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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Aug 1, 2024 • 20min

ERSTER WELTKRIEG - Von der Euphorie in den Abgrund

Im August 1914 war Deutschland siegesgewiss, doch bald trat Ernüchterung ein. Viele Soldaten und weite Teile der Zivilbevölkerung wurden des Krieges überdrüssig. Aber die deutsche Politik trieb den Krieg unbeirrt weiter - bis zum großen Zusammenbruch im Sommer 1918. Von Rainer Volk (BR 2014)Credits Autor: Rainer Volk Regie: Sabine Kienhöfer, Dorit Kreissl, Andreas Mangold Es sprachen: Beate Himmelstoß, Rainer Buck Technik: Gerhard Wicho Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Gerhard Hirschfeld, Prof. Ulrich Lappenküper, Hans-Peter Tombi (†) Linktipps: SWR (2024): Der Ausbruch des Krieges – Tagebücher des Ersten Weltkriegs Als im Juni 1914 in Sarajewo der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau ermordet werden, ist Europa ein von Spannungen gezeichneter Kontinent. Der Erste Weltkrieg bricht aus. Die Menschen empfinden es als ihre Pflicht, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen. Die junge Kosakin Marina Yurlova will für den russischen Zaren kämpfen. Der 18-jährige Peter Kollwitz zieht für Deutschland an die Westfront; der Landwirt Karl Kasser soll das Großreich Österreich-Ungarn an der Ostfront verteidigen. Im ostdeutschen Schneidemühl, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt, fürchtet die zwölfjährige Elfriede Kuhr den Einmarsch der Russen. Im französischen Sedan erlebt der zehnjährige Yves Congar, wie seine Heimatstadt von den Deutschen angegriffen wird. JETZT ANSEHEN ZDF (2020): Der Preis des Krieges – Erster Weltkrieg Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt das Zeitalter der industriell geführten Massenkriege. Rund 20 Millionen Menschen sterben. Generationen verlieren Zukunft, Gesundheit und Wohlstand. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: m Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:55 – Deutsch-französische Erbfeindschaft?TC 06:18 - KriegspropagandaTC 10:37 – Vom Land auf die SeeTC 12:56 – KriegsmüdigkeitTC 16:01 – „Verloren haben wir alle“TC 19:33 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK Erzählerin:Ein Regiment marschiert, von den Bürgern bejubelt, mit Musik aus einer Garnisonsstadt zur Eisenbahn, um an die Front zu kommen; der Bürgermeister spricht, der Regimentskommandeur dankt. Begeisterung, Patriotismus, Opferbereitschaft für das Vaterland – der Kriegsbeginn im August 1914 stößt in der deutschen Bevölkerung auf große Euphorie. O-Ton Hörbild 1914:Herr Oberst, ich kann es mir in dieser Bewährungsstunde nicht versagen, im Namen der Stadt und ihrer Einwohner unserem geliebten Regiment „Lebewohl“ zu sagen. Hurra! Hurra! Erzähler:Zumindest vermittelt dieses Hörbild einen solchen Eindruck. Diese akustische Szene stammt allerdings aus dem Jahr 1918. Sie ist ein Propagandaprojekt, das eine allseitige Euphorie bei Kriegsbeginn beschwört – das so genannte „Augusterlebnis“ in Deutschland. In Wirklichkeit aber ist die Stimmung im Sommer 1914 sehr vielschichtig. Professor Gerhard Hirschfeld, Mitherausgeber der „Enzyklopädie 1. Weltkrieg“, beschreibt die Atmosphäre: O-Ton Gerhard Hirschfeld:Patriotische Begeisterung einerseits, aber auch die Furcht vor der kommenden Ungewissheit, die Sorge um die familiäre und berufliche Existenz. Und vor allen Dingen – das scheint mir sehr wichtig zu sein – die Entladung einer ungeheuren Anspannung. MUSIK Erzählerin:Am 1. August 1914, einem Samstag, befiehlt Kaiser Wilhelm die „Mobilmachung“. Er hat seinem Verbündeten Kaiser Franz Joseph in Wien Beistand gegen Russland versprochen. Der Kriegsplan, der so genannte „Schlieffen-Plan“, stammt von Alfred von Schlieffen und liegt schon seit mehreren Jahren in der Schublade; Schlieffen selbst ist bereits eineinhalb Jahre vor Kriegsausbruch gestorben; trotzdem bleibt sein Nachfolger als Generalstabschef Helmuth von Moltke bei dessen Ideen. Denn das Kalkül der Deutschen ist unverändert: ein Zweifrontenkrieg im Osten und Westen muss vermieden werden. Deshalb soll als erstes Frankreich in einem kurzen Feldzug besiegt