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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Jun 28, 2024 • 23min

EINFACH MODE! Wer hat die Hosen an?

Von Männern in Strumpfhosen zu Frauen im Hosenanzug - jahrhundertelang war die Hose in Europa Symbol von Männlichkeit und Macht, Klassenkonflikten und Geschlechtsunterschieden. Und nicht zuletzt deshalb heiß umstritten: Von der Rolle der Hose in der Französischen Revolution wie im Kampf um die Emanzipation und der Jugendrevolte des 20. Jahrhunderts. Von Ulrike Rückert (BR 2024)Credits Autorin: Ulrike Rückert Regie: Irene Schuck Es sprachen: Berenike Beschle, Stefan Wilkening, Katja Bürkle Technik: Susanne Herzig Redaktion: Nicole Ruchlak Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: ICONIC – Modegeschichte mit Aminata Belli Dieser Podcast erzählt in jeder Episode die Geschichte eines ikonischen Kleidungsstück von Kapuzenpulli und Doc Martens zu Fußballshirt, Handtasche und Jeans und den gesellschaftlichen, technologischen und sozialen Umbrüchen, die Modetrends oft begleiten. Aminata Belli nimmt mit in die Geschichte vieler Lieblingsteile. Woher kommt ihre Coolness? Wie schaffen sie es, für große popkulturelle Momente, Subkulturen oder Underdogs zu stehen? JETZT ANHÖREN Linktipps: funk (2021): Männer im Rock – Darum irritiert uns das! Männer in Kleidern oder Röcken - das ist nicht nur ein echter Fashiontrend, sondern auch ein riesiges Aufregerthema. Männer, die im Alltag Röcke tragen sind selten und es erfordert viel Mut. Nur was hält Männer eigentlich davon ab, Sommerkleider zu tragen? Historisch gibt es die strikte Trennung von Männer- und Frauenkleidung noch gar nicht so lange: Im 18. Jahrhundert brachte das aufsteigende Bürgertum neue Moralvorstellungen mit, die strikt zwischen Mann und Frau unterschieden und damit unseren Geschmack mitprägten. Heute sehen Modeexpert:innen darin einen neuen Trend, der sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Die Nachfrage nach gender-neutraler Kleidung, die Geschlechtergrenzen sogar gänzlich überwindet, sei da und das Ganze auch nicht mehr nur ein kurzlebiger Trend, sondern liege an einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung. Zum Film geht es HIER. ARD alpha (2022): Mode und Geschlechterrollen Für die einen ist sie die schönste Nebensache der Welt, für andere überflüssiger Luxus. Und doch kommt keiner an ihr vorbei: der Mode. Sie ist das ausdruckstärkste und augenfälligste Kommunikationsmittel, über das wir Menschen verfügen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:34 – Von barbarisch bis populärTC 07:31 – Die Bedrohung der „Männlichkeit“TC 10:14 – Andere Zeiten rücken anTC 14:48 – Das amerikanische Bloomer-KostümTC 17:33 – Eroberung des SportsTC 19:07 – Wer hat jetzt die Hosen an?TC 22:00 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro   MUSIK ERZÄHLERIN Die Sängerin Esther Ofarim trug edlen schwarzen Samt und Perlenkette, als sie an einem Abend im September 1966 die Bar im Hamburger Grandhotel Atlantic betrat. Ein Angestellter forderte sie auf, die Bar zu verlassen und sich umzuziehen, wenn sie wiederkommen wolle. Der Grund für den Affront: Das todschicke Outfit des Weltstars war – ein Hosenanzug. MUSIK ERZÄHLERIN Die Sache schlug Wellen. Einer Reporterin erklärte der Hoteldirektor, man erwarte von den Gästen „vorschriftsmäßige Garderobe“, und sobald die Damenhosen „offiziell anerkannt“ seien, werde man sie selbstverständlich akzeptieren. Die Hamburger Hosenaffäre ist ein Beispiel für das Konfliktpotential in der Geschichte des zweigeteilten Beinkleids. ZITATOR Hosen. Sind eine bekannte Kleidung, womit die Manns-Personen den Unter-Leib bedecken. ERZÄHLERIN So definiert ein Lexikon aus dem 18. Jahrhundert und erläutert weiterhin: ZITATOR „Hosen ihres Mannes hat das Weib.“ Ist ein bekanntes Sprüchwort, so von denen herrschsüchtigen Weibern gesaget wird, welche ihren Männern in allen befehlen und das Regiment über selbige führen wollen.TC 01:34 – Von barbarisch bis populär ERZÄHLERIN Die Geschichte der Hose ist lang. Ötzis Beinlinge aus Fell waren ein Vorläufer. Die ältesten richtigen Hosen, die Archäologen ausgegraben haben, gehörten asiatischen Reiten vor dreitausend Jahren. Germanen und Kelten trugen Hosen, Griechen und Römer allerdings fanden die Dinger barbarisch. Auch ist die Hose nicht von Natur aus männlich, zwischen Indien und Grönland finden sich in der Geschichte der Menschheit viele Völker mit behosten Frauen. Aber im Mittelalter wurde die Hose in Europa zum Symbol von Männlichkeit und von Macht im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Die Redensart von der Frau, die die Hosen anhaben will, war schon im 13. Jahrhundert geläufig, jedoch ging es damals nicht um das Oberbekleidungsstück, das im Deutschen heute Hose heißt. Denn das war auch bei Männern aus der Mode. MUSIK ZITATOR Der Gast schritt an das Bett,da war ein weißes Gewand für ihn bereitet.Einen Bruchgürtel von Gold und Seidezog man darunter.Rote Hosen aus Scharlach streifte man ihm über. ERZÄHLERIN So beschreibt Wolfram von Eschenbach in seinem Roman „Parzival“ um das Jahr 1200 das Outfit eines Ritters bei Hofe. Das Gewand war lang, und „Hosen“ ist das mittelhochdeutsche Wort für Strümpfe oder Beinlinge. Die trugen auch Frauen unterm Kleid. Der „Bruchgürtel“ hielt die Bruch – eine Unterhose. MUSIK ERZÄHLERIN:In Heinrich Wittenwilers Satire „Der Ring“, verfasst rund zweihundert Jahre später, bekommt der Bräutigam bei einer Bauernhochzeit guten Rat: ZITATOR Das sag ich dir ganz grad heraus:Du bist der Herr in deinem Haus!Wiss’, und trägt dein Weib die Bruch,Sie wird dein Unglück und dein Fluchwider Gott und sein Gebot!Hierzu wirst du der Leute Spott. ERZÄHLERIN Die Unterhose machte den Mann. Und der Mann hatte dafür zu sorgen, dass er der Herr im Haus war, wie es auch die Bibel bestimmte. Frauen galten als launisch, eitel, gierig und herrschsüchtig, und hielt man sie nicht unter Kontrolle, geriet die Welt aus den Fugen. So waren französische Schwänke, italienische Novellen und deutsche Fastnachtsspiele bevölkert von Frauen, die – oft ganz handgreiflich – versuchten, ihrem Mann die Hose zu entreißen. Die Geschichten warnten unbotmäßige Frauen vor drastischen Strafen oder führten dem männlichen Publikum vor, welche Demütigungen ihm bei einer Niederlage drohten: MUSIK ZITATOR Die Betten machen, kehren, waschen,sudeln und prudeln in der Aschen. ERZÄHLERINEine Revolution in der Männermode nach der Großen Pest im 14. Jahrhundert brachte die Hose als Oberbekleidung zurück. In einer Chronik ist zu lesen: ZITATOR Nachdem das Sterben ein Ende hatte, da hob die Welt wieder an zu leben und fröhlich zu sein, und machten die Männer neue Kleidung. Die Röcke waren so eng, dass ein Mann nicht darin schreiten konnte, und waren eine Spanne über die Knie. Danach machten sie die Röcke ganz kurz, eine Spanne über den Gürtel. ERZÄHLERIN Die jungen Männer schnitten immer mehr von ihren Gewändern ab, bis nur ein Wams übrigblieb, das kaum noch den Po bedeckte. Das rückte wohlgeformte Beine – Gipfel männlicher Schönheit – in vorteilhaftes Licht, aber zwischen dem Wams und den langen Strümpfen blitzte die Bruch und womöglich blanke Haut hervor. Zur Abhilfe nähte man die Beinlinge hinten zusammen und setzte vorn einen Latz ein. Voilà, die Hose war wieder da, und im Deutschen trug sie nun auch diesen Namen. Von nun an war sie das männliche Kleidungsstück. Und bald in den wunderlichsten Erscheinungen zu sehen. MUSIK ZITATOR Mir kann keiner eine zu abenteuerliche Form eines Kleids aufbringen, denn je seltsamere Kleidung, nach Schnitt von Hosen, Wams und Schuhen, einer aufbringt, je lieber trag ich’s. ERZÄHLERIN  … bekannte der Augsburger Konrad Schwarz im 16. Jahrhundert, durchaus typisch für den modebewussten Mann der Renaissance. Männer von Adel und nun auch die stolzen Bürger der Städte zeigten nicht nur Figur, sondern auch, wer sie waren und was sie sich leisten konnten. Wie ein Pfau spreizte man das schillernde Gefieder. Nach der Strumpfhosenphase waren Hosen für drei Jahrhunderte mehr oder weniger kurz und meist farbenfroh. Die Hosenwissenschaft kennt Dutzende von Namen für Modestile, die miteinander konkurrierten oder sich abwechselten - eng anliegend oder bauschig weit, kugelig rund ausgepolstert, geschlitzt mit kontrastfarbig herausquellendem Futter, bestickt, mit Bändern und Schleifen verziert. Und das Gemächt verpackt in protzig großen Schamkapseln. ZITATOR Und möchte mancher meinen, er sehe einen Kramladen aufgetan, so mit mancherley Farben von Nesteln, Bändeln, Schlüpffen sind sie an Haut und Haaren, an Hosen und Wambs, an Leib und Seel behenket, beschlencket, beknöpfet und beladen. ERZÄHLERIN … spottete der Satiriker Johann Michael Moscherosch zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Und dann kam die Rheingrafenhose – die ein Rock war. Ein knielanger, weiter Rock, üppig garniert mit Spitzen, Bänderbüscheln und Schleifen, und darunter schaute eine Pluderhose mit breiten Spitzenvolants heraus. Eine Zeitlang war das der Hit an Europas Fürstenhöfen. Zur selben Zeit sah Samuel Pepys in London Irritierendes: ZITATOR In den Gallerien finde ich die Hofdamen in ihrer Reitkleidung, mit Mänteln und Wämsern gerade wie meine, mit Perücken und mit Hüten, so dass, würde nicht ein langer Unterrock unter ihren Männermänteln schleifen, niemand sie für Frauen halten könnte, was ein seltsamer Anblick war und mir nicht gefiel. TC 07:31 – Die Bedrohung der „Männlichkeit“ MUSIK ERZÄHLERIN Die Ordnung der Geschlechter verlangte auch sichtbare Verschiedenheit, was ebenfalls auf biblischem Gebot beruhte: ZITATOR Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun. ERZÄHLERIN Das Verbot galt für beide Geschlechter, doch es ist nicht für beide dasselbe, wenn die Frau dem Mann untergeordnet ist. Der Unterschied besteht darin, so der Schriftsteller Eugen Isolani, dass … ZITATOR … die erhabene und herrschende Stellung des Mannes nicht erniedrigt werden solle durch das Weib, das sich als Mann zeigt, und nicht durch die Selbsterniedrigung des sich als Weib gebärdenden Mannes. ERZÄHLERIN Wenn Frauen sich Männerkleider aneigneten, sah man die Männermacht bedroht. Das war nicht nur eine Frage der Optik - man hegte den Verdacht, dass die Kleidung Frauen auch ein anderes Selbstgefühl gebe. Im 16. Jahrhundert schrieb der englische Humanist Richard Hyrde: ZITATOR Eine Frau soll nicht Männerkleidung verwenden, denn es ließe sie denken, sie hätte den Stolz eines Mannes. ERZÄHLERIN Etwas prosaischer bemerkte das Journal des Luxus und der Moden 1802 über die damals aktuellen absatzlosen Frauenschuhe: ZITATOR Flache Sohlen geben Sicherheit und Bestimmtheit, der Gang wird selbständiger, und niemand kann läugnen, daß die hohen Hacken jedem Weibe ungesehene Fesseln anlegen, wodurch die Hülfe des Mannes ihm auf jedem Schritte nöthig wurde. ERZÄHLERIN Hutformen, Jackenschnitte und Absätze waren eine Sache, doch die Hose blieb ein Tabu. Aber auch dieses wurde oft gebrochen. Viele Frauen reisten in Hosen, weil es bequemer war. Englische Aristokratinnen gingen in Hosen auf die Jagd. Königin Christina von Schweden trug gern Männerkleider. Katharina die Große und Marie Antoinette ritten im Herrensitz in Hosen, Männerrock und Dreispitz, und ließen sich auch so malen. Und was ist mit dieser Anmerkung in einem Lexikon aus den Siebzehnhundertachtzigern gemeint? ZITATOR Bisweilen trägt auch das Frauenzimmer, besonders zur Winters=Zeit, Beinkleider, um sich desto besser vor der Kälte zu verwahren; und es wäre zu wünschen, daß sich das Frauenzimmer, der Gesundheit wegen, dieser Tracht mehr bediente. ERZÄHLERIN Um 1700 herum hatte die Männerhosenpracht ein Ende. Man trug nun schlichte Kniebundhosen, die fast völlig verschwanden unter langen Jacken mit weiten Schößen. Im Laufe des Jahrhunderts wurde die Silhouette schlanker, die Jacken offen getragen und die Schöße schräg zurückgeschnitten. Man zeigte wieder Bein, in knallengen Hosen. Wer keine muskulöse Adonis-Statur vorweisen konnte, packte gern Polster und Wachsprothesen unter die Hosen. TC 10:14 – Andere Zeiten rücken an MUSIK ERZÄHLERIN Die Revolution in Frankreich war auch eine Revolution der Hosen. Die radikalsten Umstürzler erklärten die Kniebundhose, die „Culotte“, zum Symbol der aristokratischen Willkürherrschaft, weshalb man sie „Sansculotten“ nannte, „ohne Kniehosen“. Zeichen des republikanischen Geistes sollten die „Pantalons“ sein, lange Hosen. Mit diesen zeigten sich auch einige Revolutionärinnen. Frauen waren überall dabei, sie diskutierten in der Öffentlichkeit mit, gründeten politische Clubs und forderten gleiche Bürgerrechte für ihr Geschlecht. Das ging den Herren dann doch zu weit. Sie verboten den Frauen die Clubs und Versammlungen, und die Männerhosen auch. Da vermeldete das Journal des Luxus und der Moden eine neue Revolution: MUSIK ZITATOR Der Anzug der Damen ist ganz ohne Beyspiel. Sie tragen nemlich, wie die Männer, Pantalons von fleischfarben seidnem Zeuche, und darüber einen Rock von feinstem Mousseline, der an der Seite bis aufs Knie aufgeschürzt, und mit einer Agraffe befestigt wird. ERZÄHLERIN Tatsächlich hatten diese Pantalons mit denen der Männer nichts gemein, es waren Leggings aus Trikotstoff - so ziemlich das einzige, was die Pariserinnen noch unter hauchdünnen Kleidern trugen, nachdem sie Korsetts und Unterröcke beiseite geworfen hatten. Dennoch hielt man die offensichtlich für gewagter als die sogenannte „Nuditäten-Mode“ der durchsichtigen Chemisenkleider. Diese Welle überrollte Europa, doch die Pantalons machten nur wenige mit. Die spätere Schriftstellerin Bettina Brentano schrieb an Goethes Mutter: ZITATORIN Jetzt raten Sie einmal, was der Schneider für mich macht! Ein paar Hosen? Ja! Vivat! Jetzt kommen andre Zeiten angerückt. ERZÄHLERIN Andere Zeiten kamen in der Tat, allerdings brachten sie keine größeren Freiheiten, nicht einmal modische. In der auf göttliches Gebot gegründeten Weltordnung war jedem sein Platz zugewiesen, bestimmt durch Stand und Geschlecht, und man hatte sich dementsprechend zu verhalten. Mit der Aufklärung und der Erschütterung des Ständesystems war diese Ordnung obsolet geworden. Die Unterordnung der Frauen war damit nicht abgeschafft, aber sie brauchte eine neue Begründung. Sie fand sich im Geschlechtscharakter. Frauen und Männer seien, so Wilhelm von Humboldt, von Natur aus völlig verschieden, mit ganz gegensätzlichen Eigenschaften, so dass … ZITATOR … vernünftiger Weise auch nicht einmal der Gedanke entstehen kann, den Charakter des einen mit dem des anderen zu vertauschen. ERZÄHLERIN Bislang waren Sanftmut, Geduld und Fügsamkeit Verhaltensweisen, die von Frauen erwartet wurden. Nun war es ihre Natur. Benahmen sie sich anders, galten sie nicht mehr als widerspenstig, sondern als unnatürlich, krankhaft. Eine richtige Frau war der liebevolle Engel im Haus und verlangte weder in der Ehe noch in der Gesellschaft gleiche Rechte. Damit war das Thema des Zanks um die Hosen keineswegs aus der künstlerischen Welt geschafft. Die Frau, die die Hosen anhaben will, war im 19. Jahrhundert ein höchst beliebtes Sujet für Karikaturisten. Eine Zeichnung allein wurde über Jahrzehnte in mehreren Ländern mit kleinen Veränderungen immer wieder kopiert: Ein Mann und ein Frau zerren an einer Hose, angefeuert von einem anderen Paar, bei dem er schon der Hose beraubt ist, die sie unter ihrem Rock trägt. Aus den Bildtexten der deutschen Version: MUSIK ZITATORIN Grosser Zank, Zwischen einem Mann und seiner Frau: wer von beyden die Hosen tragen und im Haus die Ober-Herrschaft haben soll. ZITATOR Lieber sterbe ich, als meiner Frau die Hosen zu lassen; der Mann soll immer der Herrscher seyn. ERZÄHLERIN Dabei lassen sich in den verschiedenen Versionen dieser Karikatur auch die Hosenmoden der Zeit verfolgen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigten sich die Männer in engen Pantalons zu Frack und Weste noch figurbetont und gedämpft farbenfreudig, am Ende steckten sie in der Uniform des dunklen Anzugs. Industrialisierung und Gründerboom verlangten Effizienz statt eitler Selbstpräsentation. Mit den Worten des Ästhetikprofessors Friedrich Theodor Vischer aus dem Jahr 1879: ZITATOR Das männliche Kleid soll überhaupt nicht für sich schon etwas sagen, nur der Mann selbst, der darin steckt, mag durch seine Züge, Haltung, Gesicht, Worte und Thaten seine Persönlichkeit geltend machen.TC 14:48 – Das amerikanische Bloomer-Kostüm MUSIK ERZÄHLERIN Zur Ausstellung des männlichen Erfolgs war die Ehefrau da, in dekorativen Kleidern, in denen man schwerlich arbeiten konnte, selbst wenn man das musste. Um 1850 waren Frauen wieder fest ins Korsett geschnürt und schleppten unter ihren weiten Röcken ein halbes Dutzend steife Unterröcke mit sich herum. Zu dieser Zeit lebte Elizabeth Cady Stanton in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat New York. Einige Jahre zuvor hatte sie hier die erste Frauenrechtsversammlung in den Vereinigten Staaten organisiert und radikale Forderungen nach Gleichberechtigung gestellt. ZITATORIN Mrs. Miller kam mich besuchen, gekleidet im türkischen Stil – kurzer Rock, weite Hosen aus feinem schwarzem Tuch, ein spanischer Umhang, der bis zum Knie reichte, ein sehr kleidsames Kostüm und überaus geeignet zum Gehen bei jedem Wetter. Meine Kusine zu sehen, wie sie, mit einer Laterne in einer Hand und einem Baby in der andern, mit Leichtigkeit und Anmut die Treppe hinaufstieg, während ich, mit wallenden Gewändern, mich mit Mühe hinaufzog, von Laterne und Baby gar nicht zu reden, überzeugte mich sogleich, dass eine Reform der Frauenkleidung sehr nötig war, und ich legte umgehend einen ähnlichen Anzug an. ERZÄHLERIN Ähnliche Kostüme hatten schon andere ausprobiert. Aber Stanton und ihre Freundin Amelia Bloomer, die eine kleine Frauenzeitschrift herausgab, rührten die Trommel dafür. Es wurde bekannt als „Bloomer-Kostüm“, schlug Wellen in den USA und in Europa und löste eine Flut von Karikaturen, bissigen Pressekommentaren und Spottliedern aus. Vermutlich verstanden die Lästermäuler durchaus, dass es Elizabeth Cady Stanton und Amelia Bloomer keineswegs nur um praktischere Kleidung ging. ZITATORIN Mir scheint, wenn die Frau völlige Freiheit genösse, würde sie sich genau wie ein Mann anziehen. In männlicher Kleidung könnten wir reisen, durch alle Straßen unserer Städte gehen ohne einen Beschützer, siebenhundert Dollar im Jahr fürs Unterrichten bekommen statt dreihundert und zehn Dollar fürs Nähen eines Mantels statt zwei oder drei, wie wir es jetzt haben. ERZÄHLERIN … schrieb Stanton an einen Freund. Einige hundert Frauen in Amerika, über mehrere Staaten verteilt, trugen das Bloomer-Kostüm. Dafür wurden sie auf der Straße begafft, von johlenden Kindern verfolgt und mit Hohn übergossen. Nach zwei, drei Jahren hatten fast alle Frauen entnervt aufgegeben. Die radikalen Suffragetten der Jahrhundertwende vermieden solche Experimente. Sie wollten nicht schrullig wirken und damit andere Frauen abschrecken. Die Hosenfrage war damit nicht gestorben, allerdings tauchte sie nun in einem anderen Bereich wieder auf: als Frauen sich den Sport eroberten. TC 17:33 – Eroberung des Sports ZITATORIN Man redet der Frau ein, daß sie kränklich sei und schwach und daher des männlichen Schutzes bedürfe; denn ahnte sie die ihr angeborne Kraft und Gesundheit, so könnte der souveräne Mensch in ihr erwachen ERZÄHLERIN … schrieb die Schriftstellerin Hedwig Dohm 1874. Mediziner warnten eindringlich, dass Sport Frauen zu Mannweibern mache und die Gebärfähigkeit beeinträchtige. Sie sollten sich auf maßvolle Gymnastik und Reigentanz beschränken. Sportbegeisterte Frauen ließen sich damit aber nicht von Hockey, Schwimmen, Skifahren, Rudern, Bergsteigen und Boxen abhalten und mussten dabei Lösungen für die Kleiderfrage finden. In der Turnhalle setzten sich knielange Pluderhosen als Sportdress durch. Ansonsten verwandten Frauen viel Erfindungsgabe darauf, um selbst auf Alpengipfeln nicht in einer Hose gesehen zu werden. Lieber konstruierten sie textile Verwandlungsapparate, wie die Rockhose dieser Bergtouristin: ZITATORIN Über der Wäsche trage ich eine Hose, am Knie seitlich geknöpft und durch einige Falten so erweitert, dass ich frei ausschreiten kann. Der fußfreie Rock ist sehr faltig. Ich kann ihn entweder rings mit einem Riemen schürzen, oder ich ziehe ihn an der Stelle empor, welche durch den An- und Abstieg freie Bewegung fordert. ERZÄHLERIN Mit dem Fahrrad-Hype um 1900 wurden Frauenbeine in Hosen dann auch öffentlichkeitstauglich. Die Knickerbocker-Trägerinnen riskierten dennoch, von aufgebrachten Passanten mit Matsch beworfen oder in Ausflugslokale nicht eingelassen zu werden. TC 19:07 – Wer hat jetzt die Hosen an? MUSIK ERZÄHLERIN 1907 wollte die Sängerin Claire Waldoff in einem Berliner Kabarett kess in Herrenanzug und Zylinder auftreten, doch da griff die Obrigkeit ein. Sie durfte nur im Kleid auf die Bühne. Ein paar Jahre später später kreierten Pariser Modeschöpfer „Hosenkleider“. Wagemutige Damen flanierten damit durch europäische Metropolen und ernteten Hohn und Spott. In München allerdings blieb man gelassen. ZITATOR Die neuen Kostüme, die man bei der Parademusik vor der Residenz, des Nachmittags im Englischen Garten und des Abends im Hoftheater sah, fanden ein aufmerksames Interesse, das sich aber in schicklichen Formen kundgab. ERZÄHLERIN Im Ersten Weltkrieg übernahmen Frauen viele bisherige Männerjobs, aber nicht die männlichen Arbeitshosen. Wenn ein Rock ganz unbrauchbar war, wurden von der Männerkleidung verschiedene Modelle eingeführt. So bekamen Streckenläuferinnen bei der Eisenbahn und Arbeiterinnen in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets Kniebundhosen. In den Zwanzigerjahren schnitten sich Frauen die Haare und die Röcke ab und Fliegerinnen in Hosen und Lederjacke waren die Idole junger Mädchen. Trotzdem hieß es auch in den Dreißigern kategorisch: ZITATORIN Hosen? Nur im Heim, für den Strand und den Sport! ERZÄHLERIN Als Marlene Dietrich sich in einem Hosenanzug im Herrenschnitt sehen ließ, verbot ihr Filmstudio ihr das prompt, doch sie hatte schon eine neue Mode gestartet. In den USA brachte Levi’s „Lady Levi“ auf den Markt, die erste Jeans speziell für Frauen. In der Schweiz trat Nelly Diener, Europas erste Stewardess, ihren Dienst an. Ihre selbstkreierte Uniform bestand aus Sakko und Hosenrock. Erst vierzig Jahre später durften die ersten Flugbegleiterinnen wieder Hosen tragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Keilhose und die Capri-Hose erfunden. Als Audrey Hepburn in dem Film “Sabrina” eine schwarze Capri-Hose trug, prophezeite eine Zeitschrift: MUSIK ZITATOR Mehr Frauen als je zuvor werden in diesem Sommer „die Hosen anhaben“, daran besteht kein Zweifel! Glücklicherweise nur im modischen Sinn. ERZÄHLERIN In den Sechzigern und Siebzigern waren Hosen aus der Mode für Frauen schon nicht mehr wegzudenken, von den jungen Jeansträgerinnen bis zur Pariser Haute Couture. In der Bundesrepublik kauften Frauen schon mehr Hosen als Röcke. Aber in Büros waren Hosen immer noch tabu, bei offiziellen Anlässen galten sie als unpassend, und Esther Ofarim war nicht die einzige Frau, die wegen ihrer Hose aus einem Restaurant oder Hotel verwiesen wurde. Heute sind Hosen für Frauen kein Thema mehr. Und Männer experimentieren mit Röcken, wenn auch nur eine winzige Minderheit.TC 22:00 – Outro
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Jun 21, 2024 • 38min

