Ochsenfrösche, Steine, Tibetisches Edelweiß, sogar Wasser - die Münchner Brüder Schlagintweit brachten von ihrer Indien-Expedition in den 1850er-Jahren nach Bayern mit, was ihnen von die Forschernasen kam. Ihr Anspruch auf Wissen und Erkenntnis war allumfassend, ganz nach dem Vorbild von Alexander von Humboldt. Von Bettina Weiß (BR 2015)
Credits Autorin: Bettina Weiz Regie: Martin Trauner Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Carsten Fabian Technik: Jochen Fornell Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Hermann Kreutzmann, Prof. Felix Driver, Dr. Cornelia Lüdeke, Dr. Shekhar Pathak Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: BR (2015): Die Gebrüder Schlagintweit Einst erforschten die drei Brüder Adolph, Hermann und Robert Schlagintweit in ausgedehnten Expeditionen den Himalaya. Heute sind diese bayerischen Entdecker fast vergessen, doch damals waren sie Pioniere auf dem Dach der Welt. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk Kultur (2021): Der schmale Grat zwischen Triumph und Tragödie 2021 war ein besonderes Bergjahr: Der K2 wurde von zehn Alpinisten aus Nepal als letzter Achttausender erstmals im Winter bezwungen. Andere Bergsteiger stürzten dort ab. Was treibt sie an, sich unter extremen Bedingungen in Lebensgefahr zu begeben? JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
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SPRECHERIN:Die Welt erkunden. Selbst losgehen. Selbst ermessen, wie hoch die Berge sind und wie tief die Wässer und wie unterschiedlich die Menschen: Hermann und Adolf Schlagintweit aus München beginnen damit als Teenager.
ATMO Schritte
SPRECHERIN:Im Jahr 1842, im Alter von 16 und 13, unternehmen die Brüder aus der feinen Theatinerstraße in München eine weite Wanderung in die bayerischen und tiroler Berge. Sie schwärmen von der...
SPRECHER:...einfach erhabenen Pracht der Natur, die uns hier umgibt.
SPRECHERIN:Auf Fotos posieren die Arztsöhne bukolisch mit Schäferhüten und Hirtenstäben. Sie wagen sich auf Berge, deren Gipfel vor ihnen noch keiner erklommen hat. Romantik. Sportliche Herausforderung. Das sind die Grundlagen dafür, dass sich die Schlagintweits für etwas begeistern, was zu ihrer Zeit neu ist: Expeditionen. Dazu kommt der Wissensdurst.
MUSIK
SPRECHERIN:Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Globus längst umrundet. Wer fürs europäische Publikum noch Neues erkunden will, muss Expeditionen machen, also aufwändig in Extremregionen vordringen: zum Nord- oder Südpol, in Dschungel, die von Schlafkrankheit versucht sind – oder eben ins Hochgebirge, wie die Schlagintweits. Im Gymnasium interessieren sich Hermann und Adolf besonders für Erdkunde. Eifrige Einserschüler. Hinterher studieren sie das Fach. Und immer intensiver bereisen sie die Alpen. Es ist die Ära, in der Enzyklopädien wie der „Brockhaus“ die Bücherregale vieler Bildungsbürger füllen und das Wissen der Welt verheißen, vollständig von A bis Z.
ATMO Schritte
SPRECHERIN:Und so bestimmen die Schlagintweits auf ihren Touren durch die Alpen Luftdrücke, Temperaturen, Seehöhen und Schneedicken. Sie zählen Blumen. Sie vermessen Gletscher in Österreich und der Schweiz. Sie fertigen mit großer Akribie Zeichnungen und Aquarelle von Gebirgszügen an, produzieren das Monte-Rosa-Massiv und die Zugspitze in mini, als Reliefs aus Zinkguss.
