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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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May 17, 2024 • 23min

STADTLEBEN FRÜHER – Rebellion und Mitsprache

Die mittelalterliche Stadt hat zwei Gesichter: Sie bringt die Landesentwicklung voran, stärkt Handel und Gewerbe und schafft ganz neue Formen von Öffentlichkeit. Doch zugleich ist sie ein Brandbeschleuniger sozialer und politischer Konflikte. Zunftmitglieder und unterprivilegierte Schichten in der Stadt erzeugen im Lauf der Zeit rebellische Teilöffentlichkeiten. Immer selbstbewusster drängen sie auf Mitsprache. Das führt häufig zu schweren Erschütterungen, Unruhen und gewaltsamen Aufständen. Von Simon Demmelhuber und Volker Eklkofer (BR 2020) Credits Autoren: Simon Demmelhuber, Volker Eklkofer Regie: Axel Wostry Es sprachen: Julia Fischer, Stefan Wilkening Technik: Helge Schwarz Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Beatrix Schönewald, Dr. Marco Veronesi Ein besonderer Linktipp der Redaktion: hr (2024): KRIEG IM SCHATTEN. Warum starb Nikola Milicevic? In der Nacht auf den 13. Januar 1980 kehrt der kroatischstämmige Emigrant Nikola Milićević nach einem Kneipenabend zu seiner Wohnung im Frankfurter Ostend zurück. Als er gegen 3 Uhr seinen Wagen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnblock abstellt und aussteigt, treffen ihn sechs Kugeln. Erst am nächsten Morgen finden Nachbarn seine Leiche. Der 42-Jährige hinterlässt Frau und fünf Kinder. Es ist eine Abrechnung, so viel steht fest. Doch Nikola Milićević - mit dem Spitznamen Beban ist kein Kleinkrimineller. Auch persönliche Motive liegen nicht vor. Die verwendete Munition und die Art des Mordes lassen bei den Ermittlern stattdessen ganz andere Alarmglocken klingeln: Alles deutet auf den Jugoslawischen Geheimdienst hin. ZUM PODCAST  Linktipps: BR (2018): Urbanes Leben als Motor der Gesellschaft Die Städte des Mittelalters waren faszinierende Gebilde. Ganz im Gegensatz zum starren Ständesystem des Mittelalters war das soziale System einer Stadt sehr durchlässig. So konnte sich hier eine ganze eigene Dynamik entfalten. Doch wie wurde man zum Bürger einer Stadt? Und welche Rechte und Pflichten brachte das mit sich? Wer wohnte in einer mittelalterlichen Stadt und wer hatte dort das Sagen? JETZT ANHÖREN SWR (2023): Mauern, Brunnen, Galgenstricke – Die Stadt im späten Mittelalter Der Film gibt eine Vorstellung von den Zusammenhängen zwischen Recht, Ordnung und Pflicht, in die der Bürger einer mittelalterlichen Stadt eingebunden war. Herausgearbeitet werden diese Begriffe anhand der konkreten und symbolischen Bedeutung einzelner städtischer Anlagen: der Stadtmauer als sichtbarer Grenze des städtischen Wehr- und Rechtsbereichs, der Wasserversorgung als wichtiger Voraussetzung für das Städtewachstum und des Galgens als Zeichen der auf Abschreckung beruhenden mittelalterlichen Gerichtsbarkeit. Mit der Ausweitung des Stadtrechts erhalten die Städte eine eigene Gerichtsbarkeit, an deren Spitze der Stadtrat mit dem Bürgermeister steht. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHER Im September 1155 wird Pfalzgraf Otto von Wittelsbach zum Kriegshelden. Als Barbarossas Heer in einer Schlucht bei Verona in einen Hinterhalt gerät, erklimmt er mit seinen Männern die steilen Flanken, fällt dem Feind in den Rücken und rettet die Schlacht. 1180 streicht er den Lohn für sein Wagstück ein: Der Kaiser belehnt Otto mit dem Herzogtum Bayern, die Herrschaft der Wittelsbacher beginnt.  SPRECHERIN Rang und Würde haben sie, aber nun müssen die Wittelsbacher ihren Machtanspruch gegen trotzige Grafen und Bischöfe auch durchsetzen. Dazu brauchen sie Geld und strategisch gut gelegene befestigte Plätze.  SPRECHER Um ihre Herrschaft auszubauen, setzen die bayerischen Herzöge auf einen Trend, der Ende des 12. Jahrhunderts massiv anschiebt: Die Bevölkerung wächst, die Landwirtschaftserträge steigen, das Handwerk braucht Spezialisten. Wer kann, lässt sich im Umfeld von Burgen und alten Handelsflecken nieder. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entwickeln sich gut 80 dieser rasch wachsenden Siedlungskerne dank herzoglicher Privilegien zu Märkten und Städten.  Den Wittelsbachern kommt diese Urbanisierungswelle äußerst gelegen: Städte verheißen nicht nur Steuern, sie sind auch militärische Machtzentren.  Zsp 1 Veronesi In den altbayerischen Städten ist es so, dass sich am Fuß der herrschaftlichen Burgen immer mehr Handwerker niederlassen, auch Kaufleute. Diese Siedlungen werden immer größer und so ungefähr darf man sich die Gründung einer Stadt vorstellen. Diese Siedlungen wurden dann geordnet, wurden befestigt, oft noch mit einem Palisadenwall, erst später mit einer Mauer. SPRECHER …erklärt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Marco Veronesi vom Haus der Bayerischen Geschichte. SPRECHERIN Mauern! Türme! Tore! Die Stadt des hohen und späten Mittelalters riegelt sich ab. Niemand betritt, niemand verlässt sie ungesehen.  SPRECHER Mauern wehren nicht nur ab. Der Raum, den sie umfassen, ist ein besonderer Rechtsbezirk: Die Stadt setzt sich die Regeln des Zusammenlebens selbst, sie hat Gerichtsgewalt, ist als Bürgergemeinde siegel- und rechtsfähig.  SPRECHERIN Vor allem aber schafft die Mauer einen klar umgrenzten Friedensrahmen. Wer hier lebt, verzichtet darauf, Konflikte gewaltsam auszutragen. Waffen sind gar nicht oder nur eingeschränkt gestattet.  Sogar die Länge mitgeführter Messer ist vorgeschrieben. Zudem bewahrt die Stadt ihre Bewohner und Gäste vor auswärtigen Zugriffen oder Forderungen und gewährt sicheres Geleit. Musik 02   (Fight and chase –  0´21 min)  SPRECHER Außerhalb der Mauern regiert Gewalt. Dort herrscht die Fehde, eine Art legaler bewaffneter Selbstjustiz adliger Herren, die Rechtshändel direkt untereinander klären. Die Bauern tragen die Hauptlast der Kriegszüge. Ihre Felder werden verwüstet, ihre Ställe geplündert, ihre Dörfer und Hüten niedergebrannt, um den Gegner zu schwächen und seine Lebensgrundlage zu vernichten. König, Kirche und Herzöge versuchen die ausufernden Feindseligkeiten einzudämmen. Auf dem Land richten sie dabei wenig aus. Nur die Stadt mit ihrem strikten Fehdeverbot schafft Inseln der Sicherheit. Warum gerade das die Stadt so modern und attraktiv macht, erläutert Beatrix Schönewald, die Leiterin des Stadtmuseums und Stadtarchivs Ingolstadt. Zsp 2 Schönewald Frieden ist die essenzielle Voraussetzung für Handel und Gewerbe, für Verkehrssicherheit, für das Miteinander. Die Stadt mit ihrer Friedenspflicht, mit ihrer Friedensverpflichtung, steht am Anfang einer Entwicklung, die bis heute hinaufreicht, ohne Frieden kein Fortschritt. SPRECHERIN Die Stadt bedeutet auch Rechtssicherheit. Vom Rat erlassene Gesetze regeln den Alltag. Dass Erb- und Kaufgänge klar geordnet sind, dass Besitz und Schuldverschreibungen besonderen Rechtsschutz genießen, entpuppt sich als entscheidender städtischer Entwicklungsimpuls. SPRECHER Ordnung, die auf Recht und Sicherheit gründet, die Chance, durch Handwerk, Handel oder Dienstleistung ein Auskommen zu finden, das ist etwas Neues, etwas, das in die Zukunft weist. Diese Modernität mit ihrem Erneuerungspotenzial spricht Menschen unterschiedlichster Herkunft und gesellschaftlicher Stellung an. Von Gleichheit und schrankenloser Freiheit für alle kann jedoch keine Rede sein. Zuspielung 3 Schönewald Wir haben als Bewohner in der Stadt die Bürger mit den vollen Bürgerrechten, die den Rat der Stadt wählen, wir haben in der Stadt Bürger, die arm oder reich sind mit ihren Rechten, wir haben Minderbürger, die zwar einige Rechte haben, aber keine Pflichten, wir haben Inwohner, die keine Rechte und keine Pflichten haben, das sind die Tagelöhner, die Knechte, Mägde, alles, was zum Betrieb eines Hauses gehört. Dann haben wir Sonderrechte, wie zum Beispiel die Juden, dann die Kleriker, Frauen haben auch eine besondere Rechtsstellung. SPRECHERIN Die Stadt ist vielschichtig und vielstimmig. Das Sagen hat indes nur eine dünne Oberschicht. Sie erlässt Gesetze und Verordnungen, lenkt das soziale, politische und religiöse Leben. Wie sich diese Elite herausbildet, ist unter Historikern umstritten. Gewiss ist nur eins: Besitz, Ehrbarkeit und lange Ansässigkeit sind eine wesentliche Grundvoraussetzung. Klar ist auch: Die gezielte Herstellung von Öffentlichkeit ist eines der wichtigsten Steuerungs- und Herrschaftsinstrumente des Stadtregiments. SPRECHER Öffentlichkeit ist allerdings kein Dauerzustand der mittelalterlichen Stadt.  Sie wird bewusst von oben geschaffen, um Herrschaftsansprüche durchzusetzen und das Gemeinwohl zu organisieren. Das geschieht durch Aushänge und Ausrufer, aber auch durch Rituale und Zeichenhandlungen auf Straßen und Plätzen, auf dem Markt und in der Kirche.  Atmo: Glockengeläut SPRECHER Glocken sind das mächtigste Mittel, um die Stadtgemeinde zu versammeln. Glocken rufen zum Gebet, zur Verteidigung, zum Löschen bei Bränden, zur Ratssitzung, zur Bekanntgabe neuer Verordnungen, zur Vollstreckung von Urteilen. Wann immer eine Glocke läutet, passiert etwas Wichtiges. Etwas, das alle betrifft.  Atmo: Feierliches Glockengeläut SPRECHERIN Ein besonderes Ereignis steht an: Der Rat wird gewählt. Kein öffentlicher Anlass ist wichtiger, keiner bringt mehr Menschen auf die Beine.  SPRECHER Der Tag beginnt früh. Am Morgen ziehen die festlich gekleideten Ratsherrn in die Hauptpfarrkirche. Nach der Messe schreiten die Herren durch eine dicht gedrängte Menschenmasse zur Wahl im Rathaus. Die Allgemeinheit hat dabei keinen Zutritt, das machen die ratsfähigen Bürger unter sich aus.  SPRECHERIN Ein Standardverfahren gibt es dabei nicht. Wann und wie sich der Rat erneuert, ob komplett oder teilweise, ob per Losentscheid, per Abstimmung oder Berufung, unterscheidet sich von Stadt zu Stadt.  Das häufigste Verfahren ist die Kooptation, also die Ergänzungs- oder Zuwahl.  ( Musikbeginn) Dabei bestimmen die scheidenden Mitglieder selbst, wer sie ersetzt und wer nachrückt.  Musik 03  (Pavane a 8 von Hans Hake; Musica Fiata, Roland Wilson –                      0´50 min) SPRECHER Der Rat ist gewählt. Die Herren ziehen zum Dankgottesdienst erneut in die Kirche. Stadtknechte oder Jungbürger halten die Menge auf Distanz. Trommler, Pfeifer, Fahnen oder Fackeln begleiten den Zug, einflussreiche Bürger schließen sich an, die Menge zur Linken und Rechten des Ehrenspaliers johlt.  SPRECHERIN Spannend ist das alles nicht, das Verfahren lässt keine Überraschungen zu, die Wenigsten haben ein Mitspracherecht. Aber ein Spektakel, eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei ist der prächtige Auftritt allemal. Die Ratswahl ist ein Massenevent, das wie noch heute der Oktoberfesteinzug oder der Besuch gekrönter Häupter Schaulustige in rauen Mengen anlockt. SPRECHER Ganz gleich, ob die Herren ihren Eid auf die Gesetze der Stadt noch in der Ratsstube, vor dem Rathaus, auf den Kirchenstufen oder vor dem Altar abgelegt haben, nun ist es Zeit für den Schlussakt eines langen Wahltags. Die Honorablen ziehen in feierlicher Prozession zum gemeinsamen Mahl zurück ins Rathaus. In den folgenden Tagen stehen weitere Umzüge an, mit denen sich der Rat präsentiert, seinen Herrschaftsbereich abschreitet und den Einwohnern das Erlebnis einer tiefen Zusammengehörigkeit vermittelt – wir alle sind Stadt! SPRECHERIN Schöne Bilder. Bunt, laut, mittelalterlich. Aber leider nur eine Rekonstruktion, montiert aus zeitlich und räumlich verstreuten Belegen für die spätmittelalterliche Ratswahl.  SPRECHER Trotzdem: Nichts könnte den Aufbau der Gesellschaft, das Machtgefüge und die Funktion von Öffentlichkeit in der Stadt des Spätmittelalters besser veranschaulichen. Denn die Rituale der Ratserneuerung verknüpfen wichtige Räume, Gruppen und Schichten der Stadt miteinander. Sie sind eine bewusste Inszenierung, eine vielschichtige politische Choreografie, die zentrale Fragen des Zusammenlebens klärt: Wie ist Herrschaft begründet, wie wird sie weitergetragen? Wer schafft an? Wer handelt, wer schaut zu?  SPRECHERIN Obwohl in der Stadt nur eine kleine Elite regiert, braucht sie die Bestätigung der Stadtgemeinde. Erst die Öffentlichkeit beglaubigt den rechtmäßigen Machtwechsel und damit den Fortbestand der Ratsherrschaft. Blieben die Stadtbewohner dem Umzug fern, sprächen sie ein stummes, aber deutliches Misstrauensvotum aus. Ohne den Rückhalt der Öffentlichkeit hätte der Magistrat ein handfestes Legitimationsproblem. Atmo: Handglocke , Marktgeräusche SPRECHER Die Marktglocke! Sobald sie morgens erklingt, darf so lange gekauft und verkauft werden, bis sie am Abend das Ende der Marktzeit verkündet.  Zsp 4 Veronesi Der Markt ist der öffentliche Raum per se, der Markt ist ja schließlich auch Urgrund, Entstehungsgrund der Stadt als solcher. Dort, wo eine Stadt entstand, befand sich eben meistens schon ein Markt. SPRECHERIN Der Markt ist die Lebensgrundlage der Stadt, ihr wirtschaftlicher Kern, ein Umschlagplatz für Güter und Informationen. Hier stellen Handwerker ihre Waren aus, Bauern verkaufen Getreide, Vieh, Gemüse und Milch, Fernhändler bieten Luxusgüter wie Spezereien, Pelze oder kostbare Tuche feil, Tagelöhner ihre Dienste an, Klatsch, Tratsch und Neuigkeiten machen die Runde. Zsp 5 Veronesi Natürlich war der Markt ein öffentlicher Raum, aber ein streng, ein hoch regulierter öffentlicher Raum. Reguliert wurde zunächst einmal, wer überhaupt Zugang hatte zum Markt. Das waren zunächst einmal die Bürger, nicht gesagt war, dass Ortsfremde, so genannte Gäste, überhaupt Zutritt hatten und ihre Waren dort verkaufen durften. Wir hatten die Lebensmittelpolizei in modernen Begriffen, die vor allem den Wein kontrolliert hat, aber auch andere Sachen.  SPRECHER Die umfassende Kontrolle ist eine Notwendigkeit.  (Musikbeginn) Indem die Stadt gewährleistet, dass Nahrung nicht nur erhältlich, sondern erschwinglich und einwandfrei ist, dass Maße, Gewichte, Qualität und Preise stimmen, beugt sie Unruhen vor.  Musik 04   (Saltarello 01 – 0´38) SPRECHERIN Die Stadt kontrolliert freilich nicht nur den Markt. Sie greift auf alle Lebensbereiche durch, entfaltet einen Kontrollfuror, der sich nahezu überall und in alles einmischt.  Zsp 6 Schönewald Reglementieren ist ein Synonym für Stadt: Alles, was das enge Zusammenleben fördert, wird reglementiert. Das betrifft die Kleiderordnungen, das betrifft Vorgaben fürs Tanzhaus, Vorgaben für das nächtliche Schwärmen, Vorgaben, dass man bei Taufen, Hochzeiten, Begräbnissen nicht zu viel Gäste einlädt, da gibt es dann die Festlegung, wie viel -, immer unter dem Aspekt, sich nicht zu verschulden. SPRECHERIN Die Bürger sollen nicht protzen, der Schmuck darf nicht zu kostbar sein, die Kleidung nicht zu aufwendig, die Feste nicht zu üppig. Die Abwehr ruinöser Verschwendung ist jedoch nur ein Auslöser der Vorschriftenflut. Im Kern geht es ums große Ganze, um soziale Differenzierung und Disziplinierung. SPRECHER Handwerker, die sich wie reiche Kaufleute und Bürger, die sich wie Adlige kleiden? Ein absolutes No Go!  SPRECHERIN Kleidung ist immer ein sozialer Indikator, ein sichtbares Zeichen, das auf Anhieb zeigt, welcher Schicht der Träger angehört und wo oben und unten ist. Gott hat die Menschen in ihren Stand gesetzt - und dabei soll es auch bleiben! Jeder auf seinem Platz, zum Besten der Allgemeinheit. SPRECHER Der Bannstrahl des rigiden Kleiderregiments trifft auffällige Haartrachten, Kopftücher und Hutverzierungen genauso wie eng geschnürte Mieder, tiefe Ausschnitte, nackte Schultern, aber auch Schnabelschuhe, allzu kurze, kniefreie Männerröcke oder üppiges Schminken.  Sogar der Rosenkranz ist betroffen: Er darf nicht zu teuer sein und  „uber den ars sol man ihn niht tragen, man sol in vorn an der seiten tragn als man von alter her getan hat".  SPRECHERIN Was heute Schmunzeln oder Kopfschütteln auslöst, hat in der mittelalterlichen Stadt eine ernste, Ordnung stiftende und stabilisierende Bedeutung. Das wird umso wichtiger, je mehr der wirtschaftliche und politische Aufstieg neuer Gruppierungen die Standesgrenzen verwischt. Zur Sorge um den Bestand der weltlichen Ordnung kommt die Furcht vor dem Strafgericht Gottes. Denn hinter Kleiderprunk und Putzsucht lauern Stolz, Hochmut, Eitelkeit. Hochmut aber ist die Ursünde der Menschheit, die Wurzel alles Bösen, eine Kränkung des Schöpfers, der die Lästerung durch Erdbeben, Krankheiten, Missernten, Krieg und Plagen vergilt. Das muss eine verantwortungsvolle Obrigkeit verhindern, zum Wohle aller.  SPRECHER Herrje, wie mittelalterlich! Doch ganz so weit ist es mit unserer modernen Aufgeklärtheit nun auch nicht her. Dass wir Gesinnungen und Menschen nach der Kleidung taxieren, hat sich seit 1000 Jahren nicht wirklich geändert. Und noch heute können Textilien ausgesprochen starke Reaktionen entfachen. SPRECHERIN Als Mitte der 1960er Jahre der Minirock aufkommt, läuft das Establishment Sturm. Der Mini provoziert. Ist er respektlos? Oder ein Statement eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins? Der kniefreie Affront ruft die Hüter von Moral und  Tradition auf die Barrikaden.  Das Abendland, die Menschheit, die Ordnung, die Moral scheinen in Gefahr. SPRECHER  Vieles vermeintlich Mittelalterliche hat überdauert, anderes hat sich grundlegend geändert: Während wir den Justizvollzug hinter Mauern verbannen, rückt ihn das Mittelalter in die Mitte der Gesellschaft. Atmo: Totenglocke SPRECHERIN Die Armesünderglocke. Ein zum Tode Verurteilter tritt den letzten Gang an. Sein Schicksal vollendet sich am hellen Tag, sichtbar für alle, ein abschreckendes Exempel, das Öffentlichkeit sucht und braucht.  Zsp 8 Schönewald Justiz, vor allem der Strafvollzug war öffentlich, weil es zum einen ein politisches Statement abgegeben hat, ein Delinquent, der gegen die Stadtordnung, gegen die Landesordnung verstoßen hat, wurde öffentlich gerichtet. Und es war zweitens auch ein Statement für eine Frühform der Erziehung: Wenn ich Böses tue, dann werde ich öffentlich hingerichtet. Und das war neben dem Vollzug der Todesstrafe natürlich auch ein soziales Element in Form der Demütigung, die es auch im zivilen Recht gab, sprich an den Pranger stellen. Musik 05  (Glorificemus filium – 0´20) SPRECHER In der Rückschau erscheint die Stadt des Spätmittelalters als wohlgeordneter Kosmos mit festen Regeln, klaren Hierarchien und statischer Ruhe. Aber der Schein trügt. Gerade hier gerät das politische und soziale Gefüge zuerst ins Wanken. Mit steigendem Wohlstand drängen neue Schichten nach oben und fordern Einfluss auf Finanzkontrolle und Gesetzgebung.  SPRECHERIN Nach mehr Macht streben vor allem die Handwerker, die sich in größeren Orten in Zünften zusammenschließen. In den Versammlungshäusern, den Trinkstuben und Handwerkerquartieren rumort es. Selbstbewusste Zunftvertreter stellen Ratsbeschlüsse und die Allmacht der Obrigkeit auf die Probe. Im 14. Jahrhundert verlangen manche der mächtig gewordenen Lobbyverbände Sitz und Stimme im Rat. ( Musikbeginn) Dabei kommen sie nicht nur mit dem Stadtregiment, sondern oft auch mit dem Landesherrn in Konflikt.  Musik 06  (Fight and chase – 0´33 min) SPRECHERIN 1335 brechen Unruhen in Straubing aus, 1348/49 tobt der Nürnberger Handwerkeraufstand, 1397 reißen die Zünfte in München die Herrschaft an sich. Auch in Landshut kommt es Anfang des 15. Jahrhunderts zur Machtprobe. (Musikende) Während ein erbitterter Bruderzwist die Wittelsbacher lähmt, schafft sich die wohlhabende Handels- und Gewerbestadt neue Freiräume. Die Zünfte sichern sich Mitspracherechte, reiche Ratsherren wollen die Abgaben an die Herzöge schmälern.  SPRECHER Die Lage spitzt sich zu, als Herzog Heinrich 1404 die Macht in Niederbayern übernimmt. Der neue Herrscher ist habgierig, gewalttätig und jederzeit bereit, das Recht zu beugen.  (Musikbeginn) Das Autonomiestreben der Städte ist ihm ein Dorn im Auge. Er lässt sich Ratsbeschlüsse zur Genehmigung vorlegen, ernennt Ratsmitglieder selbst und verbietet Handwerkszünfte.  Musik 07   ( Akkordmarsch 4 – 0´23 min) SPRECHERIN Der Streit schwelt vier Jahre. Dann lädt Heinrich am 24. August 1408 die Stadträte auf die Feste Trausnitz. Er lässt ein Mahl servieren - und die Gäste verhaften. Prozesse folgen. Einige Landshuter müssen den Rat verlassen, andere werden verbannt, ihr Vermögen saniert Heinrichs Staatskasse. SPRECHER Nach zwei Jahren trügerischer Ruhe kocht das Zerwürfnis erneut hoch. Handwerker und Gewerbetreibende rotten sich zusammen. Einer der Widerständler, Dietrich Röckl, stellt sein Haus als Treffpunkt zur Verfügung. Ob es sich tatsächlich um gewaltbereite Rebellen handelt oder ob nur ein paar Wutbürger randalieren, wissen wir nicht.  Der Herzog jedenfalls fackelt nicht lange und lässt das vermeintliche Verschwörernest am Karfreitag 1410 ausheben. Noch in der Nacht werden mehrere Personen ermordet, Todesurteile folgen. Landshut muss sich Herzog Heinrich unterwerfen, die Selbstverwaltung ist passé. Nicht nur in Landshut, auch in München, Ingolstadt und außerhalb Bayerns flackern Unruhen auf. Hier wie dort begehren Teile der Bevölkerung gegen ihre Ausbeutung und Stummschaltung auf. Vor allem aber wird Öffentlichkeit nun nicht mehr ausschließlich von oben hergestellt, sie formiert sich jetzt auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft.  Musik 08   ( Under der Linden – 0´40 min) SPRECHERIN Die Stadt ist weit mehr als nur ein Ort wirtschaftlicher und sozialer Erneuerungen. Sie ist ein vibrierender Umschlagplatz für neue Ideen mit hoher Sprengkraft. Wo die Gassen eng, die Wege kurz sind, wo man sich auf Plätzen und in Kneipen zwanglos austauscht und innovative Medien wie Buchdruck oder Flugblatt entstehen, wächst die geistige Unruhe. In diesen Druckkesseln zweifeln am Beginn der Neuzeit erst wenige, dann rasch immer mehr reformwillige Köpfe die religiöse und politische Ordnung an. Es sind Städte wie Basel, Mainz, Straßburg und Wittenberg, in denen die reformatorische Kritik an den Verhältnissen in Kirche und Staat zuerst aufflammt und Fuß fasst. Es sind die Städte, die Gärbottiche und Experimentierstuben der kulturellen Erneuerung, die das Mittelalter hinter sich lassen und die Zeitenwende der Reformation einläuten.
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May 17, 2024 • 23min