WIE WAR DAS DAMALS? Als wir 1974 zu Hause Weltmeister wurden

1954 gab es das "Wunder von Bern". 1990 den ersten gesamtdeutsche WM-Sieg. 2006 war zwar kein Titel drin, dafür berauschte sich Fußballdeutschland am schwarz-rot-goldenen "Sommermärchen". 2014 schlug die DFB-Elf Argentinien im Endspiel. Und 1974? Auch in diesem Jahr wurde Deutschland Fußballweltmeister - im eigenen Land! Und das mit der angeblich "besten Mannschaft aller Zeiten": Beckenbauer, Hoeneß, Netzer, Overath, Müller! Noch Fragen? Ja! Warum ist diese Weltmeisterschaft dann im kollektiven Gedächtnis der Deutschen eher ins Abseits geraten? War es die schlechte Stimmung im Trainingslager Malente? Wirkte das Olympiaattentat von 1972 noch nach? Oder war es einfach das legendär schlechte Wetter, das ganze Stadien in Seenplatten verwandelte? In der neuesten Ausgabe von "Wie war das damals?" schauen Christian Schaaf und Michael Zametzer zurück ins Jahr 1974, als wir zuhause Weltmeister wurden.Credits Autoren: Christian Schaaf und Michael Zametzer Redaktion: Eva Kötting und Heike SimonIm Interview: Dr. Jutta Braun, Manni Breuckmann  Linktipps:mdr (2024): Unsere Mannschaft ´74 Für die DDR-Nationalmannschaft war der sportliche Höhepunkt die WM-Teilnahme 1974 mit dem 1:0-Sieg gegen die Bundesrepublik. Diese Doku-Reihe blickt gemeinsam mit vielen Zeitzeugen auf diese Fußball-Sensation zurück. JETZT ANSEHEN ARD (2024): Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024? Deutschland. Sommer. Fußball-WM 2006: Eine Nation erlebt ein Sommermärchen. Deutschland, 18 Jahre später. Die UEFA Euro 2024. Ein verändertes Land. Und doch wieder ein fröhlich-friedliches Sommermärchen?  Esther Sedlaczek nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Deutschland 2024 und zeichnet ein sportliches, unterhaltendes und nachdenkliches Bild zur Lage der „Fußball-Nation“. Sie trifft unter anderem Bundestrainer Julian Nagelsmann, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, den ARD-Fußball-Experten Bastian Schweinsteiger und Weltmeistertrainer Jogi Löw. Sie begegnet Fans und besucht die Alpengemeinde Garmisch-Partenkirchen, die sich auf Tausende Schotten während der Fußball-EM freut. Sie beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob der Fußball im Jahr 2024 wirklich noch eine Gesellschaft verbinden kann, die sich in vielem fast schon unversöhnlich gegenübersteht. IN DER MEDIATHEK Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN 
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Jun 14, 2024 • 12min

FUSSBALL! - Das "Wunder von Bern"

"Aus! Aus! Das Spiel ist aus! - Deutschland istWeltmeister!" Mit diesem Schrei des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann war die Sensation 1954 perfekt. Außenseiter Deutschland gewinnt die WM. Neun Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches kam in der Bundesrepublik das Gefühl auf: "Wir sind wieder wer!" Einige Historiker sehen deshalb im Fußballwunder von Bern die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Aber stimmt das wirklich? Von Christian Schaaf (BR 2010) Credits Autor: Christian Schaaf Regie: Martin Trauner Es sprachen: Armin Berger Technik: Lydia Schön-Krimmer Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Thomas Raithel, Harry Valerien, Renate Schmidt, Wolf PosseltBesonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Wild Crimes Das Verbrechen lauert überall – auch zwischen Mensch und Tier. "Wild Crimes" liefert packende Storys von True Crime im Tierreich. In Staffel eins erzählen wir euch vom "Problembären" Bruno. Der war erst bei uns willkommen, dann wurde er gejagt und getötet. Wie kam es zu dieser dramatischen Wende? Wer hat ihn abgeschossen? Und war es gerechtfertigt, ihn zu töten? JETZT ANHÖREN Linktipps: ARD (2024): Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024? Deutschland. Sommer. Fußball-WM 2006: Eine Nation erlebt ein Sommermärchen. Deutschland, 18 Jahre später. Die UEFA Euro 2024. Ein verändertes Land. Und doch wieder ein fröhlich-friedliches Sommermärchen?  Esther Sedlaczek nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Deutschland 2024 und zeichnet ein sportliches, unterhaltendes und nachdenkliches Bild zur Lage der „Fußball-Nation“. Sie trifft unter anderem Bundestrainer Julian Nagelsmann, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, den ARD-Fußball-Experten Bastian Schweinsteiger und Weltmeistertrainer Jogi Löw. Sie begegnet Fans und besucht die Alpengemeinde Garmisch-Partenkirchen, die sich auf Tausende Schotten während der Fußball-EM freut. Sie beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob der Fußball im Jahr 2024 wirklich noch eine Gesellschaft verbinden kann, die sich in vielem fast schon unversöhnlich gegenübersteht. IN DER MEDIATHEK ARD (2022): 50er – Das Wunder von Bern und die Folgen In den 1950er-Jahren entstehen die Fußball-Nation Deutschland und der 11-Freunde-Mythos. Unter Trainer Sepp Herberger holt sich Deutschland als krasser Außenseiter den ersten WM-Titel. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:32 – 3:2 für DeutschlandTC 03:43 – Das Wunder ist perfektTC 06:41 – Nicht der schlechteste MythosTC 10:14 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Zuspielung: Ausschnitt Reportage Zimmermann: „Deutschland im Endspiel der Weltmeisterschaft. Das ist ein echtes Fußballwunder. Ein Wunder allerdings, das auf natürlichem Weg zustande gekommen ist“ … Sprecher4. Juli 1954. Die Republik sitzt nervös vor dem Radiogerät. Geschickt versucht der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann im verregneten Berner Wankdorfstadion die Hörer darauf vorzubereiten, dass die Nationalmannschaft gegen den haushohen Favoriten Ungarn praktisch chancenlos ist. Eine Niederlage scheint unausweichlich. Denn schon in der Vorrunde hatte die Auswahl des kommunistischen Landes die Mannschaft um Nationaltrainer Sepp Herberger mit 8:3 vernichtend geschlagen. Und so ist das erste Wunder dieses denkwürdigen Juli-Sonntags, dass die Deutschen überhaupt im Finale der Weltmeisterschaft stehen. Der Historiker Thomas Raithel hat sich intensiv mit der Weltmeisterschaft 1954 auseinandergesetzt. Für ihn steht fest: Die deutsche Mannschaft hatte bei dem Turnier sehr viel Glück gehabt. 2. Zuspielung: Thomas Raithel: „Es war sicher Glück dabei. Man könnte quasi von einer Verkettung von glücklichen Umständen sprechen. Das fängt an mit der Besetzung der Vorrunde. Die haben eine leichte Gruppe gehabt. Mit zwei Siegen gegen die Türkei waren die Deutschen eine Runde weiter. Das ging weiter mit den Losen in den Halbfinalen. Die Ungarn hatten mit Brasilien und Uruguay die erheblich schwereren Gegner. […] Glück war auch das Wetter. Der Regen hat so ein bisschen die technischen Unterschiede zwischen den Ungarn und den Deutschen nivelliert. Und vor allem muß man sehen: Der Austragungsort Schweiz. Das waren zum Teil Spiele in Heimspielatmosphäre, die die Deutschen da hatten. Wenn man das alles zusammen nimmt, dann ist  Begriff des Wunders ist also nicht ganz aus der Luft gegriffen.“ Sprecher Doch das eigentliche  Wunder dieses Tages, der Titelgewinn,  ließ auf sich warten. Gleich nach dem Anpfiff schien es so, als ob das Spiel ein Fiasko für die deutsche Mannschaft werden sollte - ähnlich wie die 8:3 Niederlage gegen Ungarn in der Vorrunde.  Denn schon in der sechsten Minute fällt das erste Tor für die Ungarn. TC 02:32 – 3:2 für Deutschland 3. Zuspielung: Zimmermann  1:0: „Kocsis müsste schießen. Nachschuss Puscas. Tor! Was wir befürchtet haben, ist eingetreten. Der Blitzstart der Ungarn hat ihnen die Führung eingebracht.“ Sprecher Zwei Minuten später folgt der zweite Treffer der Ungarn. Doch dann die Sensation. In der 18. Minute schießt der Nürnberger Max Morlock den Anschluss-Treffer. Zum Ende der zweiten Halbzeit kommt es dann zur Sensation. Helmut Rahn schießt das 3:2 und Sportreporter Zimmermann verliert  die Fassung. 5. Einspielung: Zimmermann nach 3:2: „3:2 für Deutschland! Fünf Minuten vor dem Spielende! Halten Sie mich für verrückt. Halten Sie mich für übergeschnappt! Ich glaube auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben und sollten sich an der Begeisterung unserer Mannschaft mitfreuen und sollten jetzt Daumen halten.“ Sprecher  In einem atemberaubenden Spiel verteidigen die Deutschen ihren Vorsprung. Bis wenige Minuten später der erlösende Schlusspfiff erklingt. 6. Einspielung: Zimmermann: Aus Aus Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister! Schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale in Bern! TC 03:43 – Das Wunder ist perfekt SprecherDas Wunder war perfekt. Der 4. Juli 1954 war der wohl glücklichste Tag, den die junge Republik seit ihrer Gründung fünf Jahre zuvor erlebt hatte. Und so erinnern sich auch noch heute Menschen gerne an dieses Datum zurück, die mit Fußball eigentlich wenig am Hut hatten, wie etwa die SPD-Politikerin Renate Schmidt, damals 11 Jahre alt. 7. Einspielung: „Meine Eltern saßen bei Freunden vor dem Radiogerät und haben gefiebert. Dann kam dieses erlösende Tor. Und mein Vater hat uns alle geküsst und wir haben 50 Pfennige geschenkt bekommen. Das war damals für ein Kind meines Alters ungeheuer viel Geld. Ein Eis mit zwei Kugeln hat damals ein Zehnerle gekostet. Ein Kinobesuch für Kinder war mit 70 Pfennigen zu haben. Es war ein Haufen Geld. Ich fand, das war ein wunderbarer Tag.“ SprecherZur selben Zeit im Berner Wankdorfstadion. Die Schlachtenbummler stimmen das Deutschland-Lied an. 8. Einspielung: „Deutschland, Deutschland über alles!“ SprecherDeutschland, Deutschland über alles. Diese erste Strophe der Nationalhymne war zwei Jahre zuvor durch die dritte Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ersetzt werden. Aber diese Entscheidung ist offenbar noch nicht bei allen Bundesbürgern angekommen - vielleicht auch, weil es zuvor kaum Gelegenheit für die Deutschen gab, ihre Hymne öffentlich anzustimmen? 9. Einspielung: Reportage Triumphzug München: „Nun biegen wir von der Bayerstraße in die Goethestraße ein. Und hier hängen auch Transparente wie in den vielen anderen Straßen. Der Jubel kennt keine Grenzen. Und schon wieder drängen die einzelnen …“ Sprecher (ab „Grenzen“ drüber): Zwei Tage später. Die Nationalmannschaft wird in München empfangen. Tausende Menschen säumen die Straßen und versuchen einen Blick auf die Helden von Bern zu erhaschen. Harry Valerien, damals Sportreporter: 10. Einspielung: (Harry Valerien zu Triumphzug): „Im Grunde war das ein, das Wort mag ich nicht, weil einen das an Zeiten erinnert, die hinter uns liegen, aber ein Zug des Triumphes – wenn das erlaubt ist das zu sagen. Ein überwältigendes Ereignis, weil die Menschen halt aus dem Häuschen waren. Weil sie die Strecke säumten, die Bahnhöfe bevölkerten. Im Grunde mussten sie sich irgendwo ausdrücken. Sie mussten hinausschreien: Freunde, dass wir das schaffen! Dann schaffen wir vielleicht noch viel mehr! Auf andere Weise. Und wenn Sie sich vorstellen, dass da die letzten Gefangenen gar nicht zu hause waren. Aus Stalingrad, oder anderen Gefangenenlagern. Aber das ist sehr schwer zu verstehen, wenn man das nicht selbst erlebt und erfühlt hat. TC 06:41 – Nicht der schlechteste Mythos Sprecher  Doch auch schon vor dem Sieg von Bern hatte es in der jungen Bundesrepublik genug Anlass zum Optimismus gegeben. Seit Anfang der 50er Jahre kannte die Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland nur eine Richtung: Nach oben. Auch die Löhne stiegen und die Arbeitslosenquote sank. Dank des geschickt verhandelnden Bundeskanzlers Konrad Adenauer sollten die letzten Kriegsgefangene, vor allem aus dem Osten, schon bald nach Hause kommen. Und nun auch noch der Weltmeister-Titel! Im Nachhinein betrachtet,  passiert es daher leicht, den Fußballsieg von Bern als das Gründungsereignis der Bundesrepublik Deutschland zu sehen. Doch das geht dem Historiker Thomas Raithel zu weit. 11. Einspielung: Raithel : Mythenbildung: „Das ist meines Erachtens ein Mythos! Es ist ein Mythos der der Versuchung erliegt, die Kontexte auszublenden und alles auf ein Ereignis zu projizieren. Das Interessante ist, man kann das sehr schön zeigen, wie dieser Mythos seit den fünfziger Jahren sukzessive gewachsen ist. Der war nicht sofort da. Die Zeitgenossen haben nicht vom „Wunder von Bern“ gesprochen. Das beginnt dann erst 1974. Zur Abgrenzung. Als die Deutschen zum zweiten Mal Weltmeister werden. Dann wird das „Fußballwunder von 54“ dem Triumph von Bern gegenübergestellt. Und dann wächst diese Mystifizierung immer weiter. Und das hat sehr viel damit zu tun, mit generellen Prozessen, wie in der Bundesrepublik historische Erinnerungen entstehen,  transportiert aber auch verklärt werden.“ Sprecher Aber bereits schon am  Abend des 6. Juli 1954, als die Nationalmannschaft im Münchner Löwenbräukeller empfangen wird, ist die Verklärung des Titelgewinns zu beobachten. Die Begrüßungsrede hält der damalige DFB-Präsident Peco Bauwens. 12: Einspielung: Bauwens: „Laßt uns, die alle hier sind, außer unseren 22 Kameraden einschließlich Herberger, von unseren Plätzen erheben, um auf unsere 22 Wackeren unseren Ruf auszubringen, worin aber eingeschlossen ist, dass das was sie geleistet haben zünden soll in unserer Jugend. Damit sie gute Deutsche werden auch für die fernste Zukunft. Ein dreifaches Hip Hip Hurra! (Jubelschreie) Sprecher Kurze Zeit später blendete sich der Bayerische Rundfunk aus, der die Rede Bauwens live übertragen hatte. Der Grund: Die Rede weckte immer mehr Erinnerungen an die NS-Propaganda. Der große Rest der Republik ging mit dem Weltmeistertitel allerdings weitaus zurückhaltender um. Statt nationalistischer Überheblichkeit machte sich eher ein vorsichtiges Selbstvertrauen breit, nach dem Motto: „Wir sind wieder wer“. Insofern kann auch der Historiker Thomas Raithel der mythischen Verklärung des „Wunders von Bern“ etwas Positives abringen.  14. Einspielung Raithel Mythos: „Das ist nicht der schlechteste Mythos. Der hat, in gewisser Hinsicht, auch eine Barriere gebaut vor weiteren militärischen Mythen vielleicht. Und es ist ein Ereignis, das die Bundesrepublik durch den Erfolg des Sports auch westlicher und moderner gemacht hat.“ Sprecher Ansonsten hat die wahre Bedeutung des Endspiels der Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 wohl niemand anderes besser als Rundfunk Reporter Herbert Zimmermann erkannt: 15.Einspielung: Zimmermann: „Aber die Tatsache, dass man auch bei einem Weltmeisterschaftsendspiel die Sache nicht übermäßig ernst nimmt, sollte uns daran erinnern, dass es bei aller Freude und bei allem Einsatz hier lediglich um ein Spiel geht.!“ TC 10:14 – Outro
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Jun 14, 2024 • 23min