werden. Russland brauche für seine Mobilisierung sehr viel länger, da könne man also warten – so glaubt man in Berlin. TC 02:55 – Deutsch-französische Erbfeindschaft? Erzähler:Frankreich und Deutschland sind damals seit vielen Jahrzehnten – eigentlich Jahrhunderten – tief zerstritten; alle reden von ‚Erbfeindschaft’ und haben noch den Krieg von 1870/71 vor Augen. Aber die Rivalität der beiden Nachbarländer ist nicht die Hauptursache für den Ausbruch des Weltkrieges. Der Historiker Professor Ulrich Lappenküper skizziert die Interessen des Deutschen Reiches: O-Ton Ulrich Lappenküper:Es ging dem deutschen Kaiserreich ja in erster Linie darum, die englische Suprematie zur See zu brechen. Notwendig war, und da kommt nun der Schlieffen-Plan tatsächlich ins Spiel, dies aus Sicht des Generalstabs durch den militärischen Sieg über Frankreich. Erzählerin:Bereits in der Nacht vom 1. zum 2. August 1914 beginnen deutsche Truppen ihren Vormarsch, zunächst durch neutrale Länder: Infanteristen nehmen den Bahnhof des Örtchens Troisvierges in Luxemburg ein – von dort aus laufen Gleise Richtung Belgien, das die Deutschen auch erobern wollen. Diese ersten Tage des blitzartigen Vormarsches werden in Militärkreisen noch jahrzehntelang als „tolle Zeit“ erinnert. Ein Indiz ist der Radio-Bericht eines Berliner Majors vom Angriff auf Lüttich. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1934: O-Ton Major Nidda:Am 1. August früh morgens, ich weiß die Stimmung noch wie heute, fuhren wir fünf Sturmführer der fünf Brigaden von Berlin der Grenze zu. Deutschland in großer Wallung. Erzähler:Einen Monat lang eilen die deutschen Truppen im Westen von Sieg zu Sieg – bei rasch steigenden Verlusten. Geradezu mythischen Stellenwert erlangen Berichte von Rekruten, die frisch vom Abitur an die Front geschickt wurden und beim ersten Sturmangriff bei Langemarck in Flandern mit der Nationalhymne auf den Lippen fallen. Doch der Versuch, die französische Armee und ein britisches Expeditionskorps vernichtend und endgültig zu schlagen, misslingt: An der Marne und am Flüsschen Somme können die Alliierten die Front stabilisieren. Damit beginnen vier Jahre Stellungskrieg – auch in Elsass-Lothringen, das 1871 von Deutschland annektiert wurde. MUSIK & ATMO Erzähler:Unterwegs am „Hartmannsweilerkopf”, einem großen Bergrücken der Vogesen nordwestlich von Mulhouse. Hier sind bis heute Spuren der einzigen Front auf damals „deutschem Boden” zu sehen. Um die ehemaligen Befestigungs-Anlagen und eine Chronik der dortigen Kämpfe kümmert sich ein deutsch-französischer Verein, den der mittlerweile verstorbene Hans-Peter Tombi gegründet hat. Auf einer seiner Führungen steht er auf einer Kuppe und deutet in Richtung Westen: O-Ton Hans-Peter Tombi:Das war das Ziel der Franzosen: Dieser Ausblick – rein in die Ebene vom Elsass. Denn von hier aus konnte man das Artillerie-Feuer steuern und leiten und die Deutschen im Tal stören. Es hat natürlich nicht funktioniert, denn die Abwehr des Feindes war den Deutschen bewusst.TC 06:18 - Kriegspropaganda Erzählerin:Ein Blick in den Osten – dort wird 1914 ein Mann eine wichtige Rolle spielen, dessen Name die Deutschen noch lange begleiten wird: Paul von Hindenburg. Den General hat der Kaiser eilig aus der Pension zurück in den aktiven Dienst geholt. Denn an der Ostfront hat die russische Armee doch schneller angegriffen als erwartet. Hindenburg und Ludendorff, sein Chef-Stratege, erhalten dort die Befehlsgewalt - und siegen: O-Ton Paul von Hindenburg:Ihr habt einen vernichtenden Sieg über fünf Armeekorps und drei Kavallerie-Divisionen errungen. Mehr als 90.000 Gefangene, ungezählte Geschütze und Maschinengewehre, mehrere Fahnen und viele sonstige Kriegsbeuten sind in unseren Händen. Die geringen, der Einschließung entronnenen Trümmer der russischen Narew-Armee ziehen nach Süden über die Grenze. Die russische Wolga-Armee hat von Königsberg her den Rückzug angetreten. Es lebe seine Majestät, der Kaiser und König. Hurra! Erzählerin:Hindenburgs Aufruf an seine Soldaten nach der „Schlacht von Tannenberg”, ist nicht authentisch. Angeblich fand er Ende August 1914 statt, in Wahrheit aber wurde