufscheinenden Möglichkeit, der aufscheinenden Chance eines friedlichen Zusammenlebens der drei monotheistischen Religionen, die sich leider meistens unversöhnlich gegenüberstehen. Das Zusammenleben von Muslimen und Juden kann Wunder hervorbringen, ihre Konfrontation führt zu den Konflikten, die wir alle kennen!“ MUSIK ENDETC 21:41 - Outro
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Mar 29, 2024 • 24min

ARKTIS - Der Polarforscher Fridtjof Nansen

Er ist einer der großen Polarforscher, doch das wird dem Leben von Fridtjof Nansen nicht einmal ansatzweise gerecht: Ende des 19. Jahrhunderts durchquert der Norweger als Erster das eisige Innere Grönlands, bald darauf gelingt ihm eine Expedition fast bis zum Nordpol. Später, während des ersten Weltkriegs, organisiert er umfangreiche Hilfen gegen die Hunger- und Flüchtlingskatastrophen. 1922 hilft er staatenlosen Flüchtlingen mit dem von ihm erdachten ?Nansen-Pass?. Von Sebastian Kirschner (BR 2020) Credits Autor: Sebastian Kirschner Regie: Eva Demmelhuber Es sprachen: Rahel Comtesse, Réne Dumont, Carsten Fabian, Christian Schuler Technik: Chris Schimmöller Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Carl Emil Vogt, Geir Klover Linktipps: Das Kalenderblatt  (2019): 05.07.1922 – Der „Nansen-Pass“ wird eingeführt Staatenlos, nirgendwo hingehören und auch nirgendwo bleiben können - für Flüchtlinge zu allen Zeiten ein Problem. Fridtjof Nansen löst es, indem er einen ganz besonderen Pass einführt. ZUM PODCAST Radiowissen (2022): Von Amundsen bis Hapag-Lloyd – Geschichte der Antarktis-Eroberung Die ersten Entdecker der Antarktis waren waghalsige Abenteurer, unter widrigsten Bedingungen und ohne aufwändige technische Hilfsmittel kämpften sie sich durch das unendliche Eis: Roald Amundsen, Robert Scott, Ernest Shakleton. Auf den frühen Expedition verloren viele ihr Leben, nur wenige konnten den Ruhm als Held und Entdecker tatsächlich genießen. Heute ist die Antarktis immer noch ein wüster Ort - aber längst kein leerer mehr. (BR 2011). JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:54 – Ein Mann, der auffälltTC 06:24 – 49 Tage WanderungTC 08:00 – Mindestens eine Portion EitelkeitTC 11:15 – Auf ins nächste AbenteuerTC 15:24 – Die zweite Karriere als DiplomatTC 19:30 – Zwischen Mentor und RivaleTC 22:53 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro SPRECHER/IN Als Fridtjof Nansen 1887 seine Pläne vorstellt, halten seine Kollegen ihn für verrückt. Die Idee des Norwegers klingt aberwitzig: Im Sommer des nächsten Jahres will er das eisige Grönland durchqueren. Niemand hat bisher diesen Weg geschafft. Keiner weiß, was die Insel im Inneren birgt – einer der letzten weißen Flecken der Landkarte.  Ein solches Risiko, nur um zu beweisen, dass Grönlandmit Eis bedeckt ist? ZITATOR 2„Sollte Nansens Plan in der gegenwärtigen Form in die Tat umgesetzt werden, […] stehen die Chancen zehn zu eins, dass er […] sein Leben und möglicherweise das anderer völlig sinnlos wegwirft“. SPRECHER/IN … urteilt damals die dänische Zeitschrift „Ny Jord“ über die Idee des Wissenschaftlers. Und das nicht ohne Grund, sagt Geir Klover [sprich Gaïr Klöwer]. Er ist Direktor des Nansen-Museums schlechthin: dem Fram Museum in Oslo, benannt nach dem späteren Forschungsschiff Nansens. 01_ZUSPIEL Geir KloverThere's quite a few that have attempted to cross Greenland before Nansen. And all of them had tried from the inhabitant West Coasts. And probably Greenland was steeper and colder and more difficult than they thought. So there it was quite easy for them to turn back. So Nansen thought his idea to cross Greenland was to go to the east coast to Greenland where there was no population and his ship left. And the only way to survive is to cross over to the west side. 01_ Voice-OverEtliche hatten vor Nansen versucht, Grönland zu durchqueren. Sie alle waren von der bewohnten Westküste aus gestartet. Wahrscheinlich aber war Grönland steiler, kälter und unwirtlicher als erwartet. Mit den Siedlungen im Rücken konnten sie aber recht einfach umkehren. Nansens hatte die Idee, von der Ostküste Grönlands aus zu starten, wo es keine Bevölkerung gibt. Und der einzige Weg zu überleben ist der durchs Landesinnere zur Westseite.TC 01:54 – Ein Mann, der auffällt SPRECHER/IN Fridtjof Nansen ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Der junge Mann fällt auf, wenn er durch die Straßen geht. Er trägt sogenannte Dr. Jäger-Gesundheitswäsche: eine Art frühe Funktionskleidung, schlicht, leicht, bestehend aus festen Wollhosen mit einer kurzen Jacke, zugeknöpft auf der rechten Körperhälfte. Und: Anders als die meisten Männer der Zeit ist er nahezu glatt rasiert und ohne Kopfbedeckung unterwegs. Noch als Student der Zoologie heuert er für ein fünfmonatiges Praktikum auf einem Robbenfänger an, um seine Abenteuerlust gegenüber den Eltern zu legitimieren – und findet so seine Bestimmung: ZITATOR 1Das Eismeer ist etwas für sich, nichts anderem vergleichbar und vor allem nicht dem, was man sich gern darunter vorstellt. Flaches, treibendes Eis in wogenden Schollen, bald grünlichblaue See, dann Nebel und Sonnenschein, Sturm und Stille. Das ist es, was ich fand. SPRECHER/IN … schreibt Nansen damals in sein Tagebuch. Als ihn der Drang zur Polarforschung packt, ist Nansen gerade dabei, sich erste wissenschaftliche Lorbeeren zu verdienen. Mit einer Doktorarbeit über das Zentralnervensystem wirbelloser Meerestiere wird er sich einen Namen machen – als Pionier in der noch jungen Disziplin der Neurologie. Nansens Abschlussprüfung für seine Dissertation liegt erst vier Tage zurück, als er am 2. Mai 1888 nach Grönland aufbricht. Und er konnte nur vermuten, was ihn und seine Mannschaft in den kommenden Monaten erwartet, sagt Geir Klover: 02_ZUSPIEL Geir KloverThere was no previous experience really in Norway for doing that type of expedition. So you had to use common sense. They barely made it you know almost starving. 02_ Voice-OverIn Norwegen gab es bis dahin keine wirklichen Erfahrungen mit derartigen Expeditionen. Man war auf gesunden Menschenverstand angewiesen. Beinahe verhungert haben sie es gerade so geschafft. SPRECHER/IN Dabei hat Nansen sich intensiv vorbereitet. In Expeditionsberichten hatte Nansen von den Strapazen seiner Vorgänger gelesen, Bilder gesehen, auf denen sich feine Herren mit Melonen auf dem Kopf und Gamaschen an den Füßen durch den Tiefschnee mühen. Der junge Forscher will planvoller vorgehen. Seine Mannschaft ist klein, aber wohl ausgesucht: ein Spezialistenteam von nur fünf Mann. Ein jeder zäh, ausdauernd und verlässlich. Nansen verwendet für seine Expedition eigens entworfenes Material, hat etwa spezielle Schlitten bauen lassen. MUSIK SPRECHER/IN Fast scheint es, als hätten schon seine Kindheit und Jugend Nansen auf diese Reise vorbereitet. Ihn prägt die ländliche Idylle seines Elternhauses nahe Kristiania. Der Sohn einer bürgerlichen Oberschichtfamilie liebt es zu fischen, zu jagen und tagelang durch die ausgedehnten Wälder zu streifen. Seine Mutter, eine geborene Baronesse Wedel-Jarlsberg, begeisterte den Jungen früh für Sport und die Natur, sagt der norwegische Historiker und Nansen-Biograf Carl Emil Vogt: 03_ZUSPIEL C.E. VogtShe loved nature, skiing etc. So I think that he had his very strong and independent character from his mother actually and his mother's family because his father was more of a pedantic correct Protestant, civil servant and lawyer. So I think the combination of the very protestantic ethos of the duty to do what you have to do etc. and the extremely independent and artistic and nature loving sentiments from his mother, I think that combination of them is very important actually. 03_ Voice-OverSie liebte die Natur, das Skifahren usw. Ich denke, dass er seinen starken und unabhängigen Charakter von seiner Mutter und ihrer Familie hatte. Sein Vater war mehr ein pedantischer, korrekter Protestant, Beamter und Anwalt. Also einerseits das sehr protestantische Pflichtbewusstsein, das zu tun, was zu tun ist, und andererseits die äußerst unabhängigen, künstlerischen und naturverbundenen Gefühle seiner Mutter: Ich glaube, dass diese Kombination sehr wichtig war. SPRECHER/IN Eigenschaften, auf die es in der Eiswüste Grönlands ankommt. Nansen will sein Ziel unbedingt erreichen, sein Motto lautet: die Westküste oder der Tod. Nach einer abenteuerlichen Odyssee auf Eisschollen entlang der Küste beginnt der Aufstieg über das bis zu 3200 Meter hohe Inlandeis. Auf dem Plateau reist die Expedition nachts. Dann ist es kälter, die Skier und Schlitten gleiten besser. Geschlafen wird tagsüber – jeweils zu dritt in einem Schlafsack. Das spart Gepäck. Am 8. September 1888 notiert Nansen in sein Tagebuch: ATMO WindgeheulTC 06:24 – 49 Tage Wanderung ZITATOR 1Der Weg ist unglaublich beschwerlich, schlimmer denn je, obwohl er hart ist; dieser Schnee ist widerspenstig wie Sand. Wir arbeiten gegen den Wind und Schneetreiben an. – Und weiter am 9. September: Es wurde im Laufe des Tages schlimmer mit dem Schneefall, und der Weg wurde schlechter und schlechter  SPRECHER/IN Hunger und entsetzlicher Durst plagen die Männer. Erst am 26. September erreichen sie die Westküste. 49 Tage Wanderung, 560 Kilometer und harte Entbehrungen liegen hinter ihnen. Zum ersten Mal ist der grönländische Eispanzer in Ost-West-Richtung bezwungen. Doch zurück nach Europa kommen sie vorerst nicht: Wegen des nahenden Winters fährt von Godthåb kein Schiff mehr ab. Einen Eilboten der Inuit kann Nansen noch beauftragen, mit dem Kajak 300 Kilometer nach Süden zu fahren, um dem letzten Transportschiff in Ivigtût ihre Erfolgsnachricht mitzugeben. Bis zum nächsten Frühjahr müssen sie bei den Inuit überwintern – aus Sicht von Geir Klover der eigentliche Erfolg der Expedition: 04_ZUSPIEL Geir KloverI think changed his mentality and also became more prepared for a future in exploring Polar Regions. It was the starkest initiation as a polar explorer. 04_ Voice-OverIch glaube, das hat in gewisser Weise seine Mentalität verändert, es hat ihn auf eine Zukunft in der Polarforschung vorbereitet. Das hat ihn auf seinem Weg zum Polarforscher wohl am stärksten geprägt.TC 08:00 – Mindestens eine Portion Eitelkeit SPRECHER/IN Die Nachricht von der Grönland-Querung läuft in der Zwischenzeit in großen Schlagzeilen um die Welt. Bei Nansens Rückkehr am 30. Mai 1889 empfängt ihn in Kristiania die jubelnde Menge. Tausende wollen Norwegens neuen Helden sehen. Dabei ist Fridtjof Nansen nicht nur der Held und soziale Mensch, als den ihn die meisten seiner Zeitgenossen und seine Nachwelt später gern stilisieren. In seinem Buch „Auf Schneeschuhen durch Grönland“, 2016 in der Edition Erdmann wieder aufgelegt, notiert er, was einer seiner Begleiter ihm vorwirft: ATMO Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Hungern müssten sie und würden obendrein wie die Hunde behandelt, es werde mit ihnen herumkommandiert, sie müssten den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten, schlimmer als Tiere - nein, das wäre nicht zum Aushalten. SPRECHER/IN Seine Mannschaft betrachtet ihn als selbstsüchtig, arrogant und launisch. Für Geir Klover nicht ohne Grund: 05_ZUSPIEL Geir KloverIts priority was more of the science and survival. Nansen didn’t care very much with his men. Every time he was always right. Whatever debate, whatever dialogue – he was always right. And basically I think he felt superior to them. So he did not accept anyone else's input than his himself. 05_ Voice-OverVorrang hatten für ihn die Wissenschaft und das Überleben. Nansen interessierte sich kaum für seine Männer. Er hatte immer Recht. Egal welche Debatte, welches Gespräch – er hatte Recht. Grundsätzlich fühlte Nansen sich ihnen überlegen. Er akzeptierte keine andere Meinung als die eigene. SPRECHER/IN Eine Portion Eitelkeit gehörte zu Nansens Persönlichkeit, notiert auch seine Tochter Liv in ihren Erinnerungen. Angesichts der späteren Erfolge und des Jubels, der Nansen zurück in Norwegen überall entgegenschallte, muss es für ihn auch schwer gewesen sein, nicht an den eigenen Mythos zu glauben. Denn aus Sicht von Geir Klover war Nansen geradeheraus, ein Typ, der sich nur schwer verstellen konnte: 06_ZUSPIEL Geir KloverThose people have difficulty relating to the feet, to spend a year and a half away, surviving a winter, eating polar bears and shooting Walrus. And then coming back to safety, it was quite unheard of at that time. He was very elegant. 06_ Voice-OverSolche Menschen tun sich schwer, auf dem Boden zu bleiben: anderthalb Jahre weg zu sein, einen Winter zu überleben, indem man Eisbären isst und Walrosse jagt. Und wieder sicher zurückzukehren – das war etwas nicht Dagewesenes. SPRECHER/IN Hochgewachsen, blond, gutaussehend, ein exzellenter Skifahrer und Redner. Mit seinen blauen Augen scheint Nansen immerzu in die unbekannte Ferne zu blicken – und dort zieht es ihn schon bald wieder hin. Knapp drei Monate nach seiner Rückkehr von Grönland heiratet der 27-Jährige die vier Jahre ältere Sängerin Eva Sars. Er nennt sie liebevoll »die beste weibliche Skifahrerin Norwegens«. Ausgerechnet Nansen, der sich lange als entschiedener Gegner der Ehe gezeigt hatte. Er liebt seine Frau, er baut ein Haus, hat fünf Kinder mit ihr – aber eigentlich ist er unfähig zu einem Zusammenleben. Der Polarforscher erweist sich als tyrannischer, launischer Ehemann und Vater – der erstmal nicht für die Familie, sondern seine Arbeit lebt. AKZENTTC 11:15 – Auf ins nächste Abenteuer SPRECHER/IN In Nansen reift bereits der Plan zu einer nächsten Expedition. Der Forscher ist sicher, den bis dahin unentdeckten Nordpol erreichen zu können – mithilfe der Eisdecke, die seiner Ansicht nach mit der Strömung nach Norden driftet. Dazu lässt Nansen eigens ein Schiff konstruieren, das dem Druck der Eismassen standhalten soll: die „Fram“. Mit ihr lässt Nansen sich und seine Mannschaft im Herbst 1893 im arktischen Packeis einfrieren. ATMO leichtes Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Montag, 9. Oktober. Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein betäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte: Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen. Die »Fram« verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte. Mit stetigem Druck schob sich das Eis heran, musste jedoch unter uns durchgehen und wir wurden langsam in die Höhe gehoben. Diese Pressungen wiederholten sich den ganzen Nachmittag und waren manchmal so stark, dass die »Fram« mehrere Fuß gehoben wurde; aber dann konnte das Eis sie nicht länger tragen und brach unter ihr entzwei. Es scheint hier ziemlich viel Bewegung im Eise zu sein. SPRECHER/IN … schreibt Nansen darüber in seinem Buch „In Nacht und Eis“. Das Schiff driftet und wird von den Eismassen nicht zerquetscht. Trotzdem verläuft die Mission anders als geplant. Nach zwei Wintern im Eis zeichnet sich ab, die Fram würde den Pol verpassen. Nansen fasst einen waghalsigen Entschluss: ATMO leichtes Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Noch immer muss ich warten und die Drift beobachten; aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und alles auf einem Marsch nach Norden über das Eis wagen. Ich weiß nichts Besseres zu tun. Es wird gefährlich sein, eine Frage um Leben oder Tod; aber habe ich eine andere Wahl? SPRECHER/IN Mit Hjalmar Johansen, einem seiner Begleiter, verlässt Nansen im März 1895 die Fram. Auf Skiern und Hundeschlitten machen sie sich auf den Weg, den Pol zu erreichen. Zum Schiff werden die beiden nie zurückfinden. Doch auch sein Ziel, den Nordpol, muss Nansen knapp über dem 86. Breitengrad aufgeben. Zu beschwerlich ist der Weg: ATMO Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das enden soll. Inzwischen schwinden unsere Vorräte und mit ihnen unsere Hunde. Werden wir Land erreichen, solange wir noch zu essen haben – ja, werden wir es überhaupt erreichen? Bald wird es unmöglich, gegen dieses Eis und den Schnee noch weiter anzukämpfen. SPRECHER/IN Dennoch schafft der Norweger wieder das damals nahezu Unmögliche: Nansen und seine gesamte 12-köpfige Mannschaft kehren nach drei Jahren unversehrt zurück. Nansen und Johansen hatten sich zu Fuß und in Kajaks bis in den Süden von Franz-Joseph-Land durchgeschlagen. Mit einem Versorgungsschiff gelangten sie schließlich zurück Richtung Norwegen. Die Fram hatte derweil die Eisdrift fortgesetzt und nordwestlich von Spitzbergen wieder offenes Wasser erreicht. Im August 1896 kommt es im norwegischen Tromsø zum großen Wiedersehen. Auch wenn Nansen den Nordpol nicht erreicht, so beweist er seine Theorie zur Meeresströmung und kommt dem Pol so nahe wie niemand zuvor. Nansen ist zu diesem Zeitpunkt erst 35. Seine Erfolge machen ihn zu einem der angesehensten Männer des Landes. Gleichzeitig drängen sie den Forscher immer mehr in politische Ämter – auch weil er offensiv für die Unabhängigkeit Norwegens eintritt, sagt Carl Vogt:TC 15:24 – Die zweite Karriere als Diplomat 08_ZUSPIEL C.E. VogtNorway was in a union with Sweden. It was a loose and liberal union. We had only the king, the foreign policy in common but it became more and more clear during the century that Norway wanted its full independence. So these nationalist sentiments were stronger and stronger and Nansen became one of the most important national heroes in Norway. So I guess that was why Norwegian governments started to use him as some kind of an informal foreign minister so to speak. 