FUSSBALL! - Deutschland, vom Nachzügler zum Weltmeister

Heute kaum vorstellbar: Es gab eine Zeit, da war der deutsche Fußball nur eine Sportart neben vielen anderen. Aber in den letzten hundert Jahren hat er sich schwer gemausert. Heute kommt keine andere Sportart mehr an ihn heran - finanziell, zuschauermäßig, medial. Von Erich Wartusch (BR 2021) Credits Autor: Erich Wartusch Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger Technik: Adele Kurdziel, Robin Geigenscheder Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Manuel Neukirchner, Markwart Herzog Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Wild Crimes Das Verbrechen lauert überall – auch zwischen Mensch und Tier. "Wild Crimes" liefert packende Storys von True Crime im Tierreich. In Staffel eins erzählen wir euch vom "Problembären" Bruno. Der war erst bei uns willkommen, dann wurde er gejagt und getötet. Wie kam es zu dieser dramatischen Wende? Wer hat ihn abgeschossen? Und war es gerechtfertigt, ihn zu töten? JETZT ANHÖREN Linktipps:ARD (2024): Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024? Deutschland. Sommer. Fußball-WM 2006: Eine Nation erlebt ein Sommermärchen. Deutschland, 18 Jahre später. Die UEFA Euro 2024. Ein verändertes Land. Und doch wieder ein fröhlich-friedliches Sommermärchen?  Esther Sedlaczek nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Deutschland 2024 und zeichnet ein sportliches, unterhaltendes und nachdenkliches Bild zur Lage der „Fußball-Nation“. Sie trifft unter anderem Bundestrainer Julian Nagelsmann, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, den ARD-Fußball-Experten Bastian Schweinsteiger und Weltmeistertrainer Jogi Löw. Sie begegnet Fans und besucht die Alpengemeinde Garmisch-Partenkirchen, die sich auf Tausende Schotten während der Fußball-EM freut. Sie beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob der Fußball im Jahr 2024 wirklich noch eine Gesellschaft verbinden kann, die sich in vielem fast schon unversöhnlich gegenübersteht. IN DER MEDIATHEK ARD alpha (2024): Fußball und Fans (1978) Ein Reporterteam des Fernsehens der DDR war 1978 unterwegs mit Fans von Dynamo Dresden zu einem Auswärtsspiel. Die Rabauken entpuppten sich dabei als mehr oder weniger brave Bürger der DDR. Von Hooliganismus war damals - noch - nichts zu spüren. Der Film zeigt auf, wie das damals war in der DDR mit dem Fußballfan-Sein, welche Probleme das bereitete und wie man in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:47 – Von der FußlümmeleiTC 07:39 – Das Wunder von BernTC 10:57 – Scheitern &  SkandaleTC 14:45 – FC Bayern: Man liebt sie oder hasst sieTC 16:37 – Europameisterinnen mit KaffeeserviceTC 19:11 – Geld regiert die FußballweltTC 22:13 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Atmo Fußballspiel, Ansage des Stadionsprechers MUSIK Erzählerin:Ein Freitagabend in Köln. Südstadion. Das Duell zweier Traditionsmannschaften: Fortuna Köln – Preußen Münster. Beide haben in der Fußball-Bundesliga gespielt. Münster war sogar Gründungsmitglied. Das ist lange her. Nun sind sie in den Niederungen des Amateurfußballs angekommen. MUSIK OT 01 / 0.31 (Fans)„Es kommen immer mehr Clubs nach oben, die da eigentlich nichts verloren haben. Und die Traditionsvereine bleiben leider auf der Strecke. Wir leben noch ziemlich traditionell. Also man lebt immer noch in guten alten Zeiten klar, auf jeden Fall. / Da herrscht genauso viel Leben wie in den anderen Vereinen. Nur es ist nicht mehr so massig. / Hört sich jetzt doof an, aber es ist eine Familie. Man kennt die Leute hier zum Teil seit 20, 30 Jahren, und das ist einfach toll. /  Also ich bin in Münster: Als 13-Jähriger durfte ich dann zum ersten Mal alleine ins Stadion. Seitdem renne ich dahin. Da gibt es viele von der Sorte, die inzwischen graue Haare haben. Aber da gehörst du hin.“ MUSIK Erzählerin:Fußball – ein Sport für ein ganzes Leben: Die Jüngsten steigen als Bambini oder G-Junioren mit wenigen Jahren in den Verein ein, selbst bei den Über-60-Jährigen werden noch Turniere und Meisterschaften ausgetragen. In Deutschland betreiben derzeit etwa 1,8 Millionen Menschen den Sport in Vereinen. Eine ganze Menge, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Fußball in Deutschland lange Zeit verrufen war. MUSIK ausTC 01:47 – Von der Fußlümmelei Erzählerin:Während in England und Schottland Fußball oder artverwandte Ballspiele schon seit Jahrhunderten existierten, dauerte es eine ganze Weile, bis der Sport von der Insel auch in Deutschland richtig Fuß fassen konnte. Zum einen wurde alles argwöhnisch betrachtet, was vom großen europäischen Gegenspieler, dem britischen Empire, herüberkam. Zum anderen hatte der Sport vor mehr als hundert Jahren noch weitgehend eine andere Funktion, erklärt Manuel Neukirchner, der Leiter des Deutschen Fußballmuseums.  OT 02 / 0.39  (Neukirchner)„Die englische Fußlümmelei, die englische Krankheit, so wurde sie verschrien, kam so um 1830 erstmalig nach Deutschland und wurde abgelehnt, aus dem wilhelmischen Zeitverständnis heraus. Der Sport hatte eigentlich damals nur die Aufgabe, die jungen Menschen auf den Krieg vorzubereiten, zu Soldaten auszubilden. Der Wettkampfgedanke, den der Fußball in sich vereint, war verpönt. Sport war Drill, Sport war Turnen, überwiegend an den Geräten. Der Spielgedanke, der Homo ludens, der spielte eigentlich gar keine Rolle.“ Erzählerin:Erst im Jahr 1874 rief der Braunschweiger Professor Konrad Koch den ersten Schüler-Fußballverein ins Leben. Die Jüngeren sollten die neue Sportart voranbringen… OT 03 / 0.31 (Neukirchner)„Und es waren einige Sportlehrer, die den Fußball dann doch allmählich hoffähig gemacht haben. Es wurden dann erste Fußballabteilungen in den Turnvereinen gegründet, also es gab noch keine Fußballvereine, aber Abteilungen. Koch war der erste, der Sportlehrer, der dann auch Spielnachmittage eingeräumt hatte, mit Fußball für die Kinder, und der dann auch das erste einheitliche Regelwerk vorgelegt hat für den Fußball. Und so kam der Fußball dann langsam in die Spur in Deutschland. Aber es war ein mühseliger Weg.“ MUSIK Erzählerin:Im Januar 1900 wurde schließlich in einer Gaststätte in Leipzig der Deutsche Fußball-Bund gegründet. Der Sport organisierte sich immer stärker. Es wurden regionale Strukturen geschaffen, eine Deutsche Meisterschaft eingeführt und die offiziellen englischen Spielregeln übernommen. Doch zunächst blieb der Fußball noch einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht vorenthalten, erklärt der Sporthistoriker Markwart Herzog: OT 04 / 0.31 (Herzog)„Die Menschen, die sich dann für das Fußballspiel begeistert haben und die Vereine gegründet haben, in der Kaiserzeit noch, das waren auch Leute, die dem Bürgertum angehört haben. Also Fußball ist kein Proletensport. Es ist kein Arbeitersport. Das war es weder in England noch in Deutschland. Wenn Sie sich Fotos von Spielen aus der Kaiserzeit anschauen: Da tragen die Leute Zylinder, sie haben ein Anzug an, ein weißes Hemd, das waren gesellschaftliche Ereignisse.“ Erzählerin:Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Hochzeit des Fußballsports. In der Weimarer Republik wurde er zusammen mit Boxen und Radfahren extrem populär. Zehntausende strömten in die Stadien. Große Mannschaften prägten das Spiel, langjährige Duelle. Die Rivalität war vor allem zwischen Nürnberg und Fürth extrem - zwei der dominierenden Mannschaften jener Jahre. Die deutsche Nationalmannschaft bestand sogar zweimal ausschließlich aus Nürnbergern und Fürthern. An der Feindseligkeit zwischen den beiden Vereinen änderte das aber nichts. Die Nürnberger Torwartlegende Heiner Stuhlfauth erinnert sich an ein Länderspiel auswärts gegen die Niederlande:  OT 05 / (Stuhlfauth) (liegt in zwei Längen vor: KURZ 0.38 / LANG 0.50)„Und so trafen wir in Nürnberg zusammen, die Fürther stiegen in die hinteren Waggons des D-Zugs ein. Und als wir das gesehen haben, sind wir in den vorderen Waggon eingestiegen, nur um damit wir mit den Fürther Spielern nicht zusammengekommen sind. Gesprochen wurde untereinander gar nichts. Blaschke hat zu mir gesagt: Ihr müsst doch wieder einig werden, Ihr müsst noch mal miteinander spielen. Ich habe gesagt: wir werden spielen, als ob wir zusammengehören. Und so war es auch - ein wunderbares Spiel  - das erste Länderspiel, das Deutschland gegen Holland gewonnen hat, mit eins zu null.“ Erzählerin:Trotzdem ließen die großen internationalen Erfolge für Deutschland noch auf sich warten. MUSIK Erzählerin:Besonders ernüchternd verlief das olympische Fußballturnier 1936 in Berlin, das wegweisend war für die Jahre des Nationalsozialismus. DFB-Museumsleiter Manuel Neukirchner: OT 06 / 0.43  (Neukirchner)„Fußball hat dann aber im Dritten Reich sehr schnell an Strahlkraft verloren. Das hat natürlich auch mit 36 zu tun, als Adolf Hitler das erste Spiel im Fußball überhaupt besuchte: Deutschland gegen Norwegen. Und das ging kräftig in die Hose. Ein frühes Gegentor der Norweger, dann ein spätes Tor. Und dann war Adolf Hitler aus dem Stadion verschwunden und er hat nie wieder ein Spiel gesehen. Goebbels hat später auch während des Krieges Fußballspiele verboten, Länderspiele verboten, weil Goebbels gesagt hat: Man weiß nie, wie es ausgeht. Und er kann im Deutschen Reich für die Propaganda eigentlich nur Spiele akzeptieren, wo Deutschland ganz klar gewinnt. Und deswegen will er keine offiziellen Länderspiele mehr haben.“ Erzählerin:Trotzdem rollte auch während des Krieges der Ball weiter: OT 07 / 0.30  (Neukirchner)„Für die Aufrechterhaltung der Moral wurde Fußball weiterhin stark eingesetzt auf regionaler und nationaler Ebene. Er wurde sogar auch auf ganz perfide Weise teilweise in Konzentrationslagern eingesetzt. In Theresienstadt, dem Durchgangslager, da wollten die Nazis einfach demonstrieren: „Schaut mal, hier wird Fußball gespielt, so schlimm ist das alles gar nicht!“TC 07:39 – Das Wunder von Bern MUSIK Erzählerin:Der Zweite Weltkrieg war zuende. Es folgte die Nachkriegszeit und der deutsche Fußball musste sich in der internationalen Sportwelt erst wieder um Akzeptanz bemühen. Dann kam 1954 das Wunder von Bern. OT 08 / 0.17  (Neukirchner)„Es wird nie wieder ein Fußballspiel geben in Deutschland, das diese historische und gesellschaftliche Bedeutung für die Bundesrepublik erlangen wird wie dieses Spiel am 4. Juli 1954. Und es gibt viele, die in diesem Spiel auch die Geburtsstunde der jungen Bundesrepublik ausmachen.“ MUSIK OT 09 / 1.50   Collage aus Reportage von 1954 + O-Ton-Nacherzählung (Neukirchner) „Deutschland ist in der Welt isoliert. Deutschland ist beladen mit Schuld. Eine Nation sucht eine neue Identität, und in dieser schweren Zeit der Not, der materiellen Not kommt dann diese Fußball-Weltmeisterschaft, […] und Deutschland war ein Allerweltsgegner im internationalen Fußball. Und Ungarn war die Übermannschaft, die vier Jahre nicht mehr verloren hatte. Das war das Nonplusultra im Fußball weltweit. In einem vorherigen Spiel hat Ungarn schon gegen Deutschland acht zu drei gewonnen. Also da war ganz klar, wer da Chef war im Ring. […] Und dann hat diese Mannschaft um Fritz Walter nicht aufgegeben, immer weitergemacht, immer weitergemacht, hat den Anschlusstreffer geschafft, den Ausgleich geschafft und dann natürlich durch: - OT 09   Collage aus Reportage von 1954 MUSIK + O-Ton-Nacherzählung (Neukirchner)Und Deutschland wird wirklich als Riesen-Überraschungsmannschaft Weltmeister und zeigt sich dann auch in dem Erfolg auf dem Platz bescheiden. Deutschland war so ein Stück zurück in der in der Weltgemeinschaft mit diesem Fußballspiel. Das war der erste kleine Mini-Schritt zurück.“TC 10:57 – Scheitern &  Skandale Erzählerin:Doch bald schon hatte Fußball-Deutschland Nachholbedarf: die Ligen waren regional zersplittert. Wer sind die besten Spieler für die Nationalmannschaft? Bei so vielen Ligen, so vielen Spielern behielten auch die Verantwortlichen kaum einen guten Überblick. Außerdem gab es selbst in den frühen 1960er Jahren offiziell ausschließlich Amateure, also keine bezahlten Berufsspieler. Ein Trugbild, weil die Realität anders aussah, weiß der Fußballforscher Markwart Herzog, der Leiter der Schwabenakademie Irsee: OT 10 / 0.23  (Herzog)„Schon in der Weimarer Zeit haben gerade bei den Spitzen-Fußballmannschaften sicher alle Spieler Geld bekommen, ein Handgeld. Und das haben die Vereine aus schwarzen Kassen ausbezahlt. Das lag daran, dass der DFB den Berufsfußball verboten hat. Also ein Spieler durfte kein Geld dafür annehmen, dass er gespielt hat. Aber trotzdem haben die Vereine die Spieler bezahlen müssen, weil sie eben sonst anderswohin abgewandert wären.“ Erzählerin:Schon 1930 war der erste Versuch, eine nationale Liga zu gründen, gescheitert – und auch nach dem Krieg wollten die regionalen Fußballfürsten immer noch ihre eigenen Ligen nicht aufgeben. Erst das Scheitern bei der WM 1962 führte zu einem Umdenken. 1963 ging die Bundesliga an den Start: Ausschnitt Moderation Bundesliga 1963 / MUSIK OT 11 / 0.45 (Neukirchner)„Da gab es zunächst noch eine Deckelung des Gehaltes. Ich glaube, man durfte 1200 Mark verdienen. Aber man konnte das ausüben, ohne einen bürgerlichen Beruf nachweisen zu müssen. Und das war der erste Schritt in Richtung Professionalisierung. Die Clubs hatten auch Angst, die Gründungsvereine, ob sie das wirtschaftlich wirklich alles so tragen konnten, diese oberste Spielklasse, weil die Fahrtwege waren natürlich länger. Das bedeutete für die Klubs ja auch einen erhöhten Aufwand. Aber es hat sich gezeigt, dass es genau der richtige Weg war. Und nur so konnte Deutschland dann eben auch den Weg einschlagen, den Deutschland als Fußballnation eingeschlagen hat.“ Erzählerin:Deutschland wurde 1966 Vize-Weltmeister. Vier Jahre später WM-Dritter. Doch dann drohte der Höhenflug des Profifußballs in Deutschland jäh abzustürzen. Der Präsident der abgestiegenen Offenbacher Kickers, Horst Gregorio Canellas, ließ bei einer Geburtstags-Sommerparty plötzlich ein Tonband laufen: MUSIK OT 12 Canellas „…(mitgeschnittenes Tonband mit Spielabsprachen…)“ Erzählerin:Spielabsprachen, Bestechung. Fast ein Drittel der Bundesliga-Vereine war in den Bundesliga-Skandal verwickelt. Zahlreiche Spieler und Vereine wurden bestraft: OT 13 DFB-Gericht „…(„Urteile werden vorgelesen“) Erzählerin:Später gab es Begnadigungen. Doch die Fans wandten sich in Scharen ab. Die Zuschauerzahlen gingen stark zurück. MUSIK aus Auch der Fußball in der DDR hatte immer wieder mit Problemen zu kämpfen. In den ersten Jahren griff die Staatsmacht beherzt ein: Vereine wurden gegründet, umbenannt oder sogar umgesiedelt. Später entstand bei Fußballanhängern viel Frust, weil der Lieblingsverein des Stasi-Chefs Erich Mielke, Dynamo Berlin, ganz unverhohlen von den Schiedsrichtern bevorzugt wurde und Titel dadurch serienweise einfuhr. In und außerhalb der Stadien waren – wie auch im Westen -  gewaltbereite Hooligans aktiv, die es im Arbeiter- und Bauernstaat jedoch offiziell nicht geben durfte. Der DDR-Fußball war aber auch erfolgreich: Magdeburg holte eine Europapokal-Trophäe, die Olympia-Auswahl 1976 gewann Gold und dann war da noch das einzige Spiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik bei einem großen Turnier – bei der Weltmeisterschaft 1974 in Hamburg: MUSIK 03 – Ausschnitt BRD-DDR Kommentar Erzählerin:Obwohl der Gastgeber mit 0:1 gegen die DDR verlor, wurde die Bundesrepublik dennoch Weltmeister. Vor allem dank der Spieler des FC Bayern München, der sich in den 1970er Jahren zum dominanten Verein in Deutschland aufschwang, dreimal den Europapokal der Landesmeister gewann und den Grundstein legte für bis die bis heute andauernde Polarisierung der deutschen Fußballfans.TC 14:45 – FC Bayern: Man liebt sie oder hasst sie Die Bayern liebt man - wegen ihres Erfolges. Oder man hasst sie – ebenfalls wegen ihres Erfolges und der darum gewachsenen Arroganz – wie viele Fans anderer Vereine behaupten. In dieser Zeit spielten bei den Münchnern Stars, die den Fußball über Jahrzehnte prägten: Gerd Müller, der einen wohl unerreichbaren Torrekord in der Bundesliga aufstellte, Sepp Maier, der als Torhüter und Spaßvogel die Menschen begeisterte, Uli Hoeneß, der als Manager und Präsident den Verein jahrzehntelang steuerte, und nicht zuletzt Franz Beckenbauer, der dann 1990 als Bundestrainer die deutsche Nationalmannschaft zum dritten WM-Titel führte und mit umstrittenen Mitteln dank seiner internationalen Beziehungen die Weltmeisterschaft 2006 ins eigene Land holte. Paul Breitner, ebenfalls einer aus dem Kerngehäuse des Vereins, versucht zu erklären, warum es damals so gut lief: OT 14 / 0.37 (Breitner)„Es gab natürlich auch in dieser Mannschaft Freundschaften, aber es gab etwas viel Wichtigeres fürs Berufsleben, nämlich absolute Kollegialität, Verantwortungsbewusstsein bei jedem, dass er nicht nur für sich, sondern auch für zehn, 15 oder 18 Kollegen zuständig ist. Das Entscheidende ist, dass eine erfolgreiche Mannschaft die Probleme, die sie hat, die auch nur im Entstehen sind, selbst erledigen muss. Das heißt, sie muss sich selbst reinigen. Und jede Mannschaft, die dazu jemand braucht, die wird keinen großen Erfolg haben können.“ Erzählerin:Die Titel brachten dem FC Bayern Popularität und eine steile sportliche und wirtschaftliche Entwicklung mit sich: Inzwischen ist er bei einem Jahresumsatz von mehr als 700 Millionen Euro angekommen. Der Verein: ein nicht mehr zu übersehender Wirtschaftsfaktor.TC 16:37 – Europameisterinnen mit Kaffeeservice Obwohl die Münchner auch eine eigene Frauenmannschaft stellen, die ebenso regelmäßig Titel abräumt, ist der Frauenfußball in Deutschland von solchen Zahlen meilenweit entfernt. Sicherlich auch historisch bedingt: Erst 1970 wurde der Frauenfußball in Deutschland überhaupt zugelassen. Als 1989 die Nationalmannschaft erstmals Europameister wurde, bekamen Doris Fitschen und ihre Kolleginnen als Prämie ein Kaffeeservice. Als die Männer-Nationalmannschaft ein Jahr später Weltmeister wurde, gab es pro Spieler umgerechnet etwa 60.000 Euro. OT 15 / 0.20 (Fitschen)„Ja, es frustet natürlich schon, wenn ich mir das noch mal vor Augen führe: 100 Länderspiele und ich habe quasi kein Penny dadurch verdient. Und die Männer, die haben nach ihrem zweiten Länderspiel schon ausgesorgt, das ist schon ein bisschen frustrierend. Aber andererseits kannte ich es auch nicht anders. Und es entwickelt sich ja doch. Aber es ist natürlich nicht mit dem Herrenfußball zu vergleichen.“ Erzählerin:Das Kaffeeservice von Doris Fitschen steht inzwischen im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Manuel Neukirchner zeigt es seinen Gästen gern, um zu illustrieren, wie schwierig es für die Frauen in Deutschland war: OT 16  / 0.40 (Neukirchner)„Frauenfußball war lange Zeit verpönt, weil es sehr kampfbetonter Sport ist. Es war 1930, eine Metzgerstochter, Lotte Specht, die den Mut aufbrachte, per Zeitungsannonce nach Mitstreiterinnen zu suchen für den ersten Damen-Fußball-Club Frankfurt. Und daraufhin haben sich auch viele gemeldet: 30 Spielerinnen. Das war so das erste Mal, dass sich der Frauenfußball in Deutschland organisieren wollte. Und dann standen die Männer am Spielfeldrand, bewarfen die Frauen teilweise mit Steinen, bespuckten sie, verhöhnten sie. Und nach einem Jahr hat sich der Frauenfußball in Frankfurt, dieser Klub, auch schon wieder aufgelöst.“ Erzählerin:Inzwischen sind die deutschen Frauen erfolgreicher als die Männer: acht EM-Titel, zwei WM-Titel und ein Olympiasieg zeugen davon. Die deutsche Männer-Nationalmannschaft hatte dagegen nach dem WM-Titel 1990 und der der Wiedervereinigung zwar ein Übermaß an guten Spielern. Franz Beckenbauers Prophezeiung, der deutsche Fußball werde nun auf Jahre unschlagbar sein, erfüllte sich aber nicht. Und der DDR-Fußball wurde ebenso schnell abgewickelt wie viele der Industrien in den neuen Bundesländern: Hunderte von Spielern gingen in den Westen, die Traditionsvereine im Osten hatten weder die wirtschaftlichen noch die sportlichen Möglichkeiten mitzuhalten.TC 19:11 – Geld regiert die Fußballwelt MUSIK Erzählerin:Die 1990er Jahre trieben stattdessen eine Entwicklung voran, die den Fußball bis heute prägt: die Kommerzialisierung nimmt immer mehr zu, es gibt Fan-Artikel vom Türvorleger bis zur Unterhose, Fans zahlen Geld, um bei verschiedensten Fernseh- und Internetanbietern Spiele verfolgen zu können. Der Fußball dominiert die Sportberichterstattung in den Medien. Als Deutschland in Brasilien 2014 Weltmeister wird, sitzen hierzulande mehr als 34 Millionen Menschen vor dem Fernseher. In der Bundesliga wächst die finanzielle und damit auch die sportliche Kluft zwischen den großen und den kleinen Vereinen. Es gibt viele Fußball-Anhänger, die sich damit nicht mehr wohlfühlen: OT 17 / 0.39  (Fans)„Es geht alles nur noch ums Geld, um Einfluss, und da finde ich, dass die Fans und der eigentliche Fußball teilweise schon auf der Strecke bleiben. / Dieses Getue ist mir einfach zu viel geworden. Die Experten, die vor und nach jedem Spiel eine Stunde, zwei Stunden oder auch während des Spiels dazugeschaltet werden, die interessieren mich alle kein Stück. / Alles wird noch mehr ausgebeutet. Im Fernsehen du kannst heutzutage, glaube ich, jeden Tag fünf Stunden Fußball schauen, musst halt dafür zahlen, sind kleine Beträge, das läppert sich insgesamt. Doch so dass dann eben jeder Spieler, auch wenn er nur ein Tor schießt, das das entscheidende Tor ist, einfach 100 Millionen mehr wert ist.“ Erzählerin:Der Sport entwickelt sich allmählich weg von den kleinen Plätzen hin zum globalen Medienphänomen. Zuletzt haben die kleineren Vereine deutschlandweit jedes Jahr rund 100.000 aktive Spieler verloren. Im Profibereich sind dagegen Ablösesummen für einzelne Akteure im zweistelligen Millionenbereich keine Seltenheit mehr. Manuel Neukirchner vom Deutschen Fußballmuseum: OT 18 / 0.38 (Neukirchner)„Heute ist der Fußball einfach nur noch im wirtschaftlichen Zusammenhang zu denken. Angebot und Nachfrage bestimmt das gesellschaftliche Leben - auch im Fußball. Der Fußball löst unglaubliche Umsätze aus und davon profitieren alle die Akteure auf dem Platz, die Vereine, die Fernsehsender, die Medien, die Lizenzrechteinhaber. Das ist nicht mehr zurückzudrehen. Und wir haben in den letzten Jahren eigentlich gemerkt, dass auch wenn der Fußball immer wieder totgesagt worden ist, er nicht gestorben ist. Und ich glaube, dass auch in Zukunft das der Fall sein wird. Natürlich müssen wir aufpassen, dass die Spirale nicht überdreht wird.“ MUSIK Erzählerin:Damit der Fußball in Deutschland auch weiterhin die Menschen trauern, jubeln und feiern lässt… Collage Reporter-Torschreie aus Bundesliga-Saison / MUSIK TC 22:13 – Outro
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Jun 5, 2024 • 22min

D-DAY - In der Literatur

Ernest Hemingway, Jerome D. Salinger und Stefan Heym sind Autoren, die die Landung der alliierten Truppen in der Normandie erlebt haben. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre verfolgten die Ereignisse in Frankreich. Die Reaktionen der Schriftsteller auf den D-Day sowie die Perspektiven deutscher Literaturnobelpreisträger werden beleuchtet. Auch der Roman 'The Crusaders' von Stefan Heym nach dem Zweiten Weltkrieg und die Fernsehdoku über den D-Day werden thematisiert.
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Jun 5, 2024 • 23min