MUSIK
SPRECHERIN:Messen, bestimmen, zählen, aufzeichnen, in Beziehung setzen, und zwar alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, das Klima und die Gesteine und die Gestirne: So hat es auch Alexander von Humboldt gemacht, als er durch Südamerika gereist ist. Er ist das große Vorbild der Schlagintweit-Brüder. Die Schlagintweits besuchen ihn in Berlin und gewinnen seine Sympathie. Der Preuße ist zu der Zeit achtzig Jahre alt, berühmt und bestens vernetzt am Königshof und im europäischen Wissenschaftsbetrieb. Mit seiner tatkräftigen Unterstützung wagen die Münchner Brüder – in den Worten von Robert Schlagintweit...
SPRECHER: die Verwirklichung eines Wunsches, der mich seit Jahren lebhaft beschäftigt hatte, oder besser gesagt, seit meiner frühesten Jugend (und der durch wiederholte Reisen in den Alpen stetig genährt und am Leben erhalten wurde), dessen Erfüllung jedoch über sehr lange Zeit vollkommen jenseits der Grenzen des Möglichen erschienen wäre.
SPRECHERIN:Der Traum der Schlagintweits ist eine Expedition in den Himalaya.
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SPRECHERIN:So eine Expedition ist ein Großunternehmen. Um das Gebirge nach ihren Vorstellungen vollständig zu erkunden, brauchen die Forscher Theodoliten, Barometer, verschiedene Thermometer, Magnetometer und andere Instrumente. Bestes und modernstes Gerät. Alleine eine Fotoausrüstung wiegt damals 200 Kilo. Ihr Gepäck wird so umfangreich sein, dass es 20 Kamele brauchen wird, um alles zu transportieren. Dazu kalkulieren sie mit einem Tross von Kameltreibern, Trägern, Köchen, Kartographen, persönlichen Dienern, Dolmetschern und vielen anderen.
SPRECHER: Ungeachtet aller Einschränkung konnte man bei der indischen Art zu Reisen ohne acht bis zehn Menschen für einen von uns nicht vorwärts kommen.
SPRECHERIN:So versuchen die Brüder, öffentliche Mittel für ihre geplante Expedition zu bekommen. Was die Könige von Bayern und Preußen zahlen, sind Tropfen auf den heißen Stein. Da ebnet Alexander von Humboldt den Schlagintweits den Weg nach England, zur britischen Ostindiengesellschaft in London.
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SPRECHERIN:Die britische Ostindiengesellschaft ist gerade dabei, ihre Macht in Indien auszuweiten. Im 17. Jahrhundert hatte sie als private Handelsfirma angefangen, gestützt auf ein paar Kontore an der indischen Küste. Diese Niederlassungen baute sie später zu Kolonien aus. Zur Zeit der Brüder Schlagintweit ist sie Territorialmacht geworden. Sie beherrscht Gebiete, die mehrmals so groß sind wie England. Es ist der Übergang von Kolonialismus zu Imperialismus, erklärt der Berliner Geograph Hermann Kreutzmann. Kurz darauf wird der Staat die Ostindiengesellschaft übernehmen und die Königin von England wird sich zur Kaiserin erklären, zum „Emperor“ von Indien.
1. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das war die wertvollste Kolonie, die England jemals gehabt hat, und die möchte sie schützen. Und Imperialismus ist die Antwort darauf.
SPRECHERIN:Mit dem „Imperialismus“, dem Drang, ein „Empire“ weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu beherrschen, kommt die Expedition à la Schlagintweit als Forschungsweise auf.
2. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Wenn man ein Territorium dominieren möchte, muss man wissen, welche Menschen dort leben, welchen Tätigkeiten sie ausüben, welche Reichtümer es dort gibt, und wir sind in einer Phase des Cartesianischen Denkens, also des rechenhaften Denkens, also wo es beginnt, Statistiken aufzulegen. Zahlen zu erheben, Messungen durchzuführen, und das ist dann auch, was die Expedition der Gebrüder Schlagintweit ausmacht. Das ist die Zeit, wo die Rechenhaftigkeit eine zentrale Rolle spielt. Und das ist ja auch verbunden mit Imperialismus, mit der Kontrolle, mit der Einführung von Verwaltung. Alles ist zweckgebunden. Und die Wissenschaft ist die Dienerin des Imperialismus.