08_ Voice-OverNorwegen existierte in einer Union mit Schweden. Zwar einer lockeren, liberalen Union – wir hatten nur den König, die Außenpolitik gemeinsam. Aber im Laufe des Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass Norwegen seine volle Unabhängigkeit wünschte. Diese nationalistische Empfindung wurde immer stärker, gleichzeitig wurde Nansen einer der wichtigsten Helden des Landes. Wohl deshalb hat die norwegische Regierung ihn sozusagen als informellen Außenminister eingesetzt. SPRECHER/IN Als solcher handelt Nansen ab 1906 in London die Souveränität seines Landes mit aus. Doch die große Wende in seinem Leben stand Fridtjof Nansen noch bevor: Im Jahr 1907 stirbt seine Frau Eva infolge einer schweren Lungenentzündung. Sechs Jahre später stirbt nach langer Krankheit auch sein jüngster Sohn Asmund. Für Carl Vogt ein Auslöser für Nansens nun folgenden radikalen Karrierewechsel: 09_ZUSPIEL C.E. VogtHe had lost a son in 1913 so this was some kind of a personal crisis for him. Then came the war and he really had become too old to do this Arctic or polar explorations anymore. 09_ Voice-OverEr hatte 1913 einen Sohn verloren. Das war für Nansen eine Art persönliche Krise. Dann kam der Krieg und er war einfach zu alt geworden für Polarexpeditionen. SPRECHER/IN Die Schrecken des Ersten Weltkriegs und eine drohende Hungersnot in Schweden veranlassen Nansen, sich für einen Platz Norwegens im neu geschaffenen Völkerbund einzusetzen. Dieser beauftragt Nansen im Frühjahr 1920, sich um den Austausch hunderttausender Kriegsgefangener zu kümmern. Auch wenn die Ausgangslage dafür denkbar schlecht war: Bis 1922 können etwa eine halbe Million Kriegsgefangene aus rund 30 Nationen dank Nansen nach Hause zurückkehren. Auch aufgrund eines speziellen, von Nansen erdachten Dokuments, dem später so genannten „Nansen-Pass“. Denn was vielen Flüchtlingen fehlt, ist eine Staatszugehörigkeit. Und das bringt massive Probleme mit sich: 11_ZUSPIEL C.E. VogtYou do not have citizens’ rights. That's the most basic. But you also have a lot of problems in your daily life. Without paper it is very hard to get a place to live. It is impossible to marry, to baptize your children for instance. And often impossible to have a work and pay taxes. You have a lot of bureaucratic problems in your life. So this is the reason why it became necessary to help these people have a legal status. 11_ Voice-OverSie haben keinerlei Bürgerrechte. Das ist das Grundlegendste. Aber sie haben auch viele Probleme im Alltag. Ohne Papiere ist es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Sie können nicht heiraten oder ihre Kinder taufen. Und oft ist es unmöglich, normal zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Sie haben viele bürokratische Probleme. Deshalb war es notwendig, diesen Menschen zu einem legalen Status zu verhelfen. SPRECHER/IN … sagt Historiker Carl Vogt. Fridtjof Nansen hat seine erste Aufgabe für den Völkerbund kaum angetreten, als man ihn bittet, zusätzlich eine Hilfsaktion für Russland zu leiten. Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und zuletzt anhaltende Trockenheit haben das Land ausgedörrt. Knapp 30 Millionen Menschen droht der Hungertod. Doch politisch traut der Sowjetregierung niemand, wieder steht Nansen, als Hoher Kommissar für Flüchtlingsfragen, am Rednerpult des Völkerbunds: ZITATOR 1Die Nahrungsmittel liegen in Amerika, aber niemand findet sich, sie zu holen. Kann denn Europa ruhig dasitzen und nichts dafür tun, diese Nahrungsmittel herüberzubringen und die Völker auf der anderen Seite zu retten? SPRECHER/IN Aber der Völkerbund verweigert seine Hilfe, politische Interessen überwiegen. Für Nansen eine schwere Niederlage. Trotzdem kann er private Spender und einen Kredit Norwegens organisieren, um den Hungernden zu helfen. Nicht zuletzt für diesen Einsatz erhält Nansen 1922 den Friedensnobelpreis. Seinem Einsatz für Flüchtlinge bleibt Nansen weiter treu: Nach Ende des griechisch-türkischen Kriegs 1922 setzt er sich für griechische Flüchtlinge ein. Ab 1925 bemüht er sich darum, die in der Türkei verfolgten Armenier in der Sowjetunion anzusiedeln. TC 19:30 – Zwischen Mentor und Rivale Zu den ihm nachfolgenden Polarforschern – Robert Falcon Scott, Roald Amundsen, Ernest Shackleton – hat Nansen bis zuletzt ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits ist er ihr Mentor, sie alle suchen seinen Rat. Andererseits bleibt Nansen immer ihr Rivale. Er hatte selbst Überlegungen für eine Südpolexpedition angestellt. Und doch überlässt Nansen seinem Landsmann Amundsen für eine Polarexpedition „seine“ Fram. Als Amundsen bei einer Rettungsmission 1928 in der Arktis umkommt, ist Nansen tief betroffen. Die folgenden Zeilen einer Rede in Erinnerung an Amundsen sind Teil der wohl einzigen Originaltonaufnahme, die sich von Fridtjof Nansen erhalten hat. Diese Zeilen könnten auch auf Nansen passen: 12_ZUSPIEL NansenAus der großen, weiten Stille wird aber sein Name im Glanz des Nordlichts durch die Jahrhunderte für die Jugend Norwegens leuchten. Es sind Männer mit Mut, mit Willen, mit Kraft wie seiner, die uns mit Glauben an das Geschlecht und mit Zuversicht in die Zukunft erfüllen. Die Welt ist noch jung, die solche Söhne erzieht. SPRECHER/IN In seinen Gedanken an Roald Amundsen verneigt sich Nansen vor dessen Leistungen. Für Historiker Carl Vogt liegen die wahren Leistungen bei Fridtjof Nansen selbst: 13_ZUSPIEL C.E. VogtHis most dangerous expedition was not the one to the North Pole. Of course he could have died there as well. But in 1921 he really went to the famine areas in Russia in the Volga valley and at least one or two of his travel companions died from typhoid fever they had caught on the train with Nansen. So he could easily have died from his engagement actually. So I mean it was really heroic. 13_ Voice-OverSeine gefährlichste Expedition war nicht die zum Nordpol. Natürlich hätte er dort auch sterben können. Aber 1921 ging Nansen wirklich in die Hungerregionen in Russland im Wolgatal. Und mindestens ein oder zwei seiner Reisebegleiter starben an Typhus, den sie sich während der Zugfahrt mit Nansen geholt hatten. Er hätte also leicht durch sein Engagement sterben können. Das war wirklich heldenhaft. SPRECHER/IN Am 13. Mai 1930 weilt Nansen auf dem Balkon seines Hauses in Lysaker. Im Liegestuhl genießt er den Frühling und den Besuch seiner Familie; mit einem Stapel Arbeit vor sich erholt Nansen sich gerade von einer langwierigen Venenentzündung. Seine Schwiegertochter Kari will ihm einen Tee bringen, als Nansen einem Herzinfarkt erliegt. Als Fridtjof Nansen mit 68 Jahren stirbt, hat er sie allesamt überlebt: Scott, Amundsen, Shackleton... Als Einziger endet er nicht auf einer Expedition. Und doch bleibt der Polarpionier, Diplomat und Friedensnobelpreisträger bis zuletzt unerfüllt und mürrisch, denkt, er habe sich nie im Leben zurechtgefunden. TC 22:53 – Outro
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Mar 29, 2024 • 23min

ARKTIS - Die Legende vom Sannikow-Land

Über 100 Jahre lang prangt das Sannikowland auf den Arktis-Karten - obwohl es nie gefunden wird. Einige lassen bei der Suche nach diesem Land ihr Leben, doch keine der Expeditionen kann die Existenz einer warmen Insel im Eis bestätigen. Bis die technische Entwicklung nach und nach die Wahrheit über das Sannikowland ans Licht bringt. Von Fiona Rachel Fischer (BR 2023) Credits Autorin: Fiona Rachel Fischer Regie: Frank Halbach Es sprachen: Laura Maire, Christian Baumann, Sven Hussock Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Andreas Renner Linktipps: Deutschlandfunk (2020): Expeditionen ins Eis – gestern und heute Wie fühlt es sich an, bei klirrender Kälte, vom Eis umschlossen in tiefster Dunkelheit festzusitzen? Was treibt Polarforscher an, die unwirtlichen Regionen am Nord- und Südpol zu erkunden? Welche Eindrücke und Erkenntnisgewinne wiegen die enormen Risiken ihrer Abenteuer auf? Drei aktuelle Sachbücher liefern Antworten. JETZT ANHÖREN NDR (2024): Geister der Arktis Die preisgekrönte Extremtaucherin Christina Karliczek Skoglund begibt sich auf eine Expedition in die eisigen Tiefen der Arktis, um die geheimnisvollen Eishaie zu filmen. Die Tierfilmerin möchte nicht nur mit einem der "Methusalems der Meere" tauchen, sondern mit führenden Eishaiforschern über bahnbrechende neue Entdeckungen diskutieren. In Folge zwei stößt Christina immer weiter ins nördliche Grönland vor, um die "Einhörner des Meeres" zu finden. Die bedrohten Narwale leben das ganze Jahr über in Packeisnähe und sind durch den Klimawandel extrem bedroht. Ein mitreißender Doku-Zweiteiler. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 03:55 – Ein Kaufmann auf Expedition TC 05:54 – Der Arktis Hype des 19. Jahrhundert TC 08:45 – Auf der Suche bis in den Tod TC 11:40 – Stoff für einen Science-Fiction-Roman TC 17:20 – Ewiger wissenschaftlicher Mythos TC 21:55 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK & ATMO Geschrei von Wildgänsen, Eisiger Wind, Eisberggeräusche SPRECHERIN 1: Folgt man den sibirischen Wildgänsen gen Norden in das ewige Eis, so entdeckt man bald hinter der Kotelny-Insel einen bläulichen Schimmer am Horizont. Beim Näherkommen wird er dunkler und dunkler, bis er sich zu einer schroffen Bergkette verfestigt. SPRECHER 2: In der unerbittlichen arktischen Kälte ist der Aufstieg an den steilen Berghängen mühsam. Doch zieht man sich an der letzten Kante hoch, wird man Wunderbares erblicken: Das satte Grün der Wiesen und Bäume. Heiße Geysire, die aus der fruchtbaren Erde sprudeln. Die wilden Mammuts, die durch die urzeitliche Flora streifen, und die blau tätowierten Gesichter eines verschollenen Indigenenstamms. SPRECHERIN 1: Das Sannikowland. Eine mystische Arktisinsel mit Atlantis-Charakter. Gefunden wurde dieser wundersame Ort schließlich nie. ZITATOR 1: Hat dieses Land überhaupt existiert? Ich bin überzeugt, daß es existiert hat. SPRECHER 2: So der Geologe und Autor Wladimir Afanasjewitsch Obrutschew in seinem Roman „Sannikowland“. Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Verlags Neues Leben in der Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin. SPRECHERIN 1: Die Existenz des Sannikowlands ist eine von vielen Mythen, die sich im Zarenreich des 18. und 19. Jahrhunderts um die Arktis spinnen. SPRECHER 2: Zu dieser Zeit ist die Arktis ein weißer, also ein unausgestalteter Fleck auf der Landkarte. Im faszinierenden Unbekannten des ewigen Eises wird eine Nordostpassage entlang der eurasischen Nordküste vermutet, dass der Nordpol möglicherweise eisfrei sei, und irgendwo im Eismeer soll der achte Kontinent Arctica zu finden sein. Auf unentdeckten Inseln sollen große Reichtümer schlummern. MUSIK ENDE O-TON: Es gibt ja diese Insel-Mythen in der Kulturgeschichte zuhauf, dass man vermutet, irgendwo im Ozean hat sich eine Insel gehalten mit glücklichen Menschen. Also diese Insel-Utopien gehen bis in die Antike zurück. Denken Sie an Atlantis oder konkreter für die Arktis haben Sie die Hyperboreer, also diese Vorstellung, dass es irgendwo fernab der Zivilisation glückliche Menschen gibt, die warum auch immer, mal abgeschieden wurden. […] Und dann projiziert man einfach diese Vorstellung, die es schon gibt, auf diese Insel. SPRECHERIN 1: Professor Andreas Renner vom Lehrstuhl für Russland-Asien-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. SPRECHER 2: Es sind die Indigenen der sibirischen Küste, die bereits seit Jahrhunderten mit ihren flachen Booten das Eismeer befahren. Im 17. Jahrhundert gibt es erste Erkundungsfahrten von russischer Seite und es sind zunächst Entdecker und Eroberer, die von einer Flussmündung über das Meer zum nächsten großen Fluss fahren. Hierbei entstehen die ersten Karten dieser Region. Sie sind allerdings nur zum Navigieren gedacht und nicht einmal mit Längen- und Breitengraden versehen. SPRECHERIN 1: Wissenschaftliche Fahrten beginnen in den 1730er Jahren mit der Großen Nordischen Expedition, angestoßen von Marineoffizier Vitus Bering und beauftragt von Zarin Anna Iwanowna. Ganze 10 Jahre dauert sie. Die Karten, die die Forscher entwickeln, bleiben jedoch unvollständig. ZITATOR 1: Man wollte es kennenlernen, die Tiefe und die Temperatur der verschiedenen Wasserschichten messen und die Zusammensetzung des Wassers sowie die darin lebenden Tiere und Pflanzen, den Meeresgrund, die Richtung der Strömungen usw. erforschen. TC 03:55 – Ein Kaufmann auf Expedition SPRECHER 2: Doch es gibt noch eine weitere Gruppe, die Interesse an den arktischen Gewässern hat: Kaufleute, die mit Pelzen und Elfenbein handeln. MUSIK SPRECHERIN 1: Ein solcher Händler ist auch der Namensgeber und „Entdecker“ des Sannikowlands. Jakov Sannikow aus Jakutsk sammelt die Stoßzähne von Walrössern oder lässt sie erlegen, um das Elfenbein teuer zu verkaufen. Doch dann findet er eine noch lukrativere Einnahmequelle im ewigen Eis: O-TON: Mammutelfenbein. Also er hatte entweder Glück oder Gespür für. Es gibt auf den nordsibirischen Inseln sehr viele Mammutkadaver. Es hält sich in Nordostsibirien ungefähr bis 1500 oder 2000 vor der Zeitrechnung, also das letzte Refugium des Mammuts, und sie können dort nicht weg, sondern sie sterben dann tatsächlich zu Hunderten auf diesen Inseln mit dem Anstieg des Meeresspiegels. Und Sannikow ist einer der ersten, der systematisch diese Mammute sucht und ihnen die Stoßzähne wegnimmt und sie dann teuer verkauft. Also ein sehr erfolgreiches Business, und er ist tatsächlich dann wegen seiner Ortskenntnisse an einer wissenschaftlichen Expedition im Jahr 1809 beteiligt, die diese Neusibirischen Inseln vermessen soll. SPRECHER 2: Mit Mattias Hedenström, einem verbannten Beamten aus Riga, bricht Sannikow im Namen des Zaren zu der Mission auf. ATMO SCHIFF SPRECHERIN 1: Das Leben auf einer solchen Expedition ist hart: Die flachen Schiffe mit niedrigem Tiefgang, mit denen man im Eismeer navigieren kann, haben oft keine Kajütenaufbauten. Es ist dort eng, kalt und nass. Viele Menschen, die sich in die Arktis wagen, sterben an Erschöpfung, Hunger, Kälte oder Skorbut. MUSIK SPRECHER 2: Doch wer erfolgreich zurückkommt, den erwarten oft Ruhm oder Reichtum. So auch Sannikow, der nicht nur eine neue Insel entdeckt, sondern gleich noch eine zweite – wie er denkt. TC 05:54 – Der Arktis Hype des 19. Jahrhundert SPRECHERIN 1: Im Jahr 1811 erblickt der Händler nordwestlich der Kotelny-Insel eine unbekannte Landmasse. Diese ist für die Expedition allerdings unerreichbar. Hedenström trägt die gesichtete Insel dennoch in die Karte ein – unter dem Namen Sannikowland. SPRECHER 2: Damit setzt er ihrem Entdecker ein Denkmal, doch eine Sensation ist es noch lange nicht. Denn schließlich sind viele Inseln zu dieser Zeit unerreicht. Zehn Jahre später schickt die zarische Admiralität eine neue Expedition los, um die Karten weiter auszuarbeiten. MUSIK ENDE ZITATOR 2: [S]päter schien es, als seien die Angaben Sannikows widerlegt worden: Leutnant Anjou, der vom Marineministerium den Auftrag erhalten hatte, die von Sannikow gesehenen Länder aufzusuchen, kehrte 1824 mit der vollen Überzeugung zurück, daß die angeblich in Norden von den Neusibirischen Inseln gelegenen Landmassen wohl nur auf einer Täuschung beruhten. SPRECHER 2: –  schreibt Arktisforscher Baron Eduard von Toll später über diese Expedition. O-TON: Das ist auf jeden Fall eine Arktis-Expedition, die kreuz und quer um den Archipel und am Archipel entlangfährt, aber dieses Sannikowland nicht findet. Also man geht systematisch auch an die Stellen zurück, von denen die gesichtet wurde, und kann diese Entdeckung nicht bestätigen, lässt die Insel aber trotzdem auf den Karten stehen, weil es ja weder bestätigt noch widerlegt ist. SPRECHERIN 1: Diese Expedition soll die arktischen Inseln kartografieren, aber auch nach einer Landverbindung zu dem Kontinent Arctica suchen – den es freilich gar nicht gibt. Aber die Entdecker tragen immerhin eine neue Insel auf ihrer Karte ein: die Wrangelinsel, die erst knappe 100 Jahre später wirklich entdeckt und erforscht wird. SPRECHER 2: Auch jetzt ist die Küstenlinie nur bruchstückhaft kartografiert, denn der Eisgang verhindert das Durchkommen. Und das Sannikowland, das nordwestlich