D-DAY - Frankreichs Gedenken an die Landung der Alliierten

80 Jahre liegt die Landung der Alliierten in der Normandie zurück. Noch heute erinnern Bunkeranlagen und Panzer am Strand von Courseulle-sur-mer an die Befreiung von den Nationalsozialisten. Da es kaum noch Zeitzeugen gibt, ist es heutigen Bewohnern des Küstenörtchens besonders wichtig, weiterhin das Gedenken zu wahren. Von Andrea Burtz (BR 2024)Credits Autorin: Andrea Burtz Regie: Ron Schickler Es sprachen: Katja Bürkle, Ron Schickler, Andreas Neumann, Hemma Michel Technik: Robin Auld Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Romain LeChartier, Samuel LeVasseur, Corinne Vervaeke, Philippe Vervaeke, Eric Tabaud Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD History (2024): 24 h D-Day Der D-Day markiert den Startschuss zur Befreiung Westeuropas aus dem Griff der Naziherrschaft. Am 6. Juni 1944 greifen alliierte Soldaten deutsche Stellungen an gleich fünf Strandabschnitten in der Normandie an. Der Angriff erfolgt von See aus und gilt als das größte amphibische Ladungsunternehmen der Geschichte . Dieses Ereignis jährt sich nun zum 80. Mal. Doch so nah, so authentisch wurde diese Schlacht noch nie gezeigt. Amerikanische und britische Kameraleute sind in Landungsbooten, bei  Beschuss am Strand und bei der Rettung Verletzter dabei. Ihr Originalmaterial, gedreht in schwarz-weiß, wurde für diese Dokumentation aufwendig  bearbeitet und koloriert. Die historisch einzigartigen Aufnahmen erscheinen in Spielfilmqualität. Der Krieg bekommt Farbe. Und damit eine andere Wirkung. Wir schauen direkt in die Gesichter derer, Amerikaner, Kanadier, Briten und Deutsche, die meisten nicht viel älter als 20 Jahre. In „ 24 h D-Day“ erzählen sie ihren D-Day, den Tag den sie nie vergessen konnten. JETZT  ANSEHEN Linktipp: arte (2024): Der D-Day und eine Reise in die Familiengeschichte In diesem Jahr ist es 80 Jahre her, dass alliierte Truppen in der Normandie landeten, um die Nazi-Herrschaft über Europa zu beenden. Daran wird international erinnert. Aber auch heute noch ist der D-Day für viele Menschen weit mehr als ein Gedenktag; er ist ein wesentliches Datum ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Familie. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHER 1 OV  ÜBERSETZUNG ROMAIN (flüsternd) TON 1Ich habe immer dasselbe Gefühl, wenn ich das Alter dieser Soldaten lese. Ich bin jetzt 30, die meisten sind jünger als ich. Der Älteste, der hier begraben ist, war 34. Ich habe Mitgefühl, wenn ich mich in ihre Lage versetze, mir ihre Lebenswege vorstelle. Was wohl im Moment der Landung in ihren Köpfen vorgegangen ist, und als sie sich entschlossen haben, herzukommen. Sie hatten keine Wahl. Auf Friedhöfen herrscht immer diese Stimmung von Ruhe und Gelassenheit. Atmo Friedhof SPRECHERINEs ist ein sonniger Morgen in Bény-sur-mer. Romain ist der einzige Besucher auf dem kanadischen Soldatenfriedhof. Er stammt aus dem Nachbarort Courseulles und betreibt dort eine kleine Pension. Sein Blick schweift über die einheitlichen Grabsteine der 2.049 jungen Kanadier, die in den ersten Wochen der Normandie-Invasion im Juni 1944 gefallen sind. Auf jeder weißen Stele sind unter einem Ahornblatt Name, Rang und Todesdatum eingraviert. Dazwischen blühen Narzissen, Iris und rote Tulpen. SPRECHER 1 OV  ÜBERSETZUNG ROMAIN, TON 2Es ist unvorstellbar. Jetzt sogar noch mehr. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sowas heute nochmal passieren könnte.Dass Menschen sechstausend Kilometer auf einem Schiff oder in einemFlugzeug hinter sich bringen, um ein Land zu retten, das sie gar nichtkennen. Ich glaube, wenn man heute Leute zwischen 20 und 30 fragenwürde, ob sie in der Lage wären, das zu tun, würden 99% „nein“ sagen. Es ist unvorstellbar, und das macht das Ganze noch stärker. ATMO Friedhof FREISTEHEND, SAMUEL LEVASSEUR, TON 3Je suis jardinier. Ca fait 30 ans que je fais le travailpour le cimetière. SPRECHERINSamuel Levasseur ist seit 30 Jahren der einzige Gärtner des Soldatenfriedhofs. Im Ort heißt es, es sei der schönste der Region. Denn Samuel sorgt dafür, dass er ganzjährig blüht. Im Juni, zum Jahrestag der Landung, setzt er Klatschmohn.Damit schmückten schon die Einheimischen im Frühsommer 1944 die Gräber. Dem Gärtner ist es wichtig, den Gefallenen jeden Tag aufs Neue seine Ehre zu erweisen. SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG SAMUEL LEVASSEUR TON 4 (Samuel, ov)Am Ende bleiben nur ihre Gräber. Ich bepflanze sie,damit sie hübsch aussehen, und um ihnen zu huldigen. Ein wunderschöner Tribut, den ich zollen kann. In diesem Jahr ist es vielleicht das letzte Mal, dass wir den Gedenktag mit Veteranen begehen. Zum Glück konnten wir die Andenken dieser Männer bewahren, ich habe einige gesammelt. Sie sollen nicht vergessen werden. MUSIK SPRECHERINManche Angehörige hinterlassen Hochzeitsfotos, handgeschriebene Nachrichten und sogar Schmuck auf den Gräbern. Nach einer Weile entfernt Samuel Levasseur die verwitterten Gegenstände, damit der Gesamteindruck der Gedenkstätte nicht gestört wird. Aber er hebt all diese Dinge auf und beantwortet Besuchern Fragen. Die 30 Jahre Arbeit zwischen den Grabsteinen junger Soldaten haben ihn geprägt. SPRECHERIN OV ÜBERSETZUNG CORINNE VERVAEKE; TON 5Er ist ein Poet! Seine Verse sind sehr bewegend, er schreibt wunderschöne, schlichte Gedichte, besonders über die Kanadier. Wenn er es mal wagt, seine Gedichte anderen vorzulesen –Samuel ist sehr schüchtern! – dann weinen alle. Sie sind so schön, dass alle in Tränen ausbrechen. SPRECHERINFremdenführerin Corinne Vervaeke hat mit Besuchergruppen schon oft den Soldatenfriedhof Bény und seinen Gärtner besucht. Sie kennt seine Gedichte. SPRECHERIN OV ÜBERSETZUNG CORINNE VERVAEKE, TON 6 Sie sind sehr kurz, nur wenige Zeilen. Er erzählt zum Beispiel vom Soldaten, der seine Familie in der Ferne zurücklassen muss, der das Meer überquert, auf normannischem Sand fälltund schließlich für immer in der Erde der Normandie schläft, weit entfernt vom gelobten Land. SPRECHERINAn manchen Tagen kommen bis zu sechs Touristenbusse zum Soldatenfriedhof Bény,(Bénie) der auf einer Anhöhe liegt. Drei Kilometer Luftlinie vom Küstenabschnitt Juno Beach entfernt, wo die 3. Kanadische Division am 6. Juni 1944 landete. Vom Friedhof kann man in der Ferne das Meer sehen. Die winzigen bunten Punkte am Horizont sind Segel von Surfern wie Mathieu.Atmo WIND MEER SPRECHER 1 OV, ÜBERSETZUNG SURFER MATTHIEU TON 6 Je nach Windrichtung ist es ein besonders beliebter Spot für alleWindsurfer. Wenn wir auf dem Wasser sind, sehen wir das große Kreuz dort, das sorgt für eine besondere Atmosphäre. Wir können wirklich relativ weit sehen, vor allem das Lothringerkreuz. Es dient uns als Orientierungspunkt, denn bis dorthin müssen wir kommen… , ah der Wind ist heute stark….)) MUSIK GBE3A2123420 The Tide Of Fear 00:45min SPRECHERIN18 Meter ragt das Lothringerkreuz am Strand von Courseulles in den Himmel. Es wurde 1990 zu Ehren des ehemaligen Generals und Staatspräsidenten Charles de Gaulle errichtet. Am 14. Juni 1944, gut eine Woche nach dem D-Day, war de Gaulle am Juno Beach in Courseulles an Land gegangen - vier Jahre nachdem er vor dem Vichy Regime und den nationalsozialistischen deutschen Besatzern nach London ins Exil geflohen war. Das Doppelkreuz erinnert anseine Rückkehr. Die Freien Französischen Streitkräfte hatten das Symbol aus dem Mittelalter übernommen - als Gegenstück zum Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Fremdenführerin Corinne Vervaeke packt ihre Tasche für die großeFamilientour zum D-Day: Original Lebensmittelkarten, Helme und Pullover von US Soldaten, ein Feldtelefon. 60 Kilo Anschauungsmaterial aus der Zeit der Besatzung und Befreiung. Die Kinder dürfen alles anfassen und ausprobieren. SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE TON 7 Das kratzt und piekt, das Feldtelefon ist schwer. Die Kinder dürfen es auf dem Rücken tragen… Damals sind die Soldaten mit ihren großen Rucksäcken ins Wasser gesprungen, sie hatten wirklich Gewicht! All das werden die Kinder ihr Leben lang nicht vergessen. Dinge anzufassen, das spricht die Sinne an und bleibt im Gedächtnis. SPRECHERIN Corinne Vervaeke hat ihr Haar mit kleinen Kämmchen zurückgesteckt, so wie es in den 1940er Jahren Mode war. Auch ihr Rock, Bluse und Schuhe stammen aus der Zeit. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hat die Sportlehrerin sich ihren großen Wunsch erfüllt, noch ein Geschichtsstudium anzuhängen. Seither macht sie Führungen in Courseulles. Corinne stammt aus der Region und kennt den Ort. Sie betont, dass es wichtig sei, zu unterscheiden: Zwischen den großen Festlichkeiten zum Jahrestag der Landung als Dank an die Veteranen. Und dem, was französischen Zivilisten damals während der Befreiung widerfahren ist. SPRECHERIN OV, ÜBERSETZUNG CORINNE TON 9 Das war sehr schwer für die normannische Bevölkerung. Viele Häuser waren zerstört und ein Teil der Zivilisten durch die Bomben der Alliierten ums Leben gekommen. Heute muss man das alles ein bisschen vergessen, ein bisschen glätten und sich daran erinnern, dass wir dadurch heute in Frieden leben können. Passiert ist es derGeneration unserer Eltern. Für uns war die Befreiung dann ein großesGlück. Für uns ist eine Erinnerung - keine gelebte Realität! SPRECHERINCorinnes Mann Philippe, nach 37 Jahren in der Armee nun im Ruhestand, definiert den D-Day ganz klar: SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG PHILIPPE VERVAEKE TON 10Für uns ist die Landung tatsächlich der erste Tag eines neuen Europa. Eines friedlichen Europa. Das ist nicht der 8. Mai. Der 8. Mai markiert das Ende des Krieges. Aber der entscheidende Faktor war füruns die Landung. Hier wurde klar, dass wir aufhören müssen, ständig Kriege zu führe, und dass wir Europa schaffen müssen. MUSIK SPRECHERINInteresse an der eigenen Geschichte zu wecken und Völkerverständigung zu unterstützen, ist für Philippe Vervaeke unerlässlich. Heute macht sich der Rentner für Städtepartnerschaften stark und unterstützt seine Frau bei ihren Führungen am Juno Beach. Auch er passt seine Kleidung dabei an die 40er Jahre an. DerHobbysammler kann aus seinem eigenen Fundus schöpfen: Er trägt Uniform und Schiffchen eines Kriegsberichterstatters bei US-Armee.SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE TON 11 (Reportagig)Da ist Philippe. Wir sind am Strandabschnitt der Kanadier, aber Philipp trägt keine kanadischeUniform…SPRECHER 2 OV Übersetzung Philippe: Also Kinder – wie bin ich gekleidet? … Es steht auf derTasche wie bei einem Camembert aus der Normandie… Ich bin ein Journalist…)) SPRECHERIN Familien aus ganz Frankreich sind mit ihren Kindern gekommen, um beim Strandspaziergang zu erfahren, was sich hier im Jahr 1944 zugetragen hat. Wo genau der bekannte Panzer einen Bombenkrater füllte, damit nachkommende Fahrzeuge über ihn hinwegfahren konnten. Warum es wichtig war, all die kleinen Brücken über dem Flüsschen „Seulle“ zu schützen und wie klein die Provianttasche eines US Soldaten war. Nachdem die Kinder noch einen restaurierten Panzer bestaunt haben, geht es direkt aufs Dach eines Bunkers – auf den sogenannten „Atlantikwall“. SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE, TON 12 Also – sieht das so aus wie eine Mauer? Stehen wir aufeiner Mauer? – (Kinder im Chor, FREI STEHEN LASSEN) NON! – Tatsächlich nennt man es Atlantikwall, weil es als Schutz diente. Eigentlich besteht er aber aus vielen einzelnen Bunkern. 13.O-TON: Trompetenstoß, Fliegerlärm SPRECHERIN Philippe bläst zum Appell. Zufällig schießt am Himmel ein historischer Flieger über die Köpfe der erstaunten Besuchergruppe hinweg. Am Ende gibt es noch ein Quiz: Philippe zieht Soldatenhelme aus einer Tasche, die Kinder sollen das Land seiner Herkunft erraten. SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG PHILIPPE TON 14 Ja, das ist einfach – ein deutscher! Es ist das einzigeObjekt meiner Sammlung, das nicht historisch ist. Der deutsche Helmgehört zum Kostüm des Films „Saving Private Ryan“, es ist eine Filmrequisite. Denn heute sind deutsche Sammlerstücke sehr, sehr teuer. SPRECHERIN Nach der zweistündigen Tour sind die Kinder beeindruckt. Was ein Soldat beim Sprung ins Meer mit sich führte und wie klein seine Essensration war, werden sie nicht vergessen. ATMO STRAND/MEER SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG SURFER MATHIEU TON 15 Es gibt hier ja direkt das Museum – aber wir schauen uns das nicht ständig an. Wir leben in Courseulles, einem Ort, der für Wassersport wie geschaffen ist. Unter den heutigen Bedingungen ist es großartig! SPRECHERINSurfer Mathieu rollt das Segel aus, um schnell raus aufs Meer zu kommen. Am Strand kennt man sich hier unter Wassersportlern.SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG SURFER MATHIEU TON 16Ganz ehrlich? Ich habe keine Zeit, um mir all das anzuschauen, was hier sich hier zugetragen hat. Ich bin zu sehr mit meinerArbeit beschäftigt. Die Gedenkveranstaltungen sind immer besonders, wir erleben dann die Geschichte ein bisschen noch einmal. Für unsEinheimische ist es gar nicht so leicht, da einen Platz zu bekommen. Aber es zieht Touristen an– das ist gut für die Region! ATMO MeerSPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 17Hier am Strand gibt es auch eine Surfschule, die Leute haben hier Spaß, und ich gehe dort schwimmen. Ich denke nicht an die Landung, wenn ich meinen Hund ausführe. Manchmal vielleicht, aber nicht täglich. MUSIK SPRECHERINPensionsbetreiber Romain liebt seine Heimat, die Normandie. Die sattenWiesen, die vielen Pferde, die blühenden Apfelbäume im Frühling und natürlich das Meer. Häufig wird er von seinen amerikanischen Gästen gefragt, ob er an dem Strand wirklich baden geht, an dem so viele Soldaten ihr Leben lassen mussten.SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 18Dann antworte ich, dass ich nicht daran denke. Das mag manchem verrückt erscheinen. (…) Ich sage den Leuten dann, wenn man an jedem Ort aufhört zu leben, an dem sich etwas Schlimmes ereignet hat, egal ob ein Krieg oder etwas anderes, dann könnte man nicht mehr leben. Besonders in der Normandie. Wir haben viele solcher Orte. SPRECHERINSeit drei Jahren betreibt der 30jährige die kleine Pension in seiner Heimat Courseulles. Ein 4000 Seelen Ort, der im Sommer von Badegästen lebt und im restlichen Jahr von Geschichtstouristen. Das Haus aus dem 18. Jahrhundert hat Romain im Bewusstsein renoviert, künftig Gastgeber für Menschen aus aller Welt zu sein, die an der Normandie vor allem die berühmte Landung interessiert - weniger ihre Landschaft. Kanadier, Engländer, Amerikaner.SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 19 Natürlich kommen auch Franzosen. Für viele ist es so eine Art „Pilgerreise“, als müsse jeder Franzose einmal in seinem Leben dieLandungsstrände besucht haben. Viele Eltern waren schon als Kinder hier. Egal, ob es 10, 20, 30, 40 Jahre her ist – sie sagen: „Ja, ich war mit meinen Eltern hier, ich erinnere mich!“ Der Vorteil hier ist, dass sich nicht viel verändert hat. Was vor 40 Jahren hier war, ist es auch heute noch. SPRECHERIN Touristen wollen Gräber entfernter Verwandte besuchen oder ganz speziellen Fragen nachgehen. Romain hat durch seine Gäste viel Neues über die Region erfahren, obwohl er hier aufgewachsen ist. Schon als Kind hat er all die Erinnerungsstätten und Museen mit der Familie oder Schulklasse besucht; viele Anekdoten gehört, die hier von Generation zu Generation weitergetragen werden. Die meisten Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben. MUSIK SPRECHERIN Romains Großvater beschrieb oft den unvorstellbaren Lärm der Detonationen in der Nacht des 6. Juni 1944, den er noch in Flers (flär) hören konnte. Einem Ort, der im Landesinneren 70 Kilometer von der Küste entfernt liegt. Ofterinnerte er daran, wie quälend lang die Befreiung war - der D-Day war nur der Anfang. SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 20 Caen ist im August befreit worden. Die Alliierten sind aber schon Anfang Juni gelandet. Das muss man sich mal vorstellen: Sie haben Monate gebraucht, um diese 20 Kilometer vorzudringen. Es gab unerbittliche Kämpfe, dabei wurde Caen zu 90% zerstört, 3000 Zivilisten kamen ums Leben. Die Großmutter einer Freundin erzählte immer, dass sie während der Befreiung Caens durch die Alliierten fast alle Schulkameraden verloren hatte. SPRECHERINIm Herbst 1944 saßen noch drei Kinder in der Klasse. Ein Bild, das sich bei Romain eingebrannt hat, obwohl er es nie gesehen hat. SPRECHER 2 OV  ÜBERSETZUNG ERIC, TON 21 Das Foto da wurde am 14. Juni 1944 aufgenommen, eine Woche nach der Landung. Das ist de Gaulle, dort wo das Rathaus ist … MUSIK GBY9Y2201307 Moonbow 00:52min SPRECHERIN Eric Tabaud ist stolz auf seine Sammlung. Über 10.000 Fotos hat der 63jährige Hobbyhistoriker bereits von Courseulles gesammelt und digitalisiert. Die Interessantesten präsentiert er auf seiner Internetseite. Das Museum, das sich mit der langen Geschichte Courseulles beschäftigt hat, ist seit ein paar Jahren geschlossen. Für Eric Tabaud ein Grund mehr, die Erinnerung an das kleine Industriestädtchen mit seinen Fotos lebendig zu halten. Eric ist im Ort bekannt. Seit über 100 Jahren betreibt seine Familie das historische Kinderkarussell am Strand. Großeltern, die jetzt mit ihren Enkeln kommen, sind früher selbst auf den Pferdchen und Zebras geritten. Eric sitzt oft an der Kasse. ATMO: kurzes, unübersetztes Gespräch indirekt als Atmoaufgenommen TON 22 SPRECHER  2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 23 Es kommen viele Omas aus Courseulles zu meinem Karussell, die mich von klein auf kennen. Ich frage sie, ob sie alte Fotos haben und dann bringen sie welche mit. Sehr alte Fotos und so kann ich Ereignisse rekonstruieren…Das da sind Deutsche, die man am D-Day schon mittags festgenommen hat…Als die Deutschen damals Courseulles besetzt haben, haben sie alle Fotoapparate der Leute konfisziert. Sie wollten verhindern, dass sie den Alliierten Fotos der Befestigungsanlage zuspielen. Ein paar wenige haben ihre Apparate aber behalten und bei der Befreiung gleich wieder rausgeholt, um Fotos zu machen…MUSIK SPRECHERIN Fotos von gefangenen deutschen Soldaten, von riesigen Krankenhaus-Schiffen, die Verletzte auf Bahren versorgen. Von Bunkeranlagen. SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 24 All die Fotos haben mir Leute vorbeigebracht… Das sind deutscheOffiziere im Jahr 42, während der Besatzung. Aus der Zeit habe ich nurwenige Fotos, aber es gibt welche. Da – sie überwachen den Strand…Und das sind die ersten Gräber, die Kanadier ausgehoben haben. SPRECHERIN Wie viele Menschen in Courseulles haben auch Erics Schwiegereltern nach der Invasion in einem der Bunker am Strand gewohnt, weil ihr Haus zerstört war. Familie Tabaud hat den Krieg überlebt. Ihr erstes Karussell jedoch nicht.SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 25 Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde mein Großvatereinberufen und das Karussell geschlossen. Mein Vater war damals 9, meine Tante 10. Die Familie besaß Land in der Nähe von Caen, züchtete Schafe und verbrachte die Winter auf den Feldern. Die Alten dachten, dieser Krieg würde niemals enden und das Karussell zu nichts mehr nütze sein. Da es kein Holz zum Heizen gab, haben sie begonnen, es zu verheizen. Nach dem Krieg haben wir dann ein neues Fahrgeschäft aus Blech bauen lassen.SPRECHERIN Als Eric Tabaud 1996 den Betrieb von seinen Eltern übernommen hat, hat er das Fahrgeschäft nach historischer Vorlage nachbauen lassen. Einhörner, Pferdchen und Boote, die noch heute hier ihre Runden drehen, sind aber nicht mehr als aus Holz, sondern aus Harz. Handgemalte Engelchen strahlen von der Decke. Die musikalische Untermalung erinnert an die Anfangstage des Traditionsbetriebs.SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 26Wir spielen hier Jahrmarktorgelmusik. In Deutschlandund Holland gibt es davon besonders viel. Eines Tages, als ich einendeutschen Marsch gespielt habe, haben mir das Leute vorgeworfen, weil es doch Deutsche waren, die Krieg gegen uns geführt haben. Da habe ich gesagt: „Wir können doch nicht mit allen Menschen im Krieg bleiben, mit denen wir es irgendwann mal waren! Sonst sprechen wir irgendwann mit niemandem mehr.“ Am 6. Juni hänge ich hier am Karussell alle Flaggen auf, auch die deutsche. SPRECHERINKrieg sei immer schlimm, und man müsse sich stets um Friedenbemühen. Damit die Grauen eines Kriegs niemals vergessen werden, müsse man an sie erinnern. SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 27Ich organisiere in jedem Jahr einen „Erinnerungsweg“ amJuno Beach. Als die Alliierten am 6. Juni gelandet sind, starben 359kanadische Soldaten am Strand. Sie wurden schnell in Bény begraben.Mohn war die einzige Blume, die es damals gab. Also schmückte man die Gräber damit. MUSIK SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 27Heute male ich an Strandabschnitten 359riesige Mohnblumen von vier bis zu zehn Metern in den Sand und lade die Menschen ein, sie zu schmücken. Mit Kieseln, Algen, Blumen - allem, was sie am Strand finden. Ich schreibe zu jeder Blume den Namen des Soldaten, sein Alter und bitte die Leute, ein Foto von ihrer Strandblume zu machen. Dann sollen sie im Internet recherchieren, ob sie noch Verwandte des Toten finden können. Sie sollen ihnen dann ein Foto ihrer Mohnblume schicken um zu zeigen, dass wir die Menschen nicht vergessen, die gekommen sind, um uns zu befreien. Atmo Meer
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Jun 5, 2024 • 23min