STADTLEBEN FRÜHER - Die Fuggerei in Augsburg

"Wohnung in idyllischer Lage zu vermieten, im Herzen Augsburgs, etwa 60 Quadratmeter groß mit Garten. Die Mietkosten: 88 Cent im Jahr und täglich ein Vater Unser, ein Ave Marie und das Credo für Jakob Fugger und seine Nachkommen". So könnte heute eine Wohnungs-Anzeige aussehen für die älteste Sozialsiedlung der Welt - die Fuggerei. Jakob Fugger genannt "Der Reiche" gründete sie 1521. Damals mussten die Mieter einen rheinischen Gulden pro Jahr bezahlen, heute wären das 88 Cent - und das ist die Summe, die tatsächlich auch heute noch als Jahreskaltmiete verlangt wird. Von Dorit Kreissl (BR 2014) Credits Autorin & Regie: Doris Kreissl Es sprachen: Herbert Schaefer, Johannes Hitzelberger, Beate Himmelstoß, Franziska Ball Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Sabine Darius, Brigitte Hahn Ein besonderer Linktipp der Redaktion: hr (2024): KRIEG IM SCHATTEN. Warum starb Nikola Milicevic? In der Nacht auf den 13. Januar 1980 kehrt der kroatischstämmige Emigrant Nikola Milićević nach einem Kneipenabend zu seiner Wohnung im Frankfurter Ostend zurück. Als er gegen 3 Uhr seinen Wagen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnblock abstellt und aussteigt, treffen ihn sechs Kugeln. Erst am nächsten Morgen finden Nachbarn seine Leiche. Der 42-Jährige hinterlässt Frau und fünf Kinder. Es ist eine Abrechnung, so viel steht fest. Doch Nikola Milićević - mit dem Spitznamen Beban ist kein Kleinkrimineller. Auch persönliche Motive liegen nicht vor. Die verwendete Munition und die Art des Mordes lassen bei den Ermittlern stattdessen ganz andere Alarmglocken klingeln: Alles deutet auf den Jugoslawischen Geheimdienst hin. ZUM PODCAST  Linktipps: Planet Wissen (2024): Die Fuggerei – Sozialbausiedlung seit 500 Jahren Guten Wohnraum für sozial Schwache schaffen, das wollte vor 500 Jahren Jakob Fugger, damals einer der einflussreichsten Unternehmer Europas. Er stiftete die Fuggerei in Augsburg. In der ältesten Sozialbausiedlung der Welt leben noch heute 150 Menschen. ZUM BEITRAG 3sat (2024): Die Fugger im Silberreich Die Fugger gelten als eine der wichtigsten deutschen Handelsdynastien des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Vor allem der Abbau von Silber in Schwaz trug zu ihrem Aufschwung bei. Doch es gibt auch Schattenseiten: Der Silberabbau in Tirol verlangt seine Opfer, das Leben der Bergleute ist hart und es gibt immer wieder Unfälle unter Tage. JETZT ANSEHEN BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 16. Jahrhundert: Augsburg Augsburg zu Beginn des 16. Jahrhunderts: Eine Stadt der Gegensätze. In ihr leben Großkaufleute, die sich alles leisten können. Deshalb kommen die Wagen bepackt mit unvorstellbar kostbaren Gütern von überall her. Augsburg ist aber auch eine Stadt mit unsäglicher Armut. In ihren Mauern leben Menschen, die ihre Arbeit nicht ernährt, weil alles immer teurer wird. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 04:12 – Der Reiche TC 08:51 – Moderne Fuggerei TC 11:05 – Die Würdigkeit der Armen TC 13:59 – Wer hier wohnte TC 17:45 – Fünf Minuten Glocken Bimmeln TC 21:48 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK ZITATOR:  Barfuß… „Nicht ganz im Klaren darüber, was arm sei, fragte ich zu Hause am Abend meine Tante. Meine Großmutter, die das auch hörte, rief gleich: »Wir sind arm. Der Graf ist reich.« – »Sind wir wirklich arm?«, fragte ich meine Tante nochmal. Ich dachte an unsere saubere Dreizimmerwohnung, an den Flur, der mit einem Läufer ausgelegt war, an das gute Wohnzimmer, das wir an gewöhnlichen Wochentagen zu betreten nicht nötig hatten. »Wenn wir auch nicht reich sind, zu den ganz Armen gehören wir nicht«, sagte meine Tante. Das überzeugte mich“. ERZÄHLER: Reiner Schmidt wuchs in den 1930er-Jahren in der Fuggerei auf. Seine Kindheits-Erinnerungen hat er in dem Erzählband „Barfuß durch die Finstere Gass“ aufgeschrieben. MUSIK ENDE ERZÄHLER: Betritt man heute die älteste Sozialsiedlung der Welt, ist nichts von Armut zu sehen, im Gegenteil: Sie liegt mitten im Zentrum Augsburgs - eine kleine Stadt in der Stadt mit acht Gassen, drei Toren, zwei Museen, einer Kirche und einem Brunnen - eine stille, idyllisch anmutende Welt, abends immer noch erhellt von Gaslaternen. Schnurgerade reihen sich die 67 ockerfarbenen, einstöckigen Häuschen mit grünen Fensterläden und russischen Giebeln links und rechts der Gassen aneinander. Sie beherbergen 150 Mieter. Auf meinem Rundgang durch die Siedlung begleitet mich Sabine Darius, langjährige Mitarbeiterin der Fuggerschen Stiftungs-Administration: ATMO Sägen O-Ton 1 Rundgang  1. Herrengasse – Das ist hier die Herrengasse. Wir sehen hier, wenn wir durchgehen, dass es in der Regel Türenpaare sind, Da geht immer eine Türe in die untere Wohnung und eine Türe in die obere Wohnung. […] Es hatte damals schon wie heute jeder seinen eigenen Eingang. Man teilt sich also keinen Hausgang mit seinem Mitbewohner. Das muss man sich mal vorstellen: bedürftige Leute, schon in der damaligen Zeit, jeder hat seinen eigenen Eingang, kommt deswegen schon mal nicht zum Streit. ERZÄHLER: Es war eine außergewöhnliche Siedlung, die Jakob Fugger 1521 gegründet hat. Die damals 52 Häuschen mit 106 Wohneinheiten gingen weit über den üblichen Standard der Armenhäuser hinaus, nicht nur was die separaten Eingänge betraf.  Sabine Darius: O-Ton 2   Darius Wenn Sie sich denken, die Wohnungen sind rund 60 Quadratmeter groß. Eine Familie hat also Wohnraum gehabt von drei Zimmern und einer Küche. Er hätte ja den Wohnraum nicht so groß machen müssen. So groß hat ja draußen kaum jemand gewohnt. Er hätte auch ein Zimmer pro Familie zur Verfügung stellen können, dann wäre den Leuten auch geholfen gewesen. Aber er hat Wohnungen in einer Größe bauen lassen, wie wir sie ja heute noch sehen… Das ist modern, wie vor 500 Jahren. ERZÄHLER:    In die Siedlung wurde nicht jeder aufgenommen. Würdige Arme wünschte sich der Stifter. Arbeitsame, in Not geratene Bürger sollten vorübergehend ein Heim finden, bis sie wieder auf eigenen Füssen stehen konnten: Fugger wollte keine Almosenempfänger, er bot Hilfe zur Selbsthilfe an, indem er bezahlbaren und angemessenen Wohnraum schuf, für: ZITATOR  Fugger: „frome arme Taglöner und Handtwercker und Bürger und Inwoner dieser Stadt Augsburg, welche nicht betteln wollen“ O-Ton 3   Darius Viele sind dann hier in der Fuggerei auch ihren Handwerken nachgegangen. Es waren Weber in der Fuggerei, es waren Tagelöhner da, es waren Sackträger – Hucker wie man sie genannt hat – oder Doggenmacher, also Puppenmacher oder Vogelhäuslebauer. Solche Berufe haben die Bewohner gehabt, in der damaligen Zeit TC 04:12 – Der Reiche MUSIK ERZÄHLER: Um das Jahr 1500 lebten etwa 25.000 Menschen in Augsburg. Die freie Reichsstadt war der “wichtigste Finanzplatz der Christenheit und das bedeutendste Handelszentrum Mitteleuropas“, schreibt  Bernd Roeck in seiner „Geschichte Augsburgs“. Allerdings… ZITATOR   Roeck "…war es allein eine Handvoll Superreicher, höchstens 200, 300 Leute, von denen das Bild des „Goldenden Augsburgs“ geprägt wurde. Sie waren es, die das finanzielle Fundament legten. Schon Papst Pius II. war die Augusta als reichste Stadt der Welt erschienen.“ ERZÄHLER: Auf der anderen Seite gab es große Armut, und immer mehr karitative Stiftungen entstanden. Ihre Träger waren Kirche, Stadt und wohlhabende private Stifter. Zu den Reichsten der Reichen zählten die Gossembrot, die Rehlingers, die Welser und natürlich auch die Fugger. In dieser Familie stach einer heraus: Jakob Fugger, später auch der Reiche genannt: MUSIK ERZÄHLERIN: Jakob Fugger machte Geschäfte mit Gott und der Welt, er schuf einen Weltkonzern. Die Fugger verdienten unter anderem am Textilhandel, Bergbau, Metallhandel mit Kupfer, Gold und Silber und natürlich an Bankgeschäften mit Filialen in ganz Europa. Der Bankier finanzierte Kriege und Könige. Mittels Bestechung hob Jakob Fugger 1519 sogar einen Kaiser auf den Thron: Karl V. Dieser revanchierte sich, indem er die Rechte am Tiroler Erzhandel verlängerte und die Firma vor einer Anklage wegen Monopol-Vergehens rettete. Auch mit der Kirche machten die Familie Geschäfte, betrieb zeitweise sogar Inkassobüros zum Eintreiben von Ablassgeldern. Selbst Jakob Fugger soll ein Ablass-Zertifikat besessen haben. Der nüchterne Geschäftsmann war auch ein wohltätiger, sozial denkender Mensch und ein sehr gläubiger Katholik, für den Fegefeuer und Hölle nichts Irreales waren. Und so glaubte Jakob der Reiche, dass er sich mit dem Bau der Fuggerei sein Plätzchen im Himmel sichern könnte: O-Ton 4:  Darius Das war die Denkweise des damaligen ausgehenden Mittelalters, dass man, wenn man sehr erfolgreich ist und gute Geschäfte macht, einfach auch die Armen nicht vergessen darf. Das ist das Eine. Das Andere war es auch wichtig, dass jemand nicht in Vergessenheit gerät und dass für ihn und seine Familie gebetet wird. ERZÄHLER: Jakob Fugger der Reiche sorgte dafür, dass er nicht in Vergessenheit geriet. Er dachte sich einen besonderen  Mietzins aus, der bis heute gültig ist: ZITATORIN:    alle Gebete ineinander verweben "Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.  Amen" ZITATOR:   Ave Maria Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen. ZITATORIN:   Glaubensbekenntnis Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus,gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. ERZÄHLER: Seit 1521 muss jeder Fuggereibewohner täglich drei Gebete sprechen für den Stifter und seine Nachkommen: Das Vater Unser, das Ave Maria und das Glaubens-bekenntnis sind Teil der Miete bis heute. Ein Porträt des von Albrecht Dürer gemalten Jakob Fugger, erinnert in jeder Wohnung daran. Das sind unendlich viele Gebete über die Jahrhunderte. Der reale Mietzins dagegen ist denkbar gering: 1521 betrug die Jahreskaltmiete einen rheinischen Gulden - das war damals der Wochenlohn eines Handwerkers. Heute zahlen die Mieter im Jahr 88 Cent; Hinzu kommen monatliche Nebenkosten von etwa 85 Euro. Diese Einnahmen decken den jährlichen Unterhalt der Siedlung von etwa einer halben Million Euro nicht annähernd. Sabine Darius über die Finanzierung: O-Ton 5 Darius:   schneiden Die Fuggerschen Stiftungen – es ist ja eine gemeinnützige Stiftung seit 1521 – finanziert sich durch Waldwirtschaft. Die Stiftungen sind ausgestattet mit 3.200 Hektar Wald, wo eben Holz verkauft wird. Das macht ungefähr etwa 70 Prozent der Einnahmen aus. Ca. 20 Prozent der Einnahmen kommen seit 2006 aus den Eintrittsgeldern der Fuggerei und ca. 10 Prozent aus Immobilienbesitz außerhalb der Fuggerei. MUSIK ZITATOR Finstere Gass. S. 33 Zu gewöhnlichen Zeiten, wenn es keine Baustelle gab, spielten wir natürlich in den Gassen, was streng genommen verboten war, weil es dabei immer laut zuging, in der Fuggerei aber Ruhe herrschen musste. Am liebsten spielten wir Verstecken. TC 08:51 – Moderne Fuggerei O-Ton 6  RUNDGANG 2  Darius Der Fuggereibrunnen ist das Herz der Fuggerei. Hier ist die Mittlere Gasse, die Ochsengasse, die Herrengasse, die laufen hier in der Mitte zusammen. Die Bezeichnungen der Gassen sind nach wie vor mittelalterlich. Hier vorne können wir sehen, das ist die Saugasse zum Beispiel, weil vor den dortigen Toren war der Saumarkt - die Herrengase, die Breite Gasse, wo wir im Hintergrund das Senioratsgebäude sehen und auch die Kirche. Wir gehen jetzt in die Ochsengasse rein und besuchen eine Bewohnerin … (Schritte) ERZÄHLER: Brigitte Hahn wohnt hier in der Ochsengasse. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung mit großer Küche und großem Bad ist ein kleines Schmuckstück. Die Rentnerin lebt seit 2007 in der Fuggerei. O-Ton 7   Hahn Ja, ich hab zwar 45 Jahre voll gearbeitet und auch einbezahlt, aber es langt halt nicht für draußen, für die hohen Mieten und zum Lebensunterhalt. Dann hab ich mich in der Fuggerei beworben, musste allerdings fünfeinhalb Jahre warten und dann hat es geklappt. (lacht) Wir waren sieben Kinder, am Anfang nur in der Fabrik. Dann hab ich aber selber durch die Hochschule Sekretärin gemacht und einen halben Bankkaufmann – war sieben Jahre in der Deutschen Bank und hab eigentlich immer ganz gute Jobs gehabt, aber es langt trotzdem net. ERZÄHLER: Die Reaktionen auf ihre neue Bleibe fielen sehr unterschiedlich aus: O-Ton 8   Hahn Also in meinem Verwandtenkreis und Bekanntenkreis, die haben es nicht richtig verstanden, weil ich ja die ganze Zeit auch gearbeitet hab, dass das so weit kommt. Andere, selbst in der Familie, schauen a bissle auf mich runter. Die sagen, also in der Fuggerei kann man nicht leben, die verstehen nichts vom Leben. Und andere sagen: „Das ist aber toll, da musst Du froh sein“ – das ist also ganz unterschiedlich… ERZÄHLER:  Die Fuggerei-Wohnungen sind begehrt. Die Warteliste ist lang. Wer sich bewirbt, muss Augsburger Bürger, bedürftig, und katholisch sein. Diese Kriterien galten schon vor 500 Jahren. TC 11:05 – Die Würdigkeit der Armen MUSIK ERZÄHLER:   Im 19. Jahrhundert wurde die unverschuldete Not und die Würdigkeit der Armen ganz streng geprüft: der sogenannte Armenabhörbogen umfasste 31 Positionen. Fiel die erste Beurteilung durch einen Augsburger Armenpfleger positiv aus, ging die Akte an den Administrator der Fuggerschen Stiftung. Der gab seine Beurteilung ab und leitete das Gesuch an den Familienseniorat weiter, dem Aufsichtsrat der Stiftung.  Dieses Gremium hatte das letzte Wort und das ist heute noch so. MUSIK kurz hoch Im 19. Jahrhundert waren Krankheit, Tod eines Familienmitglieds sowie das Alter die Hauptursachen für den Abstieg in die Armut. Anke Sczesny dokumentiert in ihrem Band „Der lange Weg in die Fuggerei – Augsburger Armenbriefe des 19. Jahrhunderts“ die Biographien von Bedürftigen. Für viele war der Gang zum Armenpflegschaftsrat bitter, denn er machte die Armut öffentlich. Unter ihnen waren Handwerksmeister, Polizisten, Schreiber, Amtsboten, Kanzlisten, Musiker, Händler und Arbeiter. Viele konnten von einem Beruf nicht leben: ZITATORIN: „Joseph Neubold verdingte sich gleichzeitig als Taglöhner und als Fabrikarbeiter und der Schneidermeister Matthias Reichhardt, der „seit Jahren auf seiner Profession keinen Erwerb hat, nähret sich mit Einsammeln für Leichenkassen und Austragen für Redactionen von Zeitungsblättern“. Auch der 39-jährige Joseph Herzog, ehemaliger Bataillonstambour, bat dringend um eine Wohnung, da er seine sechsköpfige Familie als Webermeister und Laternenanzünder nicht mehr versorgen könne, obwohl seine beiden älteren Töchter zum Lebensunterhalt durch ihre Fabrikarbeit beitrügen“. ERZÄHLER: Mit 70 bis 80 Prozent traf die Armut am stärksten die Frauen. Sie verdienten weniger, denn meist waren sie beruflich unterqualifiziert. In der Fuggerei mussten sich alleinstehende Frauen oder Witwen die Wohnung teilen, da sie nur Anrecht auf eine halbe Wohnung hatten; für Männer galt diese Regel nicht. Manchmal war die Not so groß, dass sogar Kinder weggegeben wurden. Die 38-jährige Zimmermanns-Witwe Franziska Schweighoferin, schreibt im Mai 1839 in ihrem Gesuch:  ZITATORIN: „Sie habe ihren schwerkranken Mann ein halbes Jahr gepflegt und während dieses langwierigen Krankenlagers habe aller Verdienst aufgehört, die Ausgaben aber sich immer mehrten, dass sie […]nicht mehr alle gedeckt werden konnten. Ferner habe sie acht Kinder, und obwohl nun diese Tage etwas gemildert werden konnten, daß vier meiner Kinder theils in das Waisenhaus, theils anderswo aufgenommen wurden, so bleibt doch mein Elend noch groß“ TC 13:59 – Wer hier wohnte MUSIK ATMO  Schritte - Klingelton Schauwohnung ERZÄHLER: Wir ziehen an der Mittleren Gasse Nummer 13 an einem historischen Klingelzug, wie er noch an vielen Häusern funktioniert. Hier liegt die alte Schauwohnung, die inzwischen allerdings im neu gestalteten Museum überarbeitet wurde. Wie haben hier also die Menschen im frühen 19. Jahrhundert gelebt?  Wir treten in den niedrigen Flur. Gleich im Eingangsbereich ist eine große Klappe eingelassen, unter der sich ein etwa ein Meter tiefer Stauraum verbirgt, in dem Vorräte gelagert wurden. Das war der Kühlschrank der damaligen Zeit, erzählt Stiftungsmitarbeiterin Sabine Darius: O-Ton 9  Rundgang 3   Historische Wohnung Wir sind jetzt hier in der Küche in der historischen Wohnung. Da ist eine offene Kochstelle mit einem Abzug oben. Das sind hölzerne Balken drüber zu sehen… und das Gewölbe diente einfach der besseren Wärmeverteilung im Raum. Was auch ganz modern ist: Man konnte von hier aus den Ofen heizen, der nebenan in der Stube steht. Man hat also nichts schmutzig gemacht in der Stube. ATMO Schritte O-Ton 10   Rundgang 4 Jeder, der größer ist als 1 Meter 70 muss den Kopf einziehen. Wir sind hier in der Schlafstube. Wir sehen hier ein Himmelbett sozusagen mit einem Holzhimmel. Das Bett ist relativ schmal und es ist auch relativ kurz. Die Leute haben damals mehr oder weniger im Sitzen geschlafen. Wir sehen auch hier vorne, da ist so eine Bettschere: Also wenn mehrere Personen im Bett gelegen sind, dass keiner vorne rausfällt. In früheren Zeiten konnte man diesen Raum natürlich auch nicht heizen, das war schon sehr, sehr kalt hier. Bevor man ins Bett gegangen ist, hat man hier, wie man unter dem Bett liegen sieht, eine Bettpfanne, da hat man glühende Kohlen reingegeben, und damit das Bett vorgeheizt. MUSIK   ERZÄHLER: Früher lebten in der Fuggerei viel mehr Kinder. Im Jahr 1624 wurden 93 Familien mit 173 Kindern gezählt, für die eigens eine Schule gebaut wurde. Heute leben meist Alleinstehende oder Paare hier. Das liegt vor allem daran, dass die Zwei-Zimmer-Wohnungen für Familien etwas klein sind. Sabine Darius über die Bewohnerstruktur. O-Ton 11  Darius Es sind Leute, die schon in Rente sind, die vielleicht in Frührente sind, die vielleicht krank sind. Es gibt auch wenige Leute, die Hartz IV beziehen. Es gibt auch wieder Leute, die einer Arbeit nachgehen. …Da sieht man, wie aktuell die Fuggerei ist. Denn, es gibt heute sehr viele Menschen, die nicht so viel verdienen, dass sie draußen ein würdiges Leben führen können. Auch dafür ist die Fuggerei heute wieder da. ERZÄHLER: Brigitte Hahn genießt ihr Leben in der Fuggerei: O-Ton 12  Hahn Also am besten gefällt mir in der Fuggerei, dass es so eine kleine Stadt in der Stadt ist. Man hat sehr nette Nachbarn und ist eigentlich so toll integriert. Man ist nicht alleine. Wenn man eben mal a bissle a Rätschle machen will oder was, dann geht ma nebe hie und ansonsten ist man wirklich ganz toll aufgehoben. ERZÄHLER: A Rätschle machen kann Brigitte Hahn nicht nur mit den Nachbarn sondern auch mit den Touristen. Die fragen die Bewohner gerne aus, vor allem im Sommer, wenn diese in ihren kleinen Gärtchen sitzen, die zur Wohnung gehören. In Spitzenzeiten laufen 1.500 Besucher am Tag durch die Gassen; da ist es natürlich schon laut. O-Ton  13 Hahn Und Türen darf man auch keine auflassen, dann sind die sofort herin. Sehr neugierig (lacht). Nein, die stören mich nicht, im Gegenteil: das ist recht interessant, wenn‘s so durchgehen und wir werden auch viel gefragt zwischendurch und geben natürlich auch freudig Auskunft. TC 17:45 – Fünf Minuten Glocken Bimmeln ERZÄHLER: In derselben Gasse wie Brigitte Hahn lebte einst im Haus Nr. 52 Dorothea Braun. Die Pflegerin in der Krankenstube der Fuggerei war das erste Opfer des Hexenwahns in Augsburg. Eine tragische Geschichte, denn ausgerechnet ihre elfjährige Tochter bezichtigte sie der Hexerei. Unter schwerer Folter gestand die Mutter. Am 25. September 1625 wurde Dorothea Braun enthauptet und verbrannt. MUSIK ZITATOR  Finstere Gass „War ein Fuggereibewohner gestorben, bimmelte fünf Minuten lang die kleine Glocke von St. Markus. Das konnte mitten am Tag, in einem Spiel oder einem aufregenden Streich sein. Wir Kinder wurden dann meist etwas verlegen, besonders wenn Erwachsene in der Nähe waren, die sich augenblicklich bekreuzigten. Eine Stunde später ging der Verwalter dann mit einer Liste von Tür zu Tür und sammelte für einen Kranz. Meine Großmutter war gehalten, zehn Pfennige zu geben, und auch mein Großvater gab diesen Betrag, wenn er selbst einmal zu dieser Zeit zu Hause war“. ERZÄHLER: schildert Reiner Schmidt in seinen Kindheitserinnerungen „Barfuß in der Finsteren Gass“. Das war in den 30er- und 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der erste Seelsorger der Fuggerei war Petrus Canisius, geboren im Gründungsjahr 1521. Später wurde er Domprediger in Augsburg und 1925 sogar heiliggesprochen. Die Reihenhaus-Siedlung hat auch heute noch ihren eigenen Priester, der Andachten und Messen in St. Markus hält. Die Kirche wurde 1581/82 erbaut, viele Male umgestaltet und 1950 neu erbaut nachdem sie durch Luftangriffe im zweiten Weltkrieg zerstört worden war. MUSIK   O-Ton 15 Rundgang 5  Darius Hier sind wir in einer der Grünanlagen der Fuggerei, können hier ganz schön die alte Fuggerei-Mauer sehen. Hier war die ursprüngliche Begrenzung, hier unter diesen grünen Hügel ist der Bunker, der Weltkriegsbunker. Heute haben wir unten eine Dauerausstellung zur Zerstörung der Stadt Augsburg im Zweiten Weltkrieg und zum Wiederaufbau. ERZÄHLER: In diesem Bunker überlebten 200 Fuggerei-Bewohner die Bombenangriffe in der Nacht vom 24. auf dem 25. Januar 1944: ZITATOR:  Finstere Gass Unzählige Pfeiftöne jagten einander, dauerten im Anschwellen unverschämt lange, wurden immer lauter, dröhnten kaum ertragbar … Der erste Einschlag! Es hob uns vom Stuhl, Kalk rieselte, das Licht ging aus. Die nächste Mine, die nächste Kugel. Die Dächer haben sich geschüttelt und ihre Platten auf die Gassen geworfen. ERZÄHLER: Die Siedlung wurde bei den Luftangriffen fast völlig zerstört – zum zweiten Mal in ihrer Geschichte; die erste Zerstörung erfolgte 1642 während des Dreißigjährigen Krieges. Aber die Mitglieder des Familienseniorats beschlossen auch dieses Mal, sie schnell wieder aufzubauen. Bereits in den 50er-Jahren war der Wiederaufbau abgeschlossen, danach wurde die Fuggerei sogar um ein Drittel erweitert. O-Ton 16  Rundgang 5 weiter Diese Häuserzeile, die gegenüber von dem Bunkereingang ist, die ist historisierend aufgebaut worden, das kam hier als Trümmergrundstück dazu. Wir sehen hier auch das Stifterdenkmal von Jakob Fugger und dahinter sehen wir das breite Dach: Das ist heute die Schreinerei und war in früheren Jahren der Pferdestall. MUSIK ERZÄHLER:   Was Jakob Fugger 1521 begonnen hat, funktioniert 500 Jahre später immer noch. Seinen Nachfahren ist es gelungen, die Stiftung in seinem Sinn fortzuführen und im Familienbesitz zu erhalten. Viele Generationen erhielten durch die Fuggerei die Chance für einen neuen Anfang, fanden hier ein neues Zuhause, oft bis an ihr Lebensende. Und das ist bis heute so. TC 21:48 - Outro
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May 17, 2024 • 22min