SPRECHERIN:Wie sich die Interessen von Wissenschaft und Imperialismus treffen können, zeigen die Verhandlungen der Brüder Schlagintweit mit der Britischen Ostindiengesellschaft. Die möchte eigentlich nur, dass die Schlagintweits eine von anderen begonnene Studie zu Ende führen und messen, wie magnetisch verschiedene Regionen Indiens sind. Aber die Brüder wollen mehr. Schließlich zielt ihr Humboldtscher Ansatz auf Vollständigkeit. Sie werben:
SPRECHER:Sehr gerne werden wir unsere größte Aufmerksamkeit auch allen Fragen von praktischem Nutzen zuwenden, wie etwa der geologischen Altersbestimmung der verschiedenen Kohlevorkommen Indiens, dem Vorkommen von Salz oder der praktischen Verwendung des Schwefels, der im westindischen Sindh vorkommt.
SPRECHERIN:Mehr als vier Jahre planen, verhandeln und taktieren die Brüder Schlagintweit. Am Ende zahlt die Britische Ostindiengesellschaft den Löwenanteil ihrer Expedition und macht sie damit möglich.
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SPRECHERIN:1854 schiffen sich Hermann, Adolf und ihr jüngerer Bruder Robert nach Indien ein. Schon auf der Reise beginnen sie, Wasser an verschiedenen Stellen aus dem Meer zu schöpfen und sein spezifisches Gewicht zu bestimmen. Sie messen wie besessen, in Indien angekommen erst recht, außer Magnetismus unter anderem auch die Temperatur, Entfernungen, Seehöhen, den Luftdruck, die Horizontal- und Vertikalwinkel von Bergen, die Dicke von Schneedecken auf Fels und die Länge und Breite der Hände und Füße von Indern und Inderinnen aus verschiedenen Regionen. Sie erklimmen Berge, schaffen es bis zu einer Höhe von 6.788 Metern, wagen sich in Wälder.
SPRECHER:Am Fuße des Berges ließen wir auch die Pferde zurück, und sogleich begann ein steiles Hinaufsteigen. Aber nur langsam kamen wir auf dem Abhange vorwärts, denn es war eine mühsame und zeitraubende Arbeit, in dem Dschungel, der an Großartigkeit und Dichtigkeit Alles bisher von mir Gesehene übertraf, irgendeinen Weg hindurch zu hauen. Mir waren in kurzer Zeit die Kleider zerfetzt; das geringste Vergnügen schienen meine Hindus aus dem Flachland an dieser Expedition zu haben, obwohl sie ihre zahlreichen Dornenwunden fast vergaßen über den Gedanken, unerwartet dem Tiger zu begegnen.
SPRECHERIN:Abenteuer und Gefahr gehören zur Expedition – aber auch generalstabsmäßige Planung. Der Londoner Geographiehistoriker Felix Driver beleuchtet diesen sehr praktischen Zusammenhang von Imperialismus und Expeditionen.
3. ZUSPIELUNG (Felix Driver)by the 19th century European military might is extending itself around the world, and I think that idea about expeditions and explorations also diffuse around the world...
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Im 19. Jahrhundert hat sich europäische Militärmacht rund um die Welt ausgedehnt, und die Idee der Expedition hat sich auch weltweit verbreitet. In gewisser Weise wurden die größeren Expeditionen auch in militärischer Weise organisiert. Man musste unter sehr schwierigen Bedingungen von A nach B kommen, man musste für die Logistik, Nahrungsmittel und Vorräte sorgen, und es überrascht nicht, dass das Militär entweder an den Expeditionen beteiligt oder ein wichtiges Vorbild war.
... and it is not surprising that the military were either involved in expeditions or were an important model for how to get from A to B in very difficult environments. So it is a sort of military the model.
SPRECHERIN:Die Schlagintweits werden manchmal von Soldaten begleitet, immer führen sie Pistolen mit sich.