D-DAY - Und die Frauen, Kämpferinnen an allen Fronten

Sie spionierten im besetzten Frankreich, dechiffrierten deutschen Funkverkehr und nieteten Bomber zusammen. Sie schweißten in Schiffswerften, standen "ihre Frau" an der "Homefront", und: sie leisteten einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung Europas von der Naziherrschaft: Frauen im Einsatz für Militär und Kriegswirtschaft der Aliierten. Von Michael Zametzer (BR 2024) Credits Autor: Michael Zametzer Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Christian Baumann, Caroline Ebner, Florian Schwarz Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Michaela Hampf, Corinna von List Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD History (2024): 24 h D-Day Der D-Day markiert den Startschuss zur Befreiung Westeuropas aus dem Griff der Naziherrschaft. Am 6. Juni 1944 greifen alliierte Soldaten deutsche Stellungen an gleich fünf Strandabschnitten in der Normandie an. Der Angriff erfolgt von See aus und gilt als das größte amphibische Ladungsunternehmen der Geschichte . Dieses Ereignis jährt sich nun zum 80. Mal. Doch so nah, so authentisch wurde diese Schlacht noch nie gezeigt. Amerikanische und britische Kameraleute sind in Landungsbooten, bei  Beschuss am Strand und bei der Rettung Verletzter dabei. Ihr Originalmaterial, gedreht in schwarz-weiß, wurde für diese Dokumentation aufwendig  bearbeitet und koloriert. Die historisch einzigartigen Aufnahmen erscheinen in Spielfilmqualität. Der Krieg bekommt Farbe. Und damit eine andere Wirkung. Wir schauen direkt in die Gesichter derer, Amerikaner, Kanadier, Briten und Deutsche, die meisten nicht viel älter als 20 Jahre. In „ 24 h D-Day“ erzählen sie ihren D-Day, den Tag den sie nie vergessen konnten. JETZT  ANSEHEN Linktipp: arte (2023): Normandie – Die vergessenen Opfer des D-Day Aus der ganzen Welt strömen Menschen in die Normandie, um der Opferbereitschaft der hier gefallenen britischen, amerikanischen und kanadischen Soldaten zu gedenken. Die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 ging als „D-Day“ in die Geschichte ein; und die einstigen Landungsstrände wurden zum Symbol des Freiheitskampfes. Die zivilen Opfer fanden hingegen lange Zeit keine Erwähnung, sie blieben Märtyrer ohne Medaillen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO/MUSIK Flugzeug innen, surren, darüber ZITATORIN (Cormeau):Wir hoben bei einem wundervollen Sonnenuntergang in England ab, und der Flug dauerte viel länger, als er heute dauern würde. Aber dann bekam ich einen warmen Drink von meinem Flugbegleiter, und dann sah ich, wie er die Luke öffnete und mir sagte, ich solle mich bereit machen… SPRECHER:Am 22. August 1943 sitzt die 34jährige Yvonne Cormeau in einer britischen Militärmaschine. Ihr Ziel: Die Gironde, im Südwesten Frankreichs. Im von den Deutschen besetzten Frankreich. ZITATORIN  (Cormeau): Dann sah ich das Rote Licht an meiner Seite leuchten, und wusste, wenn es grün würde, müsste ich durch die Luke springen. Das ging sehr gut, der Sog der Flugzeugpropeller trug mich fort, als säße ich in einem Lehnstuhl, es war sehr angenehm…SPRECHER:Was sich so angenehm anhört, ist ein hochriskantes, lebensgefährliches Unternehmen für die junge Frau. Denn als britische Agentin soll Yvonne Cormeau die Widerstandsgruppen der Résistance untersützen, Waffen schmuggeln, Landeplätze auskundschaften und codierte Funksprüche nach England absetzen. ZITATORIN (Cormeau):Mein Fallschirm war weiß, schmutzigweiß, ich habe immer noch ein Stück von ihm. ATMO weg SPRECHER: Yvonne Cormeau ermöglichte mit ihren Funksprüchen über 140 Waffenlieferungen ins besetzte Frankreich, die von britischen Flugzeugen an vereinbarten Stellen abgeworfen wurden. Sie war eine von 600 britischen Agentinnen, die auch die größte amphibische Militäroperation der Weltgeschichte unterstützten: Die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944. D-Day! 1 ZSP BBC LondonDum dum dum dummm… SPRECHER:Die Herausforderung für die Aliierten könnte nicht größer sein. Um erfolgreich zehntausende Soldaten, Fahrzeuge, Material an der Küste der Normandie anlanden zu können, müssen nicht nur Britische, Kanadische, Französische und US-Truppenteile perfekt zusammenarbeiten. Auch die Koordination der Teilstreitkräfte, die Verarbeitung der Geheimdienstinformationen, die Planung von Täuschungsmanövern erfordert ungeheuer viel Planung schon Jahre vor dem eigentlichen Tag der Landung.  MUSIK SPRECHER:Zwar ist die deutsche Wehrmacht 1944, nach fast fünf Jahren Krieg, ausgebrannt und an allen Fronten auf dem Rückzug. Die Amerikaner sind in Sizilien gelandet und kämpfen sich nun durch Italien. An der Ostfront dringt die Rote Armee immer weiter Richtung Reichsgrenze vor – unter enormen Verlusten. Die westlichen Alliierten aber haben aber ein gravierendes Problem: mit jedem Kriegstag, mit jedem Mann an den Fronten in Europa und im Pazifik steigt der Bedarf an Arbeitskräften für die „Homefront“. 2 ZSP Michaela Hampf:… und vor allem auch der Bedarf an administrativen Kräften und an Menschen, die mit Logistik usw befasst waren, im Gegensatz zur tatsächlich kämpfenden Truppe… SPRECHER: Michaela Hampf ist Professorin für nordamerikanische Geschichte an der Universität Hamburg. 3 ZSP Michaela Hampf:…und in diesem Moment wurden eben Frauen sowohl in der Zivilwirtschaft als auch in den Streitkräften enorm wichtig und man legte da besonderen Wert darauf, jetzt auch Frauen zu rekrutieren für die Armee, auch die anderen Teilstreitkräfte und die zivile Rüstungswirtschaft. SPRECHER: Dass Frauen an der Seite von Männern mit der Waffe in der Hand kämpfen, wie es zum Beispiel in der russischen Roten Armee der Fall ist, das ist in Washington und London unvorstellbar. Allerdings hat es schon im ersten Weltkrieg Frauenverbände zur Unterstützung der kämpfenden Truppen gegeben. Diese „auxiliaries“ sollen nun auch im Zweiten Weltkrieg aufgebaut werden. Ein Spagat, sagt Michaela Hampf: 4 ZSP Michaela HampfDieser Spagat einerseits des Arbeitskräftebedarfs vor allem an Unterstützenden und Bürotätigkeiten und andererseits eben der Geschlechterrollen, die man jetzt auch im Krieg, wo alles über den Haufen geworfen wurde, möglichst bewahren wollte. SPRECHER:Wie stark die Vorbehalte gegen Frauen im Militärdienst noch 1944, wenige Monate vor der Landung in der Normandie, sind, zeigt ein Werbefilm der US-Regierung zur Rekrutierung von Soldatinnen im „Womens Army Corps“, kurz „WACs“: 5 ZSP Archiv: WAC Werbespot 1944Hey, there goes one of those Petticoat-Soldiers. My sister wants to join the WACs – what do you think of that? – She’s crazy! What the devil a woman whants to be a soldier for? Waste of time! This is a mans war! ZITATOR OV: Hey, da ist einer von diesen Petticoat-Soldaten. Meine Schwester möchte den WACs beitreten – was hältst Du davon? – Sie ist verrückt! Wofür zum Teufel soll eine Frau Soldatin werden? Zeitverschwendung! Das ist ein Männerkrieg! SPRECHER: 1942, kurz nach dem Kriegseintritt der USA gegen Japan, hat der US-Kongress ein Gesetz zur Schaffung weiblicher Unterstützungsverbände für die US-Army verabschiedet. Die Frauen, die dafür rekrutiert wurden, hatten aber keinen militärischen Status. Das änderte sich schon ein Jahr später: Weil sich weit mehr Frauen zum Dienst meldeten als erwartet, wurden sie offiziell Teil der Armee: das „Women’s Army Corps“. 6 ZSP Archiv: WAC Werbespot 1944This is a mans war! What sort of Jobs may they do? – What sort of Jobs can we do? Take a look, mister! X-Ray-technicians, inspectors of army meat, teachers schooling ous soldiers… SPRECHER: Diese sogenannten „WACs“ arbeiten in hunderten unterschiedlicher Jobs: In Lazaretten und Sanitätseinheiten, in Verwaltung, Logistik und Stabsbüros des Militärs, aber auch als Kraftfahrerinnen und Mechanikerinnen, für balistische Berechnungen von Artilleriegeschossen, Wetterbeobachtung oder die Auswertung von Luftbildern. 7 ZSP Michaela Hampf:Und man dachte sogar, dass Frauen dafür qualifizierter seien als Männer. Aber natürlich ging es um das Prinzip: „Free a man for Fight“ oder „Free man for the Fleet“, dass man eben Männer freisetzen konnte für Kampfverwendungen. SPRECHER: Angelehnt an die „WACs“ bauen auch andere Truppenteile  Frauenverbände auf: Die US-Navy, das Marine-Corps und die Küstenwache rekrutieren Frauen für ehemals männliche Aufgabenbereiche. Als Pilotinnen der Air Force fliegen sie auch Militärmaschinen unterschiedlichen Typs kreuz und quer durch das Land oder testen reparierte Maschinen. Das bedeutet für diese etwa 350.000 Frauen: Kasernierung, Ausbildung, Uniformierung. Die Infrastruktur dafür müssen aber erst noch geschaffen werden. 8 ZSP Michaela Hampf: Man musste sozusagen ein ganz neues Kontingent neu aufbauen, angefangen vom Design der Uniformknöpfe bis hin zu denen, also jeden einzelnen Bereich neu planen. Die Frauen waren getrennt, sie wurden von Männern Kommandiert. Es gab aber umgekehrt natürlich keine Kommandeurinnen von männlichen Einheiten und schwarze und weiße Frauen waren ebenso wie schwarze und weiße Soldaten vollkommen voneinander getrennt. SPRECHER: Ab 1943 werden die WACs auch auf dem Europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt, zur Vorbereitung der alliierten Landung: Sie übersetzen Funksprüche der französischen Résistance, werten Luftbilder aus, fahren Jeeps und Lastwagen im Motorpool. Die Britischen Inseln gleichen in dieser Zeit einem riesigen Heerlager – zur Vorbereitung auf die Landung. 9 ZSP Archiv: First WACs arrive in England 1943And here ist the first Contigent to arrive in England, the largest unit of women ever to be sent overseas, here they will staff training centres, man Airports and controll stations, and – like all women – their first job is to make themselves a home…! ZITATOR OV: „Und hier ist das erste Kontingent, das in England ankommt, die größte Gruppe von Frauen, die jemals ins Ausland geschickt wurde. Hier werden sie Schulungszentren betreuen, Flughäfen und Kontrollstationen bemannen, und – wie alle Frauen – besteht ihre erste Aufgabe darin, sich ein Zuhause zu schaffen!“ MUSIK SPRECHER:Aber auch in der Kriegsindustrie der USA fehlen Arbeitskräfte. 1941, nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA, hat die Regierung in Washington Frauen im ganzen Land dazu aufgerufen, in die Fabriken zu gehen – um die Stellen der Männer zu besetzen, die an die Front gezogen sind. Ein Propagandafilm der US-Regierung sieht ein riesiges Arbeitskräftereservoir unter den Frauen Amerikas.  10 ZSP Archiv: Werbefilm US-Frauen in der Industrie 1943In Towns all over the united states, women are called to leave their homes and take jobs. Among our young, unmarried women, and among older women, who’s children are grown, we have a large reserve. They discover that factory work is usualy not more complicated than housework. How do you like it? I love it! ZITATOR OV: In Städten überall in den Vereinigten Staaten werden Frauen dazu aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen und eine Arbeit anzunehmen. Bei unseren jungen ledigen Frauen und bei älteren Frauen mit erwachsenen Kindern haben wir eine große Reserve. Sie entdecken, dass Fabrikarbeit normalerweise nicht komplizierter ist als Hausarbeit. Wie gefällt es Ihnen? ZITATORIN: Ich liebe es! MUSIK, darüberSPRECHER:Für diese Arbeiterinnen in der US-Rüstungsindustrie steht bis heute ein Name: „Rosie the Riveter“ – „Rosie, die Nieterin“. Eine Kunstfigur, berühmt geworden durch einen Schlager und ein Plakat. MUSIK - kurz hoch11 ZSP Michaela HampfBei Rosie the Riveter denkt man wahrscheinlich eher noch an dieses ikonische Bild „We can do it“...SPRECHER: „We can do it!“ steht in der Sprechblase, die aus Rosies Mund kommt. Ein rotes, weiß gepunktetes Kopftuch hält die Haare zusammen, die Ärmel der blauen Arbeiterbluse sind hochgekrempelt, den Betrachtern streckt Sie ihren kräftigen Bizeps entgegen. Das Bild stammt von einer Werbekampagne des Westinghouse-Konzerns und wird vor allem nach dem Krieg als Motiv der Frauenbewegung der 1970er Jahre weltbekannt werden. Michaela Hampf: 12 ZSP Michaela HampfEs gibt aber ein etwas älteres von Norman Rockwell aus dem Jahr 43, und da sieht man eben eine gar nicht so feminine Rosie, die mit einer Nietpistole Mittagspause macht, mit einer Brotdose und ihre Füße auf einer Ausgabe von „Mein Kampf“. Norman Rockwell hat eigentlich die realistischere Darstellung gewählt. Und ich glaube, so ging es vielen Frauen, dass sie durchaus die Erweiterung dieser Handlungsspielräume, die die Rüstungsindustrien boten, zu schätzen wussten. SPRECHER:Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wächst die Zahl der Frauen in US-Rüstungsbetrieben auf über 19 Millionen an. In den Flugzeugwerken von Boing, Lockheed und Douglas schweißen, nieten und dengeln sie an jenen Bombern und Jagdmaschinen, die für den europäischen Kriegsschauplatz bestimmt sind – und damit auch zur Vorbereitung der Landung in der Normandie. Aber auch auf Schiffswerften arbeiten Frauen, wie in der Higgins-Werft in New Orleans, Seite an Seite mit den Männern: ZITATORIN (Velma Plaisance):Du bist vorsichtig bei der Arbeit, du weißt, dass du verletzt werden kannst. Du kannst anderen Schweißern nicht beim schweißen zusehen, ohne Helm, weil du sonst geblendet wirst. Ich war einmal geblendet und hatte Gurkenscheiben auf den Augen zum Kühlen. 13 ZSP Michaela HampfUnd natürlich gehen die Geschlechterrollen nicht einfach weg, weil man sich im Krieg befindet. Und wenn man jetzt Arbeitsklamotten tragen musste oder Uniform, dann hieß es so was wie femininity suspended for the duration. Also man musste nur für die Dauer des Krieges jetzt diesen anderen Dresscode beachten. SPRECHER:Noch in späten 1930er Jahren waren Frauen in der Industrie vielen Unternehmern ein Graus: Einer Frau das Schweißen beizubringen, schien eine völlig abwegige Vorstellung. Man fürchtete zusätzliche Investitionen. Hinzu kam die Befürchtung, dass die Amerikanische Öffentlichkeit eine derartige Abweichung vom traditionellen Rollenbild der amerikanischen Frau nicht tolerieren würde. Michaela Hampf: 14 ZSP Michaela Hampf:Dazu kommt: Die Konstruktion der männlichen Soldaten basiert natürlich sehr stark auf dem Gegensatz oder auf der Konstruktion von Frauen als Zivilistinnen. „The girl back home“, die man beschützt und zu der man zurückkehrt. Und wenn jetzt dieses Rollenbild sich so stark geändert hätte, wäre das in der Tat zum Problem geworden. Und dann wurde die Homefront als erweiterter Haushalt sozusagen konstruiert..  MUSIK SPRECHER: Was im US-Militär die WACs sind, das entspricht beim britischen Militär den „WRENS“ des „Womens Royal Navy Service“, den Frauenverbänden der Königlichen Britischen Marine. MUSIK SPRECHER:Im unscheinbaren, streng geheimen Anwesen von Bletchley Park nahe London arbeiten Ende 1944 7.500 dieser „Wrens“ als Kryptographinnen, Codeknackerinnen und Analytikerinnen. Berühmtheit erlangt Bletchley Park durch die Entschlüsselungstechniken von Mathematikern wie Alan Turing. Seine Maschinen, die sogenannte „Turing-Bombe“ und der raumgroße Colossus-Computer, werden hauptsächlich von Frauen bedient – in der „Hut 6“, einem kargen Decodierraum mit funzeligem Licht, wo die Frauen unter großem Stress stundenlang Nachrichten entschlüsseln. ZITATORIN (Eleonore Ireland):Es war eine riesige Maschine. An einem Ende befand sich dieser große Schalterblock, das meiste davon, und dahinter ein weiteres großes Metallgitter, gefüllt mit Ventilen und Drähten. Und man musste den Code auf der Rückseite eingeben. SPRECHER:Eleonore Ireland, Jahrgang 1926, arbeitet als Codebrecherin in Bletchley Park, entschlüsselt die Funksprüche der Deutschen in den Monaten vor der Landung. Von den Erfolgen ihrer Arbeit bekomt sie allerdings nichts mit. Überhaupt: Die Arbeit in Bletchley Park bleibt auch nach dem Krieg offiziell streng geheim -bis 1974. ZITATORIN (Eleonore Ireland):Es hätte uns ein wenig Auftrieb gegeben, wenn wir gewusst hätten, was wir erreicht haben. Und natürlich war es am D-Day, als wir nach Frankreich fuhren, von entscheidender Bedeutung. Was wir getan haben, war absolut lebenswichtig. SPRECHER:Unter den Frauen von Bletchley Park sind auch einige „höhere Töchter“ aus der aristokratischen Oberschicht, deren Familien das Projekt finanziell unterstützen: Sie sind gut ausgebildet, sprechen oft mehrere Fremdsprachen und – sie gelten als „respektabel“. 15 ZSP Michaela HampfUnd da war zumindest in Großbritannien bei diesen ganz enorm kriegswichtigen Bereich auch ein Augenmerk darauf, dass man da jetzt nicht ins Gerede kam, sondern, ähm, respektable Frauen, wie es zeitgenössisch hieß, beschäftigte.  MUSIK  SPRECHER: Respektabel, Gut ausgebildet, feminin, und – selbstbewusst. So sollen auch die Frauen sein, die nicht nur in Amts- und Schreibstuben, an Werkbänken und Decodiermaschinen gegen die Nazis kämpfen, sondern im Feindgebiet selbst, hinter den Linien. Als Agentinnen des britischen Geheimdienstes. 16 ZSP Corinna von ListAlso da gibt es sicherlich dann zwei Jobs, die besonders wichtig werden. SPRECHER: Corinna von List ist Historikerin und hat die Biographien von Agentinnen und Widerstandskämpferinnen im besetzten Frankreich erforscht… 17 ZSP Corinna von ListDas ist einmal der Einsatz als Funkerin und dann auch die Frauen, die im Kurierdienst eingesetzt werden. Man setzt Kuriere ein, die eben dann diese Nachricht zwischen der Person, die etwas ausspioniert hat, die bringt die Nachricht so zur Funkerin und die Funkgerät sendet dann in der Regel auch codiert, dann rüber nach England.  SPRECHER: Zum Einsatz kommen zum Einen Französinnen, die in den unterschiedlichsten Wiederstandsnetzwerken der Résistance kämpfen. Es gibt aber auch Frauen, die von England aus ins Land geschleust werden – als Mitglieder des Special Operations Executive, kurz SOE.Diese Organisation soll die „Ungentlemanly warfare“ auf das europäische Festland tragen – also Kriegführung mit allen, auch subversiven, Mitteln: Sabotage, Spionage, Attentate im besetzten Frankreich. 18 ZSP Corinna von List:Man sucht da Leute für bestimmte Einsätze im Ausland und dann war bei Frauen sicherlich ein ganz starkes Kriterium waren die Sprachkenntnisse. Und viele dieser Agentinnen haben auch, sage ich mal, Elternteile aus zwei Ländern. Also britisch- französisch oder belgisch-britisch. Und dann auch noch die Fähigkeit zum Beispiel: Ich meine, man muss ja mit einer falschen Identität leben können, das muss man ja auch lernen. Ein Großteil , ob sie dann Funker sind oder Agentinnen, die als Kuriere arbeiten, werden auch per Fallschirm bei Nacht abgesetzt. Und auch das muss trainiert werden. SPRECHER: Im Fall einer Verhaftung sind die Frauen auf sich allein gestellt. Zwar haben sie in ihrer Ausbildung gelernt, einem Verhör eine gewisse Zeit zu widerstehen, um anderen Résistance-Kämpfern Zeit verschaffen. Die Realität sieht aber oft anders aus, sagt die Historikerin Corinna von List.  19 ZSP Corinna von List: Ich meine, allein schon der Schreck, überhaupt verhaftet zu werden, wenn man nie irgendwas mit der Polizei zu tun hatte, ist glaube ich schon psychologisch nicht unerheblich. Und dann ging es ja nicht nur um die Polizei, denn sowohl die deutsche Abwehr als auch die Gestapo haben, wenn sie Informationen haben wollten, auch gefoltert. Und auch gegenüber Frauen. SPRECHER:Im Zweifel bleibe Frauen bei der Gefangennahme oft die Möglichkeit, das eigene Rollenklischee zu bedienen, sagt Corinna von List…20 ZSP Corinna von List:Frauen hatten zwar einen gewissen Schutz und konnten sich ein bisschen schützen, wenn sie auf sehr weiblich machten, oder: Ich verstehe ja von Politik gar nichts und ich weiß das nicht so genau. Das konnte gelingen. SPRECHER:Ist die Agentin aber einmal enttarnt, kann sich ihr feminines Rollenbild schnell gegen sie selbst richten: 21 ZSP Corinna von List: Das galt immer irgendwie als nicht weiblich und als Verrat. Und nur andere sagte ich auch. Man kann natürlich schlecht behaupten, man weiß von nichts und ist politisch inaktiv und tut nix. Wenn sich dann plötzlich der geladene Revolver in der Küchenschublade findet.  SPRECHER:Von den 600 Frauen, die für die SOE rekrutiert werden, sind 39 für den Einsatz im besetzten Frankreich vorgesehen. 13 von Ihnen kommen dabei ums Leben: Von der Gestapo verhaftet, gefoltert, erschossen, oder in ein Konzentrationslager deportiert und ermordet. 22 ZSP Archiv: D-DayDeutsche Rundfunkmeldung SPRECHER: Mit der erfolgreichen Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 gelangen Soldatinnen, WACs und Wrens auch auf das französische Festland, zur unterstützung der Kampfverbände in der Schlacht um Frankreich. 23 ZSP Archiv: De Gaulle zu Befreiung von ParisParis! Paris outragé! Paris brisé! Paris martyrisé! Mais Paris libéré! Liberé par loui-meme… darüber SPRECHER:Am 25. August 1944 wird Paris befreit. Charles de Gaulle, den Anführer der freien französischen Kräfte, reklamiert in seiner Befreiungsrede den Sieg über die Besatzer für die französischen Truppen und den Zivilen Widerstand. Der Grundstein für den „Résistance-Mythos“, wie die Historikerin Corinna von List veststellt. Ein Mythos, in dem die Frauen lange Zeit kaum Platz finden… 24 ZSP Corinna von List: Die haben insofern einen relativ schlechten Platz eingenommen, weil sie ja an der unmittelbaren militärischen Befreiung dann nicht mehr beteiligt waren. Und es bleiben dann eigentlich nur so zwei, drei Frauen übrig, die dann als Märtyrerin gefeiert werden, weil sie eben in der Regel auf sehr tragische Weise zu Tode kommen. MUSIK SPRECHER:Nach dem Ende des Kriegs 1945 kommt auch für die USA und Großbritannien die Demobilisierung, und die langsame Rückkehr zur normalen Zivilwirtschaft. Und - die Frauen in Uniform oder im Blaumann? 25 ZSP Michaela Hampf:Die Frauen im Militär wurden früher demobilisiert als die Männer in der Vorstellung, dass sie nach Hause zuerst zu Hause sein würden und das wieder alles vorbereiten für die Heimkunft der Männer. Und genauso erwartete man natürlich auch, dass sie die Jobs, die zivilen Jobs dann wieder räumen. SPRECHER:Und in der öffentlichen Meinung ist die Vorstellung verbreitet, dass man nun wieder zur Vorkriegsgesellschaft zurückkehren könne, und den Rollenbildern, dennoch, sagt die Historikerin Michaela Hampf… 26 ZSP Michaela Hampf..hat die Beschäftigung von Frauen in der Rüstungsindustrie eine enorme Bewegung in die Gesellschaft gebracht und auch auf dem Arbeitsmarkt durchaus nachhaltig etwas verändert.
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Jun 5, 2024 • 23min