der Kotelny-Insel auf der Karte eingezeichnet ist, bleibt eine bloße Vermutung. MUSIK & ATMO Geschrei von Wildgänsen SPRECHERIN 1: Solche weißen Flecken auf der Karte, wie unentdeckte Inseln und der bisher unerreichte Nordpol reizen aber auch die westlichen Staaten, ihre Überlegenheit zu demonstrieren. MUSIK ENDE O-TON: Es gibt so einen, heute würde man sagen, so einen Arktis-Hype oder so ein Pole-Hype. Das hat einerseits einfach mit der technischen Entwicklung zu tun. Im neunzehnten Jahrhundert kann man eigentlich alle paar Jahre bessere Expeditionsschiffe bauen und dann kommen dampfgetriebene Schiffe. Die Schiffe werden stärker und eigentlich alle größeren europäischen Staaten beginnen Arktisexpeditionen, auch Deutschland, auch Österreich. Und das hat viel auch mit diesem kulturellen Wettkampf zwischen den europäischen Nationen zu tun. Es ist Prestigedenken, dann geht es gar nicht mehr so darum, Land im Besitz zu nehmen, sondern als Erster dort zu sein. TC 08:45 – Auf der Suche bis in den Tod MUSIK ZITATOR 2: An klaren Sommertagen sieht man von der Nordspitze der Insel Kotelny unter 76° n. Br. vier Berge, die sich kaum über den nördlichen Horizont emporheben — das ist das Sannikow-Land, ein noch nie betretenes Gebiet. SPRECHER 2: Es ist der 18. August 1886. Der deutsch-baltische Arktisforscher Eduard Gustav von Toll erblickt bei einem Aufenthalt auf der Kotelny-Insel am Horizont vier Berge am Horizont. ZITATOR 2: Die Berge des Sannikow-Landes erinnern in ihrer Form lebhaft an die abgestumpften Basaltkegel des Swätoi Noß, wie sie dem Auge von der Südküste der Gr. Ljächow-Jnsel erscheinen. SPRECHERIN 1: Und das an genau derselben Stelle, wie Sannikow 75 Jahre zuvor. SPRECHER 2: Meint Toll. Aber es ist eben nicht genau dieselbe Stelle. Doch Toll ist davon überzeugt, das Sannikow-Land gesichtet zu haben. Er stellt einen Antrag an die Russische Akademie der Wissenschaften mit der Bitte, eine Expedition auszurüsten und ihn auf die Suche nach der unerreichten Insel zu schicken. ATMO Geschrei von Wildgänsen & Musik ENDE SPRECHERIN 1: Im Jahr 1899 bewilligt die Akademie 180 000 Rubel für die Expedition. Im Juni des darauffolgenden Jahres sticht Eduard von Toll mit dem Motorschiff Sarja, der Morgenröte, von Kronstadt aus in See. MUSIK SPRECHER 2: Doch die Expedition verläuft nicht wie geplant. Das Eis verhindert, dass die Sarja nahe genug an die mutmaßliche Lage des Sannikowlands herankommt. Schließlich friert das Schiff auch noch nahe der Kotelny-Insel im Packeis ein. Im Juni 1902 beschließen Toll und einige andere schließlich, die Sarja zurückzulassen. Auf Hundeschlitten machen sie sich auf in Richtung Nordosten, um das Eiland auf eigene Faust zu suchen. SPRECHERIN 1: Sie werden nicht wieder zurückkehren. Ein Suchtrupp findet 1903 Tolls Tagebuch, doch die Arktisforscher bleiben verschollen. SPRECHER 2: Das dramatische Ende dieser Expedition bedeutet die endgültige Mythisierung des Sannikowlands. MUSIK ENDE O-Ton: Weil er das Unglück hat, von seiner Reise nicht zurückzukehren. Also man startet in Kronstadt und fährt dann durch Arktisschmelze eine sehr, sehr schwierige Route. Toll ist tatsächlich erst der dritte, dem es überhaupt gelingt, hier diese Passage von Europa bis ins ostsibirische Meer zu machen. […] Aber gerade weil er so verschwunden ist und es auch nicht eine gewisse Prominenz hat als Arktis Forscher, dann fängt es eben an, dass man ihn mit diesem Sannikowland verbindet, also die Suche nach dieser Insel. TC 11:40 – Stoff für einen Science-Fiction-Roman SPRECHERIN 1: Dieser abenteuerliche Stoff inspiriert schließlich den Science-Fiction-Autor Wladimir Obrutschew zu seinem Roman „Sannikowland“, der 1926 erscheint. In erster Linie ist Obrutschew jedoch Geologe: Sowohl im Zarenreich als auch später in der Sowjetunion forscht er zur Geologie Sibiriens, zu Gletscherbildung, Permafrost und Vulkanismus. Dafür wird er mit vielen Ehrentiteln ausgezeichnet und erhält fünf der renommierten Leninpreise. SPRECHER 2: Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse verarbeitet Obrutschew in insgesamt drei utopisch-phantastischen Romanen. Damit trifft er genau den Zeitgeist, denn die optimistische Aufbruchsstimmung der jungen UdSSR zeigt sich auch in einem allgemeinen Enthusiasmus für Wissenschaft. Die Bevölkerung soll gebildet, das wirtschaftliche Potential der Bodenschätze mithilfe der Wissenschaft maximiert werden. Dazu dient Science-Fiction-Literatur wie die von Obrutschew. Ihre Aufgabe ist es, ein breites Interesse an der Wissenschaft zu wecken und Forscher zu neuen Versuchen und Funden zu inspirieren – wie die Entdeckung von neuen Inseln im Eismeer! SPRECHERIN 1: Denn auch in den 1920ern gibt es noch genug Raum für Spekulationen, genug unerreichte Inseln. Es ist das letzte Jahrzehnt, in dem die Arktis als Raum des Abenteuers und des Entdeckertums gilt. Als die Wrangelinsel endlich erforscht wird, ist es eine Sensation. Eine große Inspiration für Obrutschew: MUSIK ZITATOR 1: Das ist ein Traumland! SPRECHERIN 1: In Obrutschews Roman machen sich drei verbannte Studenten zusammen mit zwei sibirischen Händlern auf den Weg. Im Auftrag eines Mitglieds der Akademie der Wissenschaften reisen sie zum Sannikowland. ZITATOR 1: Dieses geheimnisvolle Land zog die beiden nicht minder an als unsere drei Freunde, und sie waren froh, daß ihnen das glückliche Los zugefallen war, es als erste aufzusuchen. ATMO Geschrei von Wildgänsen SPRECHERIN 1: Den Zug der Wildgänse gen Norden sehen sie als Beweis für die Existenz einer warmen Insel im Eismeer. ZITATOR 1: Wohin sollten dann aber diese dummen und lebensmüden Vögel fliegen? SPRECHER 2: Zum Sannikowland! MUSIK ENDE SPRECHERIN 1: Wohin die fünf Abenteurer den Wildgänsen folgen. Sie finden die lang gesuchte Insel ohne Probleme und staunen nicht schlecht, als sie entdecken, dass das Sannikowland ein riesiger Vulkankrater ist, in dessen Wärme urzeitliche Flora und Fauna gedeihen. ZITATOR 1: Aber wer konnte ahnen, daß das Sannikowland ein zoologischer, oder richtiger – ein paläontologischer Garten ist! SPRECHERIN 1: Auch dem verschollenen – SPRECHER 2: – natürlich fiktiven – SPRECHERIN 1: Indigenenstamm der Onkilonen begegnen die Forschungsreisenden dort. Sie werden gastfreundschaftlich aufgenommen und erforschen eine Weile ungestört das Sannikowland. O-TON: Warum das funktioniert, das ist tatsächlich, glaube ich, die größte Caldera, die er da mal locker ins Polarmeer setzt, um halt eben zu erklären, dass es dort heiße Quellen gibt und Vegetation. Und dass diese Tiere, die woanders schon ausgestorben sind, also Mammute, Wollnashörner, sich eben auf Sannikow Land gehalten haben. SPRECHER 2: Obrutschew betont selbst im Vorwort, dass die fiktionale Schilderung auf dem wissenschaftlichen Forschungsstand seiner Zeit fuße. Im Roman finden sich lateinische Gattungsbezeichnungen, wissenschaftliche Daten werden dargelegt und die Forschungsreisenden diskutieren ihre Beobachtungen und Messungen ausführlich. ZITATOR 1: Ist der Talkessel der verschüttete Krater eines Vulkans, dann ist auch die üppige Vegetation unter diesem Breitengrad erklärt. […] Doch wollen wir uns vorläufig noch nicht festlegen, sondern abwarten, was weiter geschieht. SPRECHERIN 1: Diese Wissenschaftlichkeit verbindet der Autor mit der mythologischen Vorstellung einer warmen Insel im Eis, wo Menschen abgeschnitten vom Rest der Welt ein glückliches Leben führen. SPRECHER 2: Doch kaum sind im Roman die Forschungsreisenden auf der Insel angekommen, erfahren sie, dass das Glück der Onkilonen in Gefahr ist. ZITATOR 1: Die Geister des Himmels haben dem Schamanen verkündet, daß dem Volk der Onkilonen große Nöte bevorstehen. MUSIK ZITATOR 1: So weit das Auge reichte – überall stand Wasser, sämtliche Wiesen hatten sich zu Seen verwandelt, die Wälder hoben sich als schwarze Inseln oder Landzungen im weiten Rund des Wasserspiegels ab. Im Lichte der aufgehenden Sonne schimmerte das Wasser wie funkelndes Silber. SPRECHER 2: Das System der Insel gerät aus dem Gleichgewicht. Die Temperatur sinkt, das Wasser verschwindet zunächst aus dem heiligen See der Onkilonen, nur um den gesamten Talkessel zu überschwemmen. ZITATOR 1: Aus der Erde schossen feurige Kugeln bis in das hohe Rauchdach, Funkelgarben sprühten nach allen Seiten. ...
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Mar 29, 2024 • 24min

ARKTIS - Die Suche nach der Franklin-Expedition

Expedition in die Arktis: Im Jahr 1845 soll Sir John Franklin einen Seeweg durch das Polarmeer nach Asien finden. Unter seinem Kommando: die Schiffe HMS Erebus und die HMS Terror. An Bord: 129 Seeleute und Proviant für mehrere Jahre. Doch bald fehlt von der Expedition jede Spur - Was war geschehen? Erste Suchtrupps machen sich auf, um das Schicksal der Expedition zu klären. Bald finden sich erste Spuren, Gerüchte machen die Runde. Von Georg Florian Ulrich (BR 2024) Credits Autor: Georg Florian Ulrich Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Amberger, Andreas Neumann, Frank Manhold, Sabine Kienhöfer Technik: Michael Krogmann Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Roger Byard Linktipps: SWR (2024): Expedition in die Arktis Das "ewige Eis" in der Arktis schwindet. Welche Folgen hat das für unser Klima und unsere Zukunft? MOSAiC - die größte Arktis-Expedition aller Zeiten - soll genau das klären. Ein ganzes Jahr ließ sich eine internationale Crew von Wissenschaftler*innen mit dem Forschungseisbrecher "Polarstern" im Meereis nahe dem Nordpol einfrieren. Eine Expedition der Extreme begann: zwischen Eisbärangriffen, in monatelanger Dunkelheit und bei Temperaturen weit unter null Grad. Die gewonnenen Klimadaten vom Nordpol sollen jetzt helfen, die Prognosemodelle für den Klimawandel zu verbessern. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2005): Die Heldenmacher Vor 175 Jahren wurde die Royal Geographical Society gegründet. Tausende Expeditionen hat sie seither betreut: Von der tragisch endenden Suche John Franklins 1854, einen Weg durch das nördliche Eismeer, westwärts bis nach Indien zu finden bis zur erfolgreichen Erstbesteigung des Mont Everest im Jahr 1953. Inzwischen hat die altehrwürdige Gesellschaft ihr Herz für Anfänger entdeckt: Sie unterhält ein Expeditionsberatungszentrum. ZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:56 – Keine Kosten und Mühen gescheut TC 06:58 – Die Suche nach LebenszeichenTC 11:40 – Eine Witwe gibt nicht aufTC 16:42 – Forschung nach TodesursachenTC 21:00 – DurchbruchTC 23:06 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro Musik & Atmo alte Stadt Sprecher:London, 1848. Seit mehr als drei Jahren gibt es keine Neuigkeiten von den beiden Schiffen. Kein Brief, keine Nachricht von der HMS Erebus und der HMS Terror erreicht die Admiralität in London. Niemand hat die zwei Schiffe gesehen, die ins arktische Eismeer gesegelt sind. Die Unruhe in der Admiralität wächst. Dabei hatte die Leitung der Royal Navy große Hoffnungen in die Expedition gesetzt – und eine Menge Geld. Man entschließt sich zu handeln. Zitator: (Ausrufer/Steckbrief)„20.000 Pfund Belohnung für jeden, der Hinweise zur Auffindung der Schiffe unter dem Kommando von Sir John Franklin geben kann!“ Atmo Polarwind Sprecher:Eine Suchaktion von weltumspannenden Ausmaßen beginnt: Während ein Schiff von Großbritannien aus Kurs auf Grönland nimmt, fährt ein anderes die Küste im Norden von Alaska ab. Immer Ausschau haltend nach den beiden Schiffen der Franklin-Expedition. Gleichzeitig bahnt sich ein Suchtrupp im äußersten Norden Kanadas über Land einen Weg gen Norden, hin zu den Eisfeldern der Arktis. Irgendwo in dieser riesigen Region müssen sie abgeblieben sein. Drei Jahre zuvor, im Jahr 1845, hatten sie sich aufgemacht. Sprecherin:Ziel der Expedition: Die Nordwestpassage. Der erhoffte, aber bislang unentdeckte Seeweg von Europa nach Asien durch das arktische Meer. Wenn es eine solche Passage gäbe! Für die britische Seefahrt wäre es ein Riesengewinn. TC 01:56 – Keine Kosten und Mühen gescheut Sprecher:Will ein britischer Händler Anfang des 19. Jh. Ware aus Asien importieren, etwa Porzellan aus China, muss er an die 24.000 Kilometer Seeweg zurücklegen. Erst ganz Afrika umschiffen, den sturmgepeitschten indischen Ozean durchqueren, schließlich durch die Straße von Malakka, in der Piraten lauern. Erst dann kann er in China vor Anker gehen. Und auf dem Rückweg das Gleiche noch einmal. Musik Sprecherin:Die Nordwestpassage verspricht die Möglichkeit, all diese Gefahren zu umgehen. Und natürlich: Schneller wäre die Route auch: 8000km Umweg ließen sich so sparen. Wenn man sie denn findet: Denn bislang ist die Gegend zwischen Grönland und dem nördlichen Kanada ein weißer Fleck auf der Landkarte. Zu widrig waren die eisigen Temperaturen für die Entdecker des 17. Und 18. Jahrhunderts. Sprecher:Doch seit den Tagen der ersten Entdeckungsreisen in die Arktis hat sich das technische und geographische Verständnis der Briten enorm verbessert. Musik Die Industrielle Revolution ist in vollem Gang: In Großbritannien fahren bereits regelmäßig Eisenbahnen, neue Erfindungen wie die Konservendose oder die Nutzung der Elektrizität beginnen das Leben der Menschen zu verändern. Mit diesen technischen Errungenschaften, ist man sich sicher, auch den harten Bedingungen der Arktis trotzen zu können. Sprecherin:Deshalb hatte sich die Admiralität in London entschieden, zwei Schiffe auf eine Expedition in die Arktis zu schicken. Sie sollen endlich die Nordwestpassage finden. Die Wahl fällt auf die HMS Erebus und HMS Terror. Bombardenschiffe, sie sind schwer gepanzert – wie geschaffen, um Packeis zu durchbrechen. Bereits 1839 haben sie sich bei Expeditionen in die Antarktis bewährt. Atmo Fabrik im Dampfzeitalter Für die Expedition werden keine Kosten und Mühen gescheut. Die Schiffe werden generalüberholt, die schon dicken Rümpfe zusätzlich mit Eisenplatten verstärkt. Zwei neuartige Dampfmaschinen werden verbaut, um den Schiffen zusätzlichen Antrieb zu liefern. Möglich macht das die Schiffschraube, die erst wenige Jahre zuvor erfunden wurde. Sprecher:Die Dampfmaschinen versorgen zudem eine Zentralheizung, die trotz arktischem Wetter für angenehme Wärme an Bord sorgen soll. Auch für reichlich Proviant ist gesorgt. Zitator: (begeisterter Reporter)Die Vorkehrungen, die für den Komfort der Offiziere und der Besatzung getroffen wurden, sind ausgezeichnet: Die an Bord genommenen Vorräte sind beträchtlich und bestehen aus Konserven, einer großen Menge Tee und extra starkem westindischen Rum. Sprecherin:Dazu kommen 7 Tonnen frisch abgekochtes Fleisch, verpackt in den neuen, modernen Konservendosen, 14 Tonnen Salzfleisch, 4740 kg Kartoffel- und Gemüsekonserven und 4200 Liter Zitronensaft. Er soll gegen Skorbut helfen, die gefürchtete Seefahrer-Krankheit. Sogar eine beträchtliche Bibliothek mit mehr als 1000 Büchern wird an Bord genommen. Einer mehrjährigen Expedition in die Arktis steht nichts mehr im Wege. Musik Sprecher:Für Das Oberkommando wird schließlich Sir John Franklin auserkoren. Er ist zu diesem Zeitpunkt fast 60 Jahre alt, seine letzte Arktisexpedition fast 20 Jahre her. Manche Zeitgenossen äußern Bedenken wegen seines Gesundheitszustands. Dennoch soll diese Expedition das Glanzstück werden, das Franklins Karriere abschließt. Zudem stehen ihm erfahrene Männer zur Seite: Unter seinem Kommando steht auch Captain Francis Crozier, der bereits in der Antarktis mit der Terror unterwegs war. Sprecherin:Dann endlich! Mai 1845: Unter großem Beifall legen die Schiffe ab. Sie stechen unter guten Vorzeichen in See, die Besatzung ist optimistisch. ATMO knarzendes Segelboot, See Vor der Küste Grönlands werden die letzten Vorräte an Bord genommen, dann machen sich die Schiffe auf ins Eis – in bisher unbekannte Gefilde. Musik Sprecher:Auf ihrem Weg in den Lancastersund begegnen sie zwei Walfängern. Man besucht sich gegenseitig, tauscht Informationen aus. Es ist das letzte Mal, dass die beiden Schiffe von anderen Seeleuten gesehen werden. Atmo/Musik hoch Sprecherin: Es vergeht ein Jahr ohne jegliche Nachricht von der Expedition. Dann noch eins. Schließlich ein drittes. Sprecher:Über Jahre nichts von einer Expedition in die Arktis zu hören, ist in dieser Zeit erstmal nicht ungewöhnlich. Die Expedition von James Clark Ross zum Beispiel saß vier Jahre im Eis fest. Sie ernährten sich von ihrem Proviant und Robbenfleisch, bis auf drei Seeleute kehrten alle wohlbehalten zurück. Doch Franklins Mannschaft ist deutlich größer, seine Vorräte nur für zwei, maximal drei Jahre ausgelegt. TC 06:58 – Die Suche nach Lebenszeichen Sprecherin:Nachdem dann auch im dritten Jahr von der Expedition keinerlei Nachricht eintrifft, wird die Admiralität nervös. Wo sind die HMS Erebus und Terror? 