SPRECHER:Waffen sind - neben ihrer Wichtigkeit für den persönlichen Schutz -, besonders als Artikel zu erwähnen, die als Geschenke geeignet sind.
SPRECHERIN:Seine Waffen verschenken – das klingt nach Frieden und Vertrauen. Tatsächlich steht die Expedition in weniger friedlichem Zusammenhang, als die Brüder Schlagintweit es vielleicht selbst wahrhaben wollen. Im 19. Jahrhundert ist die Zeit vorbei, in der Reisende Entdecker und Händler auf Augenhöhe waren – wie etwa Marco Polo oder Mitarbeiter der Britischen Ostindiengesellschaft in deren Anfängen. Nun geht es den europäischen Auftraggebern von Expeditionen darum, Gebiete in fremden Erdteilen zu beherrschen, erklärt der Geograph Hermann Kreutzmann
4. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das ist der Übergang vom Handelsaustausch in eine Dominanzphase hinein, und die endet mit Grenzziehung. Die afghanischen Grenzen werden um 1893, 95 geschaffen, und in dieses Spiel geraten die Brüder Schlagintweit hinein.
SPRECHERIN:Um die Macht in Afghanistan und dem übrigen Mittelasien ringen England, Russland und China. Die Schlagintweits, in britischem Auftrag unterwegs, erkunden dabei nicht nur die britische Machtsphäre, sondern auch Gebiete außerhalb. Sie sind Kundschafter. Spitzel. Wie andere Expeditionsreisende, die etwa von Russland oder Frankreich finanziert sind.
5. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das sind Reisende, die mit einem - Sie könnten sagen Vorwand kommen, sagen, Botanisierer oder Geologen, oder sie interessieren sich für die Gletscher, das Klima oder für andere Dinge, das sind Reisende, die dann sich der Wissenschaft verschrieben haben, die ein Bürgertum bedienen in unseren Landen, in den geographischen Gesellschaften, wenn die Vorträge halten, die verkehren in Zirkeln, erzählen interessante Geschichten, werden gesponsert von Wohlhabenden, jedes Jahr an Weihnachten gibt es die Reiseberichte von diesen Leuten als Buch gebunden, da - unter dem Mantel der Wissenschaft reisen Leute, die gleichzeitig aber auch Informationen liefern, die für die politischen Interessen der Staaten, aus denen sie stammen, sehr gut verwertbar sind.
SPRECHERIN:Außerhalb der britischen Machtsphäre gehen die Schlagintweits unterschiedlich vor. In Kaschmir etwa warten und verhandeln sie, bis sie von örtlichen Machthabern eine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung bekommen. In Turkestan etwa verkleiden sich die Münchner als einheimische Händler.
SPRECHER:Hier war es, wo wir zuerst unsere Turki-Bekleidung anlegten, da wir nun, so weit vorgeschritten, bei etwaiger Begegnung mit Turkistani-Caravanen nicht als Europäer auffallen sollten. Dabei bekamen wir auch den Kopf geschoren; wir zogen vor, dies mit einer Schere in der Art ausführen zu lassen, als hätte das Rasiren mit dem Messer schon einige Zeit vorher stattgefunden.
SPRECHERIN:Diese Tricks klappen nicht immer. Die Schlagintweits werden hingehalten, absichtlich fehlinformiert und beraubt. Diener von ihnen werden als Geiseln genommen. Trotzdem lassen sie nicht locker. Sie reisen weiter, trennen sich zeitweise, damit jeder einzelne Bruder noch mehr messen, noch mehr sammeln kann, überqueren raue Hochpässe, erkunden Gletscher und mittelasiatische Weiten bis nach Kaschgar. Die Stadt liegt an einem wichtigen Knotenpunkt der Seidenstraßen. Im Kampf um die Macht in Mittelasien ist Kaschgar strategisch so wichtig, dass es zu jener Zeit verbotenes Land für Europäer ist. Adolf Schlagintweit wagt sich trotzdem hin.
6. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das waren junge Leute, die wollten sich einen Namen machen, und die wollten etwas schaffen, was andere vor ihnen nicht geschafft haben.
SPRECHERIN:Adolf Schlagintweit bezahlt den Besuch in Kaschgar mit dem Leben. Bald nach seiner Ankunft im August 1857 wird er enttarnt und geköpft.
MUSIK
SPRECHERIN:Adolfs Brüder Hermann und Robert kehren nach Europa zurück. Der Tod ihres Bruders während der Expedition schockiert sie zutiefst. Trotzdem schreiben sie den Bericht über ihre Reise wie eine Empfehlung, auch Expeditionen zu machen, mit allerhand praktischen Tipps: wo man im Himalaya Zigarren kaufen kann, wann Gamaschen hilfreich sind, dass sich Brandy besser als Wein oder Bier fürs Reisen eignet, was Maultiere für den Gepäcktransport kosten, wie man mit kleinen Papieraufklebern an den Verschlüssen von Vorratsbüchsen, die wie Talismane wirken, verhindern kann, dass die Köche wertvolle Vorräte verplempern, und dass man die Dolmetscher und Reiseführer am besten erst am Ende der Reise bezahlt und am Erfolg beteiligt. Der Geographie-Historiker Felix Driver weist darauf hin, dass sich im 19. Jahrhundert, als Expeditionen „in“ wurden, vielerorts eine regelrechte Industrie von Reiseleitern und Expeditionsausstattern entwickelte.
7. ZUSPIELUNG (Felix Driver)There are parallels between the ways in which certain local figures become guides, become experts, become interpreters. And they help a series of expeditions, they might be British expeditions, they might be ...
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Es gibt Parallelen darin, wie bestimmte Leute Reiseleiter, Experten oder Dolmetscher werden. Sie helfen einer Reihe von Expeditionen, egal ob es britische, deutsche oder amerikanische sind, und sie sammeln einen gewaltigen Erfahrungsschatz an. So wie die Sherpas die Experten auf den Bergen werden gibt es andere, die Experten darin werden, durch Amazonien oder Ostafrika zu navigieren. Sie kennen das Land, die politische Situation und die Sprachen. Sie sind oft nicht aus der Gegend selbst, aber sie spielen diese sehr wichtige Vermittlerrolle. Und die Europäer werden sehr abhängig von ihnen. Dass sie mit solchen Vermittlern arbeiten ist eine Gemeinsamkeit von Expeditionen in sehr, sehr verschiedenen Teilen der Welt.
... And Europeans become very dependent on them. So that is a common feature which you find actually in very, very different parts of the world.
SPRECHERIN:Für die Logistik mögen solche Dienstleister praktisch sein. Aber für die Wissenschaft bergen sie Probleme, sagt der Geograph Hermann Kreutzmann.
8. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Die Schlagintweits waren sehr stark auf Dolmetscher und Begleiter angewiesen, und diese Dolmetscher und Begleiter haben auch diese Situation häufig genutzt, um ihnen Räuberpistolen zu erzählen. Geschichten zu machen, für die es keine Belege gab, weil sie wussten, sie sind das einzige Sprachrohr, das mit ihnen spricht. Und sie haben ihre Version einer Geschichte geliefert. Oder auch interessante Geschichten geliefert, wenn man damit viel Geld verdienen konnte.