D-DAY - Operation Overlord, Landung in der Normandie

Der D-Day, der Decision Day wurde als Tag der Entscheidung von den Alliierten genauso wie von Nazi-Deutschland erwartet. Über zwei Jahre hatten sich vor allem Briten und Amerikaner auf eine der größten Militäroperationen der Geschichte vorbereitet. Als die Alliierten dann am 6.Juni 1944 in der Normandie tatsächlich an Land gingen, geschah dies unter hohen Verlusten. Heute gilt die Invasion nicht mehr als die Entscheidungsschlacht, als die sie die Zeitgenossen sehen wollten, aber als Tag von hoher symbolischer Bedeutung, wenn es um die Nachkriegsordnung in West-Europa ging. Von Steffi Illinger (BR 2024) Credits Autorin: Steffi Illinger Regie: Silke Wolfrum Es sprachen: Christoph Jablonka, Christian Baumann Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Dr. Peter Lieb Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD History (2024): 24 h D-Day Der D-Day markiert den Startschuss zur Befreiung Westeuropas aus dem Griff der Naziherrschaft. Am 6. Juni 1944 greifen alliierte Soldaten deutsche Stellungen an gleich fünf Strandabschnitten in der Normandie an. Der Angriff erfolgt von See aus und gilt als das größte amphibische Ladungsunternehmen der Geschichte . Dieses Ereignis jährt sich nun zum 80. Mal. Doch so nah, so authentisch wurde diese Schlacht noch nie gezeigt. Amerikanische und britische Kameraleute sind in Landungsbooten, bei  Beschuss am Strand und bei der Rettung Verletzter dabei. Ihr Originalmaterial, gedreht in schwarz-weiß, wurde für diese Dokumentation aufwendig  bearbeitet und koloriert. Die historisch einzigartigen Aufnahmen erscheinen in Spielfilmqualität. Der Krieg bekommt Farbe. Und damit eine andere Wirkung. Wir schauen direkt in die Gesichter derer, Amerikaner, Kanadier, Briten und Deutsche, die meisten nicht viel älter als 20 Jahre. In „ 24 h D-Day“ erzählen sie ihren D-Day, den Tag den sie nie vergessen konnten. JETZT  ANSEHEN Linktipp: Deutschlandfunk Kultur (2024): D-Day vor 80 Jahren – Das große Sterben für die Freiheit In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 begann im Zweiten Weltkrieg die Landung der Alliierten in der Normandie, um den sogenannten Atlantikwall des Deutschen Reiches zu erstürmen. Keine 24 Stunden hielt das Bollwerk dem Angriff stand. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:SPRECHEREs ist eine der wichtigsten Wettervorhersagen der Geschichte:drei Wetterdienste arbeiten an den Prognosen, um eine ideale Wetterkonstellation über dem Nordatlantik und dem Ärmelkanal zu ermitteln: Sonnenaufgang bei Ebbe, der Himmel möglichst nicht wolkenverhangen und nicht zu viel auflandiger Wind. Denn Fallschirmspringer und Bombenflieger brauchen gute Sicht, die Böden müssen trocken sein, damit schweres Kriegsgerät nicht im Matsch versinkt, für die Landungstruppen soll die See ruhig sein und der Wasserstand niedrig, damit die vom Gegner errichteten Strandhindernisse zu sehen sind. GERÄUSCH – WIND-WELLEN-WASSER, STÜRMISCH unter Sprache blendenSPRECHERDoch Anfang Juni 1944 herrscht über dem Nordatlantik ein Tiefdruckgebiet, es ist ungewöhnlich kalt und stürmisch für die Jahreszeit. Ungünstig – denn die Strategen wünschen sich optimale meteorologische Bedingungen für eine der größten Militäraktionen der Menschheitsgeschichte: der Invasion und Befreiung Westeuropas von der Naziherrschaft. An der südenglischen Küste haben die Alliierten ein gigantisches Truppenaufgebot zusammengezogen – sie warteten auf den D-Day – den Decision-Day, den Tag der Entscheidung: GERÄUSCH – WIND – WELLEN -WASSER-STÜRMISCH - hochziehen SPRECHERDer Militärhistoriker Dr. Peter Lieb beschäftigt sich mit der Invasion seit seiner Studienzeit, als er während eines Auslandsemesters den berüchtigten Omaha Beach mit seinen endlosen Reihen von Kriegsgräbern besucht hat. O-Ton 1: Dr. Peter Lieb   0´45“1/ [00:02:51] Der Name D-Day bedeutet Decision-Day, also Entscheidungstag. Und in der Tat ist für die damaligen Beteiligten, sowohl auf alliierter als auch auf deutscher Seite - dieser Tag wird als der Entscheidungstag des Krieges gesehen, ist ein Tag für die Alliierten, der mit großen, sehr, sehr großen militärischen Risiken behaftet zu sein scheint. Und sie glauben, wenn sie jetzt die Landung nicht schaffen sollten, würde es Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis sie wieder erneut versuchen könnten, in Westeuropa zu landen…((Auf der anderen Seite haben die Deutschen, da insbesondere die nationalsozialistischen Machthaber und auch die NS Propaganda, haben diesen D-Day oder diese alliierte Landung in Westeuropa zu einer Entscheidungsschlacht des Krieges hochstilisiert.)) SPRECHEREigentlich haben die Deutschen bereits im Mai 44 mit einem Angriff auf die von ihnen besetzte nordfranzösische Küste gerechnet, und auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wurde von den Alliierten die Invasion für Mai angesetzt und wieder verschoben – man war mit den militärischen Vorbereitungen noch nicht weit genug. Zudem widersprechen sich die Wetterprognosen der amerikanischen und britischen Dienste, die gewünschte Fünftage-Vorhersage grenzt im Hinblick auf die damaligen Möglichkeiten an Kaffeesatzleserei. O-Ton 2: Dr. Peter Lieb2 / [00:10:35] …das Wetter spielt in der Tat eine ganz wichtige Rolle an diesem D-Day. Und zwar, weil die Deutschen andere Informationen haben als die Alliierten. Die Alliierten wissen, das sich am 6. Juni so ein kleines Wetterloch auftut. Vorher und nachher ist eine Schlechtwetterfront vorhergesagt und für den 6. Juni gibt es ein kleines Fenster …. Die Deutschen hingegen, ihre Wettervorhersage sagt, 6.Juni schlechtes Wetter. Da werden die Alliierten nicht angreifen, da können sie ihre Luftwaffe nicht einsetzen. Da ist hoher Seegang, da können sie ihre Landungsboote nur mit Schwierigkeiten einsetzen.SPRECHEREin fataler Irrtum.Die Planung und Durchführung der Operation Overlord, also der Landung, liegt bei General Dwight D. Eisenhower, dem Oberbefehlshaber über die alliierten Truppen, über Streitkräfte aus Großbritannien, Amerika, Kanada, und weiteren Staaten sowie von Exil-Armeen aus Frankreich und Polen. Nach einer zweiten durchwachten Nacht und Unmengen von Kaffee und Nikotin ringt sich General Eisenhower schließlich zu einer Entscheidung durch, er befiehlt die Invasion: Archiv 1:„Soldiers, Sailors, and Airmen of the Allied Expeditionary Force! You are about to embark upon the Great Crusade, toward which we have striven these many months. The eyes of the world are upon you. …The tide has turned! The free men of the world are marching together to Victory! I have full confidence in your courage, devotion to duty and skill in battle. We will accept nothing less than full Victory!“ OVERVOICE-SPRECHER:Soldaten auf See wie in der Luft, ihr seid dabei, euch für einen großen Kreuzzug einzuschiffen. Die Augen der Welt sind auf euch gerichtet. …Das Blatt hat sich gewendet! Freie Männer von überall auf der Welt marschieren gemeinsam dem Sieg entgegen. Ich habe volles Vertrauen in Euren Mut, euer Pflichtgefühl und eure Kampfesfähigkeit.Wir akzeptieren nur einen vollständigen Sieg. SPRECHER mit Militärmusik unterlegenIm Morgengrauen des 6.Juni überquert eine gewaltige Armada den Ärmelkanal: 1213 Kriegsschiffe und 4124 Landungsboote stechen in See.mit Militärmusik ausblendenDer „längste“ Tag der Geschichte hat begonnen. O-Ton 3: Dr. Peter Lieb1/ [00:01:30] …Also der D-Day hat eine herausgehobene politische Bedeutung, …Was er weniger hat, ist, …dass lange Zeit behauptet wurde, der D-Day hätte, wäre eine Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges gewesen oder wäre ein Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges gewesen. Das kann man also nicht mehr sagen. Das zu diesem Zeitpunkt war eigentlich jetzt in der Rückschau gesehen, der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich bereits verloren. Für die Zeitgenossen hat sich das durchaus anders dargestellt. Da war nicht so ganz klar, ob die Deutschen vielleicht noch Chancen haben, den Krieg zu gewinnen. Das haben die Deutschen geglaubt, das haben die Alliierten geglaubt. … (02:18) SPRECHER…und im Vorfeld lange um die richtige Strategie bei der Befreiung Europas gerungen: Bereits Ende 1941 war die Entscheidung zwischen Briten und Amerikanern gefallen – Germany first! Zuerst sollte das nationalsozialistische Deutschland besiegt werden, bevor sich die Amerikaner den weiteren weltweiten Kriegsschauplätzen zuwenden wollten.Fast zweieinhalb Jahre haben die Vorbereitungen für eine amphibische Landung ungeheuren Ausmaßes gedauert, also einer Landung der Marinetruppen an einer feindlich besetzten Küste, nur von der Seeseite aus und ohne schützende Häfen, von denen sich aus Truppenbewegungen und Kriegsmaterial organisieren lassen. Eine militärische Großoperation, bei der sich die westlichen Verbündeten immer wieder zusammenraufen müssen: auf zahlreichen Konferenzen ringen Briten und Amerikaner um die richtige Strategie: die Amerikaner möchten schnell in Westeuropa einmarschieren – doch eine erste Operation, um den Hafen von Dieppe zu besetzen, scheitert 1942 kläglich.Die Briten fühlen sich bestätigt:  O-Ton 4: Dr. Peter Lieb1 / 06:12 … die Briten sagen Nein, … Die deutsche Wehrmacht ist viel zu stark. Die Deutschen haben noch nach wie vor eine starke Luftwaffe und wir müssen erst mal Zeit gewinnen und versuchen, die Deutschen an der Peripherie zu treffen. Und das wäre das Mittelmeer. Da haben die Briten natürlich auch eigene politische und wirtschaftliche Interessen, Sicherung der Seewege nach Indien. …Und zunächst setzen sich auch die Briten durch, in dieser Diskussion, führen den Amerikanern vor Augen, dass eine Landung 1942 in Europa nicht möglich ist. Und so kommt es zur ersten großen amphibischen Landung des Krieges durch die Alliierten im November 1942 in Nordafrika, in Marokko und in Algerien. Als Folge davon mussten sich die Deutschen dann einige Monate später aus Nordafrika zurückziehen und die Alliierten landen in Süditalien im Juli 1943. … SPRECHER Auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wird der Angriff der Alliierten an der französischen Westküste erwartet: Hitler hat bereits im Herbst 1943 eine Weisung herausgegeben, dass sich von nun an alle Verteidigungsbemühungen verstärkt auf den Westen fokussieren sollen. ZITAT / Overvoice-Sprecher:Die Gefahr im Osten ist geblieben, aber eine größere im Westen zeichnet sich ab: die angelsächsische Landung!O-Ton 5: Dr. Peter Lieb((Ein erster symbolischer Akt ist, dass der bekannteste deutsche Militär des Zweiten Weltkriegs, der Generalfeldmarschall Rommel, …dass dieser populärste deutsche General im Herbst 1943 in den Westen geschickt wird, um dort die Maßnahmen zu treffen für die Verteidigung. Und damit zeigt das NS-Regime der deutschen Bevölkerung und auch den eigenen Soldaten, schaut her, unser bester Mann ist jetzt im Westen und wird dafür sorgen, dass wir dort erfolgreich die Alliierten abwehren können.)) Jetzt gibt es allerdings ein Problem: Die Deutschen haben bereits seit Ende 1941 begonnen, Befestigungsanlagen entlang der Küste zu errichten, den sogenannten Atlantikwall. Aber dort ist in den ganzen Jahren nicht viel geschehen. Das sind nur vorbereitete Stellungen, aber nur vereinzelte Bunkeranlagen. Und als jetzt Rommel nach Frankreich kommt und oder in den Westen, auch in den Niederlanden und in Belgien, beginnt er massiv diesen Atlantikwall zu verstärken. SPRECHER Doch das beste Bunkersystem nützt nichts, wenn es an Nachschub fehlt. Die deutsche Armee ist durch den mehrjährigen Mehrfrontenkrieg aufgebraucht. Nun sollen mangelhaft ausgebildete Soldaten die Küste im Westen verteidigen, Jugendliche in Uniform und zwangsrekrutierte Osteuropäer aus den annektierten Gebieten. Auch fehlt es an Munition – und zahlreiche sich überlagernde Hierarchieebenen in Wehrmacht und Waffen-SS verhindern schnelle Einsätze.Und im entscheidenden Moment schätzen die Deutschen nicht nur die Wetterlage falsch ein: Archiv 2„03:24…Der Angriff gegen die Küsten Europas, seit langem der Gegenstand von gespanntesten Hoffnungen und Erwartungen der Völker hat Gestalt begonnen. Die Briten und Amerikaner haben es an Versuchen, auf anderem Wege zu diesem Ziel zu kommen, nicht fehlen lassen…12:27 bisher hat der Feind die Tiefe der Befestigungen an keiner Stelle zu durchstoßen vermocht…13:01…das, was der Gegner zum gegenwärtigen Zeitpunkt braucht, sind geschützte Landeplätze für weitere Anlandungen, deshalb zielt er ja auf die Flussmündungen…“ SPRECHERSo ein militärpolitischer Kommentar vom 30.Mai 1944. Tatsächlich erwartet die deutsche Seite die Invasion viel weiter nördlich, an der engsten Stelle des Ärmelkanals, bei Calais oder der Flussmündung der Seine. Selbst als das Inferno dann wirklich losbricht, glaubt die deutsche Wehrmacht anfangs noch an ein Täuschungsmanöver. GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEG SPRECHERDabei hatte Operation Overlord schon lange vor dem eigentlichen Tag der Invasion begonnen: O-Ton 6: Dr. Peter Lieb1/ 12:40 Die Voraussetzung für das Gelingen einer jeden amphibischen Landung ist die Luftherrschaft und die Alliierten…führen den Luftkrieg in zwei Dimensionen. Erstens den Luftkrieg über dem Deutschen Reich, wo es ihnen gelingt, zur Jahreswende 43/ 44 die Luftherrschaft zu gewinnen und die deutsche Jagdwaffe praktisch auszuschalten.GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEGSPRECHERAber auch Nordfrankreich überziehen die Alliierten mit einem massiven Bombardement – zerstören Seine-Brücken und Eisenbahnknotenpunkte, um die Nachschubwege für die deutsche Wehrmacht auszuschalten. O-Ton 7: Dr. Peter Lieb1/ 13:28... Und das Ganze führt zu großen Verlusten unter der französischen Zivilbevölkerung. Und es gibt große Diskussionen auf der alliierten Seite. Inwieweit ist das Ganze militärisch gerechtfertigt, diese Bombardierungen? Man will ja schließlich die Franzosen befreien und gleichzeitig bombardiert man sie. …Man muss sich immer vor Augen halten, dass Frankreich nach Deutschland dasjenige Land im Zweiten Weltkrieg ist,… wo das am meisten bombardiert worden ist. Es sterben 60.000 Franzosen …und die gerade im Frühjahr 1944, als dieser Luftkrieg über Frankreich intensiviert wird, …droht die Stimmung in der französischen Bevölkerung zu kippen, … (16:56 Und noch dazu kommt dann der General de Gaulle, der die französische Gegenregierung in London gebildet hat und die auch sagt Leute, hört auf zu bombardieren. Die meine französischen Landsleute stellen sich sonst gegen euch. Und das Ganze wird dann auch im kurz vor dem D-Day ja auch diese Bombardierungen etwas zurückgefahren, so ab April, Mai aber im Zuge des D-Day selbst in den kommenden Wochen in der Normandie selbst erreichen die ja noch mal eine neue Intensität diese Bombardierungen.) GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEGSPRECHERAuch der eigentliche D-Day beginnt nicht auf offener See oder an der Küste. 0 Uhr 18, nördlich von Caen: Bereits um kurz nach Mitternacht landen die ersten alliierte Fallschirmspringer im Hinterland, nahe der normannischen Dörfer und Städte.Ihre Mission: Wichtige strategische Punkte unter ihre Kontrolle bringen, Brücken besetzen, die Zugänge zu den Landungsstränden sichern.In mehreren Wellen regnen 18.000 Soldaten vom Himmel herab, doch vielfach misslingen Punkt-Landungen: über Quadratkilometer verstreut irren die Soldaten durchs Gelände. Auch Bombardements misslingen, die tiefliegende Wolkendecke verhindert die Sicht – teils kehren die Bomber voll beladen nach England zurück oder verfehlen ihr Ziel.Wieder trifft es die Zivilbevölkerung. Über den Rundfunk wendet sich General Eisenhower auch an die Franzosen:Archiv 3“People of Western Europe! The landing was made this morning on the coast of France by troops of the allied expeditionary force. This landing is part of the concerted united nations plan for the liberation of Europe,… To members of resistance movements, whether led by nationals or by outside leaders, I say: Follow the instructions you have received. To patriots who are not members of organized resistance groups, I say: Continue your passive resistance, but do not needlessly endanger your lives. Wait until I give you the signal to rise and strike the enemy.“ OVERVOICE-SPRECHER:Die Landung durch die alliierten Expeditionsstreitkräfte an der französischen Küste ist erfolgt. Diese Landung ist Teil eines konzertierten Plans der Vereinten Nationen zur Befreiung Europas. Mitgliedern der Resistance, ob angeführt von Führern in und außerhalb Frankreichs, sage ich: Folgt den Instruktionen, die ihr erhaltet. Patrioten, die nicht Mitglieder organisierter Widerstandsgruppen sind, sage ich, setzen Sie Ihren passiven Widerstand fort, aber gefährden Sie nicht Ihr Leben. Warten Sie, bis ich Ihnen das Signal gebe, sich zu erheben und den Feind anzugreifen. SPRECHERAb dem Morgengrauen, um 5 Uhr 30, nehmen 28 Schlachtschiffe der Alliierten fünf normannische Strände unter Beschuss:Der am härtesten umkämpfte Landeabschnitt ist der Omaha Beach. Ein schmaler, langegezogener Strandstreifen, dahinter eine 30 Meter hohe Steilküste – und auf dieser sitzen etwa 500 Wehrmachtssoldaten, verschanzt in ihren Bunkeranlagen. Am Strand haben sie Hindernisse aufgebaut, die sogenannten Tschechenigel, Panzersperren aus vernieteten Stahlpfosten.Hier sollen die amerikanischen GIs an Land gehen – und von Anfang an ist klar: Viele werden diesen Moment nicht überleben. O-Ton 8: Dr. Peter Lieb2 / [00:05:52] …also dass dann die Landungsklappen runter gehen von den Booten und dann schießt ein deutsches MG rein und praktisch die ganze Besatzung kann da sofort innerhalb von wenigen Sekunden getötet werden. …Dies, das passiert auch besonders am Omaha Beach, also an einem der fünf alliierten Landungsabschnitten …auch selbst an den anderen Landungsabschnitten, wo es vergleichsweise ruhig rund läuft für die Alliierten. Beispielsweise am Juno Beach, wo die Kanadier landen. Selbst dort, in der ersten Welle, haben die Verluste von über 50 %. SPRECHERAuch den alliierten Militärstrategen ist bewusst, dass sie die Soldaten der ersten Welle auf eine Höllenfahrt schicken: sie rechnen mit bis zu 10.000 Toten an diesem Tag.Der Militärhistoriker Dr. Peter Lieb: O-Ton 9: Dr. Peter Lieb 2 /  [00:09:09]…. Aber, und das muss man auch sagen, das zeigt dann doch auch dabei die Alliierten sind Demokratien, wo das Menschenleben doch deutlich mehr zählt als in einer Diktatur. Die Soldaten sollten die bestmögliche Ausbildung kriegen…, für dieses schwierige Unternehmen. …monatelang üben die Alliierten immer wieder diese Landungsabläufe an der südenglischen Küste. Es ist alles ganz minutiös geplant, mit Artilleriebeschuss aus der Luft, von der See her und auch mit Luft Bombardements, …das es aber da zu hohen Verlustraten kommen würde, das war jedem militärischen Planer bewusst, aber anders wäre die Landung da gar nicht möglich gewesen in Westeuropa und damit die Befreiung. Ev. GERÄUSCH –  von Militärflugzeugen und Bombardierungen  SPRECHERIn einem der Landungsboote, die auf den Omaha-Beach zusteuern, sitzt der Kriegsfotograf Robert Capa, um ihn herum sich übergebende Soldaten – sie sind seekrank von der stürmischen Überfahrt. Und haben vermutlich Todesangst.   Seine insgesamt 11 erhalten Fotos von der Landung sind ikonisch, sie haben das Bild von der Invasion bis heute geprägt: Ev. GERÄUSCH – FOTOKLICKEN, MEHRMALS, kombiniert mit Geräuschen von Militärflugzeugen und Bombardierungen  Unscharf - ein Soldat, schwimmend in den Fluten des Atlantiks, die Augen weit aufgerissenFOTOKLICKENSoldaten watend durchs knietiefe Wasser, vorbei an zerstörten Panzern… Auch der Fotograf Robert Capa watet mit. In seinen Erinnerungen schreibt er: ZITAT 1/ Overvoice-Sprecher:     Robert CapaDas Wasser war kalt und der Strand noch mehr als hundert Meter entfernt. Die Kugeln rissen Löcher in das Wasser um mich herum und ich machte mich auf den Weg zum nächsten Stahlhindernis. Zur gleichen Zeit traf dort ein Soldat ein, und für ein paar Minuten teilten wir uns die Deckung.FOTOKLICKENBlickrichtung Strand: aufsteigender Rauch von Gewehrsalven, zwischen umherirrenden Soldaten unscharf liegende Körper, tot, verwundet … ZITAT 2/ Overvoice-Sprecher:     Robert CapaErschöpft vom Wasser und von der Angst lagen wir flach auf einem kleinen Streifen nassen Sandes zwischen Meer und Stacheldraht. Solange wir flach dalagen, bot uns die Neigung des Strandes einen gewissen Schutz vor den Maschinengewehrkugeln, aber die Flut drängte uns gegen den Stacheldraht und die Gewehrsalven. SPRECHERAls Robert Capa selbst an Land geht, zittern seine Hände so stark, dass er zunächst kaum den Film in seine Kamera einlegen kann. ZITAT 3/ Overvoice-Sprecher:     Robert CapaIch hielt einen Moment inne … und dann wurde mir schlecht.Die leere Kamera zitterte in meinen Händen. Es war eine neue Art von Angst, die meinen Körper von den Zehen bis zu den Haaren erschütterte und mein Gesicht verzerrte. GERÄUSCHAKZENT ausblenden SPRECHERRobert Capa überlebt das Gemetzel, weil er sich zu Sanitätern auf ein Boot flüchten kann. Doch die Amerikaner müssen befürchten, dass der Einsatz am Omaha-Beach für sie in einem Debakel endet, sie erwägen sogar einen Abbruch – erst um 15 Uhr 30 haben sie alle deutschen Widerstandsnester erobert. Die Gegenwehr ist gebrochen, Omaha-Beach und die vier weiteren Strände sind unter alliierter Kontrolle – für den Preis von geschätzt 4000 Toten und Verwundeten. MUSIKAKZENTAm Ende dieses längsten Tages können Amerikaner, Briten, Kanadier rund 154.000 Soldaten an Land bringen, sie haben Brückenköpfe gebildet, bereits einen Tag später legen sie die sogenannten Mullberrys an, zwei künstlich auf hoher See errichtete Häfen, mittels denen der Nachschub gelingt.Doch die Landung ist erst ein Anfang: Es folgen langwieriger Kämpfe, die Wehrmacht leistet verbissen Widerstand. Besonders das unübersichtliche Gelände bereitet den Alliierten Schwierigkeiten – die Bocage, Weideland durchzogen von Hecken und typisch für die Normandie.Eine Zäsur setzt erst die Befreiung von Paris Ende August 1944.MUSIK – getragen, neutral SPRECHERHeute ist die Invasion in der Normandie allgegenwärtig – auf zahlreichen Soldatenfriedhöfen hinter den Landungsstränden genauso wie in rund 30 Museen. Früher waren es vor allem die Veteranen, die zur Traumabewältigung hierher zurückkamen, heute ist der Gedenktourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Normandie. Zu den Gedenkfeierlichkeiten an runden Jahrestagen reisen führende Politiker aus der aller Welt an, 2004 war mit Gerhard Schröder erstmals auch ein deutscher Kanzler dabei: O-Ton 9: Dr. Peter Lieb3 /  [00:08:08] …Der D-Day ist der Fixpunkt für das alliierte Gedenken,… besonders auch im Kalten Krieg, um einen Gegenpunkt zu setzen gegen die Sowjetunion, die den Großen Vaterländischen Krieg feiert, … und sich die Sowjetunion zum alleinigen Sieger sozusagen über Nazideutschland, über Hitlerdeutschland stilisiert. Und dem wollen die Alliierten etwas entgegensetzen. Zu Recht. Also …Nazideutschland ist nicht allein von der Sowjetunion besiegt worden, die von einer alliierten Koalition besiegt worden aus Sowjetunion, Amerikanern, Briten und vielen anderen Ländern. Und so zu sagen ist …das Gedenken an die Day auch ein Gegenpunkt zur der sowjetischen Gedenkkultur und hat auch wegen in der heutigen Zeit, Ukrainekrieg usw. natürlich wieder eine neue Dimension. SPRECHEREin symbolisch aufgeladener Tag – damals wie heute.Von den Zeitgenossen erwartet als Tag der Entscheidung – heute Gedenktag für das Ringen der freiheitlich-demokratischen Welt gegen eine mörderische Diktatur.
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May 23, 2024 • 24min