das Tondokument erst 1917 für die deutsche Kriegspropaganda aufgenommen. Erzähler:Anders als im Westen erstarrt das Kriegsgeschehen im Osten nicht in Gräben und Bunkern: Es herrscht Bewegung, die Deutschen marschieren vor. Die Erfolge werden jedoch durch Siege der Zarenarmee gegen Deutschlands Verbündeten Österreich-Ungarn teilweise zunichte gemacht. Die Gesamtlage bleibt daher prekär. Professor Gerhard Hirschfeld: O-Ton Gerhard Hirschfeld:Es ist ein Bewegungskrieg, der massenhafte Verluste bringt. Ohne deutsche Hilfe hätte Österreich-Ungarn diesen Krieg schon früh aufgeben müssen im Osten. Ein Kriegsfeld sollte man unbedingt noch nennen: Das ist der Krieg gegen Serbien – vor allen Dingen deshalb, weil er von ungeheurer Grausamkeit geprägt ist. Und wir verstehen bis heute nicht bestimmte Reaktionen sozusagen in dem serbischen Gefühlshaushalt, wenn wir nicht wissen, was dort während des Ersten Weltkriegs passiert ist. O-Ton Englischer Gasangriff Erzählerin:So klingt der damalige Versuch, einen Gasangriff akustisch einzufangen. Die neue Waffe wird ab April 1915 eingesetzt – zuallererst von Deutschen. Der Chemie-Krieg – mit Senfgas, Blaukreuz, Chlor und anderen Stoffen – soll wieder Bewegung in das erstarrte Frontgeschehen im Westen bringen. Doch letztlich endet auch diese Eskalation in einem „Gleichgewicht des Schreckens“ und bringt nicht den erhofften Sieg im Völkersterben. Erzähler:Im Westen dauert der Stellungskrieg also an – und was das bedeutet, zeigt das Beispiel Hartmannsweilerkopf. Hier summiert sich die Zahl der Toten, Verwundeten, Invaliden und Kriegsgefangenen in vier Jahren auf etwa 30.000. Dabei geht es nur um wenige hundert Meter Front. Und dafür wird noch dazu ein gewaltiger materieller Aufwand betrieben: Die Soldaten höhlen den Berghang unterhalb der etwa 950 Meter hohen Kuppe mit Bunkern, Unterständen und Gängen regelrecht aus. Die jeweils dreieinhalbtausend Mann auf beiden Seiten, die in vorderster Linie kämpfen, haben Strom, Wasser, Etagenbetten und ein unterirdisches Operationszimmer. Hans-Peter Tombi erläutert das in einem der Stollen: O-Ton Hans-Peter Tombi:Hier in dem Malepartus-Stollen war ein ständiger Arzt. Das heißt, die Schwerverletzten wurden hierher gebracht von der Front durch ein Stollensystem und wurden hier vor dem Weitertransport behandelt. Erzähler:Schauplätze wie Verdun sind berühmter als das Elsass. Doch Experten wie Gerhard Hirschfeld meinen: Noch wichtiger als Verdun, weil typischer, sei das Geschehen an der Somme. Hier, im äußersten Norden Frankreichs steht die Front ebenfalls seit Herbst 1914. Allerdings wollen dort Franzosen und Briten in die Gegenoffensive gehen; nach langer Planung leitet schweres Artillerie-Feuer im Sommer 1916 den Angriff ein: O-Ton Gerhard Hirschfeld:Wenn man sich die Monate 1916, die die Somme-Schlacht umfasste und zwar vom 1. Juli bis etwa 25. November anschaut, so haben wir ein Ausmaß an Vernichtung, das Verdun weit übersteigt. Wir haben etwa 1,3 Millionen Verluste. Sie liegen doppelt so hoch als wie für Verdun.TC 10:37 – Vom Land auf die See MUSIK Erzählerin:Da sich der Sieg in einem Landkrieg nicht erzielen lässt, hoffen Militärführung und Öffentlichkeit in Deutschland bald auf andere Waffen – so auch auf die kaiserliche Marine. Erzähler:Im Krieg selbst zeigt sich jedoch bald: Die deutsche Schlachtflotte ist der britischen Royal Navy weit unterlegen und dümpelt ab 1916 nur noch in den Häfen vor sich hin. Stattdessen konzentriert die Marineführung ihre Anstrengungen nun auf die U-Boot-Waffe. Da britische Schiffe mit einer Seeblockade das Land von der Einfuhr wichtiger Rohstoffe abschneiden, präsentiert die Marine bereits 1914 ein „Handels-U-Boot“, das unter dem Sperr-Riegel wegtauchen kann. Der Kommandant dieses Boots, Paul König, wird ebenfalls zu einer Schallplatten-Aufnahme gebeten: O-Ton Paul König:Dem friedlichen Handel inmitten des Weltkrieges zu dienen und den deutsch fühlenden Herzen drüben in Amerika ein greifbar Zeugnis zu bringen davon, dass Deutschland noch stark in ungebrochener Schaffenskraft besteht und aushalten wird, für seine Ideale und die Freiheit der Meere zu kämpfen, war und