1848 beginnt die Suche nach den verlorenen Schiffen. Drei Suchexpeditionen werden losgeschickt - erfolglos. Keine Spur findet sich von den beiden Schiffen. Die Lage ist ernst. Mit jedem Monat, der vergeht, sinken die Chancen, Franklin und seine Leute lebend zu finden. Sprecher:Im Jahr darauf werden ganze 14 Expeditionen ausgestattet. Die beiden Schiffe müssen doch irgendwo zu finden sein! Dass die Rettungsaktion so umfangreich ausfällt, liegt auch an der Ehefrau von John Franklin, Lady Jane. Sie nutzt ihren öffentlichen Einfluss, um Druck auf die Admiralität auszuüben. Atmo Wind Sprecherin:Endlich finden sich erste Zeichen der Expedition. Doch sie geben eine düstere Vorahnung, auf das, was kommt. Auf Beechey Island, einer kleinen Insel am Lancastersund, findet man die Überreste eines Winterlagers. Und: Drei Gräber. Die Namen auf den Grabsteinen sind gut lesbar. Zitator: John Torrington, 20 Jahre. William Braine, 32 Jahre. John Hartnell, 25 Jahre. Sprecherin:Besatzungsmitglieder der Franklin-Expedition. Alle drei gestorben im Jahr 1846, beerdigt hier auf Beechey Island. Die Erebus und Terror müssen hier Station gemacht haben. Woran starben sie? Gab es eine Krankheit an Bord? Die Insel wird genauestens untersucht, doch außer leeren Konservendosen und anderem Abfall findet sich nichts. Kein Logbuch, keine Nachricht wurde hinterlassen. Die Suche läuft weiter. Sprecher:Inzwischen erhitzen sich in London die Gemüter: ein Schuldiger wird ausgemacht. Der jüdische Kaufmann Stephan Goldner. Er hatte die Expedition mit Konservendosen versorgt. In nur 7 Wochen hatte Goldner den Großauftrag bewältigt. Jetzt häufen sich Vorwürfe, die Konserven seien von minderwertiger Qualität gewesen. Ging die Franklin-Expedition mit verdorbenem Proviant auf Reisen? Verhungerten die Seeleute trotz voller Vorratsschränke? Ein Bericht in der Times legt das nahe. Der Vorwurf ist haltlos, wie sich bald herausstellt. Eine offizielle Untersuchung spricht Goldner frei, doch sein Ruf ist ruiniert. Musik Sprecherin:Bei der Suche in der Arktis geraten inzwischen die Suchtrupps selbst in Not. Mehrere Schiffe bleiben im Eis stecken. Es dauert mehrere Jahre, bis die Expeditionen zurückkehren. Tatsächlich leisten sie mit ihren Reisen wichtige Beitrag zur Erkundung der Arktis. Aber außer den Gräbern auf Beechey Island können sie keine Hinweise über Franklins Schicksal liefern. Sprecher:Dennoch - die Hoffnung auf Neuigkeiten bleibt. Und tatsächlich finden sich neue Hinweise: Der Arzt und Polarforscher John Rae trifft auf seinen Arktis-Reisen auf Inuit, die ihm von düsteren Ereignissen berichten. Rae fasst ihre Berichte zusammen: Musik Zitator:Etwa vierzig weiße Männer wurden gesehen, wie sie in Begleitung eines Offiziers über das Eis nach Süden wanderten und ein Boot und Schlitten mit sich zogen. Sie sahen aus, als ob ihnen der Proviant ausgegangen wäre. Sie kauften von den Eingeborenen eine kleine Robbe oder ein Stück Robbe. Der Offizier wurde als ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters beschrieben. Sprecherin:Handelt es sich bei dem Offizier um Franklin? Hat er seine Schiffe verlassen, und seine Mannschaft über Land weitergeführt? Doch die Inuit haben Rae noch mehr zu berichten: Zitator:Später hat man die Leichen von etwa dreißig Personen, einige Gräber auf dem Festland und fünf Leichen auf einer Insel in der Nähe entdeckt.Einige der Körper befanden sich in Zelten. Andere lagen unter einem Boot, das sie als notdürftige Unterkunft umgedreht hatten, einige verteilt um das Lager herum. Bei einem vermuteten die Inuit, dass es sich um einen Offizier handelte, da er ein Fernrohr über die Schultern geschnallt hatte und sein doppelläufiges Gewehr unter ihm lag. Sprecherin:Die Inuit zeigten Rae Gegenstände, die nur von Bord der Erebus und der Terror stammen konnten. Laut ihren Schilderungen waren die Männer in einer ausweglosen Situation. Musik TC 11:40 – Eine Witwe gibt nicht auf Zitator:Aus dem Zustand vieler Leichen und dem Inhalt der Kessel war ersichtlich, dass unsere unglücklichen Landsleute zum letzten Mittel gezwungen waren, um ihr Leben zu erhalten. Sprecherin:Kannibalismus – als letztes Mittel gegen den Hunger. Eine für die viktorianische Zeit unerhörte Unterstellung.  Als die Nachricht London erreicht, ist die Empörung groß. Die Witwe von Sir John Franklin, Lady Jane, lässt auf ihren Ehemann und dessen Expedition nichts kommen. Sprecher:Sie bekommt prominente literarische Unterstützung. Charles Dickens, ein Freund der Familie, steht ihr bei. In einer Zeitschrift wettert der berühmte Autor gegen die Inuit, weist ihre Berichte als unglaubwürdig zurück. Für ihn sind sie nichts weiter als: Zitator: Zitat Charles Dickens„Das Geschwätz einer groben Handvoll unzivilisierter Menschen, die in Blut und Walfett zuhause sind!“ Sprecher:1854 werden alle Expeditionsmitglieder für tot erklärt. Musik Lady Jane Franklin will jedoch Gewissheit. Zwei Jahre später finanziert sie erneut eine Expedition unter dem Kommando von Francis McClintock. Sprecherin:Tatsächlich gelingt es McClintock als erstem, eine handfeste Nachricht von der Expedition zu finden. In einem kleinen Steinhügel auf King William Island stößt er auf einen Brief der Franklin-Expedition. Versteckt in einem Bleizylinder, wasserdicht geschützt. Der erste Eintrag weckt Hoffnungen: Zitator:Mai 1847: Von 1846-47 überwintert bei Beechey Island. Sir John Franklin befehligt die Expedition. Alle wohlauf. Sprecherin:Der Beginn der Expedition scheint gut verlaufen zu sein. Doch an den Rand des Briefes gequetscht finden sich weitere Zeilen. Jemand muss den Bleizylinder zu einem späteren Zeitpunkt wieder geöffnet, den Brief erneut beschrieben haben. Die zittrige Handschrift lässt sich schwer lesen. Musik Zitator:April 1848 - "Terror" und "Erebus" wurden am 22. April verlassen. 105 Seelen unter dem Kommando von Capitain Crozier landeten hier im September 1848. Sir John Franklin ist am 11. Juni 1847 gestorben, Gesamtverlust durch Todesfälle bis heute: 9 Offiziere und 15 Männer. Wir brechen morgen zum Back's Fish River auf. Atmo Eiswind, Schritte Sprecherin:Franklin ist also definitiv tot. Mit ihm 24 weitere Besatzungsmitglieder – eine ungewöhnliche hohe Todesrate, selbst für Arktisexpeditionen. Das Ziel der Überlebenden, der Back’s Fish River, liegt mehrere hundert Kilometer Fußweg entfernt. Durch kaum wegbares Packeis, danach durch eine felsige Tundra, in der es im Frühjahr kaum Nahrung gibt. Sprecher:McClintock fährt mit seinem Hundeschlitten den Weg ab, den die Überlebenden genommen haben müssen. Er stößt auf ein seltsames Relikt: ein Beiboot eines der Schiffe. Scheinbar auf den Kopf gestellt, um einen provisorischen Unterschlupf zu bieten. Zitator:Im Boot befand sich etwas, das uns in Ehrfurcht erstarren ließ. Es waren Teile von zwei menschlichen Skeletten. Das eine das eines schmächtigen jungen Menschen, das andere das eines großen, starken Mannes mittleren Alters, vielleicht ein Offizier. Große und kräftige Tiere, wahrscheinlich Wölfe, hatten einen Großteil dieses Skeletts zerstört. Sprecher:Doch die Gegenstände, die McClintock und seine Kameraden rund um das Boot finden, werfen noch mehr Fragen auf: Kämme, Haarbürsten, Taschenbücher. Und sogar eine ganze Ladung Silberbesteck. Nichts, was man auf einem Marsch um Leben und Tod erwarten würde. Zudem finden sich neben etwas Tee ca. 18kg Schokolade. McClintock vermutet, dass die beiden Männer mit dem Boot und der Schokolade als letztem Proviant zurückgelassen wurden, als sie zu schwach geworden waren, um weiter zu ziehen. McClintock kehrt nach Großbritannien zurück. Er ist überzeugt, dass alle Mitglieder der Franklin-Expedition verstorben sind. Musik Sprecherin:Lady Franklin gibt jedoch bis zuletzt nicht auf, das Schicksal ihres Ehemanns zu klären. Noch mit 82 Jahren finanziert sie eine Expedition in die Arktis. Sie stirbt, noch während sie auf die Rückkehr des Schiffs wartet. Die Expedition endet ergebnislos. Auch eine letzte Expedition wenige Jahre später fördert keine neuen Erkenntnisse zutage. Atmo Eiswind Heulen TC 16:42 – Forschung nach Todesursachen Sprecher:Doch das Rätsel um das Verschwinden der Erebus und Terror zieht die Menschen weiter in seinen Bann. Anfang der 1980er Jahre, gut 100 Jahre nach der letzten Expedition, macht sich ein Team von Forschern der University of Alberta auf, das Rätsel um die Expedition zu lösen. Die kanadischen Forscher stoßen die Reste des Beiboots, das McClintock gefunden hatte. Sie dokumentieren die Fundstelle, sammeln die menschlichen Knochen ein. Im Labor stoßen sie auf Überraschendes: Neben Anzeichen für Skorbut weisen die Knochen der Mitglieder von Franklins Expedition einen zehnmal höheren Bleigehalt auf, als die der Inuit, die in der Gegend beerdigt wurden. Musik Sprecherin:Nun wollen die Forscher der Sache auf den Grund gehen. Zwei Jahre später machen sie sich auf nach Beechey Island, zu den Gräbern die die Franklin-Expedition dort zurückgelassen hatte. Für ihre Expedition brauchen sie eine besondere Genehmigung: Sie wollen die Gräber öffnen, die Leichen der Crewmitglieder untersuchen. Professor Roger Byard von der University of Adelaide ist Pathologe und hat sich eingehend mit den Forschungen zur Franklin-Expedition beschäftigt. OV Prof Roger Byard Beschreibung BleiOVERVOICE männlichThey dug up John torringtons body…Die haben die Leiche von John Torrington ausgegraben, einem der Besatzungsmitglieder, die auf Beechey Island beerdigt wurden. Und dabei fanden sie einen sehr hohen Bleigehalt. Und deshalb sagte man: Aha, die Expedition benutzte diese neumodischen Blechdosen, die mit Blei verlötet waren, das ans Essen abgegeben wurde. Und deshalb meinte man, dass sie an einer Bleivergiftung gestorben sind. Musik Sprecherin:Eine Bleivergiftung tötet nicht direkt, sondern schadet über längere Zeit dem Nervensystem. Erste Symptome: Erschöpfung, Reizbarkeit. Dann: Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme. Am Ende greift die Vergiftung auf das Gehirn über: Verwirrtheit, Orientierungsprobleme, Charakterstörungen. Starben die Männer, weil ihre bleiverseuchten Vorräte sie in den Wahnsinn trieben? Es würde ihre merkwürdigen Entscheidungen erklären: weshalb sie etwa Silberbesteck und anderen wertlosen Tand einpackten, als sie ihre Schiffe verließen. Sprecher:Lange gilt diese Erklärung als einer der Hauptgründe für das Scheitern der Expedition. Doch inzwischen gilt sie als überholt. Prof. Byard weiß warum. OV Prof Roger Byard MultifaktorenOvervoice männlichOver the years the looked at graves of similar vintage…Im Laufe der Jahre hat man bei Gräbern ähnlicher Jahrgänge von Marineangehörigen festgestellt, dass die Bleikonzentrationen bei allen sehr hoch sind. Damals gab es Bleirohre auf den Schiffen und alle möglichen anderen Dinge. Die Bleivergiftung war also nicht der Grund. Also stand man wieder am Anfang bei der Frage nach der Todesursache. (…) Aber ich denke, dass es viele Gründe gab, dass man sich im Grunde genommen einfach abnutzt. Es ist also ein additiver Effekt einer ganzen Reihe von Faktoren. (…) The fact that you’re miserable as hell…Die Tatsache, dass man sich verdammt elend fühlt und weiß, dass man nie wieder nach Hause kommen wird. Das ist wirklich nichts, was einen dazu anspornt, zu versuchen, zu überleben. Aber sie waren jahrelang dort, also waren sie unglaublich stoische Männer. SprecherHinweise für eine Vielzahl an Belastungen finden sich in den menschlichen Überresten: Die Lungen der Männer auf Beechey Island sind von Tuberkulose zerfressen. Die verstreuten Knochen auf den anderen Inseln zeigen Zeichen von Skorbut.  Musik Sprecherin:Doch die Knochen geben auch Aufschluss über ein weiteres Rätsel: Forensiker in den 1990ern Jahren entdecken gerade Schnitte an den Knochen, die am Boot gefunden wurden: Spuren von Klingen. Hier wurde Fleisch von Knochen gelöst. Spätere Studien zeigen: Die Knochen wurden sogar aufgebrochen, über Stunden gekocht, um an das Mark zu gelangen. Eindeutige Beweise für Kannibalismus unter den letzten Überlebenden. Genauso, wie die Inuit es den ersten Suchtrupps im 19. Jahrhundert geschildert hatten. Nach Jahrzehnten der Verleumdung zeigt sich: Die Inuit hatten Recht. TC 21:00 – Durchbruch Sprecher:Die Forscher fangen an, die Berichte der Inuit in ihre Untersuchungen miteinzubeziehen. Und so gelingt im Jahr 2014 ein großer Durchbruch. Atmo Eisbrecher und SonarEin Suchboot, ausgestattet mit einem Sonar, durchfährt eine Bucht nahe der King-William Insel. Laut Schilderungen der Inuit ist hier vor mehr als 150 Jahren ein großes Holzschiff gesunken. Plötzlich erscheint auf dem Radar ein Bild, das eindeutiger nicht sein könnte: Es ist ein Schiff, der Bug liegt zertrümmert am Meeresboden, doch der Rest ist deutlich erkennbar. Sprecherin:Es ist die HMS Erebus. Nach mehr als 150 Jahren ist sie wieder da, in ihrer ganzen Pracht. Doch sie liegt einsam am Meeresgrund. Wo ist ihr Schwesterschiff, die HMS Terror? Sprecher:Es dauert noch zwei weitere Jahre, bis auch dieses Rätsel gelöst wird. Etwa 100 Kilometer weiter südlich, vor der Küste der Adelaide-Halbinsel. Inuit hatten in dieser Gegend schon öfters angeschwemmte Wrackteile gefunden, doch den entscheidenden Hinweis gibt ein Inuk-Jäger. Vor einigen Jahren war er mit seinem Schneemobil auf der zugefrorenen Bucht unterwegs. Dabei stieß er auf einen Holzpfahl, der aus dem Eis aufragte. Jetzt führt er das kanadische Forschungsteam an die Stelle. Der Pfahl, der aus dem Wasser aufragte - Es ist der Mast der HMS Terror. In nur 11m Tiefe liegt das Wrack des Schiffs. Musik Sprecherin:Spätere Tauchgänge zeigen: Das eiskalte Wasser hat das Wrack in außergewöhnlicher Qualität erhalten. Glasflaschen und kostbares Porzellan liegen unversehrt in den Regalen, Gewehre hängen an der Wand. Als ob die Mannschaft sie gerade erst verlassen hätte.Das Team der Unterwasserarchäologen hofft, in Zukunft vielleicht sogar eines der Logbücher bergen zu können. Vielleicht kann so die Geschichte um die Expedition zu Ende erzählt werden. TC 23:06 - Outro  
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Mar 22, 2024 • 23min

GEFÄHRLICHE NACHBARN - Taiwan im Konflikt der Mächte

Der Inselstaat Taiwan gehört zu den politischen Pulverfässern der Welt. Die Führung betont regelmäßig die Eigenständigkeit Taiwans, das offiziell Republik China heißt. Die kommunistische Volksrepublik China aber betrachtet das Land als abtrünnige Provinz und fordert den Anschluss an die Volksrepublik. Dies wollen die USA aber unbedingt verhindern, denn das Südchinesische Meer und die Taiwanstraße sind wichtige Routen für den Welthandel. Zudem ist die hochentwickelte Halbleiterindustrie Taiwans für zahlreiche Industriestaaten von immenser Bedeutung. Von Claudia Steiner (BR 2023) Credits Autorin: Claudia Steiner Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Andreas Dirscherl Technik: Roland Böhm Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Christine Moll-Murata, Anna Marti Linktipps: BR (2024): Notizen aus Taiwan und China – Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung  Taiwan war nie Teil der Volksrepublik und stand nie unter Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas. Dennoch beansprucht Peking die demokratisch regierte Insel als eigenes Territorium. Die meisten Taiwaner können sich keinen Zusammenschluss mit dem autokratisch regierten China vorstellen. Zum Beitrag geht es HIER. Deutschlandfunk (2024): Taiwans polarisierte Medienlandschaft Am 13. Januar wählt Taiwan einen neuen Präsidenten. Das schwierige Verhältnis des Inselstaats zu Festlandchina spiegelt sich auch in einer polarisierten Mediendebatte wider: pro- und anti-chinesische Medien berichten teils komplett konträr. JETZT ANHÖREN phoenix (2023): Taiwan – Angst vor der Invasion Taiwan wird oft als eine der gefährlichsten Regionen der Welt bezeichnet. Aber: Nicht das Land selbst, sondern die politischen Umstände machen die Lage vor Ort so gefährlich. Film von Michael Müller JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:54 – Der AusgangspunktTC 05:01 – Von offizielle und inoffiziellen BeziehungenTC 08:41 – Das Problem der „Wiedervereinigung“TC 11:00 – Ein Land im Konflikt zweier AtommächteTC 14:24 – UmbruchsdenkenTC 17:28 – Der Weiße TerrorTC 19:46 – Ein Leben mit militärischer SpannungTC 22:10 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro ATMO Nachrichtenticker Einspielung 1 (COLLAGE, 09.10.2021, 05.08.2022, 27.5.2022, gerne übereinander legen und/oder mit Ticker trennen) MUSIK: Z8031117101 HOT NEWS 0‘45SPRECHER 2 UND NACHRICHTENSPRECHERChinas Präsident Xi Jinping hat erneut die Wiedervereinigung Taiwans mit der Volksrepublik gefordert. Bei einer Feierstunde zum 110. Jahrestag der Revolution von 1911 sagte Xi, die Wiedervereinigung müsse und werde definitiv verwirklicht werden.