DAS GRUNDGESETZ - … und seine vier Mütter

"Männer und Frauen sind gleichberechtigt" heißt es im Artikel 3 des Grundgesetzes. Heute eine Selbstverständlichkeit. Und doch - so selbstverständlich ist der Artikel nicht. Vier Frauen mussten dafür kämpfen, damit er heute so im Grundgesetz stehen kann. Von Gerda Kuhn (BR 2007) Credits Autorin: Gerda Kuhn Regie: Susanne Weichselbaumer Es sprachen: Armin Berger, Sabine Kastius, Christiane Blumhoff, Heiko Rupprecht Redaktion: Brigitte Reimer  Besondere Linktipps der Redaktion:ABBA – unvergessen und heute noch Kult. Es ist die weltweit erfolgreichste Band der späten 70er Jahre. In diesem Frühjahr jährt sich ihr legendärer Auftritt und Sieg beim Grand Prix d‘ Eurovision zum 50. Mal – damals Startschuss für ihre großartige internationale Karriere. Entlang ihrer Welthits von 1976 bis 1980 beschreibt der Film Aufstieg und Ruhm der Kultband und erzählt die unvergleichliche Geschichte einer der größten Bands der Musikgeschichte. Er folgt ihren Höhen und Tiefen: Von ihrem legendären Eurovisionssieg mit "Waterloo" 1974 bis hin zu ihren vielen Mega-Chart-Hits nimmt der Film das Publikum mit auf eine Achterbahnfahrt der Liebe, des Kampfes, des Ruhmes und natürlich ihrer Songs, die die Zeit überdauert haben.  JETZT ANSEHEN ARD (2024): Archivradio – Geschichte im Original  Das Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte, von der Grundgesetzunterzeichnung, Vereidigung des ersten Bundespräsidenten oder den Abstimmungen im Parlamentarischen Rat. JETZT ANHÖREN Linktipps: SWR (2022): Männer und Frauen sind gleichberechtigt!? – Das Grundgesetz Lange Zeit sind Frauen beim Bundesverfassungsgericht in der Minderheit. Auch im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz Ende der 1940er Jahre berät und verabschiedet, sitzen nur vier Frauen. Eine von ihnen ist die SPD-Politikerin Elisabeth Selbert, die für die volle Gleichberechtigung der Frauen streitet und gegen den Widerstand ihrer männlichen Kollegen eine Neuregelung des Familienrechts durchsetzt. Auch siebzig Jahre später beschäftigt die Gleichberechtigung die Gerichte. So klagt die Schreinermeisterin Edeltraud Walla, weil ein männlicher Kollege für die gleiche Tätigkeit deutlich mehr verdient als sie. Doch das Bundesverfassungsgericht weist ihre Klage ab. JETZT ANSEHEN 3sat (2024): 75 Jahre Grundgesetz: Artikel 3 – Gleichheit Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes betrachten wir drei Artikel neu - historisch, aber auch mit Blick in die Zukunft. Teil 1: Artikel 3 - alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:33 – Die Politikerin Elisabeth SelbertTC 06:06 – Die Arbeit an einer demokratischen VerfassungTC 10:07 – ÜberzeugungsarbeitTC 13:59 – Ein Sturm zieht aufTC 17:28 – Die Sternenstunde ihres LebensTC 19:55 – Politisch zu profiliertTC 22:45 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro ZUSPIELUNG    Trümmerfrau 0’25„Wir arbeiten acht Stunden, haben in der Zwischenzeit eine Viertelstunde Frühstück und eine halbe Stunde Mittag, und sonst ist die Arbeit sehr, sehr schwer, wir haben sehr tief zu schippen, wir sind in den Kellerschachtungen, wir haben zwei Meter 20, und wenn wir diese Arbeit vollendet haben, dann sind wir sozusagen auch fertig.“ MUSIK ERZÄHLERIN:Eine sogenannte Trümmerfrau aus dem zerstörten Nachkriegs-Berlin. Zu Zehntausenden gab es sie nach 1945 in Deutschland, entschlossen zupackend, ausdauernd, uneitel. Die harten Kriegsjahre, als fast alle Männer im Feld waren, hatten den Frauen das Äußerste an Überlebenswillen und Organisationstalent abverlangt. Sie wussten längst aus eigener Erfahrung, dass es viele unangenehme Aufgaben gab, die sie nicht delegieren konnten. Und sie hatten millionenfach bewiesen, dass sie keineswegs davor zurückschreckten, Verantwortung zu übernehmen – in der Familie genauso wie in Beruf und Gesellschaft. ERZÄHLER:Die mutigen Trümmerfrauen haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Deutschen. Sie gelten als Paradebeispiel für Tatkraft und Pragmatismus, als Synonym für den ungebrochenen Willen der Nation zu Neubeginn und Wiederaufbau. Vielfach vergessen sind dagegen jene Frauen, die sich nach Kriegsende an das Wegräumen ganz anderer Hindernisse machten – beispielsweise von ideologischen und rechtlichen Hürden. Elisabeth Selbert war eine dieser Frauen. Der kämpferischen Juristin verdanken wir einen ganz bestimmten Satz in unserem Grundgesetz. Er lautet: ZITATORIN: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt". ERZÄHLERIN:Eine Formulierung, die heute nichts Spektakuläres mehr an sich hat. Doch als sie entstand, war sie geradezu revolutionär. Sie findet sich im Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 2. Die Sozialdemokratin Selbert hat sie zusammen mit drei weiteren couragierten Frauen durchgesetzt: Ihrer Parteifreundin Frieda Nadig, der CDU-Politikerin Helene Weber und Helene Wessel von der katholischen Zentrums-Partei. Auch wenn es in den wenigsten Schulbüchern erwähnt wird: Das Grundgesetz hatte keineswegs nur Väter, sondern auch engagierte Mütter.TC 02:33 – Die Politikerin Elisabeth Selbert ERZÄHLER:Vier erfahrene Politikerinnen, die schon vor dem Krieg aktiv waren. Doch die treibende Kraft im Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Frauen war die Sozialdemokratin Selbert. Sie nahm nicht nur die mühsame Arbeit auf sich, die überwiegend männlichen Mitglieder ihrer eigenen Partei auf ihre Seite zu ziehen, sondern setzte auch über Parteigrenzen hinweg auf die Zusammenarbeit mit anderen Politikerinnen. ERZÄHLERIN:Alle vier „Mütter des Grundgesetzes“ hatten berufliche Erfahrungen aufzuweisen, damals keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Denn noch galt das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900, das davon ausging, der „eigentliche Platz“ einer Frau sei zuhause bei Küche und Kindern. Der ersten deutschen Frauenbewegung, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts gebildet hatte, waren nur Teil-Erfolge gelungen: So durften Frauen seit 1908 in Parteien eintreten. Auch ein Universitätsstudium stand ihnen nun offen. Mit der Gründung der Weimarer Republik erhielten Frauen zudem das aktive und das passive Wahlrecht. MUSIK  ERZÄHLER:Doch am patriarchalen Familienrecht hatte auch die Weimarer Reichsverfassung nichts geändert. Frauen konnten beispielsweise nicht über das Vermögen entscheiden, das sie in die Ehe miteingebracht hatten. Ohne schriftliche Zustimmung ihres Mannes durften sie nicht einmal ein Bankkonto einrichten. Die Pflicht der Ehefrau, den Haushalt zu führen, war im Gesetz festgeschrieben; über die Erziehung und Ausbildung der Kinder entschied letztendlich der Mann. Politikerinnen wie Elisabeth Selbert hielten eine Reform des bürgerlichen Rechts für überfällig. ERZÄHLERIN:Die gebürtige Hessin stammte aus eher beengten Verhältnissen; eine Ausbildung als Lehrerin konnten ihr die Eltern aus finanziellen Gründen nicht ermöglichen. 1918, mit 22 Jahren, trat sie in die SPD ein und engagierte sich mit Leidenschaft in der Kommunal- und Landespolitik. Als Mutter von zwei Kindern holte sie später extern das Abitur nach und begann im Anschluss daran ein Jurastudium. 1930 promovierte sie über das Thema „Ehezerüttung als Scheidungsgrund“. Später, als Anwältin war Elisabeth Selbert immer wieder mit den Härten des geltenden Scheidungsrechtes konfrontiert: ZUSPIELUNG Selbert 0’52 Wie groß war immer das Erschrecken„Wie groß war immer das Erschrecken dieser Frauen, die vielleicht ein ganzes Leben lang hinter dem Ladentisch gestanden, als sogenannte „Seele des Geschäftes“ oder des landwirtschaftlichen Anwesens oder der Familie den Wohlstand miterarbeitet, in Kriegsjahren allein erarbeitet hatte, wenn sie dann hörten, dass sie bei einer Scheidung mit leeren Händen aus dem Hause gingen, weil sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet waren, im Geschäft oder im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten, ohne allerdings an dem Gewinn oder dem Vermögen, das sie miterarbeitet hatte, beteiligt zu sein.“ ERZÄHLER:Mit Nachdruck setzte sich die Juristin dafür ein, das Schuldprinzip im Scheidungsrecht abzuschaffen. Mit dieser Forderung war sie allerdings ihrer Zeit weit voraus: Erst 1977 trat unter der damaligen sozialliberalen Bundesregierung ein neues Ehe- und Familienrecht in Kraft, das das Zerrüttungsprinzip einführte. TC 06:06 – Die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung MUSIK ERZÄHLERIN:Die Nazi-Propaganda reduzierte die Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau. Weitergehende Ambitionen waren nicht im Interesse des Staates. Der weibliche Anteil an der Studentenschaft sollte nicht höher sein als zehn Prozent, zur Habilitation waren Frauen nicht zugelassen. Die Berufstätigkeit von Ehefrauen war unerwünscht – dieses Ziel wurde in der Regel durch das Verbot des Doppelverdienertums erreicht. ERZÄHLER:Elisabeth Selbert erhielt ihre Zulassung als Rechtsanwältin 1934 – wenige Monate, bevor die Nazis den Zugang von Frauen zu diesem Beruf völlig blockierten. Doch was die Berufstätigkeit von Frauen betraf, war das NS-Regime nicht konsequent: Als die Rüstungsindustrie auf Hochtouren lief und männliche Arbeitskräfte vielfach fehlten, wurden auch die Frauen zum Arbeitsdienst verpflichtet. Während die Männer an der Front kämpften, war Frauenarbeit ganz generell gefragt. Ein Schlager des Operettenkomponisten Emmerich Kálmán, der die dieses Thema aufgreift, war während der Kriegsjahre sehr beliebt: MUSIK ERZÄHLERIN:Nach dem Krieg aber wünschte sich so mancher die alten Verhältnisse zurück. Doch die Frauen, die während der Kriegsjahre die Lücken in den Büros und Fabriken geschlossen hatten, wollten sich nicht so einfach wieder in die zweite Reihe zurückdrängen lassen. Insgesamt gab es bei Kriegsende sieben Millionen mehr Frauen als Männer, fast vier Millionen waren allein stehend. Angesichts einer mehrheitlich weiblichen Wählerschaft, so konnte man vermuten, würde auch das künftige Grundgesetz die neue Lebenswirklichkeit der Frauen widerspiegeln. ERZÄHLER:Mit der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung wurden von der amerikanischen Militärregierung die Abgeordneten aus den wieder erstandenen Parteien beauftragt. Elisabeth Selbert musste sich ihre Mitarbeit erst erkämpfen, aber sie setzte sich durch. Am 1. September 1948 kamen die Mitglieder des sogenannten Parlamentarischen Rates - 65 Frauen und Männer - erstmals zusammen. Im zoologischen Museum Koenig in Bonn, wo in der großen Halle hinter hohen Vorhängen ausgestopfte Tiere standen, wurde über den politischen Neubeginn in Deutschland beraten. ERZÄHLERIN:Schnell verteilten sich die Abgeordneten je nach fachlichem Hintergrund und persönlicher Interessenslage auf die einzelnen Ausschüsse. Über die Grundrechte – zu denen nach Ansicht von Elisabeth Selbert die Gleichberechtigung von Mann und Frau zählen sollte – wurde im Grundsatzausschuss diskutiert. Die Juristin war dort nur als Stellvertreterin präsent, hielt dies aber nicht für problematisch, da sie davon ausging, eine Verankerung der Gleichberechtigung im Grundgesetz sei eine Selbstverständlichkeit. ERZÄHLER:Doch der Ausschuss sah das anders: Der schlichte, aber eindeutige Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ fand keine Mehrheit. Er war als Vorschlag der SPD-Fraktion eingebracht worden – nachdem Elisabeth Selbert dafür in der eigenen Partei hartnäckig gekämpft hatte. Die Ausschussmitglieder einigten sich schließlich auf den Satz: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Im Klartext: Frauen sollten - wie schon in der Weimarer Republik – das Wahlrecht erhalten, mehr aber auch nicht. Eine Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im Familienrecht war nicht vorgesehen. ERZÄHLERIN:Die Vorlage wanderte wenig später in den Hauptausschuss. Bei der ersten Lesung Anfang Dezember 1948 warb Elisabeth Selbert noch einmal für ihren Vorschlag und warnte zugleich: ZITATORIN:„Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgebenden Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist“. ERZÄHLER:Doch auch im Hauptausschuss fiel der Satz durch - für Elisabeth Selbert ein Schock. Nach ihrer Einschätzung waren die Abgeordneten auf dem besten Weg, eine historische Chance zu verspielen. TC 10:07 – Überzeugungsarbeit ERZÄHLERIN:Obwohl alle vier Frauen im Parlamentarischen Rat am Ende gemeinsam kämpften, musste Elisabeth Selbert zunächst auch bei ihren Geschlechtsgenossinnen Überzeugungsarbeit leisten, sogar bei der Parteifreundin Frieda Nadig. Diese befürchtete anfänglich ein rechtliches Chaos, wenn im Grundgesetz die rechtliche Gleichstellung der Frau festgeschrieben würde, ohne dass gleichzeitig die entsprechenden Passagen im geltenden Familienrecht geändert würden. ERZÄHLER:Ähnliche Bedenken hatte auch die CDU-Abgeordnete Helene Weber. Sie verteidigte ihre Haltung mit dem Hinweis, man habe alle Argumente sorgfältig abgewogen. Weber war Mitbegründerin des „Katholischen Deutschen Frauenbundes“ und eine enge Vertraute von Konrad Adenauer. Der Weimarer Nationalversammlung hatte sie von 1919 bis 1920 als Abgeordnete der Zentrumspartei angehört und an der Weimarer Verfassung mitgearbeitet. ERZÄHLERIN:Die dritte potentielle Verbündete war die Zentrumspolitikerin Helene Wessel. Die Tochter eines Lokomotivführers hatte ihre politische Karriere ebenfalls bereits in der Weimarer Republik gestartet. Von 1928 bis 1933 hatte sie einen Sitz im Preußischen Landtag inne. Wessel arbeitete als Fürsorgerin für die katholische Kirche. Auch mit ihr diskutierte Elisabeth Selbert über ihre Pläne. Schließlich erklärte Wessel gegenüber Journalisten: ZITATORIN„Ich bin grundsätzlich dafür, aber die Auswirkungen müssen gut überlegt sein.“  MUSIK ERZÄHLER:Helene Wessel war 1945 zur stellvertretenden Vorsitzenden der Zentrums-Partei gewählt worden. Vier Jahre später wurde sie Parteichefin und war damit die erste weibliche Vorsitzende einer politischen Partei in Deutschland. ERZÄHLERIN:Die Sozialdemokratin Selbert musste auf vielen Ebenen gleichzeitig Überzeugungsarbeit leisten. Zum einen wollten auch die Männer ihrer eigenen Partei nicht so ohne weiteres auf ihre bisherigen Vorrechte verzichten - sei es das Entscheidungsrecht über den ehelichen Wohnort, über die Erwerbstätigkeit ihrer Ehefrauen oder über die Kindererziehung. Andrerseits fehlte es auch nicht an generellen Mahnungen aus konservativen Bevölkerungskreisen, man möge es doch bei der „gottgewollten“ Vorherrschaft des Mannes im Verhältnis der Geschlechter belassen. Und schließlich gab es auch noch die Stimmen jener Frauen, die ihre Geschlechtsgenossinnen davor warnten, nicht um eines abstrakten Rechtsprinzips willen auf ihre „natürlichen Privilegien“ und die „Macht weiblichen Charmes“ zu verzichten. MUSIK ERZÄHLER:Die anfängliche Zurückhaltung der drei anderen weiblichen Mitglieder im Parlamentarischen Rat hielt Selbert nicht davon ab, in erster Linie auf die Solidarität von Frauen zu setzen. Sie hoffte insbesondere auf die Unterstützung überparteilicher Frauenvereinigungen. Da dort auch Kommunistinnen mitarbeiteten, riskierte Selbert damit einen Konflikt mit SPD-Chef Kurt Schumacher, der jegliches Zusammenwirken mit kommunistischen Kräften ablehnte. Selbert berichtete später von zum Teil sehr scharfen Kontroversen mit Schumacher. Doch sie ließ sich nicht entmutigen. ERZÄHLERIN:Ohnehin hatte sie von männlicher Seite nicht allzu viel Unterstützung zu erwarten – und wenn es diese nach langen Diskussionen irgendwann doch gab, schmeckte sie oft bitter. So schrieb Selbert im Oktober 1948 – nachdem sie die Genossen in der Fraktion endlich hatte überzeugen können - an ihre Parteifreundin Herta Gotthelf: ZITATORIN:„Ich bin noch ganz glücklich über den Erfolg in der Fraktion, wenn mich auch die Art, wie einige Genossen das Thema behandelt haben, deprimiert hat. Man sieht zwar, dass man an dieser Sache dieses Mal nicht vorbei kommt, aber mit Ironie und Sarkasmus, um nicht zu sagen Hohn, tat man die Frage kurz ab“.TC 13:59 – Ein Sturm zieht auf ERZÄHLERIN:Selbert begann schließlich, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Sie hielt zahlreiche Vorträge - in Hamburg, Frankfurt, München und anderen Städten. Die SPD-Politikerin wandte sich sogar an die Ehefrauen von CDU-Mitgliedern, um auf privater Ebene Druck auf die Abgeordneten auszuüben. ERZÄHLER:Sie löste einen regelrechten Sturm an Beschwerden aus und erreichte sogar eine punktuelle Zusammenarbeit zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung. Zahlreiche Gewerkschaftsfrauen, unter ihnen allein 40 000 Metallerinnen, wandten sich mit Eingaben an den Parlamentarischen Rat. Auch ganze Betriebsbelegschaften – so beispielsweise die Mitarbeiterinnen des Arbeitsamtes Frankfurt am Main – stellten sich hinter Selberts Initiative. Darüber hinaus unterzeichneten nahezu alle weiblichen Landtagsabgeordneten der Westzone eine entsprechende Petition – lediglich die bayerischen Abgeordneten zogen nicht mit. Das überwältigende Echo gab Elisabeth Selbert Recht, auch wenn Politiker wie der Liberale Theodor Heuss herablassend von einem „Quasi-Stürmlein“ sprachen. Selbert erinnerte sich später: ZITATORIN:„Es war geradezu begeisternd und erschütternd, wie die Proteste aus dem ganzen Bundesgebiet, und zwar Einzelproteste und Verbandsproteste in großen Bergen, in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineingeschüttet wurden. Körbeweise! Und ich wusste, in diesem Augenblick hätte kein Abgeordneter mehr gewagt, gegen diese Fülle von Protesten anzugehen und bei seinem Nein zu bleiben.“ ERZÄHLERIN:Auch die übrigen Frauen im Parlamentarischen Rat waren inzwischen auf Elisabeth Selberts Linie eingeschwenkt. Die Sozialdemokratin Frieda Nadig übte bei einer Anhörung deutliche Kritik an den patriarchalen Strukturen im Eherecht: ZUSPIELUNG Nadig  0’17 Mann ist Familienoberhaupt „Im deutschen Familienrecht ist der Mann das Oberhaupt der Familie. Ihm steht das  Entscheidungsrecht in allen das gemeinschaftliche Eheleben betreffenden Angelegenheiten zu. Die Frau hat sich seinen Entscheidungen zu fügen.“ ERZÄHLERIN:Nadig forderte insbesondere eine Neuordnung der vermögensrechtlichen Bestimmungen: ZUSPIELUNG Nadig Eheliches Güterrecht 0’35„Am reformbedürftigsten ist zweifellos das gesetzliche Güterrecht. Der gesetzliche Güterstand des Bürgerlichen Gesetzbuchs weist der Frau die Rolle eines bevormundeten Kindes zu. Die Verwaltung und Nutznießung des Vermögens der Frau steht dem Manne zu, er ist berechtigt, das Vermögen der Frau in Besitz zu nehmen, er ist auch berechtigt, mit diesem Vermögen zu arbeiten, ohne seiner Frau Auskunft geben zu brauchen.“ ERZÄHLER:Elisabeth Selbert nahm die Einwände ihrer Kolleginnen ernst. Um das befürchtete rechtliche Chaos zu vermeiden, schlug sie einen Kompromiss vor: Alle Bestimmungen des bürgerlichen Rechts, die nicht im Einklang mit dem Gleichberechtigungs-Grundsatz im Grundgesetz waren, sollten noch solange in Kraft bleiben, bis der Bundestag zum Stichtag 1. April 1953 auch ein neues Familienrecht schaffen würde. Das hieß im Umkehrschluss: Alle der Gleichberechtigung entgegenstehenden Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch waren innerhalb einer bestimmten Frist aufzuheben. Genau diese Festschreibung war es, die eigentlich revolutionär war, da sie die Lebensrealität künftiger Frauengenerationen entscheidend verändern sollte.TC 17:28 – Die Sternenstunde ihres Lebens MUSIK ERZÄHLERIN:Bei der zweiten Lesung im Hauptausschuss – am 18. Januar 1949 - warb Elisabeth Selbert noch einmal mit Nachdruck um Zustimmung. Und sie erlebte schließlich die Sternstunde ihres Lebens – wie sie es später nannte. Die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde einstimmig angenommen. Damit waren die Weichen gestellt: Der Satz, für den Elisabeth Selbert und ihre Mitstreiterinnen so lange gekämpft hatten, konnte Teil des Grundgesetzes werden. Einen Tag später wandte sich Elisabeth Selbert in einer Rundfunkansprache an die Öffentlichkeit: ZUSPIELUNG Selbert  0’26 Geschichtlicher Tag„Meine verehrten Hörerinnen und Hörer. Der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn dank der Initiative der Sozialdemokraten die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist – dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Weg der deutschen Frauen der Westzonen.“ ERZÄHLER:Am 8. Mai 1949 - vier Jahre nach Unterzeichnung der Kapitulationserklärung - verabschiedete der Parlamentarische Rat das Verfassungswerk. Die drei Militärgouverneure genehmigten die Vorlage. Zwei Wochen später trat das Grundgesetz nach der Annahme durch die Länderparlamente für die westlichen Besatzungszonen in Kraft - nur Bayern verweigerte die Zustimmung. ERZÄHLERIN:Es sollten allerdings noch etliche Jahre vergehen, bis sich der Gesetzgeber auch zu einer Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches durchringen konnte. Erst ab 1. Juli 1958 – also fünf Jahre später, als Elisabeth Selbert vorgeschlagen hatte - galt das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Damit konnten Frauen nun immerhin über den ehelichen Wohnsitz mitentscheiden, ihren Mädchennamen als Namenszusatz führen und den Haushalt in eigener Verantwortung führen. Die Ehefrau hatte jetzt auch das Recht, einen Beruf auszuüben – allerdings nur – wie es im Gesetz so schön hieß… ZITATOR:„…soweit das mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. ERZÄHLERIN:Und wenn der Ehemann es genehmigte. Beide Ehegatten wurden zudem gegenseitig zum Unterhalt verpflichtet. TC 19:55 – Politisch zu profiliert ERZÄHLER:Insgesamt 37 Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden in den Bundestag gewählt – unter ihnen Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel. Elisabeth Selbert jedoch gehörte nicht dazu. Es blieb nicht die einzige Enttäuschung für die engagierte Juristin und Sozialdemokratin: Anfang der 50er Jahre hatte sie die Möglichkeit, Richterin am Bundesverfassungsgericht zu werden. Doch sie scheiterte letztendlich am Widerstand der eigenen Parteifreunde. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass Selberts entschlossene Alleingänge in manchen juristischen Fragen bei einigen Genossen in unguter Erinnerung waren. Der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt sprach aus, was viele seiner Parteigenossen nicht offen zu sagen wagten: ZITATOR:„Du warst vielen unserer Leute und auch anderen Leuten politisch zu profiliert“. ERZÄHLERIN:Der Satz hat Elisabeth Selbert sicherlich geschmerzt, öffentlich beklagt hat sie sich nie. Sie blieb zunächst hessische Landtagsabgeordnete, kandidierte aber 1958 nicht mehr. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch das Große Bundesverdienstkreuz erhalten, dann wurde es allmählich still um sie. Erst die neue Frauenbewegung begann sie wieder zu entdecken. Dass der Artikel 3, Absatz 2 Grundgesetz später noch einmal ergänzt wurde, hat sie nicht mehr miterlebt – sie starb im Juni 1986. 1994 wurde im Zuge der Verfassungsreform der Gleichberechtigungs-Grundsatz durch die Formulierung erweitert: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." ERZÄHLER:Die „Mütter des Grundgesetzes“ haben in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland bleibende Spuren hinterlassen. Daran erinnerte 2006 auch Jutta Limbach, ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, bei einer Festveranstaltung zu Ehren von Elisabeth Selbert: ZITATORIN:„Es hat nach Elisabeth Selberts Sternstunde noch eines halben Jahrhunderts bedurft, um das deutsche Recht egalitär zu formulieren. Doch die Rechtswirklichkeit hinkt trotz einiger sichtbarer Erfolge – immerhin haben wir eine Bundeskanzlerin! – noch immer hinter der formalen Rechtsgleichheit her. Es bleibt darum nach wie vor viel zu tun…. Gleichwohl oder gerade deswegen ist und bleibt dieser kleine Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ das Fanal und die Verheißung, die beide Geschlechter verpflichtet und für die alle nachfolgenden Generationen von Frauen Elisabeth Selbert Dank schulden.“TC 22:45 - Outro
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May 23, 2024 • 25min