SPRECHERIN:Die Brüder Schlagintweit kehren jedoch mit mehr als mit Geschichten, Daten und Bildern aus Indien zurück. Sie haben auch handfestere Dinge gesammelt, unter anderem
SPRECHER:20.000 Steine, 12.000 Pflanzen, 6000 Vögel, ausgestopft oder als Skelett, fast 600 Baumdurchschnitte, 250 Gipsabgüsse von Menschengesichtern, 46 Schädel und 21 komplette Skelette von Indern und Inderinnen, dazu Tierskelette, präparierte Fische, Muscheln, Schmuck, Hausgeräte, Kleider und Waffen sowie lebende Wildesel, Pferde und Kamele für den Berliner Zoo
SPRECHERIN:Das alles melden sie nach ihrer Rückkunft Alexander von Humboldt, ihrem Förderer und wissenschaftlichem Vorbild. An dessen Anspruch, „die ganze materielle Welt“ darzustellen, scheitern sie jedoch. Niemand zahlt ihnen die Arbeit, die Sammlung vollständig auszuwerten und auszustellen. Sie muss mehrfach umziehen. Dabei zerfallen die Tierskelette. Motten zerfressen kostbare Stoffe. Fast ein Vierteljahrhundert müht sich Hermann Schlagintweit mit dem Material. Mit 56 Jahren stirbt er, bald darauf auch sein Bruder Robert.
Musikakzent
SPRECHERIN:Die Erben verkaufen von der verrottenden Sammlung, was zu verkaufen ist. Viele Steine und einige Fische in Spiritus geben sie einem Mineralienhändler in Kommission. Der verhökert ein paar Dinge, ansonsten schreibt er von
SPRECHER:Wertlosem Geröll. Wenn Sie – wie ich hoffe und darum bitte – mich einmal in Bonn besuchen, wollen wir einen Spaziergang auch über den Weg machen, der damit gepflastert worden.
MUSIK
SPRECHERIN:
Je mehr die Welt vermessen und machtpolitisch verteilt ist, desto weniger Expeditionen im Stil der Schlagintweits finden statt. Für sein Fach meint der Berliner Geographie-Professor Hermann Kreutzmann:
9. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Heute würden wir von solchen Expeditionen nicht mehr sprechen. In unserem Fall hat sich das vollkommen verändert zu der damaligen Zeit,
SPRECHERIN:An die Stelle der Expedition tritt – wenn nicht gleich auf die Erkundung vor Ort verzichtet und die Welt am Computer modelliert wird – die Feldforschung: Statt wie die Schlagintweits ganz Indien plus Himalaya plus Teile Mittelasiens möglichst vollständig in vier Jahren zu bereisen, zu vermessen und darzustellen, spezialisiert sich der Forscher oder die Forscherin nun lieber gründlich auf einen einzigen Ort.
10. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das ist heute häufig anders, weil wir doch junge Leute haben, die dann auch lokale Sprachen erlernen, bevor sie Feldforschung durchführen und nicht auf Dolmetscher angewiesen sind, wenn sie da etwas machen. Ein Doktorand von mir hat sich über Heiratsverhalten in Kaschgar promoviert, der hat vorher Uighurisch und Chinesisch gelernt, um dort zu arbeiten
SPRECHERIN:Er ist auch ohne Verkleidung gereist und lebendig wiedergekehrt. Die Forscher präsentieren ihre Ergebnisse idealerweise nicht nur in Berlin und London, sondern entwickeln sie gemeinsam mit Wissenschaftlern in den erforschten Gebieten weiter.
11. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Ich habe mehrfach in Kaschgar Konferenzen gemacht, ich habe in Lhasa in Tibet Konferenzen organisiert, in Khorog in Tadschikistan, in Duschanbe, in Gilgit in Pakistan, gemeinschaftlich mit den Partnern vor Ort werden diese Konferenzen organisiert.
SPRECHERIN:Der Erkenntniswert einer einzelnen Expedition ist gering, auch für Naturwissenschaften. Die Meteorologin und Wissenschaftshistorikerin Cornelia Lüdeke betrachtet zum Beispie die Klimawerte.
12. ZUSPIELUNG (Cornelia Lüdeke)Die Daten der Schlagintweits sind natürlich auch nur ausschlaggebend für die drei Jahre, die sie damals im Himalaya unterwegs waren. Und wir wissen ja selber: Es gibt Winter, wo viel Schnee ist, und dann gibt es wieder Jahre, wo wenig Schnee fällt. Im Grunde ist das ein Zufallsergebnis, man müsste da auch längere Zeitreihen über 30 Jahre haben. Weil Klima wird über 30 Jahre sozusagen bestimmt.