… / Die Taiwan-Krise führt auch zu Spannungen zwischen China und Deutschland. Die chinesische Botschaft in Berlin hat nun Außenministerin Baerbock Unterstellungen und eine Einmischung in innere Angelegenheiten vorgeworfen. … Ein chinesischer Flugzeugträger ist durch die Meerenge bei Taiwan gefahren. Er wurde laut Verteidigungsministerium in Taipeh von zwei weiteren Schiffen der chinesischen Armee begleitet. Als Reaktion hätten Taiwans Streitkräfte Luftpatrouillenflugzeuge, Marineschiffe und Raketensysteme aktiviert… ATMO Nachrichtenticker (bricht ab) MUSIK SPRECHERDie Nachrichten zeigen deutlich: Der Status von Taiwan ist kompliziert und konfliktbehaftet. Der Inselstaat, der offiziell Republik China heißt, liegt zwischen Japan und den Philippinen, 180 Kilometer östlich der Volksrepublik China. Die riesige, autoritär geführte, kommunistische Volksrepublik China betrachtet das kleine, demokratische Taiwan als abtrünnige Provinz und fordert den Anschluss an Peking. Die Führung in der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh betont dagegen ihre Eigenständigkeit. Aber politisch ist das Land relativ isoliert. Von den meisten Ländern wird Taiwan nicht als souveräner Staat anerkannt, auch nicht von Deutschland. Dabei war Taiwan nie Teil der 1949 von Mao Zedong gegründeten Volksrepublik China. Und Chinesen waren auch nicht immer Bewohner der Insel. Ein Rückblick: Musik TC 01:54 – Der Ausgangspunkt SPRECHER Ursprünglich war die Insel von indigenen Bevölkerungen besiedelt. Über die Jahrhunderte gab es unterschiedliche Einflüsse: So kamen am Ende der chinesischen Ming-Dynastie Mitte des 17. Jahrhunderts chinesische Einwanderer nach Taiwan. Ebenfalls im 17. Jahrhundert bauten Holland und Spanien koloniale Stützpunkte auf der Insel auf. Die Kolonialmächte wurden aber von chinesischen ming-loyalen Truppen vertrieben.  Von 1895 bis 1945 stand Taiwan schließlich unter japanischer Herrschaft. Doch mit der Kapitulation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von San Francisco am 28. April 1952 gab Japan alle Rechte an ehemaligen Kolonien, und damit auch an Taiwan auf. Doch der genaue Status der Insel war unklar. Christine Moll-Murata ist Professorin für Geschichte Chinas und Leiterin der Taiwanforschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum. O-TON 1 (Moll-Murata, 2.32) Aufgegeben hat es das zwar, aber es ist nicht deutlich formuliert worden, an wen. Weder die Repräsentanten der Volksrepublik China, die inzwischen 1949 gegründet worden war, noch die Repräsentanten der Republik China, die sich jetzt im Exil befanden seit 1949 auf Taiwan, also weder die einen noch die anderen waren anwesend. MUSIK SPRECHERDas heißt: Keine der beiden Seiten waren in den Friedensvertrag involviert, weder die Kommunisten auf dem Festland, noch die Nationalisten im Exil. Beide Seiten war sich zuvor in einem blutigen Bürgerkrieg gegenüber gestanden. Die Kommunisten gingen daraus als Sieger hervor, die Nationalisten zogen sich nach Taiwan zurück – der Ausgangspunkt des heutigen Konflikts. Anna Marti, Leiterin des Taipeher Büros der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung. O-TON 2 (Marti, 2.19) Und Mao Zedong hat am 1. Oktober 1949 in Peking die Volksrepublik ausgerufen. Der vorher existierende Staat, also nach dem Ende des Kaiserreichs, vor der Volksrepublik, war aber die Republik China und die Leute, die damals in Amt und Würden waren, Macht hatten, das ganze Militär, die gesamte Flugzeugflotte und die gesamte Marine sind geflohen vor den Kommunisten, die haben ja eben verloren. Und die haben sich nach Taiwan zurückgezogen.  SPRECHER Die nationalistische Regierung unter der Führung von Chiang Kai-shek von der Kuomintang-Partei flüchtete also mit ihren Truppen auf die Insel – mitsamt der Goldvorräte und wertvoller Kulturschätze aus der „Verbotenen Stadt“, der Palastanlage im Zentrum Pekings. Im nationalen Palastmuseum in Taipeh sind seit 1965 Hunderttausende dieser Schätze ausgestellt und gelagert: Wertvolle Stücke aus Jade, Porzellan und Vasen, Gemälde und Bronzen. Für die Volksrepublik China sind es Beutestücke. Willkommen waren die Nationalisten auf der Insel erst einmal nicht: Die damalige Bevölkerung in Taiwan betrachtete die Ankunft der Soldaten vom Festland als Invasion.  MUSIK TC 05:01 – Von offizielle und inoffiziellen Beziehungen SPRECHERInternational wurde die Republik China auf Taiwan zunächst als Vertreter Gesamtchinas anerkannt. So hatte das kleine Taiwan zum Beispiel einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – obwohl es de facto nur die Insel Taiwan und einige wenige Inseln vor dem chinesischen Festland kontrollierte. Dies änderte sich 1971. Damals wollte die US-Regierung unter Präsident Richard Nixon die Beziehungen zur Volksrepublik China neu aufstellen In der Resolution 2758 heißt es: ZITATORIN „Die Vollversammlung der Vereinten Nationen […] beschließt, all die Rechte der Volksrepublik China instandzusetzen und die Vertreter ihrer Regierung als die einzigen legitimierten Vertreter Chinas in den Vereinten Nationen anzuerkennen und von nun ab die Vertreter Chiang Kai-sheks von dem Platz zu entfernen, den sie zu Unrecht in den Vereinten Nationen und all ihren Organisationen einnehmen.“ SPRECHER Der Beschluss, der die gesamte Macht-Konstellation änderte, er gilt bis heute. Vor allem Länder des globalen Südens stimmten zu. Doch der Beschluss war nicht im Sinne aller Staaten - die USA etwa wollten, dass sowohl die Volksrepublik China als auch die Republik China im Sicherheitsrat vertreten sein sollen, konnten sich mit dieser Haltung aber nicht durchsetzen. Und so nahmen 1979 die USA diplomatische Beziehungen zur flächenmäßig deutlich größeren Volksrepublik China auf und brachen die offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab. Aber eben nur die offiziellen diplomatischen Beziehungen. Zugleich verpflichtete sich Washington mit dem Taiwan Relations Act, Taiwan verteidigungsfähig zu halten. Auch viele andere Staaten haben bis heute keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan. Denn um mit China zusammenarbeiten zu können, müssen Länder die Ein-China-Politik anerkennen. Peking versteht sich als Rechtsnachfolger der Republik China. Anna Marti: O-TON 3 (Marti, 7.01) Das heißt, dass Peking darauf besteht, dass es nur ein einziges China gibt. Und in ihrer Sichtweise ist das eben die Volksrepublik. Und wer mit China, also wer mit Peking diplomatische Beziehungen unterhalten möchte, der muss das akzeptieren. Das heißt, man kann nicht gleichzeitig mit Peking und mit Taipeh diplomatische Beziehungen unterhalten. Musik SPRECHERZu den wenigen Ländern, die heute Taiwan offiziell anerkennen, gehören unter anderem Haiti, Guatemala, Paraguay und der Vatikan. Doch auch wenn es offiziell keine Anerkennung gibt, arbeiten viele Länder – auch Deutschland - eng mit Taipeh zusammen. Es ist diplomatisches Fingerspitzengefühl gefragt. Anna Marti.  O-TON 4 (Marti, 7.37 /24.21)  Was aber wichtig ist: Nur, weil man keine Botschaft in Taipeh hat, heißt das nicht, dass es keinerlei Austausch gibt. Die heißen dann hier anders. Also die deutsche Vertretung heißt da nicht hier die deutsche Botschaft, sondern das ist das Deutsche Institut. / Es gibt einen taiwanischen Pass, der auch anerkannt wird und der in manchen Gebieten auch wirklich sogar besser ist als der chinesische Pass. Also ganz konkret können Leute mit einem taiwanischen Pass in den Schengenraum einreisen, ohne vorher ein Visum beantragen zu müssen. Und das ist bei Menschen, die einen Pass aus der Volksrepublik haben, ist es nicht möglich. Und das ist natürlich ein gewisser Pragmatismus. Es wirkt erstmal merkwürdig, dass zum Beispiel Deutschland, das Taiwan nicht als Staat anerkennt, den Pass aber anerkennt. Aber es gibt zum Beispiel auch ein Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Taiwan und Deutschland. TC 08:41 – Das Problem der „Wiedervereinigung“ SPRECHERDie Eigenständigkeit Taiwans wird auch in anderen Punkten deutlich: So hat das Land eine eigene Währung, den Taiwan-Dollar, und ein eigenes Militär. Doch zwischen der Volksrepublik China und der Republik China herrscht ein starkes Machtgefälle: Das Militär von China zählte 2023 rund zwei Millionen aktive Soldaten, das Militär von Taiwan rund 170.000. China ist Taiwan in militärischer Hinsicht über alle Waffengattungen hinweg deutlich überlegen.  MUSIK SPRECHERDer Status Taiwans ist also seit Jahrzehnten umstritten, die politische Kluft zwischen der Republik und der Volksrepublik China tief. Beide Seiten beharren auf ihren Positionen. Die Führung in Peking betrachtet das 23 Millionen Einwohner zählende Taiwan – welches im Vergleich zu den 1,4 Milliarden Menschen auf dem Festland winzig ist - als Teil der Volksrepublik. Peking strebt eine „Wiedervereinigung“ an und droht mit einer militärischen Eroberung der Insel, sollte sich Taiwan als unabhängig erklären. Immer wieder gibt es militärische Machtdemonstrationen: Chinesische Kriegsschiffe patrouillieren regelmäßig in der Nähe der taiwanesischen Küste, Flugzeuge verletzten den Luftraum. Oder es werden wie im Sommer 2022 bei Manövern Raketen abgefeuert und stürzen in der Nähe der Insel ins Meer – kurz zuvor hatte die damalige Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi Taiwan trotz Warnungen aus Peking besucht. Die Sprecherin des Außenministeriums in Taipeh erklärte damals kämpferisch:  Einspielung 2 (China startet großangelegtes Militärmanöver... ab 27. Sek, chin. O-Ton. Overvoice.) Unsere Regierung ist noch entschlossener, die Souveränität und territoriale Integrität unserer Nation zu schützen. Angesichts des aktuellen Szenarios wird unsere Regierung nicht nur ihre Selbstverteidigungsfähigkeiten aktiv stärken, sondern auch enge Beziehungen zu gleichgesinnten Ländern wie den Vereinigten Staaten pflegen. Gemeinsam werden wir die auf Regeln basierende internationale Ordnung verteidigen, eine weitere regionale Eskalation vermeiden und gleichzeitig die Sicherheit der Straße von Taiwan sowie die Freiheit, die Offenheit, den Frieden und die Stabilität in der indopazifischen Region energisch schützen.  TC 11:00 – Ein Land im Konflikt zweier Atommächte SPRECHERDas Engagement der USA für Taiwan hat vor allem geopolitische Gründe. Die Insel im Pazifik ist ein Land im Konflikt zweier Atommächte, China und den USA. Die USA hat zudem wichtige Militärbasen im Pazifik. Anna Marti: O-TON 5 (Marti, 15.18) Die USA haben große Militärstützpunkte in Japan und in Guam. Und da sind auch wichtige Teile der Pazifikflotte, zum Beispiel auch der Flugzeugträger, die zum Teil dann hier auch durch die Taiwan-Straße fahren, in sogenannten Freedom of Navigation-Routen. Also ganz konkret bedeutet das, dass man da durch die Taiwan-Straße durchfährt, um eben zu zeigen, dass das ein internationales Gewässer ist und nicht, wie von der Volksrepublik beansprucht, ein nationales Gewässer. Musik SPRECHER Eine Eroberung Taiwans durch China wäre ein weiterer Schritt für die Großmacht-Ambitionen Pekings, denn dies würde dem Land zu mehr Macht im Pazifik verhelfen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine befürchten Beobachter, dass China auf ähnliche Art und Weise versuchen könnte, Taiwan zu erobern. Spätestens seit Peking die Demokratiebewegung in Hongkong niederschlagen ließ, ist klar, dass die Volksrepublik auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Die USA – als Schutzmacht - beliefern Taiwan deshalb mit Waffen. US-Präsident Joe Biden bezeichnete es als „Verpflichtung“, Taiwan zu verteidigen – wie dieses Engagement außer Waffenlieferungen genau aussehen könnte, ließ er offen. Die Bochumer Taiwan-Expertin Christine Moll-Murata: O-TON 6 (Moll-Murata, 7.10) Natürlich gibt es auch wirtschaftliche Interessen der USA, aber in erster Linie ist es eben geopolitischer Art. Und das hat, ja, eben auch mit dem Verhältnis von USA zu China zu tun. In letzter Zeit, also seit den letzten fünf, sechs Jahren, spricht man von Decoupling, also von einer Loslösung oder von einer Entflechtung der amerikanischen Wirtschaft von der chinesischen Wirtschaft. Und da spielt eben Taiwan eine wichtige Rolle. SPRECHEREin militärischer Konflikt hätte massive Auswirkungen, auch auf die Weltwirtschaft. Das kleine Taiwan - die Insel ist etwa so groß wie Baden-Württemberg - gilt als Tigerstaat Südostasiens, also als eine besonders dynamische Wirtschaft. MUSIK Zwar taucht Taiwan wegen seines unklaren Status meist nicht in offiziellen Rankings auf, doch mit einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt für 2023 von knapp 800 Milliarden US-Dollar, liegt Taiwan weltweit etwa auf Platz 20. Besonders wichtig für viele Branchen ist vor allem die Chip- und Halbleiterindustrie. Dort ansässige Unternehmen wie die „Foxconn Technology Group“ oder die „Taiwan Semiconductor Manufactoring Company, Limited“ produzieren Elektronik- und Computerteile, Chips und Halbleiter unter anderem für Marken wie Apple, Nintendo, Microsoft und Sony. Anna Marti von der Friedrich Naumann Stiftung in Taipeh. O-TON 7 (Marti, 16.52) Es ist ganz klar: Die Welt ist abhängig von diesen Chips, die hier in Taiwan produziert werden. Und wenn die Lieferketten unterbrochen werden oder wenn es zu einem größeren Konflikt kommen sollte, dann wäre die Weltwirtschaft insgesamt betroffen, nicht nur wegen den Chips, aber natürlich auch wegen den Routen, den Schiffsrouten, die hier auch in nächster Nähe vorbeigehen und die Falle eines Konfliktes da natürlich betroffen wären. TC 14:24 - Umbruchsdenken SPRECHEREs mag erstaunlich klingen: Trotz des politischen Konflikts mit Peking hat Taiwan enge wirtschaftliche Beziehungen mit der Volksrepublik. Die Volksrepublik China ist Taiwans größter Handelspartner. Im Jahr 2022 gingen rund 40 Prozent aller taiwanischen Exporte nach China, inklusive der Sonderverwaltungsregion Hongkong. Taiwanesische Firmen wie Foxconn haben zudem auch Filialen auf dem chinesischen Festland – doch das scheint sich langsam zu ändern, sagt Professor Moll-Murata. O-TON 8 (Murata-Moll, 10.41)  Ich habe jetzt bei einem Besuch in Taiwan vor Kurzem gehört, dass sich einfach auch in Taiwan bemerkbar macht, dass viel mehr Unternehmen, die vorher auf dem Festland ansässig waren, eben versuchen, sich herauszuziehen und dann in Südostasien oder in Indien ihre Produktionsstätten neu aufzubauen - wegen der Unsicherheit, die der Produktion in China und auch natürlich aus geopolitischen Gründen. Ja, und aus Gründen, dass der Standort China für taiwanische Unternehmen eben mehr und mehr gefährlich zu sein scheint. MUSIK SPRECHERNicht nur wirtschaftlich, auch gesellschaftlich findet ein Umdenken statt: Auch wenn die Amtssprache Mandarin, also Chinesisch ist – es werden zudem unter anderem Taiwanisch und Hakka gesprochen -, sieht sich die Mehrheit der vor allem jüngeren Menschen in Taiwan inzwischen als Taiwanerinnen und Taiwaner und nicht als Chinesinnen und Chinesen. Christine Moll-Murata: O-TON 9 (Moll-Murata, 19.47) Die taiwanische Identität, also dieses Identitätsbewusstsein Taiwaner zu sein und nicht Chinese, das hat in den vergangenen Jahren immer stärker zugenommen. Das ist ganz klar. Das heißt aber übrigens nicht, dass nicht die Bevölkerung auch bei Wahlen durchaus zum Ausdruck bringen kann, dass sie an einer größeren Annäherung oder an einer Entspannung gegenüber China großes Interesse hat. SPRECHERDass viele Menschen in Taiwan zumindest den Status quo beibehalten möchten, liegt sicher auch am politischen System. Taiwan gilt als eine der stabilsten Demokratien Asiens mit freien Wahlen, einem funktionierenden Rechtssystem, Meinungs- und Pressefreiheit sowie einer liberalen Gesellschaft. So legalisierte der Inselstaat 2019 zum Beispiel als erstes asiatisches Land die gleichgeschlechtliche Ehe. Auf diese Errungenschaften legen die Menschen großen Wert. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass es gegen die Verfassung verstoße, wenn nur Männer und Frauen heiraten können. Laut dem Demokratieindex – zusammenstellt von der Universität Göteborg -  gehört Taiwan weltweit zu den Top-20-Demokratien und liegt damit unter anderem vor Slowenien und Österreich. Anna Marti: O-TON 10 (Marti, 11.38) Was man aber nicht vergessen darf, ist natürlich, dass Taiwan auch immer noch eine relativ junge Demokratie ist. Das heißt auf der positiven Seite, dass es den Menschen noch oft noch sehr bewusst ist, wie es vorher war und dass sie deswegen auch sehr, sehr viel Wert darauflegen. Musik TC 17:28 – Der Weiße Terror SPRECHERDenn Taiwan war nicht von Anfang an eine Demokratie. In dem früheren Einparteiensystem herrschte jahrzehntelang Kriegsrecht und der sogenannte Weiße Terror – begrifflich eine Abgrenzung zum roten Kommunismus. Es gab unter der Herrschaft der nationalchinesischen Kuomintang willkürliche Verhaftungen. Oppositionelle wurden unterdrückt, vermeintliche Kommunisten und Spione verschwanden und wurden getötet. Anna Marti: O-TON 11 (Marti, 9.57) Es gab politische Gefängnisse. Es war kein Rechtsstaat, und es war ein sehr, sehr repressives System. Und dieser weiße Terror, dieses Kriegsrecht, das galt in Taiwan sehr, sehr lange. Erst 1987 wurde das beendet, und dann setzte langsam eine Demokratisierung ein, die auch von den Menschen getragen wurde und die vor allem von unten kam und die ersten wirklich freien Wahlen, die fanden (19)96 auch erst statt, das heißt es weiter Weg. Und lange Zeit war der schöne Name Republik eben nur das, ein schöner Name und aber nicht wirklich mit Leben gefüllt. Musik SPRECHEROffiziellen Quellen zufolge wurden 1.061 Menschen zum Tode verurteilt und bis zu 20.000 Menschen inhaftiert. Die Aufarbeitung dieser Zeit der Gewalt und Willkür ist ein langwieriger Prozess. Zwar wurden zum Beispiel ein ehemaliges Foltergefängnis und die Gefängnisinsel Lüdao zu Gedenkstätten umgewandelt, Literatur und Kunst setzen sich intensiv mit dem Thema auseinander, und die Opfer des Weißen Terrors wurden entschädigt, die Täter aber wurden nicht juristisch zur Verantwortung gezogen. Erst 1996 wurde der erste direkte Präsident der Insel gewählt: Lee Teng-hui. Der ehemalige Bürgermeister von Taipeh war der erste Präsident, der auch auf der Insel geboren war. In den Nachrichten vom März 1996 hieß es: Einspielung 3 (Taiwan hat gewählt, 00.01)   Während also Präsident Lee feierte und sich feiern ließ, ist für die Führer in Peking, die Taiwan als abtrünnige Provinz betrachten, ein Alptraum wahr geworden. Lee Teng-hui, dessen Wunsch nach mehr internationaler Anerkennung Taiwans die Krise zwischen den beiden Chinas ausgelöst hat, hat 54 Prozent der Stimmen erhalten….   Musik TC 19:46 – Ein Leben mit militärischer Spannung SPRECHERDer Konflikt um Taiwan ist ein Dauerthema – nicht nur international, sondern auch auf der Insel selbst. Denn es kommt immer wieder zu militärischen Machtdemonstrationen, scharfen Reden und Versuchen der chinesischen Einflussnahme, sagt die Ostasienwissenschaften Moll-Murata: O-TON 12 (Moll-Murata, 18.26) Wobei man sagen muss, dass natürlich China auf verschiedene Weise, nicht nur mit militärischen Drohgehabe versucht, Taiwan zu beeinflussen, sondern auch massiv mit Presse, mit den Medien und mit den sozialen Medien auch. SPRECHERTrotz der Spannungen und militärischen Konfrontationen sei im Alltag aber keine ständige Nervosität zu spüren, sagt Marti, die in Taipeh lebt. O-TON 13 (Marti, 21.37) Ich vergleiche es immer ein bisschen, wie wenn man in einen Raum kommt, wo es nicht gut riecht. Wenn man die Tür aufmacht und reinkommt, dann merkt man das - und je länger man in dem Raum ist, desto weniger merkt man das. Irgendwann hat sich die Nase dran gewöhnt und man riecht es nicht mehr. Und das ist so der Eindruck, den ich öfters hier in Taiwan habe. Dass die Menschen diese Gefahr kennen, es war schon immer so, und es gab immer mal Auf und Ab. Und dass man da, wie so ein bisschen abstumpft. Denn man hat ja eigentlich nur zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann entweder sich in frenetischen Vorbereitungen stürzen oder ganz extrem in andauernde Panik verfallen. Oder man kann es so ein bisschen ignorieren und für die allgemeine Gesundheit ist, glaube ich, das Ignorieren und sich einfach damit Arrangieren besser. MUSIK SPRECHERNichtsdestotrotz nimmt in dem jungen demokratischen Land die Diskussion über Politik, das Verhältnis zu China und die Zukunft des Landes einen großen Raum ein. Auch die junge Bevölkerung hat ein großes Interesse an Politik, sagt Christine Moll-Murata: O-TON 14 (Moll-Murata, 28.22) Ich habe viele Definitionen gehört von Taiwan… die einen sagen, wir sind ein Staat ohne Selbstbewusstsein. Die anderen sagen, wir sind ein ganz besonderer Staat. Manche beharren darauf, dass sie sich auf dem Weg zur Nationenbildung finden. MUSIK hoch SPRECHERTaiwan war, ist und bleibt wohl auf absehbare Zeit ein Land im Konflikt der Mächte. Das demokratische Land steht zwischen der mächtigen kommunistischen Volksrepublik China und den USA, für die die Insel geopolitisch, aber auch wirtschaftlich von großer Bedeutung ist. In den vergangenen Jahren nahmen die Spannungen um die Insel eher zu – es bleibt ein Balanceakt.  MUSIK TC 22:10 – Outro
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Mar 22, 2024 • 23min

GEFÄHRLICHE NACHBARN - Wie Bangladesch entstand

Bangladesch - ein Staat, der aus Massakern hervorging. Die Region war zunächst der östliche Teil Pakistans, im fruchtbaren Mündungsdelta der Flüsse Ganges und Brahmaputra gelegen. Im Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung vom westlichen Pakistan kam es 1971 zu schweren Gewalttaten und einem Krieg, an dem schließlich auch Indien beteiligt war. Mehrere Millionen Menschen mussten flüchteten. Von Bettina Weiz (BR 2021) Credits Autorin: Bettina Weiz Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Xenia Tiling, Carsten Fabian Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Micheal Mann   Linktipps: SWR (2022): George Harrsion – „The Concert for Bangladesh“ George Harrisons Konzert und Album "The Concert for Bangladesh" ist quasi die Mutter aller Charity- und Benefizkonzerte. Am 1. August 1971 spielte das ehemalige Mitglied der Beatles zwei Konzerte im ausverkauften Madison Square Garden in New York. Fast 250.000 US-Dollar Spendengelder kamen an diesem Tag zusammen um dem von Krieg, Vertreibung, Völkermord und Naturkatastrophen gebeutelten Bangladesh zu helfen. Aber das war erst der Anfang. JETZT ANHÖREN BR (2024): Die verzweifelte Lage der Rohingya  In der Nähe von Coxs Bazar im Süden von Bangladesh liegt das wohl größte Flüchtlingslager der Welt. Etwa eine Million Rohingya lebt hier, etwa die Hälfte davon Kinder. Verfolgt von der Militärjunta flüchtete die muslimische Minderheit aus ihrer Heimat Myanmar. Doch auch in Bangladesch haben sie keine Zukunft. Zum Podcast geht es HIER. hr (2024): Booming Bangladesh Menschen aus der Kulturszene von Bangladesh erzählen: Modeschöpferin Bibi Russell über ihre Liebe zur Altstadt der Hauptstadt Dhaka, der Fotograf und Aktivist Shahidul Alam wie auch das Kollektiv "Britto Arts Trust" über Kunstfreiheit, die Kunst-Mäzenin Nadia Samdani bringt auf ihrem "Art Summit" die internationale Kunstszene und führende Künstler/innen aus Bangladesh miteinander in Kontakt. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:44 – Das Bengalen LandTC 06:38 –  Die Rolle von Pakistans Teilung in Ost und West  TC 12:17 – Die Mutter aller BenefizkonzerteTC 16:28 – Das Politikum des zweiwöchigen KriegTC 22:28 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro ATMO/MUSIK 1 ERZÄHLERINNew York, Sommer 1971. Ex-Beatle George Harrison tritt auf die Bühne des Madison Square Garden. ATMO (Beifall /George Harrison)„Thank you, thank you“.Darauf weiter: ERZÄHLERIN40.000 Menschen sind zu den zwei Konzerten des Tages gekommen. Es ist Harrisons erster großer Auftritt nach der Trennung der Beatles, und manch ein Fan hofft, dass die Kultband vielleicht doch wieder zusammenfindet. Außerdem stehen an diesem Tag Topstars auf dem Programm, von Eric Clapton bis Bob Dylan. Aber zuerst macht Harrison die Bühne frei für eine Gruppe von Indern mit traditionellen Trommeln und Langhalslauten. ATMO /Musik 1 (George Harrison: „So let me introduce on Sitar Ravi Shankar“ Jubel) ERZÄHLERINDer Sitar-Spieler Ravi Shankar sagt, an diesem historischen Tag hätten sie nicht nur ein Musikprogramm. Sie hätten auch eine Botschaft. ATMO/ MUSIK 1 (Ravi Shankar: „And this is to just make you aware of a very serious situation that is happening....) Darauf Overvoice-Sprecher: Und zwar sollt Ihr auf etwas sehr Schlimmes aufmerksam gemacht werden, das gerade passiert. Wir versuchen nicht, Politik zu machen. Wir sind Künstler. Aber wir möchten, dass Ihr durch unsere Musik die Qualen, den Schmerz und die vielen traurigen Geschehnisse in Bangladesch mitfühlt. Und mit den Flüchtlingen, die nach Indien gekommen sind. (... the pain and lots of sad happenings in Bangladesh. And also the refugees who have come to India.“ Beifall) Musik TC 01:44 – Das Bengalen Land ERZÄHLERINBangladesch: das war damals neu – als Wort und auch als Staat. Der war zum Zeitpunkt des Konzertes gerade erst im Entstehen. Die heftigen Auseinandersetzungen darum führten zum dritten pakistanisch-indischen Krieg. Er dauerte nur knapp zwei Wochen – vom dritten bis zum 16. Dezember 1971. Damit ist er als einer der kürzesten Kriege in die Weltgeschichte eingegangen. Aber trotzdem haben er und vorangegangene innerpakistanische Auseinandersetzungen gewaltiges Leid verursacht. Die Rede ist von bis zu drei Millionen Toten und über 50 Millionen Flüchtlingen. Und das hatte eine lange Vorgeschichte. MUSIK 2 überblendet in ATMO (Wasser-fließt in der Ebene) ERZÄHLERINEs geht um Bengalen. Bangladesch heißt wörtlich „Bengalen-Land“. Gemeint ist ein Gebiet der Superlative. Hier kommt das Wasser vom höchsten Gebirge der Welt zusammen. Ganges, Brahmaputra und Meghna bilden das größte Flussdelta auf dem Globus. Es ist Schwemmland, eine der fruchtbarsten Gegenden der Welt. Für die Bauern ist bis zu dreimal im Jahr Ernte, so der Südasien-Historiker Michael Mann von der Berliner Humboldt-Universtität. 1. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Der Reisanbau wird dort seit Jahrtausenden kultiviert, Vermutungen gehen auch dahin, dass Reis unter anderem in Bengalen zunächst mal durch Menschen kultiviert worden ist, das heißt dass wir tatsächlich auch mit eine der ältesten Regionen in der Welt haben, die besiedelt wurde, MUSIK 3 ERZÄHLERINDas heutige Bangladesch ist der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt. Vor tausend Jahren regierten Buddhisten das Land. Vor 800 kam es unter muslimische Herrschaft. Im 18. Jahrhundert siedelten sich Briten an. Sie kamen als Händler und schwangen sich zu Herrschern auf. 1876 krönten sie die Queen of England zur Kaiserin von Indien. Der Regierungssitz von Britisch-Indien lag in Bengalen: Kalkutta. Eine Stadt von imperialer Größe, voller Paläste und Kultur. Die war eine Gemeinschaftsleistung von Menschen unterschiedlichen Glaubens. Das zeigt das Beispiel des Sitar-Spielers Ravi Shankar. ATMO / MUSIK 4 ERZÄHLERINSeine Familie stammte aus Bengalen. Sie war Hindu. Ravi Shankars Lehrer indes war Muslim. Und er war nicht bloß sein Lehrer. Ravi Shankar lebte auch jahrelang in seinem Haushalt mit. Er heiratete dessen Tochter und trat oft gemeinsam mit dessen Sohn auf, unter anderem beim „Konzert für Bangladesch“ in New York. MUSIK 5 ERZÄHLERINGerade die Gebildeten und die Reichen in Bengalen begannen Ende des 19. Jahrhunderts laut darüber nachzudenken, wie es wäre, Indien zu regieren. Selbst. Ohne Briten. In der aufkeimenden Unabhängigkeitsbewegung spielten Bengalen starke Rollen. Da teilten die britischen Herrscher 1905 Bengalen auf: in einen mehrheitlich muslimischen Ostteil und einen hauptsächlich hinduistischen Westteil. Nach scharfem Protest hoben sie die Teilung wieder auf. 1911 wurde ihnen Bengalen endgültig zu mächtig. Sie verlegten ihren Regierungssitz von Kalkutta nach Delhi. ERZÄHLERINDoch die Unabhängigkeitsbewegung ging weiter – mit Erfolg. 1947 gab der letzte britische Vizekönig von Indien die Gesetzgebungsmacht auf dem Subkontinent ab. In derselben Augustnacht entstanden in der Nachfolge Indien und Pakistan. Indien gab sich eine säkulare Verfassung. Pakistan nannte sich später als erster Staat der Welt „islamische Republik“. Gandhi, der Mahatma und Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, hatte sich beinahe zu Tode gehungert, um eine solche Teilung zu verhindern. Am Ende der Kolonialzeit aber waren die Religionen so politisiert, dass die Teilung unabwendbar war. In der Folge machten sich rund 12 Millionen Menschen auf den Weg, so der Südasienhistoriker Michael Mann: Muslime von Indien nach Pakistan und Hindus von Pakistan nach Indien. 2. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Also ein tatsächlicher Austausch der Bevölkerung, wobei schätzungsweise 1 Mio Menschen umgekommen sind ERZÄHLERINBis heute wirken die Traumata von damals nach. Sie belasten das Verhältnis von Indien und Pakistan, ebenso wie die Frage, zu wem Kaschmir gehört. Das ehemalige Königreich, fast so groß wie die alte Bundesrepublik, wird von Indien beansprucht und von Pakistan ebenfalls, zum Teil auch von China. Mehrfach gab es Kriege um Kaschmir, und die Spannungen halten an. Musik TC 06:38 –  Die Rolle von Pakistans Teilung in Ost und West  ERZÄHLERINDer indisch-pakistanische Krieg von 1971 allerdings drehte sich nicht um Kaschmir. Er begann als Konflikt innerhalb Pakistans. Das bestand seit seiner Gründung 1947 aus zwei getrennten Landesteilen, die weit über 1000 Kilometer voneinander entfernt waren: Westpakistan längs des Flusses Indus, angrenzend an Afghanistan und den Iran; und Ostpakistan im Ganges-Brahmaputradelta mit einer Grenze zum heutigen Myanmar. Bengalen war damit wiederum geteilt, denn Westbengalen, also das westliche Gangesdelta, gehört zu Indien. Wer von West-Pakistan nach Ost-Pakistan reisen wollte, brauchte auf dem Landweg tagelang und musste durch das verfeindete Indien. Westpakistan war vielerorts gebirgig und trocken, Ostpakistan dagegen flach, üppig grün, und Wasser ist das prägende Element. Westpakistan hatte mehr Fläche, Ostpakistan mehr Einwohner. Zwar waren beide Landesteile muslimisch, aber mit anderen Ritualen, anderen Heiligen, anderen Traditionen. Ost- und Westpakistan hatten unterschiedliche Sprachen und Kulturen und eine sehr andere Geschichte, so der Historiker Michael Mann von der Humboldt-Universität Berlin. 3. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Westpakistan ist quasi die Militärbastion britisch-Indiens gewesen, mit dem Punjab, wie das auch heute noch ist, der Punjab ist sehr stark also von Militärsiedlungen durchsetzt, wo auch viele Kasernenbauten waren, wo auch viel Militär stationiert war, das hatte damit zu tun, dass man im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ja immer noch vom sogenannten "Great Game" sprach, also diesem großen Spiel, was um die Einfluss-Zone in Zentralasien ging. Also im Prinzip das Vorspiel dessen, was wir heute gerade erleben um Afghanistan, um Grenzregionen zu Usbekistan, die Auseinandersetzung mit dem damaligen kaiserlichen Russland. ERZÄHLERINUm aus den beiden so unterschiedlichen Landesteilen einen Staat zu schweißen, wollte der Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah• in West- wie in Ostpakistan dieselbe Sprache einführen: Urdu. 4. ZUSPIELUNG (Michael Mann) Urdu ist ursprünglich eine städtische Sprache, die in ganz Nordindien gesprochen wurde und mit dem Hindi sehr stark verwandt ist, wird aber in persisch-arabischen Schriftzeichen geschrieben, so dass man historisch gesehen, im 19. und 20. Jahrhundert, so die Idee entwickelte, dass Urdu auch die Sprache der Muslime ist. Was im 19. Jahrhundert noch gar nicht der Fall war, aber eben im Zuge der Nationalisierung und der Frage der Unabhängigkeit dann zu einem Politikum wurde. Und das muss man sehen vor dem Hintergrund, dass nicht mal 2% der Bevölkerung in West- und Ostpakistan Urdu sprachen. Nicht mal in Westpakistan. MUSIK 7 ERZÄHLERINIn Westpakistan wurde eine Vielfalt anderer Sprachen gesprochen, in Bengalen dagegen einheitlich Bengali, die Sprache, die gerade erst ihre Renaissance erlebt hatte. Da stieß die Einführung von Urdu auf scharfe Gegenwehr. Außerdem hatte Ostpakistan den Großteil der Einwohner und erwirtschaftete das Geld. Das Sagen aber hatte Westpakistan, wo auch die Hauptstadt lag, Islamabad. 5. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Im bengalischen Bereich, also in Ostpakistan, hat das dazu geführt, dass man sich doch in einer Reihe von kolonialen Herrschaftsverhältnissen gesehen hat. Also zuerst mal seit 1565 durch die Moguln beherrscht, dann seit 1765 von den Briten und eben seit 1947 dann durch Pakistan. Das ist dann übrigens auch zu einer dieser Gründungserzählungen oder nationalen Narrativen geworden, dass man von drei Mächten kolonial beherrscht wurde und eben auch kolonial ausgebeutet wurde. Es ist wenig Geld von Westpakistan nach Ostpakistan geflossen, also auch die Infrastruktur wurde dort nicht aufgebaut, es wurde auch kein Militär dort stationiert, sondern es wurde tatsächlich als der Hinterhof betrachtet, der seine Agrargüter zur Verfügung zu stellen hatte. MUSIK 8 ERZÄHLERIN:Kein Militär – keine Mitsprache. Das Militär war nämlich entscheidend im neugegründeten Pakistan, erklärt der Historiker Michael Mann. 1970 gab es zum ersten Mal freie, allgemeine Wahlen. Klar gesiegt hat die Partei des bengalischen Politikers Mujibur Rahman•. Sie bekam fast alle Stimmen in Ostpakistan, und das bedeutete die Mehrheit im Parlament für ganz Pakistan. Doch der westpakistanische General Yahya Khan•, der in Islamabad die Macht hatte, zögerte die Regierungsübergabe hinaus. Unterdessen wurde Militär aus Westpakistan nach Ostpakistan geflogen. Die Lage spitzte sich zu, als ein tropischer Wirbelsturm Bengalen verwüstete. 