DAS GRUNDGESETZ – Geschichte eines Exportschlagers

Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Eigentlich sollte das "GG" nur ein Provisorium sein, nur ein Übergang, nicht wie eine "Verfassung" einen endgültigen Charakter haben. Trotzdem wurde es schließlich zur gesamtdeutschen Verfassung - und zum Vorbild für viele neue Demokratien. Von Katharina Kühn (BR 2022) Credits Autorin: Katharina Kühn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Martin Vogt Technik: Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dietmar Preißler, Marion Detjen Ein besonderer Linktipp der Redaktion: BR (2024): I Will Survive – Der Kampf gegen die AIDS-Krise München, 80er, Disco-Ära: Die queere Szene blüht und Weltstars wie Freddie Mercury machen hier Party. Aber plötzlich ist Schluss. Ein mysteriöses Virus erreicht die Stadt. In "I Will Survive" sprechen wir mit den Menschen, die als Erste und vielleicht am härtesten von der AIDS-Krise getroffen wurden. Der Podcast erzählt von ihrer Angst, ihren Verlusten und ihrem Widerstand in einer Zeit, als Bayern als einziges Bundesland auf Ausgrenzung statt auf Aufklärung setzt. Und es geht um die Frage: Welches Vermächtnis haben die Menschen von damals der queeren Community heute hinterlassen? ZUM PODCAST Linktipps: ARD (2024): Wie gut ist unser Grundgesetz? Moderatorin Sandra Maischberger und ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam checken das deutsche Grundgesetz. Meinungen frei zu äußern, queer zu lieben, eine Pandemie zu überstehen – wo hilft das Grundgesetz, wo ist noch Luft nach oben? Sind im Alltag der Deutschen wirklich alle Menschen vor dem Gesetz gleich? Waren die Grundrechte in der Covid-Pandemie zu stark eingeschränkt? Schützt das Grundgesetz die Bürger:innen vor einem Rückfall in dunkelste Zeiten? Die Doku sammelt Geschichten, liefert Background und zieht ein Fazit. Als Prominente sind Schauspieler Jan Josef Liefers und die Politiker Joachim Gauck und Gerhart Baum dabei. JETZT ANSEHEN ARD (2024): Archivradio – Geschichte im Original   Das Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte, von der Grundgesetzunterzeichnung, Vereidigung des ersten Bundespräsidenten oder den Abstimmungen im Parlamentarischen Rat. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:09 – Grundgesetz oder Verfassung?TC 04:25 - StreitpunkteTC 11:59 – Darüber war man sich einigTC 13:54 – Die Geburtsstunde der BundesrepublikTC 17:24 – Liebe auf den zweiten BlickTC 22:36 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK ERZÄHLERIN:Wie sollte aus dieser Diktatur eine Demokratie werden? Die alliierten Mächte, Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich hatten zwar die Gefechte gemeinsam gewonnen, NS-Deutschland geschlagen, aber wie das besetzte Land nun wiederaufgebaut werden sollte, darauf konnten sie sich nicht einigen. ERZÄHLER:Spätestens als die Außenminister in London Ende 1947 ihre Konferenz abbrachen, war klar, dass es keine gemeinsame Strategie geben würde. Also trafen sich die westlichen Alliierten, USA, Großbritannien, Frankreich und die drei Benelux-Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg, um über die Zukunft Westdeutschlands zu beraten. Die „Londoner Empfehlungen“ sollten den Weg für einen eigenen westdeutschen Staat ebnen. ERZÄHLERIN:Die neun deutschen Ministerpräsidenten der westlichen Bundesländer und die Bürgermeister der Stadtstaaten Hamburg und Bremen sollten dabei helfen – sie waren zu dem Zeitpunkt immerhin die obersten politischen Repräsentanten im Nachkriegsdeutschland. Sie wurden nach Frankfurt am Main bestellt, in das Hauptquartier der Amerikaner, ursprünglich das Verwaltungsgebäude eines Chemiekonzerns. Die Militärgouverneure lasen auf Englisch und Französisch ihre Pläne vor, die sogenannten Frankfurter Dokumente. Hier war der Fahrplan zu einem neuen Staat umrissen: Ab spätestens September 1948 sollte eine Versammlung eine Verfassung ausarbeiten. Diese würde erst den Militärgouverneuren vorgelegt und dann vom Volk abgestimmt. Außerdem skizzierten die Westalliierten in den Dokumenten, wie der Besatzungsstatus für Deutschland aussehen sollte und kündigten an, dass die Grenzen der Bundesländer überprüft und möglicherweise verändert würden.TC 02:09 – Grundgesetz oder Verfassung? ERZÄHLER:Eigentlich könnte man nun meinen, dass die Ministerpräsidenten lieber schneller als später einen westdeutschen und vor allem souveränen Staat schaffen wollten. So war es aber nicht, erzählt Dietmar Preißler, ehemaliger Sammlungsdirekter im Haus der Geschichte in Bonn:  O-Ton 01_ Preißler [00:21]Sie waren, vorsichtig gesagt, sehr zurückhaltend, denn sie befürchteten, durch eine Vollverfassung für die Westzonen könnte eine Wiedervereinigung verhindert werden. Sie schlugen dann vor, dass man ein Grundgesetz schaffen soll statt einer Verfassung und dass ein Parlamentarischer Rat tagen sollte und nicht eine verfassungsgebende Versammlung. ERZÄHLERIN:Andere Begriffe, die eigentlich dasselbe meinen? ERZÄHLER:Nicht ganz. Über das Grundgesetz sollte nicht das Volk abstimmen, sondern die Länderparlamente. So, hofften die Ministerpräsidenten, wäre deutlich, dass es sich hier nicht um etwas Unwiderrufliches, sondern nur um ein Provisorium handelte und die Wiedervereinigung mit Ost-Deutschland immer noch möglich sei. ERZÄHLERIN:Die Westmächte stimmten nach langer Diskussion zu, beharrten aber darauf, dass ein neuer Staat gegründet würde. Im August bereitete ein Expertengremium aus Politikern, Verfassungsexperten und Verwaltungsfachleuten im Schloss Herrenchiemsee erste Richtlinien vor. Zwei Wochen hatten sie Zeit. O-Ton 02_ Preißler [00:37]In dieser Kürze der Zeit haben die es wirklich fertiggebracht, einen kompletten Entwurf eines Grundgesetzes auf den Weg zu bringen. 95 Seiten mit 149 Artikeln. Wir wissen ja, später das Grundgesetz hatte 146. Es war ein Kompendium, in dem Verfassungsartikel auch alternativ vorgestellt wurden, zum Beispiel: Föderalismus. Da wurde vorgeschlagen, sowohl eine Bundesratslösung als auch eine Senatslösung, die sich an amerikanischen Verfassungsvorbildern orientierte, und es waren eben auch Kommentierungen dabei, was man mit den einzelnen Paragraphen und den Regelungen darin erreichen wollte. ERZÄHLER:Die Experten hatten also erste Vorschläge und Richtlinien erarbeitet, erste Fragen aufgeworfen, Alternativen formuliert. Nun sollten Politiker entscheiden. Der Parlamentarische Rat kam zum ersten Mal am 1. September 1948 in Bonn zusammen TC 04:25 - Streitpunkte MUSIK ERZÄHLER:Im Lichthof des Naturkundlichen Museums König wurden sonst Tiere ausgestellt. Für diesen Tag waren sie an die Seiten des imposanten Hofs geschoben und hinter Vorhängen versteckt worden ERZÄHLERIN:Später erzählten Gäste, dass übrigens eine Giraffe über den Vorhang lugte und die Zeremonie verfolgte. Es ist eine schöne Anekdote, aber erfunden. MUSIK ERZÄHLER:Lange dauerte diese Zeremonie nicht, nach eineinhalb Stunden wechselten die Abgeordneten des neuen Parlamentarischen Rats in die Aula der Pädagogischen Akademie. 61 Männer und vier Frauen waren aus den Länderparlamenten in den Rat berufen worden, dazu kamen fünf Vertreter aus Berlin, allerdings nur mit beratender Funktion ohne Stimmrecht. Ratspräsident wurde Konrad Adenauer: Zuspielung Adenauer Der parlamentarische Rat beginnt seine Tätigkeit – wir haben es heute morgen bei der Feier im Museum König gehört und wir wissen es ja alle – in einer völlig ungewissen Zeit, in einer Zeit der Ungewissheit über Deutschlands Zukunft, ja, auch die Zukunft Europas und der Welt ist dunkel und unsicher. […] Und Deutschland selbst ist politisch ohnmächtig. ERZÄHLERIN:Die Abgeordneten wussten wohl auch, dass nun die Zeit der politischen Auseinandersetzungen, der mühsamen Diskussionen und der Kompromisssuche losging. Das zeigte sich gleich, als der kommunistische Abgeordnete Max Reimann einwarf, dieser Rat habe keine Existenzberechtigung, es liege kein gesamtdeutsches Mandat vor. Dietmar Preißler: O-Ton 03_ Preißler [00:20]Also der kommunistische Abgeordnete Reimann stellte den Antrag, die Arbeit des Parlamentarischen Rats einzustellen und das führte zu einer hitzigen Debatte, gleich am ersten Tag, in der Reimann auch nach vorne stürmte, das Mikrofon griff, in das Mikrofon hineinrief, er fühle sich nicht richtig behandelt. Er nutzte sogar das Wort: Ich fühle mich vergewaltigt. ERZÄHLER:Der Antrag wurde – wenig überraschend – abgelehnt. Streitpunkte gab es genug: Gehört etwa Gott ins Grundgesetz? Die Union wollte einen Gottesbezug in die Präambel setzen, die SPD sträubte sich. Die FDP vermittelte. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, ist der Kompromiss, der bis heute das Grundgesetz einleitet. ERZÄHLERIN:Die Präambel war von besonderer Bedeutung, nicht nur, weil sie den ersten Ton setzt, sondern auch, weil hier die Ostdeutschen angesprochen wurden: ZITATOR:Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. ERZÄHLERIN:Dieses Grundgesetz sei nur provisorisch, das sollte im Vorwort deutlich werden. Gleichzeitig warnte FDP-Politiker Theodor Heuss davor, das Wort „provisorisch“ zu oft in der Präambel zu verwenden. Es sollte von einer „Magie des Wortes“ getragen sein. ERZÄHLER:Die Diskussionen über die einzelnen Artikel waren nicht einfacher. Wie sollte etwa die Gleichberechtigung festgehalten werden? Die meisten Abgeordneten wollten am Text festhalten, wie er in der Weimarer Verfassung stand. Zitat: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“  Das würde allerdings bedeuten, dass das Ehe- und Familienrecht etwa davon nicht tangiert würde. Eine der vier Frauen im Rat lehnte sich dagegen auf: Elisabeth Selbert von der SPD schlug die Formulierung vor: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ So einfach. Ohne Ausnahme. Die meisten Abgeordneten waren dagegen. Zu viele Gesetze würden sofort verfassungswidrig, ungültig werden, ein „Rechtschaos“ könne folgen. Elisabeth Selbert tobte – ihre Gegner auch. Sie drohte sogar mit Wahlen, schließlich kämen, so kurz nach dem Krieg „auf 100 männliche Wähler 170 weibliche Wähler“. Die Drohung schien nicht zu wirken. Also suchte Selbert nach Unterstützung. Frauenverbände schrieben Briefe, kündigten ihren Protest an, sollte im Grundgesetz nicht die uneingeschränkte Gleichberechtigung verankert werden. Die SPD schlug eine Übergangslösung vor, damit die entsprechenden Gesetze in den nächsten Jahren geändert werden konnten. Und der Protest zeigte Wirkung: Eineinhalb Monate nachdem Selberts Formulierung noch abgelehnt worden war, stimmten die Abgeordneten ihr zu. Artikel 3, Absatz 2 im Grundgesetz ist ein Meilenstein der Emanzipation in Deutschland: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. MUSIK ERZÄHLERIN:Ein weiterer Streitpunkt betraf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Klar war, dass ein föderales System entstehen, der Staat also aus Bundesländern zusammengesetzt sein sollte. Aber wieviel Macht sollten diese Länder haben? Die Freundschaft hört bekanntlich beim Geld auf. Die erste Frage war: Wer zieht die Steuern ein und verteilt das Geld – der Bund oder die Länder? Besonders die CSU beharrte darauf, dass die Steuern Angelegenheit der Landesverwaltungen seien. SPD und FDP wollten hingegen, dass der Bund die Steuern einzieht und dass es einen Finanzausgleich zwischen den Ländern gibt. Obwohl auch die Westalliierten befürchteten, eine große Bundesverwaltung für Steuern könnte zu viel Einfluss an einem Punkt konzentrieren, entschieden sich die Delegierten zum Schluss für ein System, das den Vorstellungen von SPD und FDP näher kam. Bund und Länder sind beide für die Steuern zuständig, es gibt einen Finanzausgleich und einen Bundeszuschuss. Auch wie die Länder bei der Gesetzgebung vertreten sein würden, war strittig. Sollte eine Zweite Kammer – also neben dem Bundestag – zusammengesetzt werden nach einem Senats- oder nach einem Bundesratsprinzip; das heißt mit Mitgliedern der Länderparlamente oder der Landesregierungen? Die Konservativen setzten den Bundesrat durch, also mit Vertretern der Landesregierungen. Die SPD dagegen erwirkte eine Machtbeschränkung, nämlich, dass der Bundesrat in der Gesetzgebung ein Vetorecht nur bei Gesetzen mit Länderbezug hat. ERZÄHLER:Nicht nur die inhaltlichen Diskrepanzen erschwerten die Diskussionen, auch die ständige Beobachtung durch die Besatzungsoffiziere zerrte an den Nerven. In bestimmten Punkten, gerade bei der föderalistischen Struktur, wollten sie unbedingt, dass der Parlamentarische Rat nach ihren Vorgaben entscheidet, so Dietmar Preißler: O-Ton 04_ Preißler [00:45]Da wurden ja sogar Geheimdossiers angelegt. Wir wissen aus englischen Archiven, dass über jedes Mitglied des Parlamentarischen Rates ein Dossier existierte. Da sind dann politische Positionen der Damen und Herren dargestellt worden, bis hin aber auch zu Charakterzügen, über Konrad Adenauer wird darin berichtet, dass er eben kühl im Umgang mit seinem Stab auch sei. Bis hin zu Dingen, was haben die Damen und Herren getrunken.TC 11:59 – Darüber war man sich einig MUSIK ERZÄHLERIN:Aber es gab auch Punkte, in denen sich die Delegierten schnell einig waren: Zunächst einmal war da das Ziel eines demokratischen Staats in einem geeinten Europa. Das neue Parlament sollte mächtig sein, direkt vom Volk gewählt werden und hauptsächlich die Gesetze bestimmen. Sogar die Regierung sollte vom Parlament abhängig sein. Die Abschaffung der Todesstrafe war Konsens. Und: Es sollte fast keine Volksabstimmungen geben. ERZÄHLER:Die Erfahrungen der Zeit unter dem Nationalsozialismus prägten die Entscheidungen. Der Machtmissbrauch, die Gestapo, der Holocaust. Das durfte nie wieder passieren. Der Bundespräsident wurde fast komplett entmachtet. Das konstruktive Misstrauensvotum sollte für stabilere politische Verhältnisse sorgen und ein Chaos wie in der Weimarer Republik verhindern: Deshalb kann der Bundestag den amtierenden Kanzler oder die Kanzlerin nur dann stürzen, wenn er gleichzeitig einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählt. Die Gewaltenteilung wurde klar organisiert, es gibt eine unabhängige Justiz. Jedes Gesetz muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, wenn nicht, kann das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als verfassungswidrig erklären, dann muss es geändert werden. ERZÄHLERIN:Den Artikeln im Grundgesetz vorangestellt sind die Grundrechte, Artikel 1 bis Artikel 19. Zwar hatten die Grundrechte schon in der Weimarer Verfassung gestanden. Aber nicht an so prominenter Stelle. ERZÄHLER:Die Menschenwürde. ERZÄHLERIN:Die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Religionsfreiheit, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. ERZÄHLER:Das Briefgeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung. Diese Rechte sollten von nun an unantastbar und unveränderlich sein. TC 13:54 – Die Geburtsstunde der Bundesrepublik MUSIK ERZÄHLERIN:Bis tief in den Mai des nächsten Jahres gingen die Diskussionen. Drei Monate waren ursprünglich für die Debatten geplant, keiner hatte damit gerechnet, dass sie fast neun Monate dauern würden. Aber am 8. Mai standen dann endlich 146 Artikel zur Abstimmung, genau vier Jahre nach der Kapitulation. Es war schon kurz vor Mitternacht, als Konrad Adenauer das Ergebnis verkündete: Zuspielung Adenauer [Klingel] Meine Damen und Herren. Das Grundgesetz ist mit 53 Ja- gegen 12 Nein-Stimmen angenommen worden. ERZÄHLER:Die Delegierten standen auf. Eigentlich würden sie in einem solchen Moment die Nationalhymne singen, aber es gab noch keine. Also sangen sie ein patriotisches Studentenlied: „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand, dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland“. ERZÄHLERIN:Trotz der eindeutigen Annahme: 12 Ausreißer gab es, auch nach neun Monaten Kompromisssuche: Delegierte der Deutschen Partei, des Zentrums, der Kommunisten – und der CSU. Bevor sich nun aber die Landtage mit dem Werk auseinandersetzen konnten, ging es an die Westalliierten. Die genehmigten den Text, dann folgten zehn von elf Landtagen. Die letzte Abstimmung fand in Bayern statt.  Der Bayerische Ministerpräsident Hans Ehard machte gleich als erster Redner klar, wo der unverrückbare Standpunkt seiner Regierung lag: Es sei in Bonn nicht gelungen, das Verfassungswerk so unter Dach und Fach zu bringen, dass es vom Standpunkt Bayerns aus als befriedigend angesehen werden kann. Zu wenig föderalistisch, zu wenig Zugeständnisse an die Länder, die Eigenständigkeit Bayerns sei sogar bedroht. 14 Stunden debattierten die Abgeordneten.  Zum Schluss lehnte der Bayerische Landtag das Grundgesetz mit deutlicher Mehrheit ab. ERZÄHLER:Allerdings ohne den Lauf der westdeutschen Geschichte zu ändern. Zwei Drittel Zustimmung der Landtage reichten aus, um das Grundgesetz durchzubringen, die Stimme der Bayern konnte daran schon nichts mehr ändern. MUSIK ERZÄHLER:Am 23. Mai 1949 kam der Tag der Verkündung: Vor dem Präsidium, auf einem Tisch war das Grundgesetz aufgeschlagen. Füllfederhalter lagen in Reihe bereit, ein Tintenfass des Kölner Ratssilbers. Ein bisschen Inszenierung gehörte zu diesem feierlichen Anlass auch dazu, erzählt Dietmar Preißler: O-Ton 05_ Preißler [00:29]Konrad Adenauer trat als erster an den Tisch und ein Journalist berichtete auch, dass er dann den Füllfederhalter nahm und er bewegte den Stift Richtung Tintenfass und setzte dann seine Unterschrift unter das Grundgesetz. Im Tintenfass des Kölner Ratssilbers war allerdings ja gar keine Tinte drin. Stellen Sie sich mal vor, da wäre wirklich Tinte drin gewesen. Das hätte ja bedeutet, dass das Grundgesetz bei der Unterschriftenaktion sicherlich völlig vertropft gewesen wäre. ERZÄHLER:Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Knapp drei Monate später, am 14. August, wählten die Westdeutschen zum ersten Mal den Bundestag. TC 17:24 – Liebe auf den zweiten Blick ERZÄHLERIN:Liebe auf dem ersten Blick zwar es nicht, zwischen den Deutschen und dem Grundgesetz, sagt Marion Detjen, Historikerin am Bard College Berlin und Mitautorin des Buches „Die Deutschen und das Grundgesetz“: O-Ton 06_ Detjen [00:39]Gefeiert wurde schon einmal auf gar keinen Fall, weil ja in der Bevölkerung erstens schon das Gefühl vorhanden war, nicht in Freiheit und Selbstbestimmung sich jetzt da neu zu finden oder neu aufzustellen, sondern sozusagen aus der totalen Niederlage im Krieg und nach der Zeit des Nationalsozialismus sich überhaupt erst wieder irgendwie aufzustellen und eben unter Besatzungsherrschaft zu sein. […] Und es hat eine Weile gedauert bis das Ganze grundrechtlichen Potenzial und das freiheitliche Potenzial dieser Verfassung für die Bevölkerung spürbar wurde. ERZÄHLERIN:Mit den Jahren sollten die Deutschen jedoch das Grundgesetz zu würdigen wissen, ja, sogar einen gewissen Stolz darauf entwickeln. ERZÄHLER:Das fehlende Referendum schien fast vergessen, bis die Frage nach einer Volksabstimmung durch die Wiedervereinigung wiederaufgeworfen wurde.Zwei Optionen waren möglich: Die fünf ostdeutschen Bundesländer konnten nach Artikel 23 der Bundesrepublik beitreten – damit würde das Bundesgebiet einfach größer werden. ZITATOR:Artikel 23: Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen. ERZÄHLER:Oder man hätte sich auf Artikel 146 beziehen können. ZITATOR:Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. O-Ton 07_ Detjen [00:54]Vor der Wiedervereinigung, also in der Zeit der Friedlichen Revolution, gab es heftige Verfassungsdiskussionen, dass gerade die Revolutionäre einen eigenen Weg gehen wollten, eigene Verfassungsexperimente machen wollten, diese Chance der Revolution nutzen wollten für mehr Demokratie, für ein reformiertes Verfassungsverständnis auch. Und diese Versuche dann eben gerade von der bundesdeutschen Regierung, aber auch von vielen Verfassungsspezialisten hier abgeblockt wurden und da auch viel verhindert wurde, gerade was die Möglichkeiten von direkter Demokratie angeht und die Möglichkeiten angeht, die Ostdeutschen an einem eigenen Verfassungsprozess überhaupt erst einmal zu beteiligen. ERZÄHLERIN:Denn neben den Revolutionären, die eine neue Demokratie schaffen wollten, wollten besonders in der BRD viele lieber kein Risiko eingehen. Außerdem drängte die Zeit. Nicht einmal ein Referendum sollte es geben, um das Grundgesetz – nun Stabilitätsanker statt Provisorium – auch vom Volk zur Verfassung für das geeinte Deutschland erheben zu lassen. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR Westdeutschland nach Artikel 23 bei. ERZÄHLER:Auch international wurde das Grundgesetz wahrgenommen. Der Slogan „Exportschlager“ entstand – auch wenn natürlich nicht das ganze Werk übernommen wurde. Neue Demokratien, die ebenfalls Diktaturen hinter sich lassen gelassen hatten, schauten auf das deutsche Beispiel, so etwa Spanien, Portugal, Griechenland; nach dem Fall der Sowjetunion viele osteuropäische Länder. Spanien führte das konstruktive Misstrauensvotum ein, später auch Ungarn, Polen und Slowenien. In Südafrika wurde das föderalistische System in die Verfassung aufgenommen, Brasilien, Peru und Argentinien etablierten ähnliche Verfassungsgerichte. ERZÄHLERIN:Dabei ist das Grundgesetz auch in Deutschland kein absolut unveränderlicher Text. Die Bedeutung des Grundgesetzes zeigte sich auch immer wieder an den heftigen Debatten über Änderungen an diesem: Die Einführung der Bundeswehr und der Wehrpflicht, die Notstandsgesetze, aber auch die Finanzbeziehungen und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen.  O-Ton 08_Detjen [00:20]Also eine Verfassung ist ein toter Text und gleichzeitig eine lebendige Norm, die wir ständig neu interpretieren und weiterentwickeln und mit der man ganz viel anstellen kann. Also es hat eben nicht jeder die Verfassung so, wie er sie gerne hätte unbedingt, aber gleichzeitig eben auch eine Chance für ständige Verhandlungen und Weiterentwicklung. ERZÄHLERIN:Immer wieder kommen neue Herausforderungen und veränderte Situationen, auf die eine Gesellschaft reagieren muss: Ein zusammenwachsendes Europa, die Globalisierung, der demographische Wandel, der Zeitgeist. Immer wieder wird das Grundgesetz dem angepasst werden. TC 22:36 – Outro

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