wird unsere erste Pflicht sein, auch auf den ferneren Fahrten. Erzählerin:Wichtigste Aufgabe der neuartigen Waffe ist der so genannte „unbeschränkte U-Boot-Krieg“: Handels- und Passagierschiffe auch neutraler Staaten sollen versenkt werden. Februar 1917 setzen sich die Befürworter des „unbeschränkten U-Boot-Kriegs“ in Berlin endgültig durch: Torpedos und Kanonen werden nun auf Schiffe aller Arten und Nationalitäten abgefeuert. Für die USA – politisch bereits lange mit Briten und Franzosen auf einer Linie – bietet das den Anlass, die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich einzustellen und Berlin den Krieg zu erklären. Zwar ist vorher bereits in Afrika und im Nahen Osten gekämpft worden – jetzt aber ist endgültig „Weltkrieg“.TC 12:56 – Kriegsmüdigkeit MUSIK Erzähler: Im November 1916 stirbt Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, der wichtigste Verbündete des Deutschen Reiches. Wenig später scheint ein Friedensschluss in greifbarer Nähe. In den Chroniken finden sich Waffenstillstands- und Friedensangebote – auch von deutscher Seite. Doch die Alliierten lehnen rundweg ab: Man zweifelt an der Ernsthaftigkeit der Absicht. Erzählerin:Spätestens seit diesem Zeitpunkt herrscht in Deutschland ein tiefes Zerwürfnis in der Politik. Konservativ-nationale Kräfte drängen weiterhin auf einen so genannten „Siegfrieden“ mit Gewinnen an Land und Ressourcen. Die Arbeiter und ihre Vertreter dagegen murren: Die ‚kleinen Leute’ spüren die mangelhafte Lebensmittelversorgung im Reich am stärksten – sie haben Hunger, gehen in die Wälder, Kräuter und Beeren pflücken, bekommen Ersatzstoffe, die sie sättigen sollen, und hungern trotzdem weiter. Jede Familie beklagt Gefallene, man ist kriegsmüde. Zumal sich die gesellschaftliche Situation anders entwickelt hat als erhofft: Seit die Generäle Hindenburg und Ludendorff im August 1916 als Chefs der gesamten Heeresleitung eingesetzt worden sind, ist eine Art „Militärdiktatur“ entstanden: Kaiser, Reichskanzler und Parlament haben wenig zu sagen. So verlangen SPD-Abgeordnete im Mai 1917, unter ihnen Philipp Scheidemann, einen Verständigungsfrieden: O-Ton Philipp Scheidemann:Es ist genug. Es wäre ein Glück für ganz Europa, wenn wir schnellstens einen Frieden der Verständigung haben könnten. Erzähler:Auch an den Fronten ist die Kriegsmüdigkeit 1917 nicht mehr zu übersehen: Selbst einfache Soldaten erkennen, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist. So kommt es – zum Beispiel an Weihnachten – zu Verbrüderungen über die Schützengräben hinweg. Dort, wo sich über Monate kaum etwas tut und die Stellungen manchmal nur wenige Meter auseinander liegen wie am Hartmannsweilerkopf im Elsass, braucht es für diese verbotenen Momente aber keine Feiertage. Hans-Peter Tombi berichtet: O-Ton Hans-Peter Tombi:Da werden etliche Überlieferungen weiter getragen, zum Beispiel ein französischer Elsässer, kocht auf der anderen Seite und der Deutsche fragt: Hhhm, das riecht aber heute gut bei Dir drüben! – Und dann fragt der Elsässer: Haste Hunger? – Dann sagt er: Ja natürlich. – Ja, dann komm’ doch rüber. Und dann hat man zusammen gegessen. Das ging natürlich immer so lange gut, bis die Offiziere das gemerkt hatten. Erzählerin:Derartige Anekdoten finden sich immer wieder in verschiedenen Berichten von Truppenteilen und in Feldpostbriefen. Diese Dokumente auf die wahren Kriegserlebnisse hin auszuwerten, ist nicht leicht – denn bestimmte Tabus, wie etwa die Angst vor dem Tod, werden kaum angetippt. Aber eins scheint sicher: Die angebliche „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen wird von vielen im Verlauf des Ersten Weltkriegs überwunden, viele Soldaten sehen sich als Opfer der Politik. TC 16:01 – „Verloren haben wir alle“ O-Ton Amerikanisch-Französisch-Kurs:Have you seen any American soldiers? - …where are our headquarters… I want to find my regiment? – Have you seen the enemy… Can you give me any information about the enemy… we are going to attack… Erzähler:1917 verlegen die USA erste Truppen nach Europa – hier ein Französisch-Sprachkurs für amerikanische Soldaten aus diesem Jahr. Das wirkt sich auf die Kämpfe in Belgien