SPRECHERIN:Allerdings sind die Schlagintweitschen Messungen so gut nachvollziehbar, dass sie für weitere Forschungen heutzutage wertvolle historische Bezugswerte liefern.
13. ZUSPIELUNG (Cornelia Lüdeke)Heute kann man beispielsweise untersuchen, wie sich die Schneehöhen ändern, vielleicht aufgrund der Klimaänderung.
MUSIK
14. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak – englisch ohne overvoice)Due to Nain Singh Rawat many people also know about Schlagintweit brothers! Otherwise Schlagintweit brothers also forgotten in India.
SPRECHERIN:In Indien wäre die Expedition der Brüder Schlagintweit vergessen – wäre da nicht Nain Singh Rawat, sagt der Historiker Shekhar Pathak aus Nainital im Himalaya.
15. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)He was just doing portering! But when he joined the group, he was great learner. he was so sensitive - everything which the Schlagintweit brothers were doing, he followed that...
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Nain Singh Rawat war nur ein Träger! Aber als er zur Expedition dazustieß, hat er sehr viel gelernt. Er hat alles, was die Schlagintweits taten, mitverfolgt, Barometer und Prismen bedient und Landkarten gezeichnet. Er hat den Brüdern Tibetisch beigebracht und gleichzeitig von ihnen Englisch gelernt. Es war ein großartiges Lernen, und zwar in beide Richtungen. Die Schlagintweits entdeckten den Funken, der in Nain Singh Rawat schlummerte. Nicht einmal sein eigener Cousin hatte es entdeckt. Nur die Schlagintweits!
...And they realized the spark inside Nain Singh Rawat! otherwise nobody else, even his own cousin Mani singh never realized the spark inside Nain Singh Rawat. But Schlagintweit brothers did!
SPRECHERIN:Nach dem Dienst für die Schlagintweits arbeitete Nain Singh Rawat auch für britische Wissenschaftler und Landvermesser. Er erkundete viel Neuland für die Briten und erhielt höhere Auszeichnungen von britischen Institutionen als seine ehemaligen Arbeitgeber aus München.
16. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)I am not only proud of him. I always been thinking how such a person emerged in our part of Himalaya! From zero how he reached to a certain summit!Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Ich bin nicht nur stolz auf ihn. Ich denke immer: dass so jemand aus unserem Himalaya stammt! Von null aus hat er so einen Karrieregipfel erreicht!
SPRECHERIN:Auch andere Inder hätten viel von den Briten gelernt, und in manchen Dingen sei man in Indien England wissenschaftlich voraus gewesen, hebt Shekhar Pathak hervor. So begann die Vermessung Indiens über 60 Jahre, bevor in England die Königliche Geographische Gesellschaft gegründet wurde. Der Berliner Geograph Hermann Kreutzmann erinnert an den machtpolitischen Hintergrund der Vermessung und Erkundung von Bergen und Bodenschätzen.
17. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Es war dieses Experiment, was man in der Imperialismustheorie derart beschreibt: Fertigware wird aus Europa nach Asien, Afrika und Übersee geliefert, und Rohstoffe kommen aus der Gegenrichtung, und das ist zum großen Nutzen Europas und zum Schaden des Restes der Welt.
SPRECHERIN:Trotzdem. Sein Kollege aus Indien verteidigt Expeditionen wie etwa die der Schlagintweits.
18. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)So it was part of larger colonial scheme. Definitely. But it is also contributing to the larger human knowledge. This is the positive point in whole history of exploration. And this exploration not only contributed in the scheme of colonialism in Asia, or in Orient, it also contributed in larger context the knowledge about lesser known, unknown places to the larger world.
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Sie waren Teil eines kolonialen Plans. Na klar! Aber sie haben auch zum größeren Wissen der Menschheit beigetragen. Das ist das Gute an der Geschichte der Expeditionen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Welt jetzt mehr über Orte weiß, die einst unbekannt waren.