STADTLEBEN FRÜHER - Nürnberg im Mittelalter

Im 15. Jahrhundert ist Nürnberg Weltstadt! Fernreisende kommen an Nürnberg kaum vorbei. Die Routen Prag - Paris, Venedig - Hamburg, Krakau - Augsburg führen alle über Nürnberg. Exportschlager von der Pegnitz sind Nadeln, Schüsseln, Kannen, Becher, Leuchter, aber auch Plattenharnische und Kanonenrohre mit gezogenen Läufen. Alles Produkte des gerühmten Nürnberger Einfallsreichtums. Von Michael Zametzer (BR 2020) Credits Autor: Michael Zametzer Regie: Martin Trauner Es sprachen: Thomas Birnstiel Technik: Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Ester Guckenberger, Peter Fleischmann Linktipps: BR (2023): 1806 – Die Nürnberg Saga In drei Folgen erzählt "1806 - Die Nürnberg Saga", wie es dazu kam, dass Nürnberg bayerisch wurde: Vom Niedergang und Ende der Freien Reichsstadt bis zum atemberaubenden Wiederaufstieg Nürnbergs zum industriellen Zentrum Bayerns. JETZT ANSEHEN BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 15. Jahrhundert: Nürnberg Im 15. Jahrhundert erhält Nürnberg die Reichskleinodien, den Kronschatz des Heiligen Römischen Reiches. Zugleich wird die Stadt ein Zentrum des Handwerks, der Wissenschaften und des Humanismus. Das neue Weltbild der Renaissance hält Einzug. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:20 – Der Anfang einer großen StadtTC 05:02 – Probleme mit dem BurggrafenTC 07:02 – Der Nürnberger WitzTC 10:17 – Grausame jüdische GeschichteTC 13:40 – Heilig, heilig, heiligTC 17:21 – Kunst & KulturTC 19:02 – Vorbei mit Glanz und GloriaTC 21:40 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO Touristen 1 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinKommen Sie doch ein Stück näher an die Mauer. Dann zeige ich Ihnen von oben einmal die Abgrenzung der ehemaligen Megacity des Mittelalters… MUSIK Sprecher:Der Blick über die Altstadt ist beeindruckend, hier oben, von der Burg aus gesehen. Eingerahmt von der mächtigen, sechs Kilometer langen Stadtmauer mit den charakteristischen, runden Wehrtürmen… 2 ZUSP Esther Guckenberger, Stadtführerin…ja, jetzt sehen sie hier vorne bei uns die Sebalduskirche und etwas weiter hinten fast wie ein Zwilling die Lorenzkirche. ATMO Kirchenglocken Sprecher: …die beiden Hauptkirchen, die den Altstadtvierteln ihre Namen gegeben haben, getrennt durch die Pegnitz, die durch die Altstadt fließt. Hinten, fast am Horizont, der Reichswald. Heute Naherholungsgebiet, früher Brenn- und Baustofflieferant. 3 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinJa also, ich muss sagen, das ist mein liebster Blick über meine Heimatstadt. Ich glaube, man kann es hören. Ich bin aus Nürnberg. Sprecher: In zwei Stunden führt Esther Guckenberger vom Verein „Geschichte für alle“ ihre Besucher durch die schönsten Ecken der Nürnberger Altstadt. Heute mit über 500.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Bayerns. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert aber war Nürnberg eine Metropole von europäischem Rang. 4 ZUSP Esther GuckenbergerAlso, Köln war zu der Zeit die größte Stadt im Heiligen Römischen Reich. Und Nürnberg und Augsburg waren immer die zweitgrößten und drittgrößten Städte. Wir wissen nicht genau, wie viele Einwohner es hatte. Aber wir rechnen so mit ungefähr 40.000. MUSIK Sprecher: Nürnberg im Mittelalter: das ist eine Handelsmacht, ein Zentrum der Metallverarbeitung. Ort der Innovation und Kunstfertigkeit, von Handel, Gewerbe, Wissenschaft und Kunst. MUSIK Sprecher:Nürnberg im Mittelalter: das ist auch große Politik: Hier halten 32 Kaiser ihre Reichstage ab, hier werden im 15. Jahrhundert die Insignien des Reichs aufbewahrt. „Das Schatzkästlein des Reiches“ – so wird die Stadt an der Pegnitz genannt.TC 02:20 – Der Anfang einer großen Stadt Sprecher:Dabei sind die Anfänge dieser Reichsstadt um das Jahr 1000 herum alles andere als verheißungsvoll. Die Standortfaktoren sind dürftig: Kaum fruchtbarer Boden, keine Bodenschätze. Nur ein bisschen Wald und – Felsen. 5 ZUSP Peter FleischmannIch denke das ganze Pegnitzbecken, das war völlig versteppte Landschaft. Sprecher: Peter Fleischmann ist Nürnberger und Historiker an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 6 ZUSP Peter FleischmannSie haben kaum Spuren von Zivilisation oder Siedlung gesehen, und wenn man sich diesen abgeaperten Burgfelsen genähert hat, hat man vielleicht aus der Ferne oben ein paar Holzbauten erkannt und auf der Südseite, am Südhang von diesem Burgfelsen einige Häuser, strohgedeckte Hütten, vielleicht ein Palisadenzaun drumrum, in der Mitte spitzt ein kleiner Kirchturm empor. Das dürfte Nürnberg im elften Jahrhundert gewesen sein. q Sprecher: Ins Licht der Geschichte tritt Nürnberg als „Nourenberc“ im Jahr 1050: Der Anlass – ein Freudiger. Der Salierkaiser Heinrich III. bestätigt auf einem Nürnberger Hoftag die Freilassung einer Leibeigenen mit Namen Sigena. Diese „Sigena-Urkunde“ ist der erste Nachweis für die Existenz Nürnbergs. Bescheidene Anfänge. Aber immerhin kamen schon Könige vorbei, hielten Gericht. Zur aufstrebenden Stadt wird Nürnberg aber erst unter der Herrschaft der Staufer. 7 ZUSP Peter FleischmannMan muss sich zunächst die Frage stellen: Wovon lebt der König? Das Land des Reiches ist aufgeteilt als Lehenherrschaften. Das sind die großen Fürstentümer. Wo wird aber in der Tat etwas erwirtschaftet? Nur in den Städten, dort, wo Handwerk, wo etwas produziert wird, nicht bloß Ackerbau gemacht wird. Und dort haben die Staufer früh gesehen, dass sich das Kapital sammelt, das hier Waren geschaffen werden, die verkauft werden können. Und hier bekommt der König eine Reichssteuer, die er von den anderen Lehensherren nicht bekommt. MUSIK Sprecher: Um Nürnberg auch gegen Begehrlichkeiten des nahen Bistums Bamberg zu schützen, stellt Friedrich II. die Nürnberger 1219 mit dem „großen Freiheitsbrief“ unter königlichen Schutz. Kaufleute von der Pegnitz bekommen weitreichende Zollprivilegien, dürfen nicht von fremden Gerichten verurteilt werden. Diese Freiheiten sind erste Schritte auf dem Weg Nürnbergs zur freien Reichsstadt – und damit zur eigenen Verwaltung durch einen Stadtrat. Dreh- und Angelpunkt der Macht an der Pegnitz ist aber immer noch die Burg, die sich im Norden auf dem markanten Sandsteinfelsen erhebt. Genau genommen sind es sogar zwei Burgen.TC 05:02 – Probleme mit dem Burggrafen ATMO Burg Sprecher:Esther Guckenberger lenkt die Aufmerksamkeit auf eine seltsam leere Stelle zwischen der Kaiserburg im Osten und dem großen Getreidespeicher im Westen des Burgbergs. 9 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinDort stand eine Burggrafenburg und sie sagen jetzt: wieso ein Burggraf? Nürnberg hat sich doch als Reichsstadt bezeichnet? Ja, und es war genau das Problem. Sprecher: Die Burggrafen sind die höchsten Vertreter des Königs in Nürnberg. Sie entstammen dem Hochadel und werden vom König belehnt. 1190 übernimmt ein bis dato eher unbedeutendes, schwäbisches Adelsgeschlecht das Burggrafenamt. Ein Geschlecht, das in der deutschen Geschichte aber noch eine entscheidende Rolle spielen sollte. 10 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinEs gab einen Burggrafen aus der Familie der Zollern oder Hohenzollern, wie sie sich später genannt haben. Und der war den Nürnberger natürlich ein Dorn im Auge, dieser Burggraf, der hier, mitten auf der Burg, auch ein Gebäude hatte, und was mitbestimmen wollte in dieser Stadt.  Sprecher: Der Konflikt zwischen Burggrafen und der immer selbstbewusster auftretenden Nürnberger Stadt zieht sich über Jahrhunderte und führt immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die schließlich 1420 im Burggrafenkrieg münden – und der Zerstörung der Burggrafenburg. In der Folge ziehen sich die Hohenzollern aus Nürnberg zurück, um in der Fläche, in Ansbach und Bayreuth eine gewaltige Landesherrschaft aufzubauen. Nun sind die Nürnberger Herren über den Burgberg. MUSIK Sprecher: Nach dem Prinzip „Reichstreu, aber frei“ bekennt sich Nürnberg stets zum Kaiser und zahlt auch enorme Summen an Reichssteuern. Im Gegenzug winkt eine Fülle an Privilegien. Und - den Nürnbergern gelingt es 1427, das Amt des Reichsschultheißen, der als Statthalter des Kaisers die Stadt verwaltet hat, zu kaufen. Fortan ist dieser Reichsschultheiß städtischer Beamter. Und Nürnberg wird von einem Rat aus einer Reihe privilegierter Patrizierfamilien regiert. TC 07:02 – Der Nürnberger Witz 11 ZUSP Peter FleischmannMan darf das überhaupt nicht demokratisch sehen, sondern das waren die alten Geschlechter. Das wichtigste Gremium werden die sieben älteren Herren, die sieben grauen Eminenzen. Und das war die eigentliche Stadtregierung. Sprecher: Dass diese sogenannte „Republik“ Nürnberg alles andere als demokratisch ist, zeigt auch die Tatsache, dass die eigentlichen Stützen von Wohlstand und Handelsmacht gar nicht vertreten sind: Die Handwerker. 12 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinAlso wir haben die Rotschmiedgasse und die Kupferschmiedgasse und die Beckschlagergasse und so weiter, also die ganzen Gassen hier heißen auch immer noch so wie die Handwerker, die hier angesiedelt waren, und eine besonders schöne Straße, die wir hier haben, ist die Weißgerbergasse. Sprecher: Lederwaren und hochwertig verarbeitete Textilien sind im Hoch- und Spätmittelalter einer der wichtigsten Exportartikel der Reichsstadt Nürnberg. Aber längst nicht der einzige. Die besondere Spezialität der Nürnberger Handerker sind Metallwaren. MUSIK Sprecher:Aus dem Erz der Opferpfalz und dem Brennstoff der nahen Reichswälder entstehen Töpfe, Pfannen, Schüsseln, aber auch kunstvoll geschmiedete Plattenharnische und neuartige Kanonen mit gezogenem Lauf, mathematische Präzisionsinstrumente und Uhren. Der sprichwörtliche „Nürnberger Witz“ lobt nicht etwa den Humor, sondern die Gewitztheit der Nürnberger, sagt der Historiker Peter Fleischmann. 13 ZUSP Peter FleischmannDas ist Innovationsfreude, das ist Ideenreichtum, Erfindergeist, und das macht eigentlich, das ist die Wurzel, der spin-off, das macht Nürnberg groß, weil man dann hier ein fantastisches Wissen und Erfahrung entfaltet hat, gerade mit der Metallbearbeitung in allen Varianten. Sie haben im Deutschen Reich keinen Ort, der ein so vielfältiges Handwerk kennt. Sprecher:Eine Spezialität der Nürnberger ist die Herstellung von gezogenem Draht - die Grundlage für allerlei kleine Metallprodukte wie Ösen, Nägel, Haken. Massenfertigung made in Nürnberg, nur echt mit dem Nürnberger Wappen - ein Exportschlager! „Nürnberger Tand geht durch alle Land“. 14 ZUSP Peter FleischmannDas sind Gegenstände des Alltags, die Masse, und das war das Besondere. Hohe Arbeitsteilung, hoher Output und, ganz wichtig, mit einem Qualitätssiegel: Das ist durch die "Schau" – Qualitätskontrolle - gegangen. Da kann ich mich darauf vertrauen, dass das keine Billigware ist. Sprecher: Und für den gewinnbringenden Export des „Nürnberger Tands“ sorgen die günstige Lage an einer reihe wichtiger Fernstraßen, weitreichende Privilegien als Reichsstadt und geschäftstüchtige Handelsfamilien. 15 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinIch zeig hier mal eine Grafik. Da, wo mein Finger ist, ist Nürnberg. Wir sagen oft: Nürnberg sitzt hier wie eine Spinne im Netz. Nach Venedig kamen die Schiffe aus dem Orient, und dann wurden die Gewürze über den Landweg nach Nürnberg transportiert. Ja, und da wurde zum Beispiel eben mit den Städten hier an der Küste Tuch gehandelt, den jetzigen Niederlanden. Dann kam aus Frankreich und Spanien kam Wein, aus Russland kamen Pelze, aus Ungarn kamen die Ochsen - die sind selber gelaufen.TC 10:17 – Grausame jüdische Geschichte ATMO Hauptmarkt Sprecher: Esther Guckenberger ist mit ihrer Führung mittlerweile auf dem Hauptmarkt angekommen. Die „gute Stube“ Nürnbergs. Er ist der zentrale Platz der Altstadt, am nördlichen Pegnitzufer gelegen. Hier lockt der Christkindlesmarkt jährlich Hunderttausende Besucher zu Glühwein und Lebkuchen – auch so ein Nürnberger Exportschlager übrigens. Und hier steht auch der „Schöne Brunnen“, in Form einer gotischen Kirchturmspitze - ein dreistöckiges Universallexikon des Mittelalters. 16 ZUSP Peter FleischmannUnd ich zieh ganz gern den Vergleich: Der schönen Brunnen mit seinem ganz reichhaltigen, Figurenschmuck, den wir heute nicht mehr verstehen, den aber die Zeitgenossen alle lesen konnten, das ist Bibel, Brockhaus und Grundgesetz in einem. MUSIK Sprecher: Der Hauptmarkt war aber nicht immer ein Marktplatz. Ursprünglich lebten hierungefähr zwölfhundert Juden. Sie standen auch unter dem Schutz des Kaisers und mussten dafür die Judensteuer zahlen. Allerdings weckte die zentrale Lage des jüdischen Ghettos im 15. Jahrhundert Begehrlichkeiten bei den Nürnberger Patriziern. 17 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführererinDas war die Zeit, in der große Unsicherheit herrschte, da es viele Unwetter gab und Pestwellen. Und so wurden die Juden als Sündenbock aus den Städten getrieben. Sprecher: Mehrmals hat es im mittelalterlichen Nürnberg grausame Pogrome an der jüdischen Bevölkerung gegeben. In den Jahren 1348 und 1349 aber erlebt Nürnberg seine wohl größte Krise in der Zeit als Reichsstadt: Nach einem erbitterten Streit um die Nachfolge Kaiser Ludwig des Bayern geht Karl IV. siegreich hervor und reist nach Nürnberg, um sich seine Herrschaft auch vom Rat der Stadt anerkennen zu lassen. Allerdings kommt es darüber in der Stadtregierung zum Streit – der schließlich in die Absetzung des Rates und eine Revolte mündet. Um künftige Aufstände niederzuschlagen, erhält der Stadtrat von Karl IV. einen Freibrief, Aufrührer eigenmächtig zu bestrafen. Zugleich erlaubt diese Urkunde auch Gewalttaten gegen die Nürnberger Juden. Die Folge: ein blutiger Pogrom am 5. Dezember 1349. 18 ZUSP Peter FleischmannAn diesem Samstag, am Sabbat, bricht in Nürnberg ein Aufruhr los. Da stürmt ein aufgehetzter Pöbel das Ghetto, stürmt Judenhäuser und zerrt die Leute raus, schlägt sie tot. Oder sie werden auf dem heute noch so genannten Judenbühl im Norden Nürnbergs verbrannt. Sprecher:562 Juden werden Opfer der Mordaktion, die vor allem kalt kalkulierte wirtschaftliche Motive hatte. Die Überlebenden der jüdischen Gemeinde fliehen aus der Stadt. Dort, wo die jüdischen Häuser standen, sichern sich einige Patrizier lukrative Grundstücke. Die Synagoge wird niedergerissen und an ihrer Stelle die Frauenkirche gebaut. Ihre Reichsarchitektur bestimmt bis heute das Bild des Hauptmarktes. 19 ZUSP Peter FleischmannAnstelle der Synagoge baut man eine Marienkirche - ein Muster, das sich auch in Rothenburg oder in Würzburg oder in Regensburg wiederholt. Das ist nichts spezifisch Nürnbergisches. Aber die gewaltsame Vertreibung der Juden, daran sollte man denken, wenn man über den Hauptmarkt geht. MUSIK TC 13:40 – Heilig, heilig, heilig Sprecher: Mit dem Bau der „Goldene Straße“ nach Böhmen festigt Kaiser Karl IV. die Handelsverbindungen in Richtung Osten. Insgesamt 52mal weilt der Kaiser auf der Burg über der Pegnitz, hält Hoftage und lobt Nürnberg als „vornehmste und bestgelegene Stadt des Reiches“. Und die „Goldene Bulle“ von 1356, das erste „Grundgesetz“ des Reiches, legt nicht nur die Wahl des Königs durch die sieben Kurfürsten in Frankfurt fest, sondern auch dessen Krönung in Aachen, und – den Ort des ersten Reichstages: Nürnberg. 20 ZUSP Peter FleischmannEs war die Repräsentation des Reiches, und der König hat Hof gehalten. Das war manchmal nur ein paar Tage, Wochen, es konnte sich aber auch außergewöhnlich über längere Wochen hinziehen – hat aber dann zu Schwierigkeiten bei der Versorgung geführt. Denn nach einer gewissen Zeit waren halt die Weinkeller ausgetrunken, die Getreidespeicher leer gefressen, und dann musste man weiter ziehen. Sprecher:Und der Reichstag ist nicht das einzige Großereignis im Nürnberger Kalender: 21 ZUSP Esther Guckenberger: Dazu möchte ich einen Blick auf das jetzt profanste Gebäude am Platze lenken, also wo das goldene “M” zu sehen ist… Sprecher: …Stadtführerin Esther Guckenberger deutet auf die Filiale eines bekannten Hamburgerrestaurants… 22 ZUSP Esther Guckenberger:…da stand einst ein richtig schönes Patrizierhaus der Familie der Schopper. Und vor dem Schopperschen Haus wurden zwischen den Jahren 1425 und 1524 die Heiltümer gewiesen. Sprecher: Die Heiltümer, das sind die Reichskleinodien, Insignien kaiserlicher Macht, wie Zepter, Reichsapfel, Schwert. Und eine Reihe von Reliquien. Kaiser Sigismund hat diesen Reichsschatz aus Sicherheitsgründen 1423 nach Nürnberg bringen lassen. 23 ZUSP Esther GuckenbergerUnd Sie glauben nicht, was unsere Kaiser als Reichschatz alles hatten: einen Zahn von Johannes dem Täufer und einen Span von der Krippe und die heilige Lanze – und in der heiligen Lanze, mit der Jesus angeblich in die Seite gestochen wurde, als er am Kreuz hing, war ein Nagel vom Kreuz eingearbeitet… 24 ZUSP Peter FleischmannDas ist eine besondere Form der Volksgläubigkeit. Und das war wirklich beseelend. Wir haben zum Teil Verkehrszählungen aus dem 15. Jahrhundert, da sind Zigtausende nach Nürnberg gekommen, waren glücklich, daran, teilnehmen zu dürfen. Das gesehen haben zu können. Und der König war ja weg. Aber in diesen Gegenständen Krone, Reichsapfel, Schwert, Dalmatica - das war eine Verkörperung des Reichs. Da zeigte sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. MUSIK Sprecher: Am Tag der Heiltumsweisung herrscht in Nürnberg Ausnahmezustand: Die Stadt ist zum bersten voll mit Besuchern von weither. Vor einem hölzernen Podest herab weist, also präsentiert, der Heiltumsschreier dem Volk die einzelnen Heiltümer. Und in der Menge halten einige Spiegel in die Richtung der kostbaren Stücke. So soll die wundertätige Kraft, die ihnen nachgesagt wird, eingefangen werden. Für zuhause. Für die kranke Großmutter zum Beispiel, die nicht dabei sein kann. Reichstage, Heiltumsweisungen, Handelsmessen – im 15. und frühen 16. Jahrhundert steht Nürnberg in voller Blüte und entwickelt eine enorme Anziehungskraft. TC 17:21 – Kunst & Kultur 25 ZUSP Esther GuckenbergerDas Haus, das wir hier haben, ist die ehemalige Wohn- und Arbeitsstätte unseres wohl bekanntesten Stadtbürgers: von Albrecht Dürer. Sprecher: Dürer, der Meister. Das Universalgenie. Und – ein Beispiel für den Erfolg gelungener Integration: Denn Albrecht Dürer hatte Migrationshintergrund. Sein Vater, der ebenfalls Albrecht hieß, stammte aus Ungarn und kam als Goldschmied nach Nürnberg. Albrecht Junior lässt sich in Nürnberg zum Maler ausbilden. Und mehr noch: Er entwickelt ein Verkaufsgenie – und gilt als Erfinder des Labels. Das berühmte Monogram AD kennzeichnet jedes Bild, das seine Werkstatt verlässt. 26 ZUSP Peter FleischmannNürnberg war der Hotspot. Es heißt ja schon bei Martin Luther, Nürnberg ist das Auge und Ohr Deutschlands. Nürnberg lebt von der Zuwanderung. Auch die Zeitgenossen, Veit Stoß, Adam Kraft, die kommen von auswärts. Nürnberger haben natürlich auch eigene Leute rekrutiert. Aber Nürnberg war ein richtiger Magnet. Und weil hier ein Kunstmarkt war, weil hier auch Auftraggeber herkamen, die wussten: Da gibts bedeutende Malerwerkstätten. Da kann ich für eine Kirche einen Hochaltar in Auftrag geben. Oder ich kann wertvolle Goldschmiedearbeiten, Pokale, machen, das machen die Nürnberger am besten. MUSIK Sprecher:So entstehen in Nürnberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Nürnberg Ei von Peter Henlein – die erste Taschenuhr, oder auch der berühmte Erdapfel, der Globus des Martin Behaim. Auf diese Blüte – die Stadt hat zeitweise etwa 50.000 Einwohner – folgt die Katastrophe.TC 19:02 – Vorbei mit Glanz und Gloria Sprecher: In der Reformationszeit bekennt sich Nürnberg sehr früh zum neuen, protestantischen Glauben. Mit gravierenden Folgen. 27 ZUSP Peter Fleischmann: Nürnberg war Kaiser- und Reichstreu, und das bricht der Stadt letztlich auch das Genick. Im 16. Jahrhundert hat der Kaiser als Schützer der Christenheit das Problem, dass die Stadt des Reiches Nürnberg sich der Reformation zuwendet und sich damit auch vom Kaiser abwendet und damit unterkühlt das Verhältnis zum Kaiser. Sprecher:Von den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, bleibt die Stadt zwar militärisch verschont, die nahe Schlacht bei Zirndorf 1632 aber fordert auch innerhalb der Stadtmauer ihren Tribut. 28 ZUSP Peter FleischmannIn Nürnberg herrscht Chaos. Adlige, Bauern, alles flüchtet sich in die sichere Stadt. Es bleiben viele Verwundete, sieche Soldaten übrig. In Nürnberg grassiert die Hungersnot, und das ist der beste Nährboden, um alle rote Ruhr, Flecktyphus, um diese Seuchen hervorzurufen. Und es ist in der Tat so, dass jeder zweite Nürnberger in den folgenden Jahren 1632 bis 34 stirbt. MUSIK Sprecher: Und von diesem dramatischen demographischen Verlust erholt sich die Stadt nicht mehr, bis sie 1806 Teil des neuen Königreichs Bayern wird. Mit nur 25.000 Einwohnern sackt die einstige Reichsstadt in die politische Bedeutungslosigkeit ab. Was bleibt, ist die bürgerliche Kultur und die Kunstfertigkeit des Handwerks. Ein Herr Goethe kommt nach Nürnberg, weil er die besten Hersteller von mechanischen Instrumenten dort findet. Im 19. Jahrhundert wird Nürnberg zur Industriemetropole Bayerns. Der alte Glanz der Reichsstadt aber ist endgültig weg. MUSIK Sprecher:Und was alle Belagerungen und Plünderungen in über 500 Jahren nicht vermocht haben, das schaffen schließlich Fanatismus und Faschismus: Am 2. Januar 1945 wird das mittelalterliche Nürnberg, von Adolf Hitler zur „Stadt der Reichsparteitage“ zweifelhaft geadelt, von alliierten Bombern zu fast 90 Prozent zerstört. 29 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinDas Problem ist ja für Nürnberg: Das ist keine mittelalterliche Stadt mehr, sondern es ist eine wiederaufgebaute mittelalterliche Stadt. Und man hat dann direkt nach dem Krieg gesagt: Allmächt, was machen wir jetzt mit unserer Stadt? Es gab verschiedene Szenarien, und eine davon war: wir lassen sie liegen und vergehen und bauen daneben eine moderne Planstadt hin - Bin ich froh, dass es nicht so geworden ist!TC 21:40 - Outro
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May 10, 2024 • 24min

HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT - Die Staatsgründung Israels