und Nordfrankreich zwar nur allmählich aus: Die Amerikaner haben keine Kampferfahrung und erleiden anfangs große Verluste. Strategisch gesehen aber zerstört der Auftritt der Amerikaner auf dem Schlachtfeld de facto die letzten deutschen Siegeshoffnungen. Gerhard Hirschfeld: O-Ton Gerhard Hirschfeld:Hinter dem Komplex USA verbergen sich ja nicht nur die kriegführenden Truppen. Da ist eine industrielle Macht, da ist eine Kapazität vorhanden, die vor allen Dingen in wirtschaftlicher und auch in moralischer Breite diesen Krieg beeinflussen kann. Und das brachte nicht nur für die kriegführenden Franzosen und Briten einen ungeheuren Aufschwung, sondern eben auch versetzte die Deutschen doch in eine ziemliche Panik. Erzählerin:Das schließt die obersten deutschen Generäle ein. Während im Osten in Folge der russischen Revolution bereits Friede herrscht, wird im Westen noch weitergekämpft. Erst im Sommer 1918 stellen die Deutschen dort ihre letzte Offensive ein, die sie unter Aufbietung aller Kräfte gestartet haben. Die Truppen sehen sich erstmals starken Panzerverbänden gegenüber, denen sie nicht gewachsen sind. Erzähler:Das Deutsche Reich ist besiegt. Es stehen keine weiteren Soldaten mehr zur Verfügung, die Materialvorräte gehen zu Ende und die Bevölkerung ist völlig erschöpft, ausgehungert und ausgezehrt. Der berühmt-berüchtigte Steckrübenwinter, die permanente Mangelwirtschaft und die Verluste an der Front führen zu einer allgemeinen Demoralisierung. Die Weigerung Kieler Matrosen, mit den Schiffen der Schlachtflotte ein letztes Mal auszulaufen, führt Ende Oktober zu Unruhen in den Großstädten. Die Generäle erkennen: Der Krieg ist nicht mehr fortsetzbar. Bereits ein paar Monate zuvor haben Ludendorff und Hindenburg gefordert, über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Nun, am 11. November 1918, wird in Compiegne bei Paris der Waffenstillstand unterzeichnet; zwei Tage zuvor ist Kaiser Wilhelm nach Holland ins Exil geflüchtet. Er wird noch im gleichen Monat abdanken und für alle Zeiten auf den Thron verzichten. MUSIK Erzählerin:Eine Aufnahme von 1996. Raymond Abescat, ein 105-jähriger Kriegsveteran, singt ein Soldatenlied seiner Einheit aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Indiz dafür, wie nachhaltig die Zeugen dieser Zeit von ihr geprägt wurden und dass der Historiker George Kennan recht hatte, als er den Ersten Weltkrieg die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte? Die Zahl der Opfer des Ersten Weltkriegs weltweit wird auf etwa 9,5 Millionen Tote und doppelt so viele Verwundete geschätzt. Allein auf deutscher Seite starben etwa 2 Millionen Menschen, auf französischer 1,3 Millionen. Charles de Gaulle, selbst vor Verdun verwundet und dann Kriegsgefangener in Ingolstadt, bilanzierte die Jahre von 1914 bis 18 später mit dem Satz: „Es gab Sieger und Besiegte, verloren haben wir alle.“TC 19:33 - Outro
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Aug 1, 2024 • 13min

ERSTER WELTKRIEG - Die Schüsse von Sarajewo

Sarajewo, 28. Juni 1914: Schüsse eines Attentäters treffen Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger vonÖsterreich-Ungarn, und seine Gattin Sophie. Einen Monat später stellt sich heraus: Es waren die ersten Schüsse des Ersten Weltkriegs. Die Hintergründe, die zum Ausbruch dieser "Urkatastrophe" führten, sind komplex. Bis heute werden sie intensiv diskutiert. Von Thomas Morawetz (BR 2008) Credits Autor: Thomas Morawetz Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Rainer Buck Technik: Lydia Schön-Krimmer Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Katrin Boeckh, Dr. Peter Helmberger Anmerkung der Redaktion: Prof. Dr. Katrin Boeckh war zum Zeitpunkt des Interviews Historikerin am Osteuropa-Institut in Regensburg. Inzwischen arbeitet sie am Leibniz.Institut für Ost- Und Südosteuropaforschung. Linktipps: ARD alpha (2014): Europas letzter Sommer – Die Julikrise 1914 Am 28. Juni 1914 wird in Sarajewo der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet. International nutzen Diplomaten und Staatslenker das Attentat als Vorwand, die eigene Macht zu vergrößern und alte Rechnungen zu begleichen. In