6. ZUSPIELUNG (Michael Mann)In Ostpakistan kommt noch dazu, dass wir dort eine große Naturkatastrophe hatten mit mehreren 100.000 Opfern, und auch hier kam zu wenig und zu spät Hilfe von Seiten Westpakistans, so dass man auch hier den Eindruck bekam, man ist eigentlich doch eher der koloniale Annex, so wie es unter den Briten war, und das hat insgesamt die Stimmung im Land - gerade nach dem Wahlbetrug dann auch - so aufgeheizt, dass schnell also auch der Ruf nach Unabhängigkeit dann klar wurde. Musik 9 TC 12:17 – Die Mutter aller Benefizkonzerte ERZÄHLERINAnfang März 1971 hätte die pakistanische Nationalversammlung in ihrer neuen Besetzung, also mit bengalischer Mehrheit, tagen sollen. Doch die Militärregierung ließ sie nicht zusammenkommen. Da rief Mujibur Rahman, der Parteichef der siegreichen Bengalen, zu Streik und zivilem Ungehorsam auf. Die Folge: Gewalt und Tod. ERZÄHLERINAm 25. März 1971 richteten das Militär und Bürger, die zu ihm hielten, ein Massaker in Dhaka an, der Hauptstadt des damaligen Ostpakistan. Unter den Toten waren viele Studenten, Kinder, Leute wie Du und ich. Zivilisten eben. Die Berichte aus diesen Tagen sind unerträglich grauenvoll. Der Wahlsieger Mujibur Rahman wurde verhaftet und nach Westpakistan ausgeflogen. Die meisten führenden Mitglieder seiner Partei flohen. Sie richteten in Kalkutta im indischen Teil Bengalens eine Exilregierung ein. Dort erklärten sie Ost-Pakistan für unabhängig von West-Pakistan und gaben dem neuen Staat den Namen „Bangladesch“. MUSIK 10 ERZÄHLERINIn den folgenden Monaten führte die Regierung West-Pakistans Krieg gegen den abtrünnigen Landesteil. Dabei wurde sie von einem Teil der bengalischen Bevölkerung unterstützt, was bis heute tiefe Gräben in der Gesellschaft hinterlassen hat. 7. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Wozu es tatsächlich kam, war es, dass man Terror ins Land brachte. Und dazu wurden gezielt eben die Truppen ausgeschickt, Massaker unter der Bevölkerung anzurichten. Und das geschah, dass manchmal ganze Dörfer massakriert wurden, dass Frauen vergewaltigt wurden, dass sie zum Teil bei lebendigem Leib verbrannt wurden. MUSIK 11 (singt) „My friend came to me /with sadness in his eyes /he told me that he wanted help...“ Darauf OVERVOICE-SPRECHERMein Freund kam zu mir mit Traurigkeit in den Augen. Er sagte mir, er wolle Hilfe, bevor sein Land stürbe. Obwohl ich den Schmerz nicht fühlte, wusste ich, dass ich es versuchen musste. Jetzt bitte ich Euch alle, helft uns einige Leben zu retten! MUSIK 11 kurz hoch: ...now I am asking all of you /to help us save some lives... ERZÄHLERINDas Konzert, das der Ex-Beatle George Harrison im August 1971 in New York organisierte, gilt als das erste Allstar-Benefiz-Konzert überhaupt. Harrison sang auch selbst. MUSIK 11: George Harrison (singt) „Bangladesh, Bangladesh /where so many people are dying fast /and it sure looks like a mess... ERZÄHLERINIm Ergebnis spendete Harrison zunächst ein paar Hunderttausend Dollar aus dem Verkauf der Eintrittskarten an das Kinderhilfswerk UNICEF für Bangladesh. Musik: George Harrison (singt) „We’ve got to relieve Bangladesh /relieve the people of Bangladesh...“ OVERVOICE-SPRECHERWir müssen es den Menschen von Bangladesch leichter machen! ERZÄHLERINVor allem aber machte das Konzert mit einem Schlag das Wort „Bangladesch“ in der westlichen Welt bekannt.Doch die hielt sich politisch zurück. Deutschland betrachtete den Konflikt als innere Angelegenheit Pakistans. Es beschränkte sich darauf, Hilfsgelder für Flüchtlinge zu geben. Die USA sympathisierten mit Pakistan. Unterstützung erhielten die neu entstandenen Guerillagruppen, die für ein unabhängiges Bangladesch kämpften, vom Nachbarstaat Indien. Zum einen aus geostrategischem Kalkül, so der Südasien-Historiker Michael Mann. Mit einem unabhängigen Bangladesch würde es bei künftigen militärischen Auseinandersetzungen mit Pakistan keinen zwei-Fronten-Krieg geben. Außerdem wollte die Regierung von Indira Gandhi den Zustrom von Flüchtlingen stoppen. Viele von ihnen waren ins indische Kalkutta gekommen. 8. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Die Konsequenzen aus dem Bangladesch-Krieg, die haben wirklich nochmal dafür gesorgt, dass Kalkutta eben nicht mehr die Stadt der Intellektuellen, der Literaten war, sondern Kalkutta hat dann erst den Ruf bekommen, eine Stadt des Elends zu sein. Wo z.B. so ne Figur wie Mutter Teresa überhaupt erst aktiv werden konnte. Die wiederum zu dem Bild von Kalkutta als einer Stadt des Elends und der Krankheit beigetragen hat. TC 16:28 – Das Politikum des zweiwöchigen Krieg ERZÄHLERINIm Winter 1971 war die Lage Bangladeschs immer noch aussichtslos. Da griff die indische Armee offen in den Konflikt ein. Am 3. Dezember marschierte sie in Ost- und Westpakistan ein. Am 14. Dezember kamen Berichte aus Bangladeschs Hauptstadt Dhaka von gezielten Massakern der pakistanischen Armee und ihrer Kollaborateure an gut ausgebildeten Bangladeschern. Das sollte es offenbar schwerer machen, den neuen Staat aufzubauen. Am 16. Dezember kapitulierte die pakistanische Armee. Damit konnte das unabhängige Bangladesch Wirklichkeit werden. Mujibur Rahman wurde aus dem Gefängnis entlassen und bekam in Dhaka den Empfang eines Helden. Er wurde zum ersten Premierminister des neuen Staates. MUSIK 12 ERZÄHLERINPakistan ist seither nur noch das ehemalige West-Pakistan, das Land zwischen Indien im Osten und Afghanistan und dem Iran im Westen. So heftig die Gewalt gegenüber dem abtrünnigen Landesteil 1971 war, so wenig sei der Krieg von damals heute Thema, sagt der Südasien-Historiker Michael Mann. 9. ZUSPIELUNG (Michael Mann)In Westpakistan spielt das gar keine Rolle mehr, da ist es völlig ausgeblendet worden, also da - ist noch nicht mal der Verlust eines Landesteiles wird da irgendwie in der Geschichte thematisiert, ERZÄHLERINAuch in Bangladesch sei der Krieg lange kaum Thema gewesen. Im neuen Jahrtausend dann wurde dort für ihn der Begriff „Genozid“ gebräuchlich. Der war ursprünglich für die industrielle Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Holocaust verwendet worden. Er findet aber zunehmend auch anderswo Verwendung, und nun auch in Bangladesch. 10. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Ein Diskurs im Sinne von einer Diskussion oder einer Auseinandersetzung gibt es gar nicht. Es gibt eigentlich eher das Konstatieren von "es ist ein Genozid", und der Genozid ist von pakistanischen Militär gegenüber der bengalischen Bevölkerung in Ostpakistan, in Bangladesch, durchgeführt worden. /// Das ist die Selbstvergewisserung, und das ist quasi ein Teil des Gründungsmythos, der für sich selbst in Anspruch genommen wird, // um die schiere Unfassbarkeit eben dieser reihenweisen Massaker auf einen Nenner zu bringen MUSIK 13 ERZÄHLERINVier Jahrzehnte nach dem Krieg wurden zwei Gerichte gebildet, um die Verbrecher zu bestrafen. Doch eines stellte nach drei Jahren die Arbeit ein, und rasch wurden Vorwürfe laut, es mangele an Unabhängigkeit und Standards. Der Krieg ist zu einem Politikum geworden. 11. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Was zur 50jährigen Wiederkehr des Befreiungskrieges passiert ist, ist eine quasi-Monumentalisierung. Also man hat ein völlig überdimensioniertes, nach unserem Verständnis überdimensioniertes Museum zur Erinnerung an den Befreiungskrieg gebaut, wo also Hubschrauber und andere Gerätschaften, Großgeräte ausgestellt werden, mit einer sehr schönen modernen Architektur auch, man hat andere Denkmäler gebaut, die auch diesen Befreiungskrieg in monumentaler Art und Weise erinnern, es führt aber auch dazu, dass Kritik an Mujibur Rahman nicht geäußert werden darf, das ist politisch völlig unopportun und kann also auch zu Schwierigkeiten führen MUSIK 14 ERZÄHLERINDas Museum zur Erinnerung an den Befreiungskrieg in Dhaka gibt die Zahl der Toten in den Auseinandersetzungen von West- mit Ostpakistan und im Krieg von Pakistan und Indien mit rund drei Millionen an. 10 Millionen Menschen, vor allem Hindus, seien nach Indien geflüchtet, 45 Millionen innerhalb Bangladeschs vertrieben worden. Fast 280.000 Frauen und Mädchen wurden demnach vergewaltigt. Doch im einzelnen verzeichnen konnte die Opfer niemand, und es gebe unterschiedliche Zahlen, sagt Michael Mann von der Humboldt-Universität zu Berlin. 12. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Die Forschung zu diesem Unabhängigkeitskrieg und vor allem auch welche Rolle Mujibur Rahman vorher, hinterher gespielt hat, ist für Bangladeschis sehr schwierig. Das habe ich also auch selber an der Universität erfahren, als eine Doktorandin mir im Prinzip mitteilen musste, dass das, was sie eigentlich als Thema vorhat, nämlich sich mit dem Unabhängigkeitskrieg zu beschäftigen, nicht in dieser Form umsetzen kann und dass auch ihre Eltern ihr abgeraten hätten, Interviews durchzuführen dann auf dem Land. ERZÄHLERINEs würde bedeuten, dass viele Frauen und Männer, die diese Massaker überlebt haben, sich der schmerzlichen Erinnerung an verdrängtes Leid stellen müssten – und die Täter verheimlichter Schuld. 13. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Was man weiß ist, wie die militärischen Aktionen abgelaufen sind, wann wo welche Flugzeuge eingeflogen wurden, also da gibt es auch nicht viel Weiteres zu erforschen. Das eigentliche - das soziale Elend, das familiäre Elend, das menschliche Elend, das ist bei weitem noch nicht in dem Maße erforscht, wie es sein sollte. MUSIK 11 ERZÄHLERINFür den Musiker George Harrison ist in Dhaka ein Denkmal aufgestellt worden. Ein Jahrzehnt nach dem Konzert für Bangladesch hatte er weitere 10 Millionen Dollar aus dessen Erlösen an das Kinderhilfswerk UNICEF gespendet. So lange hatte es gedauert, bis Rechtsstreitigkeiten um das Konzertalbum beigelegt waren. Das Geld wurde Grundstock für eine Stiftung, die bis heute Kinder in Bangladesch unterstützt. In dem Staat, der nach dem Krieg 1971 in Südasien entstanden ist, sind Millionen von ihnen auch jetzt in Not.Musik 15 TC 22:28 - Outro
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Mar 22, 2024 • 22min

GEFÄHRLICHE NACHBARN - Die Teilungen Polens

Eine unglaubliche Geschichte: Da liegt im Herzen Europas ein Riesenreich, einer der größten Staaten Europas, eine Adelsrepublik mit jahrhundertealten Traditionen. Und dieser Staat verschwindet dann innerhalb zweier Jahrzehnte von der Landkarte. So geschehen mit Polen, das im späten 18. Jahrhundert Beute seiner angrenzenden Nachbarländer wurde. Preußen, Österreich und Russland nahmen sich in drei Schritten für sie passende "Arrondierungsflächen", als wäre Polen ein großer Kuchen. Von Julia Devlin (BR 2012) Credits Autorin: Julia Mahnke-Devlin Regie: Irene Schuck Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Wolfgang Pregler, Margrit Carls, Andreas Neumann Technik: Wilfried Hauer, Adele Kurdziel Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Eckhart Hellmuth, Dr. Richard Butterwick, Dr. Małgorzata Zemła Linktipps: Planet Wissen: Geschichte Polens Polen ist eine selbstbewusste Nation mit einer bewegten Geschichte. Oft zerrissen zwischen den geopolitischen Kräften des Westens und des Ostens, entwickelte sich Polen zum Meister der Überlebenskunst. Zum Beitrag geht es HIER. Deutschlandfunk Kultur (2018): Politisierte Erinnerung  1918 kehrte Polen als Staat auf die Landkarte zurück, nach 123 Jahren Unfreiheit unter fremder Herrschaft. Die Erinnerung an damals hat großen Einfluss auf die aktuelle politische Diskussion und die Frage: Welches Land soll Polen heute sein? JETZT ANHÖREN Planet Wissen (2020): Polen – Land der Kontraste Polen ist pure Vielfalt. Auf der einen Seite wilde, ursprüngliche Natur, auf der anderen Seite quirlige, moderne Städte. Polens Geschichte ist geprägt von einer mächtigen Kirche und einem langen Freiheitskampf, der schließlich in der Öffnung nach Westen mündete. Seitdem wächst die Kluft zwischen Jung und Alt, zwischen Gewinnern und Verlierern, denn längst nicht alle profitieren vom Wirtschaftswachstum der letzten Jahre. Nährboden für Jarosław Kaczyński und seine nationalkonservative PiS-Partei, die seit 2015 die Regierung stellt und alles versucht, ihre Macht nachhaltig zu festigen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 01:00 – Fortschritt als Schwäche?TC 02:32 – Der König, die Zarin und die KaiserinTC 07:30 – Erste Verfassung EuropasTC 10:04 – ExistenzangstTC 12:22 – Die dramatische Lage der JudenTC 13:46 – Polnisches TraumaTC 20:28 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro Musik / Polnische Nationalhymne, Chorversion (ev. C136376) ERZÄHLERDie polnische Nationalhymne. Noch ist Polen nicht verloren, so lautet die erste Zeile. Dass sie heute noch gesungen wird, in einem freien Polen, grenzt an ein Wunder. Denn Polen war als Staat über 120 Jahre lang von der Landkarte verschwunden. ERZÄHLERINEiner der größten und ältesten europäischen Staaten wurde im 18. Jahrhundert wie ein Kuchen zwischen den drei Nachbarn aufgeteilt. ERZÄHLER1772 ZUSPIELUNG Paukenschlag. ERZÄHLERErste Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag. ERZÄHLERINPolen verliert dreißig Prozent seines Territoriums. ERZÄHLER1793 ZUSPIELUNG Paukenschlag.ERZÄHLERZweite Teilung Polens. ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERINPolen verliert weitere vierzig Prozent seines Territoriums. ERZÄHLER1795 ZUSPIELUNG Paukenschlag ERZÄHLERDritte Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERINPolen existiert nicht mehr. Musik / Barock ERZÄHLERPolen-Litauen im 18. Jahrhundert: Ein Großreich, das sich seit Jahrhunderten zwischen der Ostsee und den Karpaten, zwischen Preußen und Russland erstreckt. Seine Fläche ist gut doppelt so groß wie die der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Doch der Gigant ist anfällig für Konflikte von innen und von außen. TC 01:00 – Fortschritt als Schwäche? ERZÄHLERINPolen ist eine Adelsrepublik. Das heißt, der Adel, die sogenannte Szlachta, hat das Sagen. Regiert wird das Land vom Sejm, dem Parlament. Einen König gibt es zwar, aber anders als andere Könige erbt er seine Würde nicht, sondern wird vom Sejm gewählt. Viel zu sagen hat er nicht. Das mag fortschrittlich scheinen, verursacht aber Streit und Intrigen und schwächt den Staat. ERZÄHLEREin weiteres fortschrittliches Gesetz und Ursache vieler Zerwürfnisse ist das sogenannte liberum veto. Dieses Gesetz fordert, dass Entscheidungen im Parlament einstimmig fallen müssen. Ein einziger Adliger kann mit seinem Einspruch alles blockieren. ZITATOR 2 (herrisch)„Nie pozwalam!“ ERZÄHLERIN„Ich gestatte nicht!“ Durch diesen Ruf werden sämtliche Beschlüsse einer Sitzung null und nichtig. ERZÄHLERIm 18. Jahrhundert nehmen die Probleme überhand. Konflikte um die Thronfolge brechen aus, mehrmals herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, und das Parlament ist durch das liberum veto praktisch handlungsunfähig. Zudem haben zahlreiche Kriege das Land verwüstet. Polen wird zur leichten Beute für die Nachbarstaaten. Das sind: im Norden und Westen Preußen, im Süden das Habsburger Reich, im Osten Russland. ERZÄHLERIN Russland beeinflusst die polnische Politik schon lange, man könnte Polen fast als russisches Protektorat bezeichnen. Doch den Anstoß zu den Teilungen gibt eine andere Großmacht: Preußen. Eckhart Hellmuth, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Ludwig Maximilians Universität in München:TC 02:32 – Der König, die Zarin und die Kaiserin 1. ZUSPIELUNG (Hellmuth - O1)„Friedrich ist die treibende Kraft hinter dieser ersten polnischen Teilung. „ ERZÄHLER Der Preußenkönig verbirgt seine Absichten nicht: ZITATOR 1 „Polen muss man verspeisen, Blatt für Blatte, wie eine Artischocke“ ERZÄHLERIN Friedrich der Große hat Appetit auf ein ganz bestimmtes Stück Nordpolens. Ein großer Teil seines Königreiches – Ostpreußen - ist eine Exklave. Hoch im Norden und weit im Osten gelegen hat Ostpreußen keine Landverbindung zum Kernland. Denn dazwischen liegt das Land des polnischen Königs. ERZÄHLER Mit der Annexion dieser nordpolnischen Gebiete will Friedrich eine Landbrücke zwischen Pommern und Ostpreußen schaffen. Schon 1752 schreibt er: ZITATOR 1 „Polnisch Preußen trennt Pommern von Ostpreußen und hindert, dieses zu behaupten. Ich halte es nicht für angebracht, diese Provinz mit Waffengewalt zu gewinnen...Erwerbungen mit der Feder sind solchen mit dem Schwert allemal vorzuziehen.“ 2. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O2)„Der Weg in die erste polnische Teilung ist natürlich eine Möglichkeit, das Territorium ohne großen militärischen Konflikt zu arrondieren.“ ERZÄHLERIN „Erwerbungen mit der Feder“ bedeutet, Diplomaten statt Soldaten einzusetzen, mit gleichgesinnten Partnern die Beute von verschiedenen Seiten einzukreisen. Alleine ist ein Vorstoß zu riskant – die anderen Großmächte reagieren sehr empfindlich, wenn das Gleichgewicht der Kräfte gestört wird. Friedrich muss die Nachbarstaaten Polens einbeziehen: das Zarenreich und das Habsburger Reich. Zunächst lässt er seine Diplomaten am Zarenhof sondieren. Die Herrscherin dort: Katharina die Große. Dr. Richard Butterwick, Professor für polnische Geschichte am University College London: 3. ZUSPIELUNG (Butterwick - O1)“Frederick the Great had long had his eyes on this bit of territory connecting Brandenburg with East Prussia... ZITATOR 2 / overvoice„Friedrich der Große hatte schon lange ein Auge auf dieses Territorium im Norden geworfen, das Brandenburg mit Ostpreußen verbindet, aber auch am Zarenhof gab es Interesse an dem Territorium nördlich und östlich von Dvina und Dnjepr.“ ERZÄHLERIN Schnell ist man sich handelseinig: Wenn Friedrich Westpreußen bekommt, darf sich die Zarin in Polens Osten bedienen. Im Vertrag vom 17. Februar 1772 werden die künftigen Grenzen festgelegt. Mit diesem Vertrag in der Tasche ziehen die Diplomaten weiter, an den Kaiserhof nach Wien. Auch hier ist eine Frau auf dem Thron: Maria Theresia. 4. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O3)Habsburg kommt ja relativ spät an Bord, wobei es da gewisse Differenzen zwischen Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph II. gibt. Maria Theresia ist ja extrem vorsichtig, hat auch moralische Bedenken gegenüber dieser ersten Teilung Polens.“ ERZÄHLER Doch der Teilungsvertrag zwischen Russland und Preußen ist beschlossene Sache, Maria Theresia steht vor vollendeten Tatsachen. 5. ZUSPIELUNG (Butterwick – O2)“So when they are faced with the bargain between Russia and Prussia they’ve effectively no choice...” ZITATOR 2 / overvoice„Konfrontiert mit dem Handel zwischen Russland und Preußen hat Wien effektiv keine Wahl. Statt einen Krieg mit beiden anzufangen, macht es lieber mit.“ ERZÄHLERIN Friedrich kommentiert zynisch: ZITATOR 1 „Die Kaiserin Katharina und ich sind einfache Diebe. Ich wüsste nur gerne, wie die Kaiserin Maria Theresa ihren Beichtvater beruhigt hat? Sie weinte, als Sie nahm; je mehr Sie weinte, desto mehr nahm Sie.“ ERZÄHLER Die Entscheidung lastete Maria Theresia zeitlebens schwer auf der Seele. Ihrem Sohn Ferdinand schreibt sie: Musik / Barock, ev. Spinett, traurig.ZITATORIN „Diese unglückliche Teilung Polens kostet mich zehn Jahre meines Lebens... durch wie lange Zeit habe ich mich dagegen gewehrt! Nur die Wahrscheinlichkeit, allein einen Krieg gegen Russland und Preußen führen zu müssen, Elend, Hungersnot und verderbliche Krankheiten in meinen Ländern zwangen mich, auf diese unseligen Vorschläge einzugehen, die einen Schatten werfen auf meine ganze Regierung. Gott wolle, dass ich dafür nicht noch in der anderen Welt zur Verantwortung gezogen werde.“ ERZÄHLERIN So tritt Österreich im August 1772 dem Teilungsvertrag bei und sichert sich große Territorien im Norden seines Reiches. ERZÄHLERDer Vertrag wird dem polnischen Reichstag vorgelegt. Bestochen, durch Drohungen gefügig gemacht und im Bewusstsein der eigenen Schwäche unterzeichnet der Sejm die so genannten „Abtretungsverträge“. 6. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O4)„Der Weg in die erste polnische Teilung ist natürlich eine Möglichkeit, das Territorium ohne großen militärischen Konflikt zu arrondieren. ...Es kommt ja nicht bei der ersten polnischen Teilung zu irgendeinem militärischen Konflikt.“ ERZÄHLERIN Friedrichs Traum hat sich erfüllt: Musik / Militärmarsch ZITATOR 1 „Erwerbungen mit der Feder sind solchen mit dem Schwert allemal vorzuziehen.“ ERZÄHLER Eine zeitgenössische französische Karikatur zeigt die vier beteiligten Monarchen, wie sie um eine Landkarte Polens sitzen: drei zeigen auf die gewünschten Gebiete, während der polnische König verzweifelt seine Krone festhält, die ihm vom Kopf fliegt. Sein Königreich hat ein Drittel seiner Bevölkerung und mehr als ein Viertel seines Territoriums verloren und ist nur noch so groß wie Frankreich.TC 07:30 – Erste Verfassung Europas ERZÄHLERIN Der Schock der Verluste rüttelt die polnische Führungsschicht auf. König und Sejm raufen sich zusammen und entwickeln eine Verfassung - die erste moderne Verfassung Europas. Sie ist stark von der französischen Aufklärung beeinflusst. Die Macht des Königs wird eingeschränkt, die des Parlaments gestärkt. Das liberum veto wird abgeschafft, stattdessen ein Mehrheitsprinzip eingeführt. Die Bürger erhalten ein Mitspracherecht. Weil die Verfassung am 3. Mai 1791 verabschiedet wird, ist der 3. Mai heute in Polen Nationalfeiertag. Musik / Jeszcze Polska nie zginela... (polnische Nationalhymne, Instrumentalversion) ERZÄHLER Mit dieser Verfassung könnte Polen wieder zu einem handlungsfähigen Staat werden - wären da nicht die Nachbarn. Die empfinden das Dokument als Affront. Denn zur selben Zeit gehen in Frankreich ungeheuerliche Dinge vor: Musik /  Marseillaise (dem Folgenden unterlegen) ERZÄHLERIN Das Volk erhebt sich gegen den Monarchen, gibt sich eine Verfassung. ERZÄHLER Parallelen zu den revolutionären Vorgängen in Frankreich drängen sich auf. Polen und Frankreich – Brüder im Geiste, welch schreckliche Vorstellung! Zu viele revolutionäre Feuer will man nicht brennen sehen, zumal nicht in der eigenen Nachbarschaft. Der Funke könnte überspringen. ERZÄHLERIN Katharina die Große empört sich über die polnische Verfassung. ZITATORIN „Dieses Schriftstück ist ein Machwerk, schlimmer, als es sich die französische Nationalversammlung ausdenken könnte! Die Pest der französischen Lehren ist hier am Werke!“ 7. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O5)„Also ein polnischer Staat, der sich eine vergleichsweise offene, vom Geist der französischen Revolution inspirierte Verfassung gibt, der darüber hinaus versucht, die internen Strukturen effizienter zu gestalten, so dass die Einflussmöglichkeiten dieser drei europäischen Mächte auf die innenpolitischen Verhältnisse Polens reduziert werden, provoziert die Intervention 93.“ ERZÄHLER 1793 ZUSPIELUNG Paukenschlag ERZÄHLER Zweite Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERIN Polen verliert weitere vierzig Prozent seines Territoriums. ERZÄHLER Preußen sichert sich mit Danzig und Thorn zwei wichtige Handelsstädte, außerdem Großpolen mit der Hauptstadt Posen. Russland nimmt sich Weißrussland und große Gebiete Litauens und der Ukraine. Österreich wird auf Wunsch der Zarin ausmanövriert, ist also nicht beteiligt. Mit Kanonen und mit hohen Bestechungsgeldern bringt man den Sejm dazu, diesen weiteren Abtretungsvertrag 1793 zu ratifizieren. Außerdem wird die polnische Verfassung außer Kraft gesetzt.TC 10:04 – Existenzauflösung ERZÄHLERIN Doch diesmal lassen sich die Polen den erneuten Raubzug nicht einfach gefallen. Durch alle Schichten der Bevölkerung flammt Widerstand auf. Er gipfelt 1794 im Kościuszko-Aufstand. ATMO / Kriegerisches oder Marsch ERZÄHLER Mehr als ein halbes Jahr lang kämpfen polnische Adelige, Bürger und Bauern gegen die Besatzer - vergeblich. Vor den Armeen Russlands und Preußens müssen die Aufständischen schließlich kapitulieren. Damit sind die Weichen gestellt für die endgültige Auflösung Polens. 8. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O6)„Und es gibt einen großen Unterschied zwischen der zweiten und der ersten Teilung: Bei der ersten polnischen Teilung sind alle drei Teilungsmächte von der Vorstellung einer fortdauernden Existenz Polens ausgegangen, eines Polens, das zwar geschwächt ist, das unter dem Einfluss dieser drei europäischen Mächte stehen soll, das aber als Staat erhalten bleiben soll. 93 ist dies nicht mehr der Fall. 93 ist man sich bewusst, dass man in einem weiteren Schritt auch Restpolen an diese drei europäischen Mächte fallen soll. Da gibt es eine logische Verbindung zwischen der Situation 93 und 95, und durch die Aufstandsbewegung in dieser Zwischenzeit in Polen gibt es natürlich einen Vorwand, um hier auch noch erstens zu intervenieren und dann Restpolen aufzuteilen. ERZÄHLER 1795 ZUSPIELUNG Paukenschlag ERZÄHLER Dritte Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERIN Polen existiert nicht mehr. Musik / Chopin: Marche funèbre (3. Satz aus Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 35), dem Folgenden unterlegen. ERZÄHLER Im Jahre 1795 unterzeichnen der Preußenkönig Friedrich Wilhelm der Zweite, der Habsburger Kaiser Franz II. und die Zarin Katharina einen dritten Vertrag. Sie teilen den verbliebenen Rest unter sich auf. Der König dankt ab. 1797 erklären die Teilungsmächte das Königreich Polen für erloschen. ERZÄHLERIN Danach versuchen die jeweiligen Besatzungsmächte die „neu erworbenen“ Gebiete, so die offizielle Bezeichnung, in ihre Länder einzugliedern. Das ist mit einem gewissen Maß an Unterdrückung verbunden. Wobei es den Polen unter den Habsburgern am besten, unter den Zaren am schlechtesten geht.TC 12:22 – Die dramatische Lage der Juden ERZÄHLER Vor allem die Lage der Juden verschlechtert sich. In Polen leben viele Juden, da es ihnen seit dem Mittelalter Zuflucht und Schutz gewährt hat. Über die Jahrhunderte haben sich blühende Gemeinden entwickelt. Doch unter den neuen Herrschern ist es mit der Toleranz vorbei. ERZÄHLERIN Und zwar schon nach der ersten Teilung: Friedrich der Große duldet Juden nur dort, wo sie der Wirtschaft förderlich sind. Doch nun leben in Preußen mit einem Mal Landjuden, nicht vermögend, von daher auch nicht einträglich. ZITATOR 1 „Die Bettel-Juden vom platten Lande müssen jedoch successive und ohne Ungestüm weggeschaffet werden.“ 9. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O7)„...die erben plötzlich ein paar Tausend Juden, Landjuden, die höchstwahrscheinlich als Vagabundierer rumgezogen sind und was macht der Friedrich – er jagt die tatsächlich über die Grenze und schmeißt die raus. Paar Tausend, einfach so über die Grenze zu jagen, das ist auch für das 18. Jahrhundert eigentlich ein ziemlich kapitaler Bock.“ ERZÄHLERIN Über 6.000 Juden werden über die Grenze in das da noch bestehende Restpolen deportiert. Musik / Klezmer (traurig) ERZÄHLER In Russland ist man bis zu den Teilungen nie mit Juden in Berührung gekommen, denn Juden durften sich im Zarenreich nicht niederlassen. Nun hat die Zarin auf einen Schlag Hunderttausende jüdischer Untertanen. ERZÄHLERIN Was tun mit diesen nicht-orthodoxen Untertanen? Die Zarin entscheidet, dass sie bleiben dürfen, doch grenzt sie ihren Lebensraum strikt ein. Sie dürfen nur in einem Reservat, dem sogenannten „Ansiedlungsrayon“ im äußersten Westen Russlands leben, wo sie aufgrund von Überbevölkerung und vielen Restriktionen schnell verarmen.TC 13:46 – Polnisches Trauma ERZÄHLER Und wie reagiert die europäische Öffentlichkeit auf die Teilungen? Richard Butterwick: 10. ZUSPIELUNG (Butterwick – O3)“When the Polish-Lithuanian Commonwealth was partitioned for the first time in 1772 it did strike much of European public opinion as something exceptional.” ZITATOR 2 / overvoice „Als Polen-Litauen 1772 zum ersten Mal geteilt wurde, empfand das die europäische Öffentlichkeit als abnorm. Das zeigt sich zum Beispiel in der berühmten Karikatur, auf der drei gierige Monarchen ein Land zerstückeln, das sich nicht mehr verteidigen kann. Viele sahen es als einen brutalen Angriff auf die weithin akzeptierten Umgangsformen der Staaten miteinander.“ ERZÄHLERIN Die Teilungen - ein eklatanter Verstoß gegen zwischenstaatliche Umgangsformen, ein gravierendes Unrecht - eine für britische Historiker typische Einschätzung. In der deutschen Geschichtsschreibung hingegen wurden die Teilungen lange marginalisiert. Professor Hellmuth: 11. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O8)„Ein Teil der angelsächsischen Historiographie liest dieses Ereignis als wirklich eine der ganz großen Aktionen des 18. Jahrhunderts, dieses Verschwinden von Polen. In negativer Weise. Einer der größten europäischen Staaten verschwindet innerhalb von gut zwei Dekaden von der europäischen Landkarte, das ist eigentlich ein unvorstellbarer Akt! Es gibt nichts Vergleichbares! Und dieser Staat ist dann über 120 Jahre nicht existent und man kann natürlich im Nachhinein auch verstehen, dass dies für die polnische Nation eigentlich bis in unsere Gegenwart hinein ein traumatisches Ereignis ist und wenn wir uns also etwas irritiert über bestimmte Reaktionen heute in Polen zeigen, dann hängt das ganz entscheidend damit zusammen, dass dieser Staat auf dramatische Weise von der europäischen Landkarte im 18. Jahrhundert getilgt worden ist.“ ERZÄHLER Ein traumatisches Ereignis, das bis heute nachwirkt. Dr. Małgorzata Zemła,, Dozentin für polnische Sprache an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 12. ZUSPIELUNG (Zemła – O1)„Ja, ich glaube, es ist sehr tief im Bewusstsein oder auch im Unterbewusstsein verankert. Es war ein nationales Trauma, das weiß jeder und es ergibt sich die Frage, wenn das ein nationales Trauma ist, wie wird man mit diesem Trauma fertig. Denn nicht nur einzelne Personen haben es sehr schwer mit der Bewältigung eines Traumas, auch Kollektive.  Also wenn man die Gegenwart nur unter diesem Gesichtspunkt sieht, dass es Teilungen gegeben hat, dass die Nachbarn sich daran beteiligt haben, wenn man diese Nachbarn weiterhin so sieht, das kann auch sehr gefährlich sein.“ ERZÄHLERIN Doch nicht nur das Trauma wirkt weiter. Eine Fremdherrschaft über vier Generationen hinweg hinterlässt auch andere Spuren. 13. ZUSPIELUNG (Zemła – O2)„Also diese Besatzer, diese Mächte haben die Mentalität der Polen in diesen Teilen ziemlich stark beeinflusst. Sie spüren das selber. Also wenn man zum Beispiel Eltern hat, und ein Elternteil stammt eben aus dem ehemals preußischen Teil, und ein anderer aus Krakau, oder aus Warschau, es gibt eine gewisse Diskussion in der Familie, was das bedeutet. Und auf jeden Fall gibt es diese Unterschiede noch.“ ERZÄHLER  Die Herrschaft der Habsburger über ihr Teilungsgebiet im Süden war vergleichsweise liberal, und so wird ihr Einfluss auch positiv gesehen. 14. ZUSPIELUNG (Zemła – O3)„Natürlich der Einfluss der deutschen Sprache im Süden oder im Westen ist ganz groß. Das österreichische Teil hatte viele Freiheiten, und da ist es ganz natürlich, dass man auch noch Deutsch kann, und dass manches aus dieser Kultur in die polnische Kultur aufgenommen wurde. Die Österreicher haben sich sehr oft polonisiert, haben Polinnen geheiratet, aber das weiß man bis heute noch, in Krakau, das sind die Krakauer, die haben etwas mit Österreich zu tun, sie haben Namen, die darauf hinweisen, dass ihre Familie aus Wien stammt, und das wird sehr anerkannt. Das ist eine Art von positiver Kennzeichnung, ganz normal.“ ERZÄHLERIN Dazu kommt, dass Österreich auch katholisch ist. Im konfessionellen Bereich gibt es keine Unterschiede. Anders im protestantischen Preußen und im orthodoxen Russland. Hier wird immer wieder versucht, die Bevölkerung zum Glaubenswechsel zu bewegen, katholische Kirchen werden geschlossen. Doch der Druck bewirkt nur eine noch stärkere Hinwendung der Polen zum Katholizismus. 15. ZUSPIELUNG (Zemła – O4)„Im russischen Teil war es ganz schwierig, weil einerseits die Kulturen sind gewissermaßen ähnlich, die Sprache ist ähnlich, aber die Restriktionen waren da zeitweise sehr groß, auch auf der Schule musste man Russisch sprechen, und natürlich hatte man dort auch die meiste Angst, dass das Polnische verlorengeht. Alle Straßenschilder waren zeitweise nur auf Russisch, also da bemüht man sich vielleicht am meisten, um sich von der Kultur irgendwie mindestens in diesem privaten Bereich abzugrenzen.“ ERZÄHLERWenig erstaunlich, dass in diesem Teil der Widerstand am heftigsten ist. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch bleiben die Polen ein Stachel im Fleisch des Zarenreiches, leisten Widerstand gegen die Besatzer, erheben sich in Aufständen, die grausam niedergeschlagen werden. ERZÄHLERIN Als Staat ist Polen nicht mehr vorhanden, doch in den Herzen und Köpfen der Menschen lebt es weiter. Sprache, Kultur und Religion bilden die Brücke zwischen der großen Vergangenheit der Adelsrepublik und einer ungewissen Zukunft. Als hätten die Polen den Rat des Philosophen Jean-Jacques Rousseau befolgt: ZITATOR 2 „Wenn ihr nicht verhindern könnt, dass eure Feinde euch schlucken, so verhindert zumindest, dass sie euch verdauen.“ Musik / Jeszcze Polska nie zginęła...(CD 32477 take 24) ERZÄHLER Verdauen lassen sie sich nicht, die Polen. 1918 ersteht das Land, das 123 Jahre von der Landkarte verschwunden war, neu - mit Hilfe der Siegermächte des 1. Weltkrieges. Doch das ist schon wieder eine neue Geschichte. TC 20:28 - Outro

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