Am 14.05.1948 endet das britische Mandat über Palästina. Noch am gleichen Nachmittag ruft David Ben Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Damit geht der Wunsch vieler Jüdinnen und Juden in Erfüllung, nach den letzten Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung zurückkehren zu können nach Zion, dem "Land der Väter". Der Weg von der Idee Theodor Herzls, in Palästina eine "Heimstätte" für das jüdische Volk zu schaffen, bis zum Staat Israel war lang. Von Beginn an war er von Konflikten und Interessenskollisionen bestimmt. Von Ulrike Beck (BR 2018) Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Johannes Hitzelberger Technik: Miriam Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Gudrun Krämer, Peter Lintl Ein besonderer Linktipp der Redaktion: BR24: Lost in Nahost – Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Der Konflikt im Nahen Osten ist kompliziert. Es ist schwer den Überblick zu behalten. Was werfen die gegnerischen Seiten einander vor? Warum wird so hart gekämpft? In diesem Podcast haben die Korrespondent:innen der ARD aus dem Studio Tel Aviv und Expert:innen aktuelle Fragen beantwortet, erklärt und eingeordnet. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:02 – Der Vater des ZionismusTC 06:43 – Eine Geschichte jüdischer ZuwanderungTC 10:07 – Zwischen den StühlenTC 12:49 – Ein Ende der ZurückhaltungTC 15:13 – Die UN und das „Palästinaproblem“TC 19:36 – (K)eine Lösung?TC 23:14 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro 1.O-Ton ( David Ben Gurion - unter dem Text weiterlaufen lassen)Nicht übersetzt: Proklamation Ben Gurion ErzählerIsraels erster Ministerpräsident David Ben Gurion ruft am 14. Mai 1948 den unabhängigen Staat Israel aus. O-Ton ausNur wenige Stunden nach dem Ende des britischen Mandats über Palästina. Damit geht für viele Juden der Wunsch in Erfüllung, nach den Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung nun nach Zion, in das „Land der Väter“ zurückkehren zu können. MUSIK     ErzählerinDie Sehnsucht nach einer Rückkehr ins „verheißene Land“ ist nicht neu. Sie ist so alt wie das fast zweitausendjährige Exil nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. und der Vertreibung der Juden aus Palästina. Die Idee, in Eretz Israel, dem "Land Israel" einen israelischen Staat zu gründen, ist allerdings noch jung. ErzählerSie entsteht Ende des 19.Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Zionismus. Was darunter zu verstehen ist, erklärt die Historikerin und Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer: MUSIK aus 2.O-Ton: (Krämer ab 0:01)Im weitesten Sinne die Sehnsucht nach Zion. Ein Alternativbegriff zu Jerusalem. Das kann religiös und kulturell sein. Es kann sich aber auch politisch zuspitzen. Ist dann eine Ausprägung des Nationalismus, wie er sich im 19.Jahrhundert in ganz vielen Formen herausbildete. Und beschreibt im konkreten Fall den jüdischen Nationalismus, der davon ausgeht, dass die Juden nicht nur eine religiöse Gemeinschaft sind, sondern auch eine politische und als solche auch den Anspruch besitzen, den andere Völker haben: die Bildung eines eigenen Staates.TC 02:02 – Der Vater des Zionismus MUSIK  ErzählerinAls Vater des politischen Zionismus gilt Theodor Herzl. Ein jüdischer Intellektueller aus Wien, der ab 1891 als Korrespondent für die Zeitung „Neue Freie Presse“ in Paris arbeitet. Unter dem Eindruck der Affäre um Alfred Dreyfus, der als Hauptmann jüdischer Herkunft wegen angeblicher Militärspionage verbannt wird und zwei Jahre später trotz erwiesener Unschuld verurteilt bleibt, besteht für Herzl Handlungsbedarf. ErzählerAls Antwort auf den wachsenden Antisemitismus schreibt Herzl sein Buch „Der Judenstaat“, das zum Manifest für die Selbstbestimmung in einer eigenen Nation werden soll. Darin heißt es: MUSIK aus Zitator: (Herzl S. 4)„Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale, noch für eine religiöse. Sie ist eine nationale Frage und um sie zu lösen, müssen wir sie zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird.“ MUSIK  ErzählerinDie von Herzl angesprochene „Judenfrage“ ist spätestens seit 1881 - nach dem Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. - von existentieller Wichtigkeit. Obwohl die Täter der extremistischen Organisation „Narodnaja Wolja“, übersetzt „Volkswille“, angehören, wird die Schuld zunächst „den“ Juden angelastet. In der Folge kommt es bereits ab 1881 zu einer ersten Welle von Pogromen in Russland und in Polen. Wie mit dieser Situation umgehen? Der Politikwissenschaftler Peter Lintl: MUSIK aus 3.O-Ton (Lintl ab 1:03)Für die Genese des Zionismus (…) ganz zentral ist sicherlich der europäische Antisemitismus und die Frage - was in Europa als die sogenannte „jüdische Frage“ bezeichnet wird. Nämlich: Was soll man mit den Juden in Europa machen? Darauf gab es im Judentum auch unterschiedliche Antworten. Zum einen in West- und Zentraleuropa den Versuch, sich zu integrieren und zu akkulturieren, manchmal auch zu assimilieren, d.h. durch größtmögliche Anpassung die Judenfeindschaft zurückzudrängen. In Osteuropa war es eher das Anhängen an der Tradition. (…) da herrschte auch die Hoffnung vor, dass einfach durch Gottvertrauen der Antisemitismus als Phänomen in der Geschichte vorbei gehen würde. Der Zionismus hingegen sagt: Nein, die jüdische Frage kann nicht in Europa gelöst werden, sondern wir müssen unser Schicksal in unsere eigenen Hände nehmen und wir müssen unseren eigenen Staat gründen. Erzähler„Der Judenstaat“ erscheint am 14.Februar 1896 in Wien und wird in 18 Sprachen übersetzt. Darin entwirft Theodor Herzl ein Programm, wie es gelingen kann, einen Staat für das jüdische Volk zu schaffen. Als künftige Landessprache erscheint ihm Deutsch geeigneter, als das alttestamentarische Hebräisch. Als passenden Ort favorisiert er neben Palästina auch Argentinien. Gudrun Krämer: 4.O-Ton: (Krämer ab 0:56)Theodor Herzl war ein bürgerlicher Aktivist. Ein Journalist, der in ganz rechtlichen Bahnen dachte und als Voraussetzung für den Erfolg annahm, dass die (…) führenden europäischen Länder, bzw. Staaten plus die USA diese Idee eines jüdischen Staates unterstützen müssten. So dass hier nicht quasi wild Kolonien und Siedlungen errichtet würden, sondern dass von vornherein eine internationale Gemeinschaft hinter diesem Plan stünde und darauf dringen könnte, in Eretz Israel, also Palästina, oder auch an anderem Orte, einen wohlgeordneten jüdischen Staat entstehen zu lassen. ErzählerinAm 3.September 1897 gründet sich auf Initiative Herzls die Zionistische Weltorganisation. Auf ihrem ersten Kongress in Basel verabschiedet die ZWO ihr Grundsatzprogramm. Mit dem zentralen Ziel der „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“. Jetzt war also klar - es sollte um Palästina gehen. ErzählerDoch um dieses Ziel zu erreichen, braucht Theodor Herzl als Präsident der Zionistischen Weltorganisation Unterstützung. Was angesichts des wachsenden Antisemitismus in Europa ein Problem ist. Gudrun Krämer: 5.O-Ton: Er hatte nicht die Unterstützung der Regierungen, wie viele Teile auch der jüdischen Bevölkerung dieser Idee sehr skeptisch gegenüber standen, nicht so recht sehen konnten, wohin die Reise gehen würde. Er hatte Zuspruch unter jüdischen Gemeinschaften in Osteuropa, obwohl er selber ausgesprochen westeuropäischer Jude war und sich auch in erster Linie an die westeuropäischen jüdischen und nichtjüdischen Eliten richtete. Aber der Druck auf Juden war in Osteuropa stärker als in Westeuropa und daher auch die Zustimmung in jener Zeit der noch recht unspezifischen Idee eines jüdischen Staates. TC 06:43 – Eine Geschichte jüdischer Zuwanderung MUSIK  ErzählerinDie ersten jüdischen Zuwanderer kommen bereits 1882 nach Palästina. Es sind rund 30.000 osteuropäische Juden, die vor allem wegen der antisemitischen Übergriffe in Russland und Polen auswandern. Sie kommen in ein Land, das damals Teil des Osmanischen Reiches ist: MUSIK aus Palästina. MUSIK ErzählerDas Land ist keineswegs unbewohnt. 350.000 Menschen leben hier. Die überwiegende Mehrheit sind Araber sunnitisch-muslimischen Glaubens. Neben ihnen gibt es auch eine große christliche Gemeinschaft und gläubige Juden. AKZENT   Glockengeläut  Muezzin ErzählerinDie Bewohner Palästinas sind Ende des 19.Jahrhunderts vor allem im Süden des Landes sesshaft. Die meisten von ihnen sind Bauern. ErzählerIn den Städten leben Handwerker, Kaufleute, Unternehmer und die lokale Oberschicht, Notabeln genannt. Außer der Hauptstadt Jerusalem sind vor allem die Hafenstädte Haifa und Jaffa bedeutend, ebenso wie die Bergstadt Nablus. MUSIK ErzählerinFür die Bewohner Palästinas ändert sich mit den neuen Zuwanderern viel. Denn mit der sogenannten zweiten Alija, der zweiten Einwanderungswelle kommen ab 1903 rund 40.000 weitere jüdische Einwanderer, die vor den erneuten Pogromen in Russland und Polen fliehen. Und sich daran machen, auf dem Land Boden zu kaufen, um dort nach sozialistischem Vorbild in Produktionsgemeinschaften Landwirtschaft zu betreiben. Peter Lintl: 6.O-Ton: Insbesondere die zweite und die dritte Alija war sozialistisch geprägt. Das sieht man nicht nur an den Kibbuzim und Mosharim, also basisdemokratischen Kollektiven, die quasi ohne individuelles Eigentum oder mit sehr wenig individuellem Eigentum auskamen, aber vielmehr sieht man das auch noch in den Idealen, die die zionistische Bewegung der Zeit prägten. Also da war das Ideal des unabhängigen, heroischen Pioniers, des Haluts, des neuen Hebräers, der sein Land - Eretz Israel - bearbeitet und sich damit auch zu eigen macht.  Das drückt sich z.B. sehr deutlich in der Formel „Erlösung des Landes durch die Eroberung des Bodens“ aus. Dazu kommt auch das Prinzip der hebräischen Arbeit. Man wollte unabhängig sein von arabischen Arbeitern und wollte alles selbst erarbeiten. ErzählerDie jüdischen Zuwanderer verwenden moderne Technologien, um den Boden zu bearbeiten und zu bewässern. Sie bauen Zitrusfrüchte an, die für den Export bestimmt sind. Die meisten von ihnen leben allerdings nicht auf dem Land, sondern lassen sich in den Städten nieder. Sie brauchen Platz. 1909 entsteht neben der alten Hafenstadt Jaffa die heutige Millionenmetropole Tel Aviv.  ErzählerinSchon bald beginnen die jüdischen Bewohner Palästinas sich zu organisieren. Sie gründen nicht nur Vereine, Verbände und Clubs, sondern errichten auch Bibliotheken und  das Technion in Haifa - die erste Universität. Mit Gründung der Gewerkschaftsorganisation Histadrud schaffen sie sich einen eigenen Arbeitsmarkt. Und organisieren zum Schutz ihrer Siedlungen Wächter, die Schomreen. ErzählerZwischen der arabischen Bevölkerung und den jüdischen Zuwanderern bilden sich in dem kleinen Land Parallelgesellschaften heraus. MUSIK TC 10:07 – Zwischen den Stühlen ErzählerinBis 1917 steht Palästina unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. Doch gegen die Osmanen formiert sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts die nationalarabische Bewegung. Ihr Ziel ist ein unabhängiges Vereinigtes Arabisches Königreich, das neben Palästina auch Syrien, den Libanon und Jordanien umfassen soll. ErzählerEin Plan, der nicht aufgeht, denn im Ersten Weltkrieg erhöht sich der Stellenwert Palästinas für die europäischen Großmächte. MUSIK aus Großbritannien erobert das Land und erhält 1922 das Mandat über Palästina. Peter Lintl: 7.O-Ton Zunächst ist für Großbritannien Palästina strategisch wichtig. Der Zugang zum Suezkanal ist eine Sache. Ist ein Teil der Landbrücke nach Indien und alle Wege nach Indien sind für das britische Empire zur Zeit des Kolonialismus einfach zentral. In Palästina wird Großbritannien tatsächlich vor eine Herausforderung gestellt, weil es klar ist, dass es zwei verschiedenen Interessen gerecht werden muss. Einmal der palästinensischen Seite, die dort einen Staat errichten will. Zumindest im Laufe der Zeit kristallisiert sich der palästinensische Nationalismus immer klarer heraus. Und auf der anderen Seite dem Zionismus, der das ähnliche Ziel hat oder das nämliche. Deswegen spricht man von der doppelten Verpflichtung der Briten, der dual Obligation, die sie zu erfüllen hat. ErzählerinSchon rund fünf Jahre zuvor, am 2.November 1917, schreibt der britische Außenminister Lord Arthur Balfour an den Vorsitzenden der Zionistischen Vereinigung in England einen Brief, der als „Balfour-Erklärung“ von zentraler Bedeutung sein wird. Darin verspricht Balfour Lord Lionel Walter Rothschild: Zitator:"Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte." 8.O-Ton: ( Krämer ab ca. 15:15)Dieses Versprechen, das zunächst keine völkerrechtlich bindende Funktion hatte, wurde in den Mandatsvertrag übernommen, bzw. in dessen Präambel und erhielt dadurch ein ganz anderen rechtlichen Status. Hinzu kam aber eine Verpflichtung, die Großbritannien als Mandatsmacht gegenüber der lokalen Bevölkerung - mehrheitlich arabisch - sie bereit zu machen  für die Übernahme politischer Verantwortung. In letzter Konsequenz für die Unabhängigkeit. Und wie sich herausstellen sollte, konnte man nicht beiden Seiten gerecht werden. TC 12:49 – Ein Ende der Zurückhaltung MUSIK ErzählerAb 1919 kommen mit der dritten und vierten Alija 115.000 jüdische Zuwanderer nach Palästina. Es sind so viele, dass die arabische Bevölkerung befürchtet, bald in der Minderheit zu sein. Es kommt zu ersten blutigen Ausschreitungen, die sich ab 1920 zunächst gegen die Zionisten richten, bald jedoch auch gegen die britischen Mandatsbehörden. Der Konflikt führt dazu, dass sich die jüdischen Einwanderer militarisieren. Die jüdische Armee, die „Hagana“ formiert sich. Peter Lintl: MUSIK aus 9.O-Ton: Bis dato war eigentlich das Prinzip der Zurückhaltung - geprägt noch von einem jüdischen Quiezismus noch aus der Exilszeit zu sehen, aber danach mit der weiteren Eskalation des Konflikts kann man sehen, wie sich auch der Zionismus Stück für Stück militarisiert. Grundsätzlich ist natürlich der Konflikt: Wem gehört das Land? Und über diesen Konflikt kommt es zu mehreren Ausbrüchen von Gewalt. Ganz bekannt ist 1920/21, dann 1929 und dann zum größeren palästinensischen Aufstand 1936 bis '39, der dann von den Briten relativ blutig niedergeschlagen wird. ErzählerinUm die zunehmende Eskalation der Gewalt zwischen beiden Seiten einzudämmen, machen die britischen Mandatsträger im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der arabischen Seite Zugeständnisse. Mit dem MacDonald-Weißbuch beschränkt Großbritannien im Mai 1939 die Einwanderung von Juden auf 75.000 für die nächsten fünf Jahre. Gudrun Krämer: 10.O-Ton: Die Konsequenzen waren von vornherein abzusehen. Die Briten banden die Zahl der Zuwanderer an die Aufnahmefähigkeit des arabischen Sektors - so war die Formulierung, also zunächst einmal an die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Setzten aber noch eins drauf, indem sie auch die politische Willigkeit der arabischen Bevölkerung mit in Rechnung nahmen. Und die Konsequenz war ganz klar, dass dieses die Zuwanderungsmöglichkeit der jüdischen Zuwanderer nach Palästina begrenzte. In einer Zeit, in der durch den Antisemitismus und die Judenverfolgung in großen Teilen Europas der Druck auf die jüdischen Bewohner Europas wuchs, sich eine Alternative zu suchen, also auszuwandern. Darunter auch nach Palästina.TC 15:13 – Die UN und das „Palästinaproblem“ ErzählerBis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus versucht der britische Mandatsträger, europäische Juden daran zu hindern, in Palästina einzuwandern. Dennoch ist die Zahl der illegalen Immigranten in der Zeit der NS-Diktatur hoch. Rund 75.000 schaffen es, trotz der restriktiven Politik, nach Palästina zu kommen.  MUSIK  ErzählerinAls Exempel gegen die illegale Einwanderung wird zwei Jahre nach dem Ende des Holocaust die Odyssee des Schiffes „Exodus“ weltweit bekannt. Das Schiff steuert im Juli 1947 mit über 4.000 jüdischen KZ-Überlebenden an Bord den Hafen von Haifa an. 20 Meilen vor der Küste wird die „Exodus“ von britischen Kriegsschiffen angegriffen. Die Passagiere werden im Hafen auf drei britische Gefängnisschiffe verteilt und nach Frankreich zurückgeschickt. ErzählerDort weigern sie sich, an Land zu gehen. Die Odyssee geht weiter - über Gibraltar nach Hamburg. Wo die jüdischen Flüchtlinge mit Gewalt von Bord geholt und in Lagern untergebracht werden. Gesichert mit Wachtürmen und Stacheldraht.Unter dem Druck der weltweiten Empörung kommen die Passagiere der „Exodus“ im Oktober 1947 frei. MUSIK aus ErzählerinSchon Monate vor dem Drama der „Exodus“ sieht sich die Mandatsmacht Großbritannien nicht mehr in der Lage, sowohl für den jüdischen, als auch für den arabischen Teil der Bevölkerung in Palästina eine annehmbare Lösung zu finden. Daher beschließt die britische Regierung am 14. Februar 1947, das „Palästinaproblem“ an die Vereinten Nationen zu übergeben. MUSIK ErzählerDamit übernehmen die 1945 gegründeten Vereinten Nationen als Nachfolger des Völkerbundes die Aufgabe, eine Lösung für die politische Zukunft Palästinas zu finden. Sie setzen eine Sonderkommission ein, das „United Nations Special Committee on Palestine“, kurz: UNSCOP. ErzählerinDas in seinem Bericht den Plan vorlegt, Palästina zu teilen. MUSIK aus In einen jüdischen Staat, bestehend aus 56 Prozent des Territoriums. Und einen arabischen Staat, bestehen aus 43 Prozent des Territoriums. Jerusalem mit seiner zentralen Bedeutung für Juden, Christen und Muslime soll als internationales Gebiet neutral bleiben. ErzählerAm 29.November 1947 stimmt die UN-Vollversammlung mit der Resolution 181 dafür, Palästina zu teilen und das britische Mandat aufzuheben. 11.O-Ton ( UN-Vollversammlung) ErzählerinGegen die Resolution stimmen nicht nur Afghanistan, Ägypten, Iran, Irak, Jemen, Libanon und Pakistan, sondern auch Griechenland, Indien und Kuba MUSIK ErzählerFür den Fall der Verwirklichung des Teilungsplanes kündigt die 1945 gegründete Arabische Liga bereits im Vorfeld an, militärische Maßnahmen zu ergreifen und eine „Arabische Befreiungsarmee“ aufzustellen. Unmittelbar nach dem UN-Beschluss kommt es in Palästina zu erbitterten Gefechten zwischen arabischen und jüdischen Militäreinheiten. Am 1. April 1948 beginnt der Plan Dalet. Eine Offensive der Hagana, der jüdischen Armee. Gudrun Krämer: MUSIK aus 12. O-Ton: Die Kommission der Vereinten Nationen hatte nach sorgsamer Betrachtung der Realitäten zwei Staaten vorgeschlagen, die jeweils aus nur lose miteinander verknüpften kleinen Territorien bestehen würde. Und hatte dabei der jüdischen Seite dabei mehr Land zugesprochen, als zu dieser Zeit von Juden rechtlich besessen war. Also erworben, gekauft worden war. (…) Das war natürlich konfliktträchtig. Und der Plan Dalet, Plan D., lief nun darauf hinaus, das Land, das die Vereinten Nationen den Juden zugesprochen hatte, auch tatsächlich militärisch zu kontrollieren. Also gewissermaßen im Vorgriff auf die Ausrufung des jüdischen Staates bereits Realitäten zu schaffen. Und dieses war nur möglich durch Anwendung von Gewalt. TC 19:36 – (K)eine Lösung? MUSIK ErzählerinIm Laufe der Militäroffensive kommt es am 9. April 1948 zum Massaker im arabischen Dorf Deir Yassin, bei dem 250 Menschen ermordet werden. Die meisten davon sind Frauen und Kinder. Verantwortlich für das Massaker sind die extremistischen Untergrundorganisationen Lehy und Irgun, die damit die arabische Bevölkerung einschüchtern und vertreiben wollen. Peter Lintl: MUSIK aus 13.O-Ton: Das Massaker von Deir Yassin wurde verübt von zwei Organisationen und die hatten ganz offensichtlich das Ziel, das Dorf zu säubern. Die Hagana selbst, also die Hauptverteidigungsarmee der Zionisten, hatte damit nichts zu tun und hat dieses Massaker auch verurteilt. Gleichwohl auch die Hagana hat dann in Flugblättern, die dann über Haifa abgeworfen worden sind, Andeutungen gemacht, dass es dieses Massaker gegeben hätte und hat das dann ein Stück weit instrumentalisiert. Sie wollten nicht sagen, dass sie das auch verüben, aber damit Furcht geschürt.  Umgekehrt hat der jüdische Bürgermeister von Haifa die Araber, die daraufhin geflohen sind, aufgerufen, hier zu bleiben.  MUSIK ErzählerDie radikalen Kampforganisationen „Irgun“ und „Lehi“ verüben auch Attentate gegen britische Verwaltungseinrichtungen und Politiker. Am 22. Juli 1946 sprengt ein Kommando der Gruppe „Irgun“ das „King David Hotel“ in Jerusalem in die Luft. Bei dem Sprengstoffattentat auf das Hotel, dem Sitz mehrerer Abteilungen der britischen Mandatsverwaltung, kommen 91 Menschen ums Leben. MUSIK aus ErzählerinAm 14. Mai 1948 verlässt der letzte britische Hochkommissar Sir Alan Cunningham Palästina. Einige Stunden nach dem Ende des britischen Mandats tritt der jüdische Volksrat im Stadtmuseum von Tel Aviv zusammen. Wo David Ben Gurion unter dem Porträt Theodor Herzls die Proklamation des Staates Israel verliest. 14.O-Ton (nochmal O-Ton Ben Gurion) ErzählerMit der Gründung des Staates Israels wird Theodor Herzls Vision eines jüdischen Staates in Palästina Wirklichkeit. Nur wenige Stunden nach der Proklamation erkennen die USA und die Sowjetunion den neuen Staat an. Gudrun Krämer: 15.O-Ton: Aus zionistischer Sicht war das der Erfolg, den man herbeigesehnt hatte und den man mit allen Mitteln zu verteidigen gewillt war. Wenig überraschend ist auch die Reaktion auf arabischer Seite, wo selbstverständlich die Gründung dieses Staates als Desaster empfunden wurde. Zumal er sich verband nicht mit der Gründung eines palästinensisch-arabischen Staates, sondern der Vertreibung von etwa 700.000 Arabern aus dem nun jüdischen Staat. und daher das, was man im arabischen als „Nakba“ kennt, also die Katastrophe. MUSIK ErzählerinAm Tag nach der Staatsgründung wird Israel von den umliegenden arabischen Staaten angegriffen und muss sich gegen die Armeen Ägyptens, Transjordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak zur Wehr setzen. Was mithilfe von Waffen aus dem Ausland gelingt. Der erste Nahostkrieg endet 1949 mit dem Sieg Israels. Ein Erfolg, durch den sich der noch junge Staat etabliert. MUSIK aus TC 23:14 – Outro
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May 10, 2024 • 26min

HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT - Palästinenser und die Nakba

Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. Von Claudia Steiner (BR 2024) Credits Autorin: Claudia Steiner Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger, Sebastian Fischer Technik: Miriam Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Sarah El Bulbeisi, Dr. Jan Busse, Prof. Eckart Woertz   Ein besonderer Linktipp der Redaktion: BR24: Lost in Nahost – Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Der Konflikt im Nahen Osten ist kompliziert. Es ist schwer den Überblick zu behalten. Was werfen die gegnerischen Seiten einander vor? Warum wird so hart gekämpft? In diesem Podcast haben die Korrespondentinnen und Korrespondenten der ARD aus dem Studio Tel Aviv zusammen mit Fachleuten aktuelle Fragen beantwortet, erklärt und eingeordnet. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:26 – Wie alles begannTC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung?TC 06:55 – Tabu, Trauma & IdentitätTC 10:51 – Die Folgen der VertreibungTC 15:34 – Im GazastreifenTC 20:52 - WendepunkteTC 24:30 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche) SPRECHERIN Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beschäftigt die Welt seit Jahrzehnten. Es ist ein Konflikt, mit dem sich die Vereinten Nationen und viele Staats- und Regierungschefs befasst haben – immer wieder. Es gab verschiedene Ideen und Ansätze. Doch eine Lösung wurde bisher nicht gefunden. ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche) SPRECHERINDer Staat Palästina wurde 1988 formal proklamiert. Bis heute ist er von 139 Staaten anerkannt. Viele arabisch-sprechende Länder, aber auch Russland, große Teile Afrikas und Südamerikas, aber auch Schweden kennen den Staat Palästina an - die USA, Frankreich oder auch Deutschland nicht. Doch wer sind die Palästinenser? Was fordern sie? Und was bedeutet dieser Konflikt mit Israel für das Leben der Menschen im Gazastreifen, im Westjordanland, in den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten oder im Exil in anderen Ländern? Die Lebenswirklichkeiten der Palästinenser unterscheiden sich – je nachdem wo sie ansässig sind - teils stark; und damit auch ihre Probleme und Ängste. Was viele eint, ist das Trauma der Nakba, also die Flucht und Vertreibung im Jahr 1948 und die Hoffnung, wieder in ihre Dörfer und Städte zurückkehren zu können.  MUSIK (z.B. Dabke-Tanz/Musik) SPRECHERINDie historische Region Palästina bezeichnet ein Gebiet an der südöstlichen Mittelmeerküste. In der Region herrschten unter anderem Philister, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Römer, Byzantiner, verschiedene arabische Dynastien und die Osmanen. Seit dem späten 7. Jahrhundert lebten dort Juden, Christen und Muslime. Ebenso wie Israelis verweisen Palästinenser auf biblische Vorläufer, sagt der Politologe Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München. O-TON 1 (Busse, 1.04) Also man beruft sich bei den Palästinensern ein Stück weit auf die Philister und sieht da auch eine sprachliche Nähe zu dem Begriff Palästinenser, ein Stück weit vielleicht auch zu den Kanaanitern, aber natürlich auch zu den großen arabischen Dynastien, den Umayyaden, Abbasiden, Fatimiden. (…) Aber ich glaube, entscheidend ist vielmehr diese Idee eines Nationalbewusstseins als modernes Phänomen. TC 02:26 – Wie alles begann MUSIK SPRECHERINIm Jahr 1834 kam es im Osmanischen Reich zu einem Bauernaufstand, der sich gegen die Wehrpflicht und Steuerpolitik richtete. Manche Historiker betrachten diesen Aufstand als Geburtsstunde des palästinensischen Nationalismus. Andere sprechen erst gegen Ende des 19. beziehungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer nationalen Identität der Palästinenser. O-TON 2 (Busse, 2.20) Und die Soziologie hat es sehr gut gezeigt: Identitäten bilden sich eigentlich immer in Abgrenzung zu einem Gegenüber und vor dem Hintergrund – das gilt für beide Gruppen, für Israelis und Palästinenser - spielt eben dieses Andere, dieses Gegenüber da eine ganz zentrale Rolle. SPRECHERINIm Ersten Weltkrieg eroberten britische Truppen Palästina – das Land wurde britisches Mandatsgebiet. 1882 waren noch mehr als 96 Prozent der Bevölkerung arabisch beziehungsweise palästinensisch. Juden machten nur etwas mehr als drei Prozent aus. Seit Ende des 19. Jahrhundert nahm die jüdische Zuwanderung zu – der in Europa entstehende politische Zionismus hatte das Ziel, einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Angesichts der Verfolgung in Europa wanderten schließlich immer mehr Juden ins biblische „Heilige Land“ ein. 1931 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung bereits 16 Prozent, 1946 dann 31 Prozent. Dies führte zu blutigen Zusammenstößen und Aufständen – die Gewalt ging von beiden Seiten aus: O-TON 3 (Busse, 7.52) Die britische Mandatsverwaltung hat selbst in den 30er-Jahren schon Teilungspläne vorgeschlagen, weil sie eben gemerkt hat, dass das eine Lösung darstellen könnte, weil es eben immer wieder zu Spannungen zwischen der damaligen arabischen und jüdischen Bevölkerung kam. TC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung? MUSIK SPRECHERINUm die aufgeheizte Stimmung in den Griff zu bekommen, schränkte die britische Besatzung den Zuzug von Juden ein – zu einer Zeit, in der die Verfolgung von Juden in Deutschland unter der NSDAP immer weiter zunahm. Doch Unmut richtete sich nun nicht nur gegen die jeweils andere Bevölkerungsgruppe, sondern auch gegen die britische Besatzung. Sowohl Araber als auch Juden nahmen die Briten als Besatzungsmacht wahr, die den eigenen nationalen Bestrebungen im Weg standen. Die Briten bekamen den Konflikt nicht unter Kontrolle und wollten die Verantwortung für das Mandat abgeben, auch wegen der Kosten. Sie baten deshalb die 1945 neu gegründeten Vereinten Nationen um Hilfe. Ein UN-Sonderausschuss erarbeitete einen Lösungsvorschlag. Im November 1947 verabschiedete die UN-Generalversammlung einen Teilungsplan. In der Resolution 181 (II) hieß es. Die Generalversammlung… ZITATOR…empfiehlt dem Vereinigten Königreich als der Mandatsmacht für Palästina und allen anderen Mitgliedern der Vereinten Nationen hinsichtlich der künftigen Regierung Palästinas die Verabschiedung und Durchführung des nachstehend dargelegten Teilungsplans mit Wirtschaftsunion… SPRECHERIN33 Staaten stimmten für die Resolution, 13 dagegen, unter ihnen mehrere arabische Staaten. Es gab zehn Enthaltungen. Der Plan sah eine Teilung des Gebiets vor, sagt Jan Busse. Doch: O-TON 4 (Busse, 6.02) Das Problem war allerdings, dass eben 56 Prozent dieses Staates einem jüdischen Staat zugeschlagen werden sollten und 43 Prozent einem arabischen, wohingegen das Bevölkerungsverhältnis so aussah, dass wir 70 Prozent Araber hatten und 30 Prozent Juden. Und vor dem Hintergrund lehnte die arabische Seite diesen Plan ab und war nicht zu einer Teilung bereit, was ihr teilweise bis heute vorgeworfen wird, wohingegen die Vertreter des politischen Zionismus auf jüdischer Seite diesen Plan eben zugestimmt haben. SPRECHERINOffiziell zumindest, tatsächlich spekulierte die jüdische Seite auch auf Gebiete, die laut UN-Plan der arabischen Seite zustanden, sagt Professor Eckart Woertz. Er ist Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg. O-TON 5 (Woertz, 7.22) Wir wissen aus Hintergrundgesprächen, Tagebuchnotizen und so weiter vom israelischen Staatsgründer Ben-Gurion, dass das Verständnis auf israelischer Seite war: Na ja, jetzt akzeptieren wir das erst mal. Danach können wir immer noch vielleicht irgendwie expandieren. TC 06:55 – Tabu, Trauma & Identität SPRECHERINAm 14. Mai 1948 verließen die letzten britischen Truppen Palästina. Der designierte Ministerpräsident David Ben-Gurion rief den Staat Israel aus. Schon in der darauffolgenden Nacht griffen Ägypten, Transjordanien, Syrien, der Libanon und der Irak Israel an. Das israelische Militär bestand aus Kämpfern aus Untergrundorganisationen und Freiwilligen. Dieser Krieg ging mit zwei Namen in die Geschichte ein: Für Juden ist es der Unabhängigkeitskrieg, für Araber die Nakba, die Katastrophe. Israelische Einheiten eroberten im Laufe des Kriegs etwa 40 Prozent des Gebiets, das laut UN-Teilungsplan der arabischen Bevölkerung zustand. Viele arabische Dörfer und Städte wurden zerstört. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen etwa 700.000 Palästinenser, die palästinensische Seite nennt höhere Zahlen. Die Menschen flüchteten unter anderem in den Libanon, nach Syrien, nach Jordanien, wo heute rund die Hälfte der Bevölkerung palästinensische Wurzeln hat, ins Westjordanland und in den Gazastreifen. ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche) SPRECHERINEs folgten zahlreiche weitere militärische Konflikte: 1967 kam es zum Sechstagekrieg. Israel reagierte auf eine Bedrohungslage durch Ägypten, Jordanien und Syrien mit einem Präventivschlag gegen die Luftwaffenbasen seiner Nachbarstaaten. Israel eroberte im Zuge des Kriegs das Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem, den Gazastreifen, Teile der Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Erneut flüchteten Hunderttausende Palästinenser, zum Teil auch, weil ihr Land annektiert und ihnen damit ihre Lebensgrundlage entzogen wurde. Diejenigen, die blieben, lebten nun im Westjordanland, in Jerusalem und im Gazastreifen unter israelischer Besatzung und Militärverwaltung. Sarah El Bulbeisi vom Orient-Institut in Beirut spricht von einem kollektiven Trauma. Die Wissenschaftlerin, deren Familienangehörige im Gazastreifen leben, promovierte zum Thema Tabu, Trauma und Identität von Palästinensern in Deutschland und der Schweiz. O-TON 6 (Bulbeisi, 3.57) Mittlerweile verstehen Palästinenserinnen unter Nakba eben nicht nur diese Massenvertreibungen von 1947, 48, sondern die Vertreibungen, die bis heute andauern, also auch die Vertreibungen zur Zeit des Kriegs (…) 1967, die Vertreibungen, die im Zuge der Besatzung erfolgten, wo wieder mehrere Hunderttausend Palästinenser vertrieben wurden. (…)  Aber mittlerweile verstehen Palästinenser unter Nakba auch die Vertreibung, deren Zeugen wir heute sind, die Vertreibungen, die im Zuge des Gazakriegs, die 2023 und 2024 erfolgen. SPRECHERINGemeint ist die jüngste Flucht der Menschen im abgeriegelten Gazastreifen vom Norden in den Süden nach dem brutalen Angriff der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Nach israelischen Angaben wurden mehr als 1.200 Menschen getötet, mehr als 2.700 verletzt. Es gab Vergewaltigungen and andere Gräueltaten. Mehr als 250 Geiseln wurden verschleppt. Auf diesen Angriff reagierte Israel mit einem Gegenangriff. Nach Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza sind bei diesen Militäraktionen mit Stand Anfang April mehr als 33.000 Menschen getötet worden, knapp 76.000 Menschen wurden verletzt, und tausende Opfer, die noch nicht geborgen werden konnten, werden unter den Trümmern vermutet. Das palästinensische Gesundheitsministerium wird von der Hamas geführt, die Vereinten Nationen erachten aber die Zahlen als weitgehend richtig. TC 10:51 – Die Folgen der Vertreibung SPRECHERINViele Palästinenser kennen die Geschichte der Vertreibung aus Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern. Viele jüngere Menschen mussten selbst schon fliehen oder wurden vertrieben. Die Folgen dieser Fluchterfahrungen seien verheerend, betont Sarah El Bulbeisi. O-TON 7 (Bulbeisi, 8.49)  Also Vertreibung ist eigentlich nur eine Hälfte der Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung dieser Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung der (…) systematischen Vertreibung ist eigentlich das, was mindestens so prägend ist. Und wir wissen auch aus der Traumaforschung, dass Trauma nicht einfach ein einzelnes Ereignis ist, dass Trauma immer ein Prozess ist, und es ist essenziell, wie Gesellschaft, wie die Umwelt auf Gewalterfahrung reagiert. Und im palästinensischen Kontext war es eben so, dass diese Gewalterfahrung negiert und einem aberkannt wurde und diese Tabuisierung der palästinensischen Gewalterfahrung, die hat dazu geführt, dass Menschen, ganze Biografien (…) zerbrochen sind an diesem Gefühl, eigentlich keine Menschen zu sein. SPRECHERINDas Trauma der Vertreibung beeinflusst das Leben vieler Palästinenser, in den besetzten Gebieten, aber auch in der Diaspora. Viele hegen den Wunsch auf Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren, betont Eckart Woertz. O-TON 9 (Woertz, 19.02) Selbst Kinder, die die Abstammungsregionen ihrer Eltern nie kennengelernt haben, sprechen dann von ihrem Heimatdorf, das da und da war und jetzt halt im heutigen israelischen Kernland ist. Also auch diese Vision, dass man da vielleicht noch einmal zurückkehren kann, das - denke ich - auch in einer Zwei-Staaten-Lösung so nicht realisierbar ist. Das ist, glaube ich, eine Pille, die die Palästinenser werden schlucken müssen, dass es ein Rückkehrrecht so nicht geben wird. Aber klar, das ist ganz klar ein Sehnsuchtsort auch für Palästinenser in der Diaspora. MUSIK SPRECHERINAls Folge der ersten großen Vertreibung wurde Ende 1949 das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, gegründet. Die Organisation soll palästinensischen Flüchtlingen Hilfe und Schutz gewähren. Eckart Woertz: O-TON 10 (Woertz, 21.07) Das UNRWA, das Hilfswerk speziell für die Palästinenser (…) ist ein ganz wichtiger Dienstleistungsfaktor in den palästinensischen Gebieten, von Nahrungsmittellieferung bis zum Schulwesen und so weiter. Wird hier auch von Israel kritisiert, dass die sagen: Da wird so ein Flüchtlingsstatus,- sagen wir mal - verewigt, weil, das gilt ja normalerweise nur für Leute, die diese Fluchterfahrung noch haben. SPRECHERINBeim Palästinenserflüchtlingshilfswerk UNRWA sind 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge registriert. Sie nehmen völkerrechtlich eine Sonderstellung ein: Nur den palästinensischen Flüchtlingen der ersten Vertreibung wird der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Status wird aber auf Nachkommen vererbt. UNRWA kümmert sich um die Versorgung von registrierten Palästina-Flüchtlingen im Gazastreifen, im Westjordanland, Jordanien, Syrien und im Libanon. Weil sich mehrere Mitarbeiter des Hilfswerks am Angriff gegen Israel am 7. Oktober beteiligt haben sollen, gab es zuletzt scharfe Kritik an der UNRWA. MUSIK SPRECHERINViele UNRWA-Flüchtlinge und Palästinenser sind staatenlos. Das heißt: Sie können nicht eingebürgert werden, nicht arbeiten, nicht reisen. In Deutschland können sie zum Beispiel auch kein Asyl beantragen. Sie werden nur geduldet. Auch die Tatsache, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation 1988 einen unabhängigen palästinensischen Staat ausrief, ändert daran nichts, denn Berlin hat zwar ein Vertretungsbüro in Ramallah, erkennt Palästina aber nicht als unabhängigen Staat an. Weltweit gibt es etwa 14,5 Millionen Palästinenser, davon etwa fünfeinhalb Millionen im Westjordanland und im Gazastreifen. Viele Palästinenser leben zudem in Golfstaaten, in Mitteleuropa, in Nordamerika oder auch in Chile. Jan Busse: O-TON 11 (Busse, 3.16) Und dann gibt es natürlich auch noch knapp zwei Millionen arabische Israelis, also Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft und auch einen Teil in Ost-Jerusalem, was unter israelischer Kontrolle ist. TC 15:34 – Im Gazastreifen SPRECHERINIm Gazastreifen, dem Küstenstreifen, dessen Grenzen von Israel und Ägypten kontrolliert werden, war die Lebenssituation der Menschen schon vor dem 7. Oktober 2023 schwierig. Nach Angaben der Weltbank waren dort rund die Hälfte der Menschen arbeitslos, mehr als zwei Drittel von Hilfslieferungen abhängig: Als Folge der israelischen Angriffe auf die Hamas im Gazastreifen liegen inzwischen weite Teile des Küstenstreifens in Trümmern. Auch im Westjordanland gibt es seit langem starke Einschränkungen. Jan Busse: O-TON 12 (Busse, 19.44) Es ist im Grunde so, dass das Leben im Westjordanland geprägt ist dadurch, dass es eben die israelische Besatzung gibt und die Präsenz von inzwischen, wenn man Ost-Jerusalem mitzählt, 700.000 Siedlerinnen und Siedlern. Das sorgt dafür, dass die Menschen dort mit einer extremen Unsicherheit konfrontiert sind, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen von militanten Siedlern, die teilweise Olivenbäume zerstören oder auch gewalttätig Personen angreifen. SPRECHERIN Zudem ist im Westjordanland die Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv eingeschränkt, es gibt zahlreiche Kontrollpunkte. Viele Ortschaften sind abgeriegelt. 2016 bezeichnete der UN-Sicherheitsrat den Siedlungsbau als Verletzung des internationalen Rechts und forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Die Einflussmöglichkeiten der palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung sind begrenzt. Abbas, Nachfolger des einst populären ersten Palästinenser-Präsidenten Jassir Arafat, wird von vielen Palästinensern als kraftlos angesehen. Hinzu kommt, dass der Autonomiebehörde Korruption vorgeworden wird. Die Zustimmungswerte für Abbas waren 2023 Umfragen zufolge auf einem Tiefpunkt, zugleich stiegen die Zustimmungswerte für die Hamas. Die aus der Muslimbruderschaft entstandene Hamas verwaltet seit den Parlamentswahlen 2006 den Gazastreifen. 2007 kam es zum Bruch zwischen Hamas und Fatah, die Hamas riss in einer gewaltsamen Konfrontation die Macht an sich. Von der Europäischen Union und den USA wird die Hamas, die immer wieder Anschläge auf Zivilisten verübt und die Vernichtung Israels zum Ziel hat, als Terrororganisation eingestuft. Demokratisch legitimiert waren zuletzt weder die Hamas, noch die Fatah. Neuwahlen wurde zwar mehrmals angekündigt, fanden jedoch wegen Streitigkeiten zwischen beiden Seiten nicht statt. O-TON 13 (Busse, 21.50) Und wenn man sich dann vor Augen führt, dass im Gazastreifen rund die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist, dann hat niemand von denen jemals die Hamas wählen können oder auch abwählen können. Diese Menschen konnten den Gazastreifen nie verlassen, weil es seit dieser Blockade kaum möglich ist, und haben dafür aber tatsächlich mehrere Kriege schon miterlebt seit dieser Zeit 2008, 2009, 2012, 2014, 2022 und eben auch jetzt. SPRECHERINVertreibung, Flucht, Krieg, Gewalt – dies könnte zu einer weiteren Radikalisierung führen, befürchten Experten wie Jan Busse. O-TON 14 (Busse, 23.19) Ich denke, dass die Tatsache, dass der aktuelle Krieg, den Israel im Gazastreifen führt, mit der massiven Zerstörung, die dort stattfindet, sicherlich perspektivisch dazu führen wird, dass es eben alles andere als ein De-Radikalisierungsprogramm ist. Es gibt unzählige, es gibt Tausende Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Es gibt zahlreiche Menschen, die Familienangehörige verloren haben, die ihr Zuhause verloren haben. Und ich befürchte, dass das sicherlich die Grundlage sein könnte, dass sich in Zukunft mehr Menschen radikalen-bewaffneten Gruppen anschließen werden. SPRECHERINViele Palästinenser werfen dem Westen vor, dass er sich nicht kümmert. Sie fühlen sich allein gelassen und vergessen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International kritisieren die israelische Politik: Amnesty legte 2022 einen Bericht vor, in dem die Menschenrechtsorganisation Israel vorwarf, an den Palästinenserinnen und Palästinensern Apartheid zu verüben und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Die israelische Regierung wies den Bericht als – Zitat - „falsch, einseitig und antisemitisch“ zurück. Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik empfahl damals: ZITATOR Die Bundesregierung sollte sich den Apartheid-Vorwurf vor einer sorgfältigen Prüfung durch die zuständigen Organe weder zu eigen machen noch ihn abtun. Sie sollte den AI-Bericht aber als Weckruf verstehen, gravierende Menschenrechts¬verletzungen nicht länger als eine Normalität hinzunehmen, und die andauernde Be¬satzung nicht als einen Zustand zu betrach¬ten, der losgelöst von einem „demokrati¬schen Israel“ existiert. SPRECHERINInzwischen ist auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag involviert. Das Gericht muss entscheiden, ob der palästinensische Vorwurf zutrifft, dass Israel in den besetzten Gebieten eine Form von Apartheid praktiziere. Das Gutachten steht noch aus. TC 20:52 - Wendepunkte MUSIK SPRECHERINDie Lage seit dem 7. Oktober 2023 erscheint aussichtslos – in den 1990er Jahren hatte es zeitweise berechtigte Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung und Frieden gegeben. In der Präambel des Abkommen Oslo I erkannte die PLO das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967, also nach dem Sechstagekrieg, an und Israel akzeptierte die PLO als Vertreter des palästinensischen Volkes. Für die Friedensverhandlungen erhielten PLO-Chef Jassir Arafat, Israels Außenminister Shimon Peres und Premier Jitzchak Rabin 1994 gemeinsam den Friedensnobelpreis. Doch die Gründung eines palästinensischen Staates scheiterte. O-TON 15 (Busse, 9.45)Die Rahmenbedingungen dafür waren tatsächlich sehr, sehr schlecht. Und das lag vor allem daran, dass es eben auf beiden Seiten auch Akteure gab, die diesen Oslo-Friedensprozess abgelehnt haben. Auf palästinensischer Seite ist allen voran sicherlich die Hamas und ähnliche Akteure zu nennen, die unter anderem durch Selbstmordattentate auch versucht haben, diesen Friedensprozess zu sabotieren. Auf israelischer Seite wurde der Siedlungsbau unvermindert fortgesetzt, also zwischen 1992 und 2000, also eigentlich dieser Oslo-Phase ungefähr, hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland verdoppelt, gleichzeitig gab es auch dort radikale Kräfte. Der Oppositionspolitiker Netanjahu hat damals sehr stark gegen den Premierminister Rabin gehetzt und ein rechtsextremer, ein jüdischer Attentäter hat Itzhak Rabin dann auch ermordet. SPRECHERINNach Oslo I und Oslo II 1995, das unter anderem den gestaffelten Rückzug israelischer Streitkräfte aus palästinensischen Regionen vorsah, gab es mehrere Anläufe, den Friedensprozess wiederzubeleben und mindestens ebenso viele Rückschläge. Die rechts-religiöse Koalition des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu legte 2022 im Regierungsprogramm ein – Zitat – „exklusives und unveräußerliches Recht des jüdischen Volkes auf das ganze Land“ fest. Die radikale Hamas fordert ein Palästina „From the river to the sea“ – also vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer - und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage. Derzeit ist keine Lösung in Sicht, allerdings gab es in der Geschichte des Nahost-Konflikts schon oft beachtliche Wendungen. Jan Busse: O-TON 16 (Busse, 15.33) Ich glaube, es ist auch wichtig, die Hamas nicht als Blackbox zu behandeln, sondern sich auch vor Augen zu führen, dass es dort Hardliner gibt. Das sind diejenigen aus meiner Sicht, die eben hauptverantwortlich sind, auch für das Attentat vom 7. Oktober, aber eben auch potenziell Kräfte vorhanden sein könnten, die irgendwann mal einen gewissen Wandel einleiten könnten. Denn letzten Endes: Jassir Arafat ist ursprünglich als Terrorist aktiv gewesen, hat später den Friedensnobelpreis gekriegt. MUSIK SPRECHERINEine vergleichbare Wandlung gab es auch bei dem israelischen Politiker Menachem Begin, der von 1977 bis 1983 Ministerpräsident war. O-TON 17 (Weiter) Der hat den Friedensnobelpreis gekriegt für den Frieden mit Ägypten und die britische Mandatsmacht hat ihn Ende der 40er-Jahre noch als Terroristen steckbrieflich gesucht. Also so schnell kann sich da auch einen Wandel im Laufe der Jahrzehnte einziehen, auch wenn das momentan sicherlich schwer vorstellbar ist. MUSIK TC 24:30 – Outro
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Apr 29, 2024 • 35min

KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Folge 3: Cinzia

Cinzia schafft es kaum noch, sich auf den Beinen zu halten. Drei Stunden Schlaf, mehr sind nicht drin. So beschreibt die Teenagerin ihre Arbeit auf dem Campingplatz. Dabei darf sie laut Gesetz noch gar nicht arbeiten - weil sie zu jung ist. Sie ist eine von ca. 336.000 Minderjährigen, die arbeiten müssen. Nicht vor langer Zeit, sondern heute. In unserem Nachbarland Italien. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab. Credits Autorin: Paula Lochte Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Kathrin von Steinburg, Marie Jensen Technik: Roland Böhm Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram Besondere Linktipps der Redaktion: ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945 Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM. BR24: Die Entscheidung. Politik, die uns bis heute prägt. Wir haben "1 Thema, 3 Köpfe" weiterentwickelt! Neuer Name, neuer Zuschnitt, noch mehr Tiefe: Es gibt politische Entscheidungen, die unser Leben heute massiv beeinflussen. Wir wollen die Gegenwart verstehen und kehren deshalb mit euch zu diesen Entscheidungen zurück. Was ist damals passiert? Warum? Zusammen mit Expertinnen und Experten und Leuten, die wirklich dabei waren, puzzeln wir die wichtigsten Bausteine zusammen und klären, welche Folgen das Ganze bis heute für uns hat. Jeden Monatsanfang ein aktuelles Thema, tief diskutiert über mehrere Folgen. Hier geht’s zum PODCAST. Linktipps: radioReportage (2023): Mangel an Arbeitskräften – Rückkehr der Kinderarbeit in den USA Zu viel Arbeit für zu wenige Menschen. In vielen Ländern fehlen Arbeitskräfte - auch in den USA. Dort gehen einige Bundesstaaten deshalb einen umstrittenen Weg: Sie setzen darauf, dass Minderjährige mehr arbeiten und haben deshalb die Regeln gelockert. Kinderschützer schlagen Alarm. Sie warnen, dass vor allem junge Migranten ausgenutzt werden. Hier geht’s zur RADIOREPORTAGE. Save the Children (2023): It’s not a game – Save the Children’s Survey on Child Labour in Italy Die englische Zusammenfassung der Erhebung der Kinderrechtsorganisation Save the Children zur Kinderarbeit in Italien. Hier geht’s zu den ERGEBNISSEN. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:37 – Arbeiten wo andere Urlaub machenTC 09:57 – Es geht bergabTC 15:08 – Moderne Sklaverei für Kartoffeln und SalatTC 24:16 – Steckt’s in unserer Kultur?TC 28:52 – Raus aus dem TeufelskreisTC 32:32 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Autorin Sie schafft es kaum, sich auf den Beinen zu halten. Denn sie hat nur drei Stunden geschlafen. Wie gestern. Vorgestern. Und in den Nächten davor. Sie muss die Wasserflaschen in den Minimarkt tragen. Die Regale einräumen. Geputzt hat sie auch noch nicht. Aber die 12-Jährige ist so müde! Also schleppt sie sich zu einer der Liegen auf dem Campingplatz. Behält ihre Turnschuhe vielleicht einfach an. Nur kurz mal hinlegen, dann wird es wieder gehen. Der Chef ist ohnehin noch nicht da, der kommt meistens später. Der 12-Jährigen fallen die Augen zu. Vielleicht hört sie das Meer rauschen, vielleicht träumt sie längst. Über dem Küstenstädtchen Scalea im Süden Italiens färbt sich der Himmel hell ein. Wie viel Zeit ist vergangen? Eine halbe Stunde? Cinzia schreckt hoch. Und schaut direkt in die Augen ihres Chefs. MUSIK Autorin Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Das alles ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“. ZSP 01 Collage Ausschnitt Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), News: Federal Records described teens suffering injuries from chemical burns then going to school and falling asleep in class.Ines Kämpfer: Die Zahlen haben sich in den letzten paar Jahren wieder verschlechtert, das ist eine Entwicklung, die wir ganz klar in den USA sehen können, aber auch in europäischen Ländern. Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich – Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Ines Kämpfer: Wir müssen einen Weg finden, dass die Kinder wirklich zur Schule gehen können und nicht die ganze Familie die ganze Zeit arbeiten mussAusschnitt  Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), Gewerkschafter, bereits overvoiced: Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnenInes Kämpfer: Es ist wirklich ein Teufelskreis. Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen. Autorin Das ist Folge 3: Cinzia und der CampingplatzTC 02:37 – Arbeiten wo andere Urlaub machen ZSP 32a SPR 4 OV weiblich, jugendlich CinziaMein Name ist Cinzia. Ich bin 17 Jahre alt. Autorin Cinzia hat richtig lange braune Locken. Die gehen ihr bis zur Hüfte. ZSP 32b SPR 4 OV weiblich, jugendlich CinziaZum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13, auf einem Campingplatz.Autorin Einem Campingplatz in Kalabrien: ganz im Süden, am Fußrücken vom italienischen Stiefel, in der 11.000-Einwohner-Stadt Scalea. Die liegt direkt am Meer, umgeben von Bergen. Und ist genau so, wie man sich ein italienisches Küstenstädtchen ausmalt: Am Strand stehen die Liegen, die man mieten kann, dicht an dicht und es gibt eine mittelalterliche Altstadt mit sandfarbenen Häusern und kleinen Gassen, die sich einen Hügel hochschlängeln. Scalea ist ein beliebter Urlaubsort. Aber dort, wo wir unseren Urlaub verbringen, müssen Jungen und Mädchen wie Cinzia arbeiten. Nicht irgendwann mal vor hundert Jahren, sondern jetzt:  ZSP 32c SPR 4 OV weiblich, jugendlich CinziaIch habe in der Strandbar Kaffee gemacht. Und auf dem Campingplatz gab es eine Art Supermarkt. Dort habe ich in den Schulferien Regale eingeräumt, die Wasserflaschen reingetragen. Ich habe geputzt... Ich war das Mädchen für alles. Die Atmosphäre war sehr angespannt. Und es war anstrengend, ich war ja erst zwölf Jahre alt und habe pro Nacht nur drei Stunden geschlafen. Autorin Drei Stunden Schlaf, bevor es wieder zurück an die Arbeit geht. Für ein Kind!  Was klingt wie ein extremer Einzelfall, ist in Wahrheit nur ein Beispiel von vielen: ZSP 33 Collage Italien Sprecher  OV ANTONIO: Ich habe mit 14 begonnen, auf dem Bau zu arbeiten. Sprecherin OV MICHAEL: Mit 13 bin ich in die Hotellerie. Sprecherin OV KELLNERIN: Ich habe einen Schusswechsel miterlebt, Schlägereien und Streit, weil ich nachts in einer Bar gearbeitet habe. Sprecher, OV ANTONIO: Ich war von neun Uhr morgens bis abends um acht auf der Baustelle. Für 20 Euro am Tag. Sprecherin, OV KELLNERIN: 14 Stunden am Stück habe ich gearbeitet. Das kam mir endlos vor. Bis auf eine kleine Essenpause stand ich die ganze Zeit hinterm Bartresen. Sprecher, OV VALENTINO*: Mich hat mal ein Obstverkäufer angesprochen und gefragt, ob ich für ihn arbeiten will. Für sechs Stunden Arbeit auf dem Markt habe ich insgesamt 10 oder 15 Euro bekommen. Autorin Das berichten Jugendliche in Italien, in Video-Interviews von Save the Children, der größten nichtstaatlichen Kinderrechtsorganisation weltweit. Im Jahr 2023 hat Save the Children eine Erhebung zu Kinderarbeit in Italien gemacht – und schätzt: 336.000 Kinder zwischen sieben und 15 Jahren haben Kinderarbeit erlebt. Ein Fünftel der 14- bis 15-Jährigen arbeite oder habe gearbeitet, noch vor dem gesetzlichen Mindestalter. Das liegt in Italien bei 16 Jahren. Und fast 30 Prozent dieser Jugendlichen würden unter Bedingungen arbeiten, die ihnen besonders schaden. Das heißt zum Beispiel nachts, oder wenn sie eigentlich zur Schule gehen sollten. Oder sie müssen körperlich anstrengende und gefährliche Aufgaben übernehmen: ZSP 34a Sprecher Auf der Baustelle ist einer der anderen Jungen vom Gerüst gefallen. … Autorin … erzählt beispielsweise ein junger Migrant aus Tunesien. ZSP 34b SprecherIch bin weggelaufen, denn wenn hier in Italien der Krankenwagen kommt, müssen die eine ordentliche Meldung machen an die Behörden. Weil der Junge ohne Vertrag gearbeitet hat. Autorin Genau wie er selbst. Oder wie Cinzia auf dem Campingplatz: ZSP 35 Cinzia - Cinzia, OV: Ich bin mit meiner Mutter arbeiten gegangen, die hat dort gearbeitet, also hat sie mich mitgenommen.-Nachfrage, OV: Sie wurde bezahlt?-Cinzia, OV: Ja, und ich bin mit, um ihr zu helfen. Also habe ich selbst keinen richtigen Lohn bekommen, halt manchmal ein bisschen was. Autorin Die zweite Stimme, die hier zu hören ist, gehört auch einer Jugendlichen. Die führt das Interview, im Rahmen eines Videoprojekts von Save the Children. Ich hätte gern selbst mit Cinzia und anderen Betroffenen gesprochen. Aber das war nicht möglich – um sie zu schützen. Denn die NGO will generell keine Medieninterviews mit arbeitenden Kindern und Jugendlichen vermitteln, weil die Folgen verheerend sein können: Die Arbeitgeber könnten die Kinder und ihre Familien unter Druck setzen. Viele sind eingewandert und haben keinen gesicherten Aufenthaltsstatus. Und manche der Kinder und Jugendlichen haben so Schlimmes erlebt, dass sie traumatisiert sind.  Save the Children hat mir aber das Videomaterial zur Verfügung gestellt, 40 Interviews, die Jugendliche in Scalea, Turin, Palermo und Rom mit Betroffenen aufgezeichnet haben. Die Interviewten sind anonymisiert: Wir erfahren nur ihre Vornamen. Manche sind auch so gefilmt, dass ihr Gesicht nicht erkennbar ist. Cinzia hingegen spricht meist direkt in die Kamera: ZSP 36a SPR 4 weiblich, jugendlich Cinzia Ich musste Non-Stop arbeiten. Ich habe von morgens bis abends gearbeitet, drei Stunden geschlafen, dann ging es wieder los. Körperlich war ich am Ende. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Autorin Manchmal beginnt Cinzia schon um fünf Uhr morgens mit der Arbeit auf dem Campingplatz. Manchmal ist sie erst weit nach Mitternacht fertig. An einem Morgen ist sie so müde, dass sie denkt, sie kippt gleich um: ZSP 36b CinziaMorgens, als ich am Campingplatz angekommen bin, war ich noch todmüde. Also habe ich mir eine Standliege geschnappt und mich hingelegt. Unser Chef kam sowieso immer erst später…Autorin Das ist der Moment vom Anfang dieser Folge. An diesem Morgen kommt der Inhaber doch früher:ZSP 36c Cinzia… Und ich weiß noch, wie er mich zusammengeschissen hat, weil er mich schlafend auf der Liege erwischt hat, weil ich eine halbe Stunde ein Nickerchen gemacht habe. Autorin Am liebsten würde ich mich vor Cinzia stellen und zurückstänkern: Er bricht hier Gesetze, er lässt ein zwölfjähriges Mädchen für sich arbeiten! Ohne Pausen oder genug Schlaf. Und dann spielt er sich auf, weil sie nicht mehr kann? MUSIKAutorin EU-weit gilt: Wer arbeitet, muss mindestens 15 Jahre alt sein. Da gibt es nur ganz wenige Ausnahmen, zum Beispiel in den Bereichen Kunst oder Sport. Beides war hier nicht der Fall. Auch in den Schulferien sind acht Stunden Arbeit pro Tag das Maximum. Cinzia musste mehr als doppelt so lang arbeiten! Und dann ja auch noch nachts. Das ist in dieser Form in EU-Ländern erst für Volljährige erlaubt. Immerhin: Nach einem Monat ist der Spuk vorbei. Cinzia geht wieder zur Schule und kehrt nie mehr auf den Campingplatz zurück. Sie wird zwar auch danach noch neben der Schule arbeiten, aber nur dort, wo man sie besser behandelt. Schwerer haben es da die vielen Kinder und Jugendlichen, die bei ihren eigenen Familien arbeiten müssen. Die können nicht einfach sagen: „Ich gehe.“ Wie zum Beispiel dieses 15-jährige Mädchen aus Rom, das anonym bleiben will:MUSIKTC 09:57 – Es geht bergab ZSP 37a Anonymes MädchenIch habe als Kellnerin in unserem Familienlokal gearbeitet. Nicht für mich, sondern um meiner Familie zu helfen. Autorin Das sagen viele Betroffene. Dass sie durch die Arbeit die Geldnot ihrer Eltern lindern und den Betrieb der Familie unterstützen wollen. Aber wer unterstützt die Kinder? Insbesondere Mädchen laufen Gefahr, bei der Arbeit Opfer sexueller Belästigung zu werden, gerade in Restaurants und Bars: ZSP 37b Anonymes Mädchen Einmal, als ich die Flaschen von den Tischen abgeräumt habe, hat mich plötzlich einer der Gäste angegrapscht. Mein Onkel hat ihm gesagt. „Nein!“. Und meinte dann zu mir, naja, das kann passieren, der hat ein bisschen zu viel getrunken. Für mich war das aber eine Grenzüberschreitung. Ich bin dankbar, dass mein Onkel da war und dem ein Ende bereitet hat. Ich habe auch gar kein Wort dafür, was da passiert ist. (Seufzt) Das war so respektlos. MUSIK Autorin Die meisten Kinder und Jugendlichen in Italien arbeiten, wie das eben gehörte Mädchen, in der Gastronomie, über ein Viertel. Gefolgt von der Arbeit in Geschäften, auf dem Feld oder der Baustelle. So das Ergebnis der Erhebung von Save the Children. Weil es keine offiziellen Zahlen zu Kinderarbeit in Italien gibt, hat die NGO selbst über 2.000 Kinder und Jugendliche befragt, in einer repräsentativen Stichprobe. Und ergänzend die Erfahrungen von Sozialarbeitern, Lehrerinnen und Sozialdiensten erhoben. ...
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Apr 29, 2024 • 30min

KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Folge 2: Mattie

Gertraud fügt sich ihrem Schicksal. Auf dem Hof ihrer Eltern übernimmt sie immer mehr Verantwortung. An einem Sommertag 1958 trocknet draußen das Heu, als ein Gewitter aufzieht. Gertraud muss schnell sein, damit die ganze Arbeit nicht umsonst war - und bringt sich in Lebensgefahr. Mehr als 100 Jahre früher: Die zwölfjährige Margaret "Mattie" Knight arbeitet in einer Baumwollfabrik, wo sie 1850 Zeugin eines Unfalls wird. Das bringt sie auf eine Idee. Was verbindet die beiden Mädchen? Und warum endet die Geschichte der Kinderarbeit nicht mit Mattie, und auch nicht mit Gertraud? Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab. Credits Autorin: Paula Lochte Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha, Kathrin von Steinburg Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945 Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM. Literaturtipps: Sven Beckert (2019): King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus Vor mehr als 250 Jahren wurde das Reich errichtet, in dem King Cotton herrscht. Krieg, Sklaverei und Ausbeutung standen an seiner Wiege. Während fremde Kulturen rücksichtslos zerschlagen wurden, häuften Händler im Zusammenspiel mit der Staatsgewalt enorme Vermögen an. Ein neues ökonomisches Prinzip begann seinen Siegeszug. Sven Beckert schildert die Geschichte des Kapitalismus im Spiegel eines Produktes, das heute jeder von uns am Leibe trägt - der Baumwolle. Hier geht’s zum BUCH. Alexisde Tocqueville (1835): Notizen von einer Reise nach England Ein Bericht über die Zustände im englischen Manchester – die Wiege der Industrialisierung. Autumn Stanley (1995): Mothers and Daughters of Invention – Notes for a Revised History of Technology Über Margaret „Mattie“ Knight und andere vergessene Erfinderinnen. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 04:12 – Geboren in die Wiege der IndustrialisierungTC 08:52 – Ein Tag mit 16 StundenTC 14:30 – „Wer nicht hören will, muss fühlen“?TC 16:18 – WeberhustenTC 19:57 – Ein Tag, der Leben veränderteTC 23:35 – Der UnfallTC 29:10 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro Autorin  Ein Sommertag 1958 im Dorf Motzenhofen in der Nähe von Augsburg. Gertraud und ihre Geschwister sind erschöpft. Stundenlang haben sie Gras gemäht. Das liegt jetzt auf dem Feld und trocknet. Da zieht ein Gewitter auf. Jetzt heißt es schnell sein, sonst war die ganze Arbeit umsonst: Wenn das Heu in den Pfützen liegen bleibt, fault es. Die Eltern sind nicht da, deshalb sind die Kinder auf sich allein gestellt. Also schickt ihre große Schwester Gertraud auf den Scheunenboden, um die „Hoanzn“ zu holen – das sind Holzgestelle, auf denen man das Gras zum Trocknen aufhängen kann. Gertraud ist mittlerweile 14 Jahre alt. Und sie hat das schon zigmal gemacht. Hoch auf den Scheunenboden geht es am schnellsten, wenn sie nicht bis zur Leiter am anderen Ende des Stalls läuft, sondern einfach an der Bretterwand gleich neben dem Eingang hochklettert. Also hangelt sie sich Brett für Brett rauf. Unten wartet ihre Schwester, um die Gestelle entgegenzunehmen. Gertraud ist fast oben, da gibt das oberste Brett nach und sie stürzt mehrere Meter nach unten: ihr Kopf schlägt auf dem Betonboden auf. MUSIK Autorin  Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“. ZSP 01 Collage Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich – Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Ines Kämpfer: Wir müssen einen Weg finden, dass die Kinder wirklich zur Schule gehen können und nicht die ganze Familie die ganze Zeit arbeiten muss Ausschnitt  Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), Gewerkschafter, schon overvoiced: Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen Gertraud Seidl: Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt. Arne Bartram: Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt. Gertraud Seidl: Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen. Ines Kämpfer: Es ist wirklich ein Teufelskreis. Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen. Autorin  Das ist Folge 2: Mattie und der Webstuhl MUSIK Autorin  Die Geschichte von Mattie erinnert an die von Gertraud. Auch sie arbeitet schon als Kind. Auch sie träumt davon, zur Schule zu gehen und zu studieren, vergeblich. Und auch sie erlebt einen Unfall – nur über 100 Jahre früher als Gertraud. In der Zeit, die den meisten von uns sofort in den Kopf kommt, wenn wir das Wort „Kinderarbeit“ hören: die Zeit der Industrialisierung. Kinderarbeit gab es zwar auch schon vorher. In Familien, für Feudalherren oder Sklavenhalter. Aber mit der industriellen Revolution ab Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt die Kinderarbeit neue Ausmaße an. Warum müssen damals Millionen Kinder in Fabriken schuften, durch enge Kohleschächte kriechen und Ziegel schleppen? Wie gefährlich ist das? Und wann wird es unterbunden? Um diese Fragen geht es in dieser Folge. Und ich möchte auch erzählen, warum das Mädchen Mattie im Alter von gerade mal zwölf Jahren eine Schlüsselrolle spielt, als es darum geht, Unfälle in Textilfabriken zu verhindern. Dafür müssen wir in der Zeit zurückreisen. Ins 19. Jahrhundert. TC 04:12 – Geboren in die Wiege der Industrialisierung ATMO Fabriken, Dampfmaschinen, Webstühle Sprecher Ein dichter schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Die Sonne scheint hindurch als strahlenlose Scheibe. (…) Tausend Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren Labyrinth, die Schritte einer geschäftigen Menge, das Knarren der Räder, die ihre gezahnten Ränder gegeneinander reiben, das Zischen des Dampfes, der dem Kessel entweicht, das gleichmäßige Hämmern des Webstuhles, das schwere Rollen der sich begegnenden Wagen. Autorin  So beschreibt der französische Publizist Alexis de Tocqueville 1835 in einem Reisebericht Manchester. Die englische Stadt gilt als Wiege der Industrialisierung. Sprecher Oben auf den Hügeln erheben sich dreißig oder vierzig Fabriken. Ihre sechs Stockwerke ragen in die Luft. (…) Um sie herum liegen wie willkürlich verstreut die kümmerlichen Behausungen der Armen; man gelangt zu ihnen auf zahlreichen gewundenen Pfaden. (…) Um dieses Asyl des Elends herum wälzt einer der Bäche langsam sein stinkendes, von den Industriearbeiten schwarz gefärbtes Wasser. Aus dieser stinkenden Kloake entspringt der stärkste Strom menschlichen Gewerbe-Fleißes, von hier aus befruchtet er die Welt. Autorin  Nachdem er Manchester besucht hat, will der amerikanische Unternehmer Samuel Blodget genau so eine Stadt auch in den USA errichten: Er spricht vom „Manchester of America“. Und dieser Traum – oder eher Alptraum – wird wahr. Im Bundesstaat New Hampshire an der Ostküste entsteht eine neue Stadt, deren Fluss genauso stinkt und wo die Schlote der Textilfabriken genauso die Luft verpesten wie in England. Diese Stadt erhält 1810 denselben Namen wie ihr Vorbild: Manchester. Und in dieser Stadt wächst Mattie auf. MUSIK Autorin  Sie hat dunkle Haare und helle Augen. „Mattie“ – das ist ihr Spitzname. Ihre Familie und Freunde nennen sie so. Geboren wird sie 1838 als Margaret Eloise Knight. Sprecherin  Alles, was ich als Kind wollte, waren ein Klappmesser, ein Handbohrer und ein paar Holzstücke. Meine Freunde waren entsetzt. Man hat mich einen Tomboy, einen Wildfang, genannt, aber das hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Manchmal seufzte ich, weil ich nicht wie die anderen Mädchen war, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht anders konnte und suchte Trost in meinen Werkzeugen. Autorin  Das hat Mattie 1872 einer Reporterin erzählt. Mattie erinnert mich total an die Bauerntochter Gertraud. Denn die war als Kind auch ein Tomboy, hat sich also nicht an Geschlechterrollen gehalten. ZSP 24 Interview Gertraud - Gertraud: Ich weiß! 14 war ich. Da habe ich zum Geburtstag Seidenstrümpfe gekriegt. Das war ja vorher nicht. Und da habe ich Seidenstrümpfe gekriegt, aber am Nachmittag bin ich dann mit den Seidenstrümpfen den Baum hochgestiegen, da waren sie kaputt. (Lacht) - Autorin: (Lacht) Also Sie waren ein Wildfang! - Gertraud: Lebendig. Autorin  Vielleicht hätte Mattie das an Gertrauds Stelle auch gemacht. Bei ihr selbst, rund 100 Jahre früher, hat das Geld vermutlich nie für teure Seidenstrümpfe gereicht. Als sie sechs ist, stirbt nämlich ihr Vater und ab da ist das Geld noch knapper als ohnehin schon. Ihr Vater war Schreiner. Und auch Mattie hat handwerkliches Talent, das wird später noch wichtig werden. Aber schon als sie klein ist, macht dieses Talent ihr Leben schöner – und das ihrer beiden älteren Brüder auch:  Sprecherin Ich habe ständig etwas für meine Brüder gebastelt; wenn sie etwas zum Spielen brauchten, haben sie immer gesagt: „Mattie macht das für uns.“ Ich war berühmt für meine Drachen, und wegen meiner Schlitten haben mich alle Jungs in der Stadt beneidet und bewundert. Autorin  Aber mit dem Tod des Vaters verändert sich das Leben der Kinder: Erst müssen die beiden älteren Brüder von der Schule abgehen und in der Textilfabrik malochen. Und dann auch Mattie. Mitte des 19. Jahrhunderts gehen in den USA nur die Hälfte der Kinder überhaupt zur Schule – bei den Mädchen nochmal weniger und bei nicht-weißen Kindern sind es sogar nur 17 Prozent. Um in den Fabriken die Maschinen zu bedienen, brauchen sie keine Ausbildung. Und eine allgemeine Schulpflicht, wie wir sie heute kennen, gibt es damals noch nicht. Die setzt sich in den USA genau wie in Deutschland erst durch, nachdem 1918 der Erste Weltkrieg endet: ZSP 25 Philipp Scheidemann (SPD) ruft die Republik aus Arbeiter und Soldaten, der unglückselige Krieg ist zuende! … Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik! ATMO Fabrik TC 08:52 – Ein Tag mit 16 Stunden Autorin  Für Mattie auf der anderen Seite des Atlantiks kommen die neuen Gesetze zu spät. Die Grundschule kann sie zwar noch beenden, aber als sie etwa zehn Jahre alt ist, 1848, muss auch sie in die Fabrik. Genau wie ihre Brüder und ihre Mutter arbeitet sie nun für die Amoskeag Manufacturing Company– das ist zwischenzeitlich die größte Textilfabrik der Welt. Und ein Ort, der vielen von uns vertrauter ist, als wir denken: Denn hier weben Ende des 19. Jahrhunderts Kinderhände den Stoff für ein legendäres Kleidungsstück: die ersten Levi’s-Jeans. Die roten Backsteingebäude der Company erstrecken sich damals über die gesamte östliche Flussseite von Manchester in New Hampshire. Sprecher Jede der Fabriken hatte ihren eigenen Glockenturm. (…) Wenn die Glocken läuteten, war es Zeit, nach Hause zu gehen. Die Leute strömten durch die Fabriktore auf die Canal Street und über die Brücke. 9.000 Leute, die durcheinander wuselten, scherzten und versuchten, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Autorin  So beschreibt es ein Arbeiter später. Unter diesen Tausenden von Menschen sind viele Kinder. Kinder wie Mattie. Von ihr selbst gibt es aber keinen Bericht darüber, wie es ist, in der Baumwollspinnerei zu arbeiten. Und das ist damals leider ein generelles Problem: Kinder schuften täglich bis zu 16 Stunden, fallen ins Bett, nur um am nächsten Morgen gleich wieder arbeiten zu gehen. Wer schafft es da noch, zum Beispiel Tagebuch zu schreiben? Und es können ja noch nicht mal alle schreiben. MUSIK Dass es überhaupt Zitate von Mattie gibt, kommt daher, dass sie ein paar Mal interviewt wurde. Vor dieser Recherche kannte ich sie zwar noch nicht, aber in den USA ist sie relativ berühmt. Warum – dazu kommen wir noch. ATMO Fabrik Autorin  Mattie geht ab 1848 also nicht mehr zur Schule, sondern in eine Fabrikhalle. In Hallen wie diesen ist es heiß, stickig und so laut, dass man nicht mal sein eigenes Wort versteht. Sprecher  „Kinder von 5 Jahren an sitzen in der unbequemsten Lage, mit zusammengezogenen Beinen und gebücktem Rücken in überfülltem Raume am Spulrad. (...) Schwächlinge, übermüdet, der Kopf grindig, die Augen triefend, die Brust schwindsüchtig, der Magen leidend; zum Militärdienst taugten sie nicht, in die Schule kamen sie nicht, und verirrte solch ein Geschöpf sich einmal dahin, so fand es wenigstens auf einige Augenblicke Schlaf und die Ruhe, welche ihm sonst die schreckliche Stimme des Werkmeisters raubten.“  Autorin  Wie es in den neu errichteten Fabriken zugeht, schildern, wie in dem eben gehörten Bericht über deutsche Textilfabriken, meist Erwachsene. Vor allem Beamte, Mediziner oder Intellektuelle. Kinder kommen nicht zu Wort, haben keine Stimme. Auch auf meiner Suche nach Quellen von Kindern in Fachbüchern und Katalogen historischer Ausstellungen bleibe ich lange erfolglos. Aber dann werde ich doch noch fündig! Auf einer Plattform mit Arbeitsblättern für den Geschichtsunterricht lese ich zum ersten Mal den Namen Ellen Hootton. Ein Mädchen aus Großbritannien. Von ihr gibt es Zitate! Denn sie sagt 1833 vor der Königlichen Untersuchungskommission für Fabriken aus. Und zwar auf Initiative von Aktivisten aus der britischen Mittelschicht, die sich gegen Kinderarbeit einsetzen. Wie die zehnjährige Ellen ihre Arbeit beschreibt, könnte genauso gut von Mattie kommen: Sprecherin Mein Arbeitstag beginnt morgens um halb sechs und endet abends um acht. Ich bin Flicker an der Drosselspinnmaschine. Autorin  Ein ähnlicher Job, wie ihn auch Mattie übernehmen muss: Sprecherin Ich arbeite in einem Raum mit 25 anderen: drei Erwachsene, der Rest sind Kinder. Ich knote gerissene Fäden wieder zusammen. Autorin  Die Fäden, die auf den Spulen der Spinnmaschinen aufgezogen werden, reißen oft mehrmals pro Minute. Die Kinder haben also nur Sekunden, um sie wieder zusammenzuknoten. Sprecherin „Ich schaff das nicht“, das habe ich meiner Mutter gesagt. Aber die schickt mich trotzdem in die Fabrik. Ich bin deshalb schon mehrmals weggelaufen. Autorin  Familien wie die von Ellen oder Mattie sind in so einer Geldnot, dass sie auf den Lohn der Kinder angewiesen sind, und sei der noch so klein. In einem deutschen Bericht über Kinderarbeit heißt es damals, Kinder unter zwölf bekämen nur etwa zehn Prozent des Arbeitslohnes eines Erwachsenen. Kinder sind also verdammt billige Arbeitskräfte und steigern so den Profit der Unternehmer. Die freuen sich auch, dass Kinder weil sie so klein sind, sogar durch die niedrigsten Stollen kommen. Oder dass ihre winzigen Hände so „flink“ Fäden zusammenknüpfen. Sprecherin  Wenn ich einen Fehler mache, schlägt mich der Aufseher Mister Swanton – oder er nimmt einen Lederriemen und peitscht mich aus. Das passiert alle paar Tage. Mit seinen Händen macht er, dass mein Kopf wehtut. Autorin  Das erzählt die zehnjährige Ellen Hootton vor dem Fabrikausschuss. Sprecherin  Einmal, als ich zu spät gekommen bin, hat mir der Aufseher Eisengewichte umgehängt. Ich musste damit in der Fabrikhalle auf und ab laufen. Das ging nur gebückt, so schwer waren die. Die anderen Arbeiter haben sich über mich lustig gemacht. Sie haben mich im Vorbeigehen beschimpft und gezwickt, bis ich hingefallen bin. Autorin  Kinder wie Ellen und Mattie sind in der Industrialisierung grauenhafter, für uns heutzutage unvorstellbarer Gewalt und Willkür ausgesetzt. TC 14:30 – „Wer nicht hören will, muss fühlen“? MUSIK Autorin  Über 100 Jahre später, in den fünfziger Jahren. Im schwäbischen Dorf Motzenhofen – darf auch die Bauerntochter Gertraud auf keinen Fall zu spät zu kommen: ZSP 27a Interview Gertraud - Autorin: Wissen Sie noch, wovor Sie als Kind Angst hatten? - Gertraud: Ja, dass man einfach, wenn man nicht rechtzeitig zum Essen gegangen ist, dass man da… da hat es dann Schimpfe gegeben, wenn man nicht gekommen ist. Da hat dann Mama zur Tür rausgeplärrt, da sind wir gerannt. Vor was habe ich noch Angst gehabt? (Wird leiser, wirkt bedrückter) In Keller bin ich nicht gern gegangen, denn bei uns ist man, wenn man was angestellt hat, in den Keller gesperrt worden. Und da war ich mehrmals drunten. Keller habe ich gar nicht mögen! ...
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Apr 23, 2024 • 27min

KINDERARBEIT - BEI UNS DOCH NICHT! Folge 1: Gertraud

Gertraud Seidl aus der Nähe von Augsburg ist stolz: Sie ist vier Jahre alt und darf nun endlich auch mit auf die Weide und ihren Schwestern beim Hüten der Kühe helfen. Es bleibt aber nicht bei dieser Aufgabe. Auf dem Bauernhof ihrer Eltern ist in den 1950er Jahren so viel zu tun, dass sie nur wenig Zeit zum Spielen und für die Schule übrig hat. Dabei macht ihr nichts so viel Spaß wie zu lesen und zu lernen. Als sie in der achten Klasse ist, treffen ihre Eltern hinter ihrem Rücken eine folgenschwere Entscheidung. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab.CreditsAutorin: Paula LochteRegie: Rainer SchallerEs sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha  Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne MaierIm Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram Ein besonderer Linktipp der Redaktion:ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM. Literaturtipps: Anna Wimschneider (1985): Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin„Herbstmilch“ ist die Lebensgeschichte der Bäuerin Anna Wimschneider – ein Dokument des 20. Jahrhunderts, das vom Schicksal der kleinen Leute handelt, von Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und ihr Leben bewältigen, aufrecht und unerschütterlich. Anna Wimschneiders Erinnerungen beginnen mit dem frühen Tod der Mutter, die eine neunköpfige Familie hinterlässt und deren Pflichten ganz selbstverständlich die achtjährige Tochter Anna übernehmen muss. Hier geht’s zum BUCH.Heinrich von der Haar (2020): Kinderarbeit in DeutschlandÜber 500.000 Kinder arbeiten für Lohn, die Hälfte verbotenerweise – bei einem unzureichenden Kinderarbeitsschutz. Die familiären Notlagen sind weitgehend unsichtbar und scheinen unerheblich. Die Scham der aus Not arbeitenden Kinder und ihrer Familien verstärkt das Tabu und den Eindruck geldgieriger Kinder, sodass die Schutzbedürftigkeit unwesentlich zu sein scheint. Erschreckend wenig wissen wir über die Lage arbeitender Kinder. Gleichgültig stehen viele der Vernachlässigung der Schule und den gesundheitlichen Schäden durch Kinderarbeit gegenüber. Hier geht’s zum BUCH.Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds VergangenheitTC 09:14 – Tag ein, Tag ausTC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?TC 13:41 – Rübenzeit statt SchuleTC 21:07 – „Schade, Gertraud“TC 25:09 – Kampf gegen ArmutTC 26:11 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  MUSIK  Autorin Sie weiß noch, dass sie geweint hat. Vielleicht in ihrem Zimmer. Wenn es so war, dann musste sie die Treppe hoch, bis unters Dach. Weil sie sich den Raum mit ihren Geschwistern teilt, geht sie wahrscheinlich direkt zu ihrem Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. Gertraud ist 13 Jahre alt. Das Bett ist ihr Versteck. Der einzige Ort, der nur ihr gehört. Irgendetwas drückt ihr schmerzhaft in die Rippen. Sie tastet nach der Ursache: ein Buch. Sie hat es im Bett versteckt, damit ihre Eltern es nicht bemerken. Abends, wenn sie eigentlich schlafen soll, liest das Mädchen. Mit Taschenlampe unter der Bettdecke. Die meisten Bücher aus der Bücherei hat sie schon zweimal gelesen. Sie träumt sich so weg: zu den Abenteuern von Winnetou und Old Shatterhand, nach Amerika. Dort will sie hin – obwohl sie kein Wort Englisch kann. Das Schulfach hatte sie nämlich noch nicht. Und das wird auch so bleiben. Gertraud wird nie Englisch lernen. Nie raus in die Welt, wie sie es sich erträumt hat. Denn ihre Eltern haben eine Entscheidung getroffen – gegen ihren Willen. MUSIK Autorin Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT: BEI UNS DOCH NICHT!Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“.ZSP 01 CollageInes Kämpfer:Die Zahlen haben sich in den letzten paar Jahren wieder verschlechtert, das ist eine Entwicklung, die wir ganz klar in den USA sehen können, aber auch in europäischen Ländern.  Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlichZum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.  Ausschnitt  Reportage USA overvoiced:Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen. Gertraud Seidl:Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt. Arne Bartram:Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt.  Ines Kämpfer:Dass diese Kinder dann häufig in sehr gefährliche Arbeit eingegliedert werden. Gertraud Seidl:Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen.  Ines Kämpfer:Es ist wirklich ein Teufelskreis. Und Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen.  Autorin Das ist Folge 1: Gertraud und der Bauernhof. ATMO Dorf Autorin Bei „Kinderarbeit“, da denke ich als Erstes an Länder wie Bangladesch. Oder ans 19. Jahrhundert. Ganz lang her, ganz weit weg. Das geht nicht nur mir so. Unter den häufigsten Google-Suchanfragen zu Kinderarbeit sind: „Kinderarbeit Industrialisierung“ und „Kinderarbeit in Indien“.Aber ich musste überhaupt nicht weit reisen, um hier und jetzt eine Person zu treffen, die als Kind schwer gearbeitet hat. Und die damit wohl für eine ganze Generation steht, vor allem auf dem Land.  ATMO Straße/ Dorf/ Wind Autorin25 Kilometer von Augsburg entfernt liegt das kleine Motzenhofen. Ich gehe jetzt hier an Feldern vorbei. Also da, wo der Ort beginnt, und da wo er aufhört, sind jeweils Felder. Und es ist eine ganz kleine Ortschaft: Die Häuser sind dicht an dicht, eine Straße führt durch den Ort und die ist schon ganz schön befahren.  ATMO Auto fährt vorbei  Hier treffe ich gleich Gertraud Seidl. Die ist hier geboren, aufgewachsen, jetzt fast 80, lebt hier immer noch und ich bin schon ganz gespannt, wie sie ihre Kindheit hier erlebt hat an diesem Ort, und wie er sich vielleicht auch verändert hat seitdem.TC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds Vergangenheit  ATMO Schritte Autorin Ich biege auf einen Hof ein. Vorne ein kleiner Gemüsegarten, hinten eine Scheune und ein weiß verputzter Stall mit Platz für mehrere Dutzend Kühe. Wo früher ein altes Bauernhaus war, steht jetzt ein Neubau. ATMO Klingel, Tür geht auf- Sohn: Hallo?- Autorin: Hallo, ich bin Paula Lochte vom BR, ich bin verabredet mit Ihrer …- Sohn: Mutter!- Gertraud: Huch, ich habe Sie gar nicht gehört! Grüß Gott. Oh, haben Sie kalte Hände!- Autorin: Ist ein bisschen kalt draußen.- Gertraud: Ich habe selbst immer warme. Ich schaue mal, ob ich Pantoffeln für Sie habe.  Autorin Gertraud führt mich zu einer Eckbank in einer großen Wohnküche. Am Esstisch malen ihre zwei Enkelinnen mit Buntstiften Ausmalbilder aus. Ein Mehrgenerationenhaus: Unten wohnt Gertraud, oben ihr Sohn mit seiner Frau und den Zwillingstöchtern. - Gertraud: So, geht ihr hoch jetzt zum Papa, oder?- Enkelin: Ich bleib da!- Gertraud: Ja, bleibsch da.- Enkelin: kichert- Gertraud: Habt ihr überhaupt gesagt, wie alt ihr seid?- Enkelinnen: Vier!- Autorin: Vier!  Atmo (unter Text) Autorin  Gertraud nimmt gegenüber von ihren Enkelinnen Platz.- Gertraud: „Dann schauen wir mal: Oma hat Schulstunde.- Enkelin: Nur anschauen– Gertraud: Ja, nur mit den Augen anschauen, ein Mikrofon ist das, was die Frau da hat, siehst du.– Enkelin: Ja. (Lachen) MUSIK Autorin Auf einmal ist es wie bei diesen Postkarten mit den Wackelbildern: Ich sehe die Frau, die fast 80 ist. Aber wenn ich zu ihren Enkelinnen blicke, mit ihren zerzausten weißblonden Haaren und dem schelmischen Grinsen, dann ist es, als würde ich Gertraud als kleines Mädchen sehen.  MUSIK hoch Als sie vier Jahre alt wird, 1948, da ist Gertraud richtig stolz. Denn sie ist endlich alt genug:  ZSP Gertraud Kühe hüten(enthusiastisch) Zuerst ist man mitgelaufen und dann hat man, wenn die Großen das können, dann muss der Kleine hinten nach auch können. Man hat ja immer wollen! Autorin „Die Großen“, das sind ihre drei älteren Schwestern. Gertraud reicht ihnen zwar gerade mal bis zur Hüfte … ZSP 05b Gertraud Wusch„I war ja so a kleina Wusch.“ (lacht)Autorin … aber sie darf nun mit. Zum Kühe hüten! Gut, ein vierjähriger Fratz neben einer Kuh: Wer passt da eigentlich auf wen auf?  ZSP 05c Gertraud Kühe hütenKühe hüten, das war eigentlich, wenn schönes Wetter war, die tollste Arbeit. Da war man halt viel draußen. Da war nebendran ein Wald. Und da haben wir viel im Wald gespielt! Und einen Bach gab es da. Ja, das war schön! Da haben wir uns immer gestritten, wer da mitdarf. Meistens ein Größeres und ein Kleines dazu und so.  MUSIK Autorin  Kühe, Gänse und Schweine zu hüten war eine Aufgabe, die in Deutschland lang vor allem Kinder übernommen haben. Seien es die eigenen oder die sogenannten „Hütekinder“ oder „Schwabenkinder“. Das waren Kinder aus armen Bauernfamilien im Alpenraum, zwischen sechs und elf Jahre alt. Zigtausende von ihnen sind jedes Jahr ohne ihre Eltern nach Oberschwaben, also in den Süden von Bayern und Baden-Württemberg, gekommen. Um sich dort auf den Höfen anderer Familien zu verdingen: als saisonale Arbeitskräfte. Ihr Arbeitstag begann um vier, fünf Uhr morgens und endete, zumindest in der Erntezeit im Sommer, erst gegen 22:00 Uhr. Was mich besonders erschreckt, denn das ist ja immer ein Warnsignal, dass es Kindern nicht gut geht: Bettnässen war bei Hütekindern ein verbreitetes Problem. Das habe ich in der Recherche immer wieder gelesen. Denn die Kinder standen unter einem enormen Druck, dazu kamen der Schlafmangel und das Heimweh. Nicht allen Hütekindern ging es schlecht. In Überlieferungen von ihnen lese ich, dass manche genau wie Gertraud das Tiere hüten mochten. Dass sie auch „stolz“ waren auf ihre Arbeit. Oder es ihnen in der Fremde zumindest besser ging als zuhause, immerhin gab es genug zu essen. Aber es gibt auch Berichte von Misshandlungen und sexuellen Übergriffen durch die „Dienstherren“. Hütekinder gab es bis in die Nachkriegszeit. Sie haben schwer gearbeitet, aber zum Bruchteil des Lohns eines Erwachsenen. Manche der Kinder waren so arm, dass sie nicht mal Schuhe hatten. Und so sind ihnen, wenn es auf der Weide besonders kalt war, Zehen abgefroren. Eine Strategie dagegen war: die Füße in die warmen Kuhfladen zu stecken. Gertraud, die Bauerntochter aus dem schwäbischen Motzenhofen, hatte, als sie klein war, in den 50er Jahren, zum Glück immer Schuhe. Und Arbeitskleidung, wenn auch nur die abgetragenen Sachen ihrer Schwestern. Das „Arbeitsgewand“, wie sie es nennt, sah ungefähr so aus wie ein Dirndl:  ZSP 06a Gertraud ArbeitsgewandDa waren da meistens Puffärmel dran. Im Winter dann natürlich lange Ärmel. Da vorne Knöpfe und ein Rock und darüber dann eine Schürze. So wie die, die da an der Tür hängt. Autorin Wie eine Küchenschürze also. Mit Taschen innen und außen. Praktisch, denn wenn die eine Seite schmutzig ist, kann man die Schürze einfach umdrehen. Und am Samstagnachmittag, wenn die Arbeit auf dem Feld getan ist …  ZSP 06b Getraud ArbeitsgewandDa hat man dann das Arbeitsgewand gewaschen, mit der Bürste. Wenn man da flott war, hat man dann mehr Freizeit gehabt.TC 09:14 – Tag ein, Tag aus  MUSIK Autorin Mir fällt auf, dass Gertraud kein einziges Mal jammert, als sie mir von ihrer Kindheit erzählt. Selbst wenn’s um harte Arbeit geht, die erst am Samstagabend endet. Oder um Situationen, in denen ihre Eltern sie seelisch verletzt haben (dazu kommen wir noch). Sie hat das alles stoisch ertragen. Verklärt vielleicht auch manches in der Rückschau, das machen wir ja alle. Aber wenn wir zu Erinnerungen kommen, die schön waren, dann merke ich schon einen Unterschied in ihrer Stimme. Da schwingt dann auf einmal Freude mit:  ZSP 6c Interview Spiele- Gertraud: Wenn der Mais schön draußen gestanden ist und die Kolben angesetzt hat, dann haben wir die Maiskolben rausgerissen und Pferdl gespielt.- Autorin: Der Mais war dann das Pferd?- Gertraud: Ja, das Gelbe vom Mais ist das Pferd gewesen, weil die haben ja dahinten den Schwanz dran gehabt die Maiskolben, die haben doch da die Haare dran.  Autorin Die Momente, in denen Gertraud und ihre Geschwister einfach nur spielen sind kostbar – auch weil sie so selten sind. Die meisten Tage sehen ganz anders aus: ZSP 07a Gertraud TagesablaufUm sechse hat die Mama geweckt. … Autorin Eins der fünf Kinder muss aber immer schon eine Stunde früher aufstehen, um gemeinsam mit den Eltern auf dem Acker oder der Wiese das Futter für die Tiere zu holen. Einer übernimmt das Mähen, der andere lädt auf – zusammen geht es schneller. ZSP 07b Interview Tagesablauf  - Gertraud: So um Dreiviertelsieben haben wir fertig sein müssen, da sind wir nach Hollenbach gegangen eine gute Viertelstunde zu Fuß in die Kirche: Da war um sieben Uhr jeden Tag eine Messe. Und nach der Kirche, um acht, ist dann die Schule angegangen. Die war gleich zwei Häusl weiter ungefähr.- Autorin: Und dann, nach der Schule?- Gertraud: Je nachdem, was für eine Arbeit angefallen ist. Erst war bei uns immer angestanden, Hausaufgaben machen. Autorin Also den Eltern ist, zumindest in den ersten Schuljahren, schon wichtig, dass sich die Kinder erst um die Schule kümmern, und dann um die Arbeit. Von der gibt es mehr als genug: ZSP 07c  Gertraud Tagesablauf   Unsere Eltern haben am Vormittag meistens eine Fuhre Futterrüben aufgeladen und die haben wir dann in den Keller schmeißen müssen. Und da war so eine Holzrutsche in den Keller, da sind sie dann runtergerollt.  Autorin Und danach? Je nach Jahreszeit und Wetter …  ZSP 08 Gertraud AufgabenDen Hof zusammenkehren, Rüben und Kartoffeln am Acker das Unkraut raushacken, Disteln, da hat man die Wurzeln abgestochen im Getreidefeld. Holz reinholen, Holz nachfüllen, Reisig hacken, beim Kartoffelklauben haben wir natürlich auch geholfen, klar: Meine zweite Schwester, die war sehr kräftig, die hat dann immer die Körbe ausgeleert. Oder das Grünfutter gemäht, Klee, das haben wir alles gelernt: Getreide mähen mit der Sense und so. Das ist nicht so einfach. Das ist schon klar. MUSIK TC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker? Autorin Das Gewicht von einem vollen Kartoffelkorb tragen, mit der Sense mähen, Stunden auf dem Feld ackern: Das sind Schwerstarbeiten. Was Gertraud und ihre Geschwister als Kinder leisten müssen, ist eine ganz andere Nummer als hier mal ein bisschen im Haushalt zu helfen oder dort mal ein wenig mitanzupacken – das würde auch nicht unter „Kinderarbeit“ fallen. Die UN-Kinderrechtskonvention verbietet seit 1989 Arbeit, die für Kinder gefährlich oder schädlich ist und dadurch deren Rechte verletzt. Wie das Recht auf Bildung, auf Sicherheit oder Gesundheit. Gemeint sind mit dem Begriff „Kinderarbeit“ also Aufgaben, für die Kinder eigentlich zu jung sind. Wer arbeitet, muss mindestens 15 sein, auf dieses Mindestalter haben sich Staaten mittlerweile in internationalen Abkommen geeinigt.  ZSP 09a  Gertraud Da gibt es ein Sprichwort, das heißt: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.  Autorin Das sagt Gertraud in unserem Gespräch immer wieder  ZSP 09b  GertraudWas dich nicht umbringt, macht dich stärker – heißt es. Mich hat es stark gemacht.  Autorin Vielleicht ist das eine typische Haltung für ihre Generation. Und es stimmt: Gertraud wirkt total fit, viel jünger als 80. Sie ist eher klein, aber bis heute ganz drahtig und hat kurze braune Haare.   ...
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Apr 19, 2024 • 23min

JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Feuchtwangers Fluchten und seine Bücher

Bibliotheken haben bekanntlich keine Füße. Aber - Lion Feuchtwanger, der Meister des historischen Romans aus München, musste schnell sein, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. So baute er in seinem Leben drei Bibliotheken auf, mit jeweils mehr als 10.000 Büchern: in Berlin, im französischen und amerikanischen Exil. Diese Bibliotheken waren weit mehr als nur Bücher in Regalen - sie waren das immobile Alter Ego Lion Feuchtwangers. Von Michael Zametzer (BR 2024)Credits Autor: Michael Zametzer Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Udo Wachtveitl, Christopher Mann Technik: Stefan Oberle Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Julia Schneidawind, Dr. Heike Specht  Ein besonderer Linktipp der Redaktion: Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER. Literaturtipps: Julia Schneidawind (2023): Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles. Vandenhoeck & Ruprecht. Während eine nicht bezifferbare Masse an jüdischem Buchbesitz durch Raub, Verfolgung, und Krieg nach 1933 unwiederbringlich zerstört wurde, sind heute wenige Sammlungen über die Welt verstreut erhalten geblieben. Folgt man den Spuren der Sammlungen von ihrem Entstehungskontext an ihre heutigen Verwahrungsorte, eröffnen sich wichtige Erkenntnisse mit Blick auf die Frage nach Translokation materieller Kultur, aber auch dem Nachwirken deutsch-jüdischen Büchererbes heute in unterschiedlichen Räumen und Kontexten. Hier geht’s zum BUCH. Heike Specht (2024): Die Frauen der Familie Feuchtwanger. Eine unerzählte Geschichte. Piper Verlag. Die deutsch-jüdische Familie Feuchtwanger vollzog im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen spektakulären Aufstieg von der Fürther Provinz ins Großbürgertum der Residenzstadt München. Ein Aufstieg, der undenkbar gewesen wäre ohne vier Generationen starker Frauen, die die Familiengeschicke durch die historischen Wirren lenkten, als knallharte Geschäftsfrauen, als Pionierinnen und in Zeiten der Verfolgung als echte Heldinnen. Heike Specht erzählt die Geschichte der Feuchtwangers aus der weiblichen Perspektive und berichtet von außergewöhnlichen Lebensentwürfen aus fast 200 Jahren. Denn hinter großen Familien stecken oft mächtige Frauen. Hier geht’s zum BUCH.   Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 - IntroTC 02:12 – Die Bibliotheken deutscher SpracheTC 04:03 – Bayrisch-Barock & Jüdisch-OrthodoxTC 07:46 – Wandel zum politischen SchriftstellerTC 13:41 – Französisches ExilTC 16:22 – In der Villa AuroraTC 19:30 – Die Hüter des VermächtnisTC 22:10 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - Intro MUSIK, kratzend, berstend, zerstörend, darüber Zitator (Lion Feuchtwanger): Wie gefällt Ihnen mein Haus, Herr X? Lebt es sich angenehm darin? hat der silbergraue Teppichbelag der oberen Räume bei der Plünderung durch die SA-Leute sehr gelitten? Sprecher: Im Jahr 1933 besetzen und enteignen die Nazis das Haus von Lion Feuchtwanger in Berlin… Zitator (Lion Feuchtwanger):Was fangen Sie wohl mit den beiden Räumen an, die meine Bibliothek enthielten? Bücher, habe ich mir sagen lassen, sind nicht sehr beliebt in dem Reich, in dem sie leben, Herr X. Und wer sich damit befasst, gerät leicht in Unannehmlichkeiten. Sprecher: Die Bibliothek umfasst über 30.000 Bücher. Erstausgaben, deutsche Klassiker, Jüdische Literatur. Das Arbeitswerkzeug des Schriftstellers, des Bestsellerautors Lion Feuchtwanger… Zitator (Lion Feuchtwanger)Kommt es Ihnen nicht doch manchmal merkwürdig vor, dass sie in meinem Haus sitzen? Ihr Führer gilt sonst nicht als Freund der jüdischen Literatur. Sprecher:Drei Bibliotheken hat Lion Feuchtwanger in seinem Leben aufgebaut. Die Erste in Berlin. Und noch zwei im Exil. Im französischen Sanary-Sur-Mer, und schließlich in Pacific Palisades, einer Villenkolonie nahe Los Angeles. Er, der Münchner Jude, der Weltschriftsteller, berühmt für seine historischen Romane, für Jud Süß, Erfolg, die Josephus-Trilogie, wird die USA nie mehr verlassen. Er bleibt staatenlos. Und die Bibliotheken erzählen vom Leben des deutschen, des bayerischen, des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger. TC 02:12 – Die Bibliotheken deutscher Sprache 1 ZSP Julia SchneidawindEs sollte auch eine Bibliothek der deutschen Sprache werden… Sprecher: Julia Schneidawind hat für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet und forscht nun am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität.Für ihre Doktorarbeit hat sie die Schicksale von Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Schriftsteller untersucht: Franz Rosenzweig, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl, Stefan Zweig und – Lion Feuchtwanger. Dessen letzte Bibliothek, in Pacific Palisades bei Los Angeles, hat für sie einen besonderen Stellenwert. 2 ZSP Julia SchneidawindEr hatte ja ganze Abteilungen, die sich wirklich deutschsprachigen Literaten und Schriftstellerinnen gewidmet haben, und es war ihm eben auch ein Anliegen, das zu zeigen. Und es waren zum einen die Exil-Schriftsteller, -Schriftstellerinnen, aber auch eben jene, die es nicht ins Exil geschafft haben. Und dafür stellt der Ort auf jeden Fall auch einen ja, wie wir heute sagen, eine Memorial Library dar.  Sprecher:Aber egal, ob in Berlin, im französischen oder amerikanischen Exil - Natürlich war jede dieser drei Bibliotheken Feuchtwangers auch ein repräsentativer Ort. Besucher sollten nicht nur seltene Erstausgaben bewundern, sondern auch das intellektuelle Koordinatensystem erspüren können, in dem sich der Erfolgsschriftsteller bewegte. Die Bibliotheken waren aber noch mehr. Sie waren Feuchtwangers immobiles Alter Ego. Und als ihr Besitzer schnell sein musste, um zu entkommen, blieben Sie am Ort und waren den Nazis ausgeliefert. So erzählen diese Bibliotheken zunehmend auch von einem Menschen in der Fremde, der immer wieder versucht, mit Büchern eine Verbindung zum verlorenen Zuhause herzustellen. TC 04:03 – Bayrisch-Barock & Jüdisch-Orthodox MUSIK Kindheit und Jugend in München Sprecher:Lion Feuchtwanger kommt aus einem bürgerlichen Münchner Haus. Der Vater, Sigmund Feuchtwanger ist erfolgreicher Margarinefabrikant. Er stammt aus einer alten fränkisch-jüdischen Familie. Lion, ältestes von neun Kindern, wächst im Münchner St. Anna-Viertel auf. Die Familie gehört zum orthodoxen Münchner Judentum, lebt die strengen jüdischen Traditionen, aber… 3 ZSP Heike SpechtDie Feuchtwangers waren eben eine wirklich besondere Mischung für die damalige Zeit. Bayerisch-Barock würde ich fast sagen, und jüdisch-orthodox. Das ging ganz gut zusammen. Sprecher: Die Schriftstellerin Heike Specht hat sich intensiv mit dem Leben der weitverzweigten Familie Feuchtwanger beschäftigt, mit ihren Traditionen und ihrem jüdischen Selbstverständnis. Ein Selbstbewusstsein, dass sich auch in der stattlichen Bibliothek des Elternhauses widerspiegelt. Julia Schneidawind. 4 ZSP Julia SchneidawindDas ist, denke ich, charakteristisch für diese Sammlungen um die Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts, dass diese Sammlungen natürlich seit der Jugend meistens wachsen, wenn man aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus kommt. Und natürlich spielen dann auch Antiquariate eine große Rolle. Und so wachsen sozusagen diese Sammlungen über die Generationen und kriegen natürlich immer einen sehr eigenen Zuschnitt über die Interessen, die man eben persönlich dann auch hat.  Sprecher: Die Bibliothek von Vater Sigmund bietet einen Schatz an jüdischer und weltlicher Literatur und ist bei bibliophilen Menschen über die Grenzen Münchens hinaus bekannt. In den Regalen stehen Bibelinterpretationen ebenso wie die Märchen von Wilhelm Hauff und Werke der Deutschen Klassik, aber auch moderne Literatur von Wedekind bis Hauptmann. Prägender Lesestoff für den jungen Lion. 5 ZSP Julia SchneidawindGerade in den Jugendjahren Feuchtwangers hat er vermutlich auch sehr stark auf die Bibliothek seines Vaters zurückgegriffen. Er hatte eine unglaublich einzigartige Sammlung, die heute komplett in Vergessenheit geraten ist und auch leider verschollen. MUSIK Sprecher: Seine Schulzeit in München, auf dem konservativen Wilhelmsgymnasium, beschreibt Lion Feuchtwanger nicht gerade überschwänglich positiv. Und zuhause wartet dann noch ein Privatlehrer mit den Studien von Talmud und Bibel. Aber – er beginnt früh zu schreiben, gewinnt schon als Gymnasiast einen Wettbewerb, studiert nach dem Abitur Geschichte, Philosophie und Deutsche Philologie, promoviert brillant über Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“. Eine akademische Laufbahn, eine Professur aber ist ihm – als Juden – de facto verwehrt. Er gründet eine Zeitschrift, schreibt Artikel, Theaterkritiken und lebt das Leben der Schwabinger Bohème. Feuchtwanger macht mit ersten Veröffentlichungen von sich reden, hält sich aber auch als Nachhilfelehrer finanziell über Wasser. Julia Schneidawind. 6 ZSP Julia SchneidewindDa gibt es Anekdoten darüber, dass er aufgrund seiner, ja, nicht Abneigung zum Glücksspiel häufig seine Bibliothek verspielte und dann die Bücher sozusagen abgeben musste. Sprecher: Wobei die ersten Bücherbestände Feuchtwangers wohl schwer den Namen „Bibliothek“ verdienen mögen. Den Luxus einer eigenen, großen, repräsentativen Bibliothek wird er sich erst Jahre später erfüllen können. Noch aber, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, ist das Geld knapp, und die Lust Lions am Leben groß. 1912 heiratet er Martha Löffler, die aus einer wohlsituierten, jüdischen Familie in München stammt. Das Paar schwimmt im Zeitgeist, im Leben der Bohème. Dann der Schicksalsschlag: Die einzige Tochter, Elisabeth, stirbt schon im Alter von zwei Monaten.TC 07:46 – Wandel zum politischen Schriftsteller MUSIK Sprecher: Das Paar macht eine ausgedehnte Reise, nach Südfrankreich, nach Italien und Nordafrika. Im August 1914 – sie sind gerade in der französischen Kolonie Tunesien – bricht der Weltkrieg über Europa herein. Feuchtwanger verfällt nicht in patriotisches Hurra-Geschrei wie viele seiner schreibenden Kollegen, entzieht sich aber auch nicht der Einberufung. Seine labile Gesundheit erspart ihm den Fronteinsatz. Die Entfesselung von Hass, Krieg und nationalistischem Rausch in Europa aber werden aus Lion Feuchtwanger einen politischen Schriftsteller machen. MUSIK Weimar Sprecher: Die ersten Jahre der Weimarer Republik werden zu den ersten Erfolgsjahren für Feuchtwanger. Nicht mehr nur seine Theaterkritiken, sondern auch seine Bühnenstücke werden gedruckt und – gespielt. Ein Stück aber findet bei den Verlagen gar keinen Anklang: Die Geschichte des Juden Joseph Süß Oppenheimer am Hof des Württembergischen Herzogs. In „Jud Süß“ behandelt Feuchtwanger die zentralen Fragen der Assimilation von Juden in Deutschland. Von Marta kommt der Vorschlag, den Stoff doch als historischen Roman umzusetzen. 7 ZSP Heike SpechtAlso sie hat ihn auf diese Spur gesetzt und das hat dann funktioniert und wurde ja dann wirklich schon in den Zwanzigern ein Weltbestseller, was ja überhaupt erst quasi das Fundament gelegt hat, dann auch für seinen Lebensstil in Deutschland noch und dann aber vor allem im Exil. Sprecher: „Jud Süß“ wird ein Welterfolg, der sich schon im ersten Jahr 100.000-mal verkauft. In Großbritannien und den USA erscheint der Roman ab 1926 auf Englisch unter dem Titel „Power“, später folgen Übersetzungen in 15 weitere Sprachen. Bittere Ironie der Geschichte: Der Roman liefert später die Vorlage für den wohl schlimmsten antisemitischen Propagandafilm der Nazis. MUSIK Akzent Sprecher:In den frühen 1920er Jahren wächst auch die Freundschaft zu Bertolt Brecht. Der bedingungslose Erneuerer des Theaters findet in Lion Feuchtwanger, dem Erfinder des dramatischen historischen Romans, einen streitfreudigen Partner. MUSIK Goldene Zwanziger, Berlin Sprecher: 1925 wird dem Paar dann München zu klein – und das Klima zu nationalistisch. Das heiße Pflaster der Weimarer Jahre liegt ohnehin nicht an der Isar, sondern an der Spree. In Berlin leben auch viele jüdische Intellektuelle, Schriftsteller, Filmemacher, Schauspieler. Wenn München Anfang des 20. Jahrhunderts noch leuchtete, so pulsiert Berlin nun im Takt der modernen Zeit. MUSIK weg Sprecher: Lebenslanges, intensives Lesen ist zentral für die Arbeit Lion Feuchtwangers. Dementsprechend richtet er ab 1932 im neuen Berliner Domizil, einer Villa am Grunewald, eine umfangreiche Bibliothek ein. In den Regalen seines Arbeitszimmers stehen dann etwa 300 Bücher, die er für das aktuelle Romanprojekt benötigt. Also eine Art Handapparat, das Handwerkszeug des Autors. Insgesamt wird die neue Sammlung über 10.000 Bücher umfassen. Eine Bibliothek zum Arbeiten, mit einigen wertvollen Bänden. 8 ZSP Julia Schneidawind: Lion Feuchtwanger war jetzt kein klassisch bibliophiler Sammler, aber er hat sich durchaus auch Erstausgaben gegönnt. Also da war er manchmal schon interessiert, gerade dann, wenn diese Werke auch Bezug zu seinen eigenen Arbeiten hatten. Sprecher: 1930 erscheint der Roman „Erfolg“. Er macht seinem Titel alle Ehre und beschert Feuchtwanger Ruhm und Geld. Der Schlüsselroman zeichnet ein karikaturenhaftes Bild vom gesellschaftspolitischen Klima der zwanziger Jahre in München. Das Personentableau verweist dabei direkt auf die Akteure jener Zeit, die den Nährboden des deutschen Faschismus mit gedüngt haben. Die Schriftstellerin Heike Specht: 9 ZSP Heike Specht:Genau dieser Blick ins Innere, dieses gnadenlose Wahrnehmen, wie die nichtjüdische Gesellschaft, die Mehrheitsgesellschaft tickt. Das ist tatsächlich prophetisch. MUSIK Unheil, Machtergreifung Sprecher: Von der Machtübernahme der Nazis erfahren die Feuchtwangers in den Vereinigten Staaten, wo sie seit 1932 auf einer langen Vortrags- und Lesereise unterwegs sind. Und – sie stehen ganz oben auf der Feindesliste der Nazis. Am 10. Mai 1933 brennen Feuchtwangers Bücher auf dem Berliner Opernplatz. Sein Name steht auf der ersten Ausbürgerungsliste und – die gleichgeschaltete Universität in München erkennt ihm den Doktortitel ab. Sprecher: Und zuhause, in der Berliner Villa, bleibt kein Buch neben dem anderen stehen. Julia Schneidawind: 10 ZSP Julia SchneidawindDie Bibliothek Lion Feuchtwangers in Berlin wurde tatsächlich schon 1933 von den NS-Behörden geplündert. Und das hängt natürlich auch damit zusammen, dass Lion Feuchtwanger von Beginn ein sehr starker Kritiker des Regimes war und auch das öffentlich gemacht hat. Und das war auch der Grund, warum gerade diese Bibliothek schon 33 eben geplündert wurde in seiner Villa in Berlin. Während andere Bibliotheken erst später dann tatsächlich das Interesse der NS-Behörden auf sich gelenkt hatten, war es eben dieses Beispiel für sehr frühe Plünderung. Und wir wissen heute tatsächlich nicht, was mit den einzelnen Büchern passiert ist. Es gibt auch wieder nur Anekdoten darüber, dass die Bücher verschleudert wurden, also dass die Nazis das irgendwie versucht haben, zu Geld zu machen. Aber Anhaltspunkte dafür haben wir leider nicht.  TC 13:41 – Französisches Exil Sprecher: Weil sie nicht nach Deutschland zurückkönnen, wählen Lion und Marta ein Exil in Frankreich, den malerischen Küstenort Sanary-sur-Mer an der Cote d’Azur. Dort stranden viele deutsche und österreichische Intellektuelle auf ihrer Flucht vor den Nazis: Hermann Kesten, Bertolt Brecht, die Brüder Mann, Arnold Zweig. Lion Feuchtwanger beginnt sofort mit dem Aufbau einer neuen, der zweiten Bibliothek. 11 ZSP Julia Schneidawind:Lion Feuchtwanger hat dann sozusagen da auch Sammlungen gekauft, aber natürlich auch auf antiquarische Bestände zurückgegriffen. Es gibt diese eine Aufzeichnung in seinem Tagebuch, da schreibt er von einem Besuch von einem Herrn Spier. Ich konnte leider nicht genau rekonstruieren, um welchen Herrn Spier es sich handelt, der ihm die Bibliothek anbietet, und er notiert in das Tagebuch Bibliothek von Spier gekauft. Das ist ein Beispiel dafür. Sprecher: Diese zweite Bibliothek wächst in den folgenden Jahren auf über 20.000 Exemplare an. Sie ist vor allem eine Arbeitsbibliothek.  MUSIK Frankreich-Exil Sprecher: Mit der Besetzung Frankreichs 1940 zieht sich auch für die deutsche Exilgemeinde die Schlinge nun zu. Lion Feuchtwanger kommt in das Lager Les Milles und später nach Saint Nicola bei Nimes. Marta, die selbst zeitweilig interniert war, gelingt es, mithilfe eines jungen Diplomaten der amerikanischen Botschaft, ihren Mann aus dem Lager zu holen – mit dem Auto, wie sie in den 1950er Jahren im Interview erzählt. Dabei bediente sie sich einer List: 12 ZSP Archiv: Marta Feuchtwanger Und dann gab ich ihm einen Zettel mit, da stand nur darauf: frag nicht, sag nix, steig ein. Und daraufhin ist mein Mann in das Auto eingestiegen. Und da gab ihm der Konsul einen Mantel und ein Tuch. Und da, wenn die Wachen ihn angehalten hatten, bei der Rückfahrt, hat er immer gesagt, das ist meine Schwiegermutter. Sprecher: Nach einer abenteuerlichen Flucht über Spanien und Portugal erreichen die Feuchtwangers schließlich die Vereinigten Staaten. Sprecher:Und die Bibiliothek in Sanary-Sur-Mer? Julia Schneidawind hat den Weg der Bücher rekonstruiert. Lion Feuchtwanger kann seine Mitarbeiterin Lola Sernau noch beauftragen, die Bücher aus der Villa in Frankreich zu holen und zum Verschiffen in Kisten zu verpacken. Allerdings sollen die Kisten über Jahre im Hafen von Lissabon feststecken. 13 ZSP Julia SchneidawindEs gab da Probleme eben mit dem Zoll und anderer bürokratischer Natur, und natürlich war das mit sehr hohen Kosten verbunden. Und der Zustand war nicht ganz so großartig. Und das ist tatsächlich heute aber auch der einzige Anhaltspunkt. Wir haben keine Listen, wir wissen nicht genau, welche Bücher tatsächlich damals in diesen Kisten waren. TC 16:22 – In der Villa Aurora MUSIK Sprecher: Nach wenigen Monaten in New York zieht das Paar 1941 nach Kalifornien und findet schließlich 1943 in Pacific Palisades ein neues Zuhause - ein kleiner Küstenort außerhalb von Los Angeles. Das Anwesen ist eine hochherrschaftliche Villa mit Meerblick, später „Villa Aurora“ genannt. Und – letztendlich kommen auch die Bücher aus Frankreich dort an. Sie werden zur Grundlage einer neuen, der dritten Bibliothek. Hermann Kesten, enger Freund Lion Feuchtwangers, äußert sich bewundernd über Feuchtwangers Lebensstil, der ganz den Geschlechterrollen der Zeit entspricht. Zitator:So sollten Schriftsteller wohnen, mit zwanzig Zimmern, mit 11tausend Büchern, einem hügeligen Park mit zwei acreas, einer Sekretärin und einer Frau, die kocht, gärtnert, bäckt, chauffiert und dem großen Dichter aufs Ergebenste dient, was für ein Leben. MUSIK Sprecher: Das Leben ist für die Exilanten unterschiedlich schwer zu meistern in den Staaten. Marta und Lion aber leben begünstigt. Von den Erlösen des eben erst veröffentlichten Romans „Die Brüder Lautensack“ können sie das Haus finanzieren. Und im Zentrum des Anwesens steht eine neue - die dritte Bibliothek Feuchtwangers. Ein weiterer Neuanfang. Das Projekt Bibliothek hilft ihm über die Frustration von Verlust und Neubeginn hinweg: 14 ZSP Julia SchneidawindAlso wir können bei der Sammlung in Los Angeles tatsächlich auch von einer Rekonstruktion sprechen. Er hat auf die Netzwerke zurückgegriffen, die er früher kannte, also auch sehr viele Antiquare. Jüdische Antiquare, die auch im Exil lebten, konnten ihm dann auch wieder Bücher vermitteln. Und er hat sehr viele hiesige Antiquariate besucht. Aber auch über Kataloge, die er ständig auch aus Europa noch zugeschickt bekam, hat er versucht, diese Sammlung erneut aufzubauen. Sprecher: Grundlage für die neue Bibliothek sind aber die Bestände aus Sanary-Sur-Mer, oder wenigstens, die Bücher, die es in die Staaten geschafft haben. Eine Gedulds- und Zerreißprobe für den Schriftsteller, denn erst 1941 soll er – nach vielen Verzögerungen – seinen Schatz zumindest teilweise wieder in die Regale stellen können. Ludwig Marcuse, Freund und Nachbar der Feuchtwangers, schreibt in seinen Memoiren unter dem Titel „Mein zwanzigstes Jahrhundert“: Zitator (Marcuse):Abermals Wände aus Büchern, ein drittes Mal in einer Casa auf einem abgelegenen Hügel über der pazifischen Küste. Das war ein gewaltiges Mausoleum aus den Werken der Dichter: Ich ging immer zu ihm, wenn die Bibliothek meiner Universität versagte. MUSIK Kalifornien Sprecher: Martha Feuchtwanger macht derweil Promotion (engl.) für ihren Mann, fungiert als geschickte Agentin. Als charmante Gastgeberin und legendäre Köchin machte sie das Exil zu einem Anziehungspunkt inmitten dieser Emigrantenkolonie. Und das Zentrum dieses intellektuellen Clubs ist die prächtige Bibliothek. MUSIK KriegsendeTC 19:30 – Die Hüter des Vermächtnis Sprecher:Nach dem Krieg löst sich die Exilgemeinde am Pazifik langsam auf. Brecht, Thomas Mann, Döblin und Werfel kehren nach Europa zurück. Lion und Marta Feuchtwanger bleiben. Wegen des angenehmen Klimas, wie der Schriftsteller in einem Interview erzählt. Aber wohl vor allem, weil er stets fürchten muss, als Staatenloser nicht mehr in die USA zurückkehren zu dürfen, sollte er einmal ausreisen. MUSIK Thema Erinnerung Sprecher: Lion Feuchtwanger stirbt am 21. Dezember 1958. Seine Frau Marta überlebt ihn um fast 30 Jahre. Sie überträgt schon ein Jahr nach seinem Tod die Villa samt Bibliothek der University of Southern California, behält aber das Wohnrecht. Sie wird, bis zu ihrem Tod im Jahr 1987, zur Hüterin von Feuchtwangers Vermächtnis. 15 ZSP Marta Feuchtwanger: Da ich ja auch immer Führungen mache in der Bibliothek. Das sind sehr viele Inkunabeln und auch noch Manuskripte, handgeschriebene, zum Beispiel eine von Papst Innozenz dem Dritten und ganz einzigartige Ausgaben. Nach meinem Tod bleibt es aber genauso, wie es jetzt ist. Sprecher:Der Großteil der Bibliothek, etwa 20.000 Bände, befindet sich bis heute in der Villa Aurora, das mondäne Anwesen ist eine Künstlerresidenz für Stipendiaten aus aller Welt. Der Rest der Bücher ist Teil der „Lion Feuchtwanger memorial library“ an der „University of southern California“ im nahen Los Angeles. MUSIK, darüber Sprecherin: Eines verbindet die drei Bibliotheken, die Lion Feuchtwanger im Laufe seines Lebens aufgebaut hat: Sie waren nicht nur Werkstätten für den Schriftsteller, sondern auch Ankerplätze eines Menschen im Exil. 16 ZSP Archiv: Lion FeuchtwangerIm Übrigen bin ich deutscher Schriftsteller und suche mich immer zu umgeben mit deutschen Dingen, mit deutschen Büchern und dergleichen. Wenn ich deutsche Bücher lese, dann habe ich das Gefühl, ich unterhalte mich mit dem Autor. MUSIK EndeTC 22:10 - Outro
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Apr 19, 2024 • 23min

JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Der Orientalist Karl Süßheim

Viele Jahrzehnte lang war der jüdische Orientalist und Historiker Karl Süßheim vergessen, obwohl er Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern durchaus ein Mann von Bedeutung war. Seine Leidenschaft für Orientalistik und seine Sprachkenntnisse machten ihn während des Ersten Weltkrieges sogar unentbehrlich. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich sein Leben schlagartig. Doch vergessen wurde Karl Süßheim erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Warum? Und wie wurde er wiederentdeckt? Von Ulrike Beck (BR 2024) Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Laura Maire, Stefan Merki, Christopher Mann Technik: Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Kristina Milz, Lisa D’Angelo Ein besonderer Linktipp der Redaktion: Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER. Literaturtipps: Kristina Milz (2022): Karl Süßheim Bey (1878-1947). Eine Biografie über Grenzen. Metropol-Verlag. Er war ein glühender bayerischer Patriot, tiefgläubiger Jude und leidenschaftlicher Orientalist: Der in Vergessenheit geratene Karl Süßheim hat die Grenzen seiner Zeit herausgefordert wie kaum ein anderer. Er wuchs in Nürnberg auf, lebte als junger Mann lange im Nahen Osten. An der Universität München unterrichtete er bekannte Wissenschaftler wie Gershom Scholem und Franz Babinger, bis die Nationalsozialisten ihn entließen. Eine sehr ausführliche und detaillierte Biografie über das Leben und Werk Karl Süßheims. Hier geht’s zum BUCH. Kristina Milz (2022): Karl Süßheim (1878-1947). Ein verfolgter Wissenschaftler und seine Universität. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung. Ausgabe 02/22, S. 64 – 72. Immer wieder stößt die Wissenschaft auf faszinierende bayerisch-jüdische Biografien von Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind, obwohl ihre Rolle in der Geschichte eine besondere war: Protagonisten der Geschichte wie Karl Süßheim sind nicht zufällig vergessen worden. Die Reihe „Bayerns vergessene Kinder“ porträtiert jüdische Biografien, die eine damnatio memoriae zum Opfer gefallen sind – und ihrer Wiederentdeckung harren. Hier geht’s zum ARTIKEL. Barbara Flemming & Jan Schmidt (2002): The diary of Karl Süssheim (1878-1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Stuttgart: Steiner Verlag. The orientalist Karl Süssheim kept his Diary in Turkish – and later in Arabic – from his early years in the Ottoman Empire through the Young Turk Revolution of 1908 and after his return to Germany, through war, revolution, and the horrors of Nazi rule. This book presents selected episodes in translation from the surviving parts of Süssheim’s Diary, covering the years 1908 to 1940. In its detached style it allows the reader a remarkable insight into Süssheim’s family surroundings, his academic career at Munich University, and the eventful times he lived through. Hier geht’s zum BUCH. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:48 – Orientalistik statt HopfenhandelTC 04:34 – Die Zeit in KonstantinopelTC 08:30 - SchicksalsjahreTC 11:25 – Ein zweiseitiger RufTC 16:57 – Kampf ums VermächtnisTC 22:03 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK ErzählerKarl Süßheim. Die Historikerin Kristina Milz wird hellhörig, als sie auf den Namen stößt. 1.O-Ton (Kristina Milz)Also ich habe an der LMU Magister Geschichte studiert und hab mich damit auseinandergesetzt, wie die Historiker an der LMU mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind. Und dafür hab ich mir erstmal angeschaut, wer von 1933 bis 45 in der Fakultät überhaupt da war. Und da ist mir sein Name aufgefallen. Also er war 1933 noch da, im Sommersemester, und es war ein klar erkennbar jüdischer Name und verschwindet dann eben sang- und klanglos und man hört nichts mehr von ihm. Da war mir relativ schnell klar, er muss einer der Opfer der Rassenpolitik gewesen sein, also dieses Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Und dachte natürlich, dass sich im Historicum in der Bibliothek Literatur dazu finden lässt. MUSIK Erzählerin:Doch auch nach längerer Suche stellt sich heraus: Es gibt nichts. 2.O-Ton (Kristina Milz)Und so bin ich dann natürlich sehr neugierig worden.ErzählerinDas Ergebnis ist eine Dissertation, die 2022 als Biografie erscheint und den Titel trägt: „Karl Süßheim Bey. Eine Biografie über Grenzen“.  Kristina Milz hat ihre Dissertation am Institut für Zeitgeschichte in München verfasst. Seit 2022 arbeitet sie auch für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich der Erforschung und Vermittlung jüdischen Lebens in Bayern widmet. Erzähler Während der Recherchen zu ihrer Biographie stößt Kristina Milz darauf, dass Jahrzehnte vor ihr im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt auf Karl Süßheim aufmerksam geworden sind. Und in langjähriger Kleinarbeit seine Tagebücher ins Englische übersetzt haben.ErzählerinEs sind zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die Kristina Milz damit auf Englisch zur Verfügung stehen. Um mit den übrigen Quellen und dem Nachlass arbeiten zu können, nimmt sie Sprachunterricht am Münchner Nahostinstitut, wo der Name Süßheim ihrem Dozenten noch geläufig ist:3. O-Ton (Kristina Milz)Das heißt, ich musste tatsächlich anfangen, erst mal Türkisch zu lernen, habe auch Arabischkurse belegt und habe dann eben das Osmanische […], dafür gibt es an der LMU auch Kurse, und da bin ich auch dringesessen. Mein Osmanisch-Dozent hat auch immer gesagt: Kristina, du lernst nicht Osmanisch, Du lernst Süßheim!TC 02:48 – Orientalistik statt Hopfenhandel MUSIK ErzählerKarl Süßheim kommt am 21. Januar 1878 in Nürnberg zur Welt. Sein Vater Sigmund betreibt einen florierenden Hopfenhandel, die Mutter Clara stammt als Tochter des Fabrikanten und Politikers David Morgenstern aus sehr wohlhabenden Verhältnissen. ErzählerinKarl wächst also gemeinsam mit seinem älteren Bruder Max und seiner jüngeren Schwester Paula in einer wohlsituierten und jüdisch-liberalen Familie auf.ErzählerSigmund Süßheim möchte selbstverständlich, dass einer seiner Söhne das erfolgreiche Geschäft übernehmen soll. Doch der Hopfenhandel interessiert weder Max, noch Karl. ErzählerinNachdem Max nach dem Abitur seinen Weg als Jurist und späterer SPD-Politiker im Bayerischen Landtag einschlägt, entscheidet sich auch Karl gegen den Wunsch des Vaters. Er beginnt 1896, Geschichte zu studieren. Zunächst in Jena, dann in München, Erlangen und Berlin. ErzählerIn Berlin besucht Karl das Seminar für orientalische Sprachen und lernt dabei junge Gaststudenten aus dem Osmanischen Reich kennen. Woher sein Interesse an dieser Region kommt, lässt sich nur rekonstruieren.4.O-Ton (Kristina Milz)Das durfte seine Familie auf keinen Fall wissen, weil die Orientalistik damals ja auch noch sehr so als Orchideenfach verschrien war. Und als Karl Süßheim dann in Berlin war, (…) war einige Jahre zuvor das sogenannte Seminar für Orientalische Sprachen gegründet worden. (…) Also in dieser Zeit muss man sich vorstellen, entsteht eigentlich die Islamwissenschaft. Es entsteht dieses Fach, das sich mit dem „zeitgenössischen Orient“, wie man damals gesagt hat, beschäftigt hat. Und das ist genau das, was Karl Süßheim dann interessiert hat.TC 04:34 – Die Zeit in Konstantinopel MUSIK ErzählerinGleich nach der Abgabe seiner Dissertation über die „Preußischen Annexionsbestrebungen in Franken…“ zieht Karl Süßheim 1902 für einige Jahre nach Konstantinopel. Um dort seine Sprachkenntnisse im Türkischen und Arabischen zu vertiefen.ErzählerIn Konstantinopel erlebt der frisch promovierte Historiker eine ganz andere Atmosphäre als im Kaiserreich.5.O-Ton (Kristina Milz)Als er zuerst nach Konstantinopel gekommen ist und sich vor allem in diesem sultanstreuen Umfeld bewegt hat, war er ja durchaus an der einen oder anderen Stelle mit Antisemitismus konfrontiert. (…) Aber bei ihm ist es tatsächlich so, dass er erstmals in seinem Leben nicht in erster Linie als Jude wahrgenommen wird. In ihm wird vor allem der deutsche Wissenschaftler gesehen, der sich diese Sprachen so gut angeeignet hat und mit dem man jetzt eben über Politik und Geschichte und dergleichen diskutieren kann. Und noch sehr viel evidenter wird das dann, wenn er sich mit den sogenannten ‚Jungtürken‘ abgibt, also der osmanischen Opposition, die sehr nach Westen ausgerichtet war, die sehr auf Modernisierung geschaut hat und auch genau das einfordern wollte vom Sultan. ErzählerinKarl Süßheim ist selbst zunächst überzeugter Konservativer und Monarchist.6.O-Ton (Kristina Milz)Als Karl Süßheim ins Osmanische Reich kam, war er politisch äquivalent eigentlich aufgestellt zu seiner Einstellung im Kaiserreich also sehr königstreu und patriotisch. Und hat dann aber eben dadurch, dass er diesen Kontakt mit den Jungtürken in Kairo hatte, zum ersten Mal die Idee des Tyrannensturzes für sich auch akzeptiert. Und war dann auch mitten im Zentrum dieser Revolution.ErzählerDie Jahre im Osmanischen Reich sind in Süßheims Leben in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Er, der Zeit seines Lebens kein guter Netzwerker war, sucht plötzlich die Nähe zu orientalischen Intellektuellen und knüpft Kontakte. Dabei findet er auch den Zugang zu seinem Glauben.7.O-Ton (Kristina Milz)Er macht es in seinem Tagebuch gar nicht so explizit, an welcher Stelle es dann so ist, dass er wirklich jüdisch gläubig wird. Aber man sieht, er beschäftigt sich eben mit dem Islam auch sehr intensiv. Er hat zum Beispiel Kontakt mit dem Islamgelehrten Musa Kazim, der später dann der Scheichülislam, also der Großmufti eigentlich von Konstantinopel wird. Also das ist derjenige, der Süßheim zum Islam bringen will und da wird viel diskutiert. Und als er sich dann davon wieder abgrenzt und abwendet, findet er immer mehr Kontakt, auch mit den orientalischen Juden und beschäftigt sich dann damit und kommt dann eben sehr gläubig zurück.MUSIK ErzählerinKarl Süßheim ist 30 Jahre alt, als er zurückkehrt und an der Uni München beginnt, seine Habilitation zu schreiben. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte der Dynastie vor den Osmanen: den Seldschuken.ErzählerAls frisch habilitierter Privatdozent gibt er ab 1911 an der Münchner Universität Kurse in Arabisch, Persisch und Osmanisch. Anfangs ist die Zahl seiner Studenten noch überschaubar, aber mit Beginn des Ersten Weltkrieges ändert sich das schlagartig. ErzählerinMit dem Osmanischen Reich als Verbündeten wollen plötzlich viele Studenten Türkisch lernen. Es entsteht ein regelrechter Boom auf die Expertise des Karl Süßheim. Wobei er nicht nur an der Uni gefragt ist.8.O-Ton (Kristina Milz)Im Ersten Weltkrieg war es so, dass Süßheim nicht eingezogen wurde, weil er eben an der Heimatfront, wie man es nannte, unentbehrlich war. Das lag daran, dass er eben als einer der wenigen diese Sprachkenntnisse hatte und dann in vielerlei Hinsicht helfen konnte zu Hause. Zum einen bei der Zensur, also bei der bayrischen Militärzensur hat er gearbeitet. Er hat aber auch als Dolmetscher gearbeitet. Wenn zum Beispiel jungtürkische Delegationen zu Besuch waren, dann ist er mit denen mitgefahren und hatte eben übersetzt.TC 08:30 - Schicksalsjahre MUSIK ErzählerAb 1919 unterrichtet Karl Süßheim als außerordentlicher Professor die Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch. Er ist inzwischen 41 Jahre alt und noch immer Junggeselle. ErzählerinKarl findet erst acht Jahre später die Frau, die zu ihm passt. Mit Karolina Plank, einer tiefgläubigen Katholikin. Ausgerechnet er, der als einziger in seiner Familie ein gläubiger Jude ist, lässt sich 1927 auf eine gemischt-konfessionelle Ehe mit Karolina ein.9.O-Ton (Kristina Milz)Man muss aber schon auch sagen, das war sicher für ihn ein großer Schritt zu gehen, weil er davor sehr, sehr lange explizit nach einer jüdischen Frau gesucht hat. Er hat sich dann aber von seiner Frau versprechen lassen, dass er für die religiöse Erziehung der Kinder zuständig sein wird in der Ehe. Und wir reden vom Jahr 1927. Da hat sie sich auch darauf eingelassen, weil sie auch noch überhaupt gar nicht wusste, was das für Auswirkungen haben wird.Erzähler1929 kommt Tochter Margot zur Welt, die zweite Tochter Gioconda wird 1934 geboren. Ein Jahr, nachdem sich für Karl Süßheim und seine Familie alles verändert hat.10.O-Ton (Kristina Milz)1933, kann man zweifellos sagen, dass das das allerschlimmste Jahr in seinem ganzen Leben war. Also neben der nationalsozialistischen Machtübernahme stirbt erstmal sein Bruder an einem Schlaganfall. Dann wird durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihm seine Stelle an der Universität genommen. Und seine Mutter stirbt auch noch in diesem Jahr. Also alles passiert innerhalb eines Jahres, und da ist der Bruch zwischen der Zeit davor und diesem Jahr ganz extrem in den Quellen.ErzählerinNach der Pogromnacht vom November 1938 wird Karl Süßheim für 16 Tage im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er schreibt über diese Zeit auf Arabisch in sein Tagebuch und schafft damit laut Kristina Milz ein einzigartiges Dokument. In dem er nicht nur nüchtern Fakten für die Nachwelt festhält, sondern auch sehr akkurate Skizzen vom Konzentrationslager anfertigt, die er auf Arabisch beschriftet.11.O-Ton (Kristina Milz)Und man muss sich vorstellen, er war jemand, der natürlich ein relativ behütetes Leben hatte. Und plötzlich kommt er in dieses Konzentrationslager, sieht, dass Menschen erschossen werden. Sieht, dass Menschen zusammenbrechen, wird geschlagen, weil er sich nicht als Judenschwein bezeichnen will. All diese Dinge passieren ihm dort. Und nachdem er zuvor immer gesagt hat, er geht nicht aus Deutschland weg, weil das seine Heimat ist – Bayern, seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Bayern –, denkt er dann um. Dabei muss man aber auch wissen, dass er unterschreiben musste, dass er das Land verlassen wird, als er aus dem Konzentrationslager entlassen wird.TC 11:25 – Ein zweiseitiger Ruf ErzählerErst im Sommer 1941 gelingt es Karl Süßheim mit seiner Frau und den Töchtern, nach Istanbul zu emigrieren. Sie sind eine der letzten Familien in Bayern, die der Schoa entkommen sind. Ein Teil seiner Privatbibliothek wird beschlagnahmt und landet in der Bayerischen Staatsbibliothek.ErzählerinDa aber auch die Türkei zu diesem Zeitpunkt eigentlich keine deutschen Juden mehr aufnimmt, musste das türkische Kabinett eine Ausnahme für Karl Süßheim beschließen. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist damit verbunden, dass er an der dortigen Universität unterrichtet. Damit steht er zwar unter Druck, aber auch endlich wieder im Hörsaal. Die Bedingungen an der Universität Istanbul brachten für Karl Süßheim einige Herausforderungen mit sich: Er musste um seinen Professorentitel kämpfen, seine Publikationstätigkeit war eingeschränkt. Auch in der Lehre musste er sich erst eingewöhnen.12. O-Ton (Kristina Milz)Man muss sich auch diese Situation mal vorstellen, also er hatte jahrelang während des Nationalsozialismus wenige Schüler bis gar keine Schüler. Er hatte vielleicht noch ein paar Privatstunden gegeben für die Leute, die sich das getraut haben. Und plötzlich ist er da in der Türkei und steht vor vollen Hörsälen, und alle wollen über die türkische Geschichte bei ihm lernen. Es ist auch interessant, weil in seinem Nachlass finden sich die Inskriptionslisten, wo man die ganzen Namen der türkischen Studierenden sieht, die sich für seine Vorlesungen angemeldet haben. Und es sind seitenweise Einträge.MUSIK ErzählerKarl Süßheim bleiben nur wenige Jahre im Exil. Er stirbt am 13. Januar 1947 mit nur 68 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. Und wird auf dem jüdischen Friedhof in Istanbul beerdigt. An seinem Grab spricht der jüdische Romanist Erich Auerbach die Worte:ZitatorAuf dem Gebiet der türkischen Geschichte wird der Name Karl Süssheim nicht vergessen werden und nicht vergessen werden können.ErzählerinWas Süßheims Reputation in der Türkei angeht, sollte Auerbach Recht behalten. Doch in Deutschland passiert das Gegenteil: Der einstige Professor für orientalische Sprachen und die „Geschichte der mohammedanischen Völker“ gerät in Vergessenheit. ErzählerNicht zuletzt, weil die Ludwig-Maximilians-Universität keinen Nachruf auf ihren einstigen Professor Karl Süßheim herausgibt. Obwohl eine Würdigung von ehemals verfolgten Wissenschaftlern in der Nachkriegszeit eigentlich zum Standard gehört.ErzählerinUnd auch Süßheims Witwe wird lange ignoriert. Karolina, die nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert ist, wendet sich 1947 mit der Bitte um eine Witwenrente an die Uni. Und muss 11 Jahre lang dafür kämpfen:13.O-Ton (Kristina Milz)Man könnte ja meinen, so wie ich auch eben damals auf ihn gestoßen bin, dass er eben einfach vergessen wurde. Man sieht aber sehr deutlich eben an den Quellen auch im Universitätsarchiv, dass das nicht der Fall war, weil die LMU fast 20 Jahre lang damit beschäftigt war, kein Geld auszugeben in der Sache Süßheim. Also diese Quellen im Universitätsarchiv, die betreffen die Universität, das Finanzministerium, das Kultusministerium und so weiter. Und man sieht daran auch, dass zum Beispiel noch mit nationalsozialistischer Gesetzgebung wirklich argumentiert wird. Also es wird dann zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob seine Witwe Witwenrente bekommt, mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 argumentiert.  Und es stellt sich bei ihm sehr lange nicht einmal die Frage in den Dokumenten, was denn mit ihm passiert wäre, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte. MUSIK ErzählerErst nachdem Karolina Süßheim 1951 die United Restitution Organization bevollmächtigt, sich ihres Falls anzunehmen, fordert das Kultusministerium die Personalakte Süßheims bei der Uni an. ErzählerinEs werden Gutachten in der Causa Süßheim eingeholt. Unter anderem vom Dekan der Philosophischen Fakultät Anton Spitaler, der während der NS-Zeit Stipendiat der gleichgeschalteten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bei der Korankommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Und im Zweiten Weltkrieg der Wehrmacht in Belgien und Frankreich als Dolmetscher gedient hatte. In seinem Gutachten fällt Spitaler ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen Lehrer.14.O-Ton (Kristina Milz)Anton Spitaler (…) wurde direkt gefragt, wie die Karriere von Karl Süßheim weitergegangen wäre, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Und dieses Gutachten ist wirklich erstaunlich vernichtend. (…) Er macht seine Sprachenkenntnisse zum Beispiel sehr schlecht, sagt die wären nicht vorhanden gewesen. Das sind ganz offensichtliche Lügen, die in diesem Gutachten drinstehen. Und an einer Stelle schreibt er sogar noch, er hätte durchaus etwas von Karl Süßheim gelernt, aber das hätte er eher aus ihm herausgeholt, als dass Süßheim es ihm gegeben hätte. Das war natürlich schon sehr bezeichnend. Und man muss sich vor Augen halten, dass es zu dem Zeitpunkt ja überhaupt nicht mehr darum ging, Karl Süßheims Karriere voranzutreiben oder dergleichen, er war ja längst tot. Also es ging wirklich nur noch darum, seine Familie zu entschädigen.ErzählerDieses Gutachten geht in die Bewertung des Falles ein. Erst 11 Jahre nach dem Tod ihres Mannes bekommt Karolina Süßheim ab 1958 eine entsprechend kleine Entschädigung. Weitere sieben Jahre später wird der Fall zu den Akten gelegt.TC 16:57 – Kampf ums Vermächtnis MUSIKErzählerinWährend in Bayern der Name Süßheim bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in Vergessenheit gerät, machen sich im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt daran, Süßheims Tagebücher ins Englische zu übersetzen. Zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die lange Zeit unentdeckt waren. 15.O-Ton (Kristina Milz)Weil er sehr viele Handschriften gesammelt hat, im Laufe seines Forscherlebens also originale Handschriften aus dem Nahen Osten und die auch zusammengehalten hat. Seine Witwe hat diese Handschriftensammlung dann verkauft, und die ist in Teilen in Berlin und in Teilen in Washington gelandet. Und in Berlin – bei diesen Handschriften befand sich eben auch sein Tagebuch, was die Witwe bestimmt nicht gewusst hat, weil das natürlich nicht unterscheidbar war zu anderen Notizen, die er gemacht hat für sie, weil es in fremden Sprachen war. Und deswegen sind eigentlich Wissenschaftler erstmals wieder mit ihm in Kontakt gekommen, weil sie sich seine Handschriften angeschaut haben und dann das Tagebuch gefunden haben.ErzählerDie Edition „The Diary of Karl Süssheim“ erscheint 2002 und löst eine Welle der Erinnerung aus. Oder wie die FAZ damals schreibt:ZitatorErst die kommentierte Übersetzung der Tagebücher gibt Süssheim sein Leben zurück, macht aus dem Vergessenen und Unbekannten einen an allem interessierten Menschen im Wirbel des dramatischen Geschehens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.MUSIK ErzählerinNicht nur die Bayerische Staatsbibliothek setzt ab 2003 ein Restitutionsverfahren ein, sondern auch die Provenienzforschung des Stadtarchivs Nürnberg wird aktiv. Und setzt sich mit der Familie Süßheim in Verbindung. Für Lisa D’Angelo, der Enkelin von Karl Süßheim, eröffnet sich damit ein ganz neuer Zugang zur eigenen Familiengeschichte:16.O-Ton (Lisa D‘Angelo)2014 hatte ein Archivar das Internet genutzt, um meine 84-jährige Tante Margot in New York ausfindig zu machen, wo sie seit über 65 Jahren lebte. Er wollte sie wissen lassen, dass das Archiv ein antikes Buch mit dem Süßheimer Exlibris besaß. Und dieses Buch war von den Nazis beschlagnahmt worden, kurz bevor mein jüdischer Großvater und meine katholische Oma und ihre beiden Mädchen nach Istanbul geflohen waren. Und als das Nürnberger Archiv mit meiner Tante Margot Kontakt aufgenommen hat, hat sich uns natürlich eine ganz neue Welt der Familie Süßheim eröffnet. ErzählerMargot Süßheim ist es, die beginnt, als Zeitzeugin über ihren Vater zu sprechen. Und auch ihrer Nichte einige Details über die Schwierigkeiten ihrer Familie während der Nazizeit zu erzählen. Allerdings erst, als Lisa erwachsen ist.17.O-Ton (Lisa D‘Angelo)Ehrlich gesagt, wusste ich nur sehr wenig über meinen Großvater. Als Kind hörte ich, dass mein Großvater ein Sprachwissenschaftler war, der etwa 15 Sprachen beherrschte. Ich hörte auch, dass seine Mutter Clara ein bisschen schwierig war. Und sie sammelte auch Dinge, die mein Großvater auch geerbt hatte. Und seine Vorliebe für das Sammeln von Büchern rettete tatsächlich die Familie, denn meine Oma verkaufte seine umfangreiche Büchersammlung an die Yale University in den USA, um die Schiffstickets zu kaufen, mit denen sie von Istanbul nach New York auswandern konnten. ErzählerinLisa D’Angelo ist das öffentliche Gesicht der Familie Süßheim. Sie verwaltet nicht nur den privaten Nachlass ihres Großvaters, sondern reist auch nach Deutschland, um Ausstellungen zu eröffnen oder Vorträge zu halten. So wie 2022 im Münchner Literaturhaus. Da hatte sie die weite Anreise von Chicago auf sich genommen, um zur Vorstellung von Kristina Milz´ Biografie „Karl Süßheim Bey“ zu sprechen; der ersten umfassenden Biografie des bedeutenden bayerischen Orientalisten.MUSIK ErzählerKarl Süßheim hat ein kostbares Erbe hinterlassen. Eines, das viel zu lange im Verborgenen geblieben ist, sagt Kristina Milz:18.O-Ton (Kristina Milz)Ich finde es vor allem eben sehr wichtig, weil oftmals davon ausgegangen wird, man hätte zum Nationalsozialismus schon alles erzählt. Und gerade die Geschichte von Karl Süßheim zeigt auch mal wieder, dass wir noch lange nicht fertig sind damit, diese Zeit uns anzuschauen.TC 22:03 – Outro

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