nur wenigen Wochen stürzen Kompromisslosigkeit, Größenwahn und blinder Gehorsam den Kontinent in den bis dato größten Krieg der Menschheitsgeschichte. Das Dokumentarspiel von ARD-alpha aus der Reihe "Vom Reich zur Republik" beleuchtet die Zeit zwischen Attentat und Kriegsausbruch, die rückblickend auch als "Julikrise" in die Geschichte eingegangen ist. Im Fokus stehen dabei die komplexen Motivationen und Entscheidungsfindungen der Staatslenker und Diplomaten Europas. Basierend auf Originaldokumenten führt der Film den Zuschauer durch die Arbeits- und Konferenzzimmer der verschiedenen Machtzentren des Kontinents sowie durch die Clubs und Cafés der Hauptstädte, in denen die Gespräche zwischen den beteiligten Diplomaten stattfanden. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2018): Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajewo   Er war der Mann, der 1914 zur Pistole griff und den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau tötet: Gavrilo Princip, Unabhängigkeitskämpfer der Serben und Kroaten und Gegner der österreichisch-ungarischen Monarchie. Seine Tat löste mit den Ersten Weltkrieg aus. Princip starb am 28. April 1918. ZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 - IntroTC 02:00 – Folgen eines MachtvakuumsTC 05:33 – Die KriegsschuldfrageTC 09:12 – Von der Julikrise bis zum WeltkriegTC 12:29 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - IntroATMO Straßengeräusch SPRECHERINSarajewo, die Hauptstadt Bosniens – Sonntag, der 28. Juni 1914, kurz nach 10 Uhr morgens: SPRECHEREine Fahrzeugkolonne von sechs Autos setzt sich in Bewegung Richtung Innenstadt. Höchster Besuch! Seit wenigen Jahren ist Bosnien ein Teil von Österreich-Ungarn. Im dritten – offenen – Wagen sitzen der Österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie. SPRECHERINAm Ende dieser Fahrt wird sich der Anlass für den Ersten Weltkrieg ergeben haben. Und am Ende des Krieges wird Deutschland dafür die Verantwortung zugesprochen werden. SPRECHERDie Route der Kolonne haben die Zeitungen schon vor Wochen bekannt gegeben. An den Straßen drängen sich die Schaulustigen und Jubelnden. Plötzlich wirft ein junger Mann eine Bombe gegen das Auto des Thronfolgers. Die Handgranate prallt ab und explodiert vor dem nächsten Wagen. Ein Insasse wird schwer verletzt. SPRECHERINVerwirrung. Die Kolonne erreicht das Rathaus, dort fasst man sich wieder. Jetzt will der Thronfolger weiter, direkt ins Hospital zu seinem verletzten Begleiter.SPRECHERWenige hundert Meter vom Rathaus entfernt springt auf einmal ein junger Mann aus der Menge auf. Zwei Schüsse fallen. Der Erzherzog wird in die Halsschlagader getroffen, Sophie in den Unterleib. Der Mitfahrende Graf Harrach sagt später aus: ZITATOR: Mitfahrender HarrachWährend das Auto zurückstieß, spritzte ein dünner Blutstrahl aus dem Munde seiner kaiserlichen Hoheit auf meine rechte Backe. … Den Erzherzog hörte ich dann sagen: `Sopherl, Sopherl, stirb mir nicht, bleibe für meine Kinder´.“ SPRECHERINEs ist zu spät. Die beiden erliegen ihren Verletzungen.TC 02:00 – Folgen eines Machtvakuums MUSIK „Der Balkan: Hexenkessel Europas“ SPRECHERDer Schütze, Gavrilo Princip, ist ein Heißsporn, ein junger bosnischer Student. Er und seine Mitattentäter sind serbische Nationalisten; in Bosnien leben etliche Serben! Für sie ist der Erzherzog nichts anderes als ein verhasster Besatzer. Denn Bosnien – finden die Serben – ist unser! SPRECHERINSerbien – das kleine junge Königreich im Osten von Bosnien – erlebt gerade ein nationales Hochgefühl der Sonderklasse. Wie ein Luftballon bläht sich sein Selbstbewusstsein zwischen zwei alten Großmächten in der engen Region auf: zwischen Österreich und den Osmanen. Denn auf dem Balkan ist alles ins Rutschen geraten. SPRECHERSeit einigen Jahrzehnten sind die Osmanen auf dem Rückzug und hinterlassen ein Machtvakuum. Den Serben ist es deshalb vor kurzem gelungen, sich einen fetten Teil der Beute zu sichern: einen satten Gebietszuwachs und Hoffnung auf mehr! SPRECHERINDenn Serbien träumt von einem jugoslawischen, wörtlich: „südslawischen“ Großreich unter seiner Führung auf dem Balkan. Katrin Boeckh ist Historikerin am Osteuropa-Institut in Regensburg: ZUSP: BOECKHAlso, dieses Südslawische ging davon aus, dass man eben eine kulturelle, eine sprachliche, eine religiöse Gemeinsamkeit aller Südslawen hat, … und dass das eben dazu führen soll, dass man eine politische Einheit unter allen Südslawen herbeiführt. SPRECHERExotisch ist der Gedanke nicht. Überall in Europa ist der Nationalismus modern und aggressiv. Doch gerade der serbische Traum ist brandgefährlich! Denn das Mittelmeer ist eine hoch sensible Region. SPRECHERINÜber das Mittelmeer muss Russland seine lebenswichtigen Getreideexporte abwickeln. Engländer und Franzosen laufen von dort Kolonien in Nordafrika an. Über den Suezkanal führen die Routen in den Indischen Ozean. SPRECHERUnd: Für Österreich-Ungarn geht es auf dem Balkan vielleicht um alles: Die alte Großmacht ist angezählt. Ihr Hauptproblem: 12 Völker leben in ihr – hochexplosiv in nationalistischen Zeiten! Gelingt es nicht, den serbischen Nationalismus zu bändigen, könnte das ganze Reich in die Zentrifuge geraten. SPRECHERINDie Doppelmonarchie sieht nur noch eine Lösung: stärker werden auf dem Balkan! Deshalb hat sie ihrerseits erst vor kurzem Bosnien annektiert – ihre Beute aus dem Türken-Erbe. Der Besuch des Thronfolgers war also tatsächlich eine Art Inspektion auf hoch gefährlichem Gelände. SPRECHERSteckt also Serbien hinter dem Attentat? SPRECHERINSicher scheint heute so viel: Die jungen Heißsporne um Princip hatten Hilfe gesucht für die Durchführung ihres Anschlags. Dabei sind sie an eine serbische Geheimorganisation geraten – die „Schwarze Hand“. Katrin Boeckh: ZUSP. BoeckhAlso, die „Schwarze Hand“ – Crna ruka – ist eigentlich zu charakterisieren im heutigen Sinn als eine terroristische Vereinigung mit militärischem Hintergrund, also, hier spielen Offiziere eine große Rolle. Aber eine direkte Beteiligung der serbischen Regierung für dieses Attentat lässt sich nicht nachweisen. SPRECHERHexenkessel Balkan! Doch was hat Deutschland damit zu tun? Immerhin formuliert nach dem Krieg eine Alliierte Note: Das Deutsche Reich trägt allein die Schuld am Ausbruch des Großen Krieges!TC 05:33 – Die Kriegsschuldfrage MUSIK „Rückblende – Die Großmächte auf dem Weg zur Katastrophe“ SPRECHERINDie so genannte „Kriegsschuldfrage“ gehört zu den am leidenschaftlichsten diskutierten Streitfragen der jüngeren Geschichte. Im engeren Sinn bezieht sie sich auf die jetzt folgenden Julitage nach den Schüssen - dazu gleich. SPRECHERDoch zuerst die weiteren Zusammenhänge: Wie sehen die Machtverhältnisse in Europa aus, dass Deutschland in einen Balkankrieg geraten kann? Noch einmal also die Uhr zurückdrehen; gut 40 Jahre vor das Attentat, ins Jahr 1871, zur Gründung des Deutschen Reichs. Peter Helmberger ist Historiker an der Universität in München: ZUSP. HelmbergerMit dieser Gründung des neuen Deutschen Reiches … gibt es auf dem Kontinent eine große Zentralmacht – erstmals wieder – die von der Größe des Landes wie von der Bevölkerung für alle anderen Mächte erst einmal eine Neuerung darstellt und durchaus auch eine Herausforderung. SPRECHERINWelchen Platz wird also der frisch geschlüpfte Riese im Kreis der Großen finden? Bismarck hat sich die Reichsgründung durch einen Krieg mit Frankreich ertrotzt. Ein Auftakt mit Gewalt. SPRECHERUnd auch schon eine erste Ursache für die spätere Katastrophe: Frankreich wird das nicht vergessen. Und Deutschland weiß daher genau: Es muss sich in Acht nehmen: vor Frankreich und – vor Russland! Denn beide zusammen könnten das junge Reich von Westen und Osten her in die Zange nehmen. Geometrie der Macht. SPRECHERINErste Absicherungsmaßnahmen: 1879 schließt Deutschland mit Österreich-Ungarn den Zweibund der Mittelmächte. Nun würde es am liebsten auch Russland noch ins Boot bekommen. Doch das misslingt während der nächsten Jahre gründlich. SPRECHERMit dramatischen Konsequenzen: Russland findet einen neuen Partner – ausgerechnet Frankreich! Großes Malheur! MUSIK SPRECHERINNächste Etappe, die Jahre ab 1900: Deutschlands Selbstbewusstsein ist ungebrochen. Kaiser Wilhelm II. verkündet neue Ansprüche: Ein „Platz an der Sonne“ muss her! Das heißt: Deutschland will nun auch ins große Kolonialgeschäft einsteigen. Dafür beschließt es den Bau einer mächtigen Schlacht-Flotte. Es ist natürlich eine klare Ansage an die übrigen europäischen Großmächte und in dem Fall insbesondere an die … SPRECHERSeemacht England – Das 19.Jh. war das Jahrhundert des Britischen Empire. Doch nun stößt es weltweit auf starke Konkurrenz: die aufstrebenden USA, auf Russland vom Mittelmeer bis zum Pazifik, auf Frankreich in Afrika! Und jetzt auch noch Deutschland! SPRECHERINWer sind die Guten, wer die Bösen? Es ist die Zeit des Hochimperialismus. Alle Großmächte kämpfen um Kolonien und um weltweite Marktzugänge. Jede Macht ein Hai für sich! Der Neuling Deutschland hofft, die Haie auszuspielen – bis er selbst umkreist wird. SPRECHERLondon versucht, sich Luft zu schaffen. Und tatsächlich: Ein Bündnis mit Frankreich gelingt – die Entente Cordiale. Bald darauf sitzt man auch mit dem Zaren am Tisch. Der Kreis der Entente-Mächte um Deutschland schließt sich. SPRECHERINDie zehn Jahre vor Sarajewo sind nervenaufreibend – eine Krise nach der anderen. England, Frankreich, Russland werden dabei ein immer besseres Team. Der deutsche Kaiser zieht regelmäßig den Kürzeren. Die Stimmung im Reich ist geladen. Was kann man gegen die Einkreisung noch aufbieten? Peter Helmberger: ZUSP HelmbergerUnd dann ist Österreich-Ungarn tatsächlich der einzige Bündnispartner, den man noch hat, den man dann auch nicht schwächen kann. SPRECHERAch ja, der Zweibund von 1879! Der Partner mit den schier unlösbaren Problemen! Durch ihn kommt Deutschland nun anstatt zu einem Platz an der Sonne – zu einem Krieg auf dem Balkan. ATMO Schüsse SPRECHERINDenn nun fallen die Schüsse von Sarajewo. Österreich kocht und will sich an den Serben rächen. Doch die haben einen mächtigen Beschützer für ihre südslawischen Träume: den großen slawischen Bruder – Russland! Der Zar braucht einen festen Stand am Mittelmeer. Was liegt also näher, als den kleinen Bruder zu beschützen?TC 09:12 – Von der Julikrise bis zum Weltkrieg MUSIK„Die Julikrise – 31 Tage bis zu einer Menschheitskatastrophe“ SPRECHERDer Countdown läuft. Die Tage nach dem Attentat heißen „Julikrise“. „Krise“ – denn immer noch gibt es politische Kräfte, die versuchen, am Krieg vorbei zu denken. Aber vor allem den Militärs brennt die Zeit schon auf den Nägeln! SPRECHERINBesonders den Deutschen. Denn Österreich wartet auf Antwort aus Berlin: Wenn Österreich nämlich Serbien angreift, wird zwangsläufig auch Russland in den Krieg eintreten! Alleine hätte Österreich aber gegen Russland keine Chance. Wird Deutschland also zu seinem Bündnispartner stehen? SPRECHERSeit Jahren hat Deutschland einen Plan für einen möglichen Krieg gegen Russland: den Schlieffenplan. Er geht aus vom Zweifrontenkrieg. Das heißt: Russland kann nur besiegt werden, wenn vorher blitzartig auf der Westseite Frankreich bezwungen wird. Erst dann können sich alle Kräfte gegen das langsamere aber viel gewaltigere Russland richten. Die deutschen Generäle fordern also: jetzt oder nie! SPRECHERIN6. Juli: Deutschland gibt Österreich die berüchtigte Blanko-Vollmacht: Jede Reaktion gegenüber Serbien wird gedeckt. Am 28. Juli erklärt Österreich Serbien den Krieg. Die klaren Konsequenzen: Russland macht mobil. Dann erklärt Deutschland dem Zaren den Krieg: 1. August 1914! SPRECHERSchlieffenplanmäßig entfaltet sich das Desaster: Deutschland greift Frankreich an. SPRECHERINAllerdings: Über das neutrale Belgien! Es liegt im Aufmarschgebiet der deutschen Divisionen. Ein klarer Völkerrechtsbruch mit enormen Folgen: Denn jetzt hat auch England einen Grund, um sich auf die Seite seiner Entente-Verbündeten zu schlagen. England erklärt Deutschland den Krieg. SPRECHERDeutschland, der eingekreiste Riese, hat nun endgültig einen schrecklichen Platz im Kreis der Großen gefunden. Es hat Österreich von der Leine gelassen, das neutrale Belgien überfallen und Frankreich angegriffen, damit es letztlich Krieg gegen Russland führen kann – um dadurch Österreich zu helfen. Nach dem Krieg wird es dafür zum Verursacher der Katastrophe erklärt werden. TC 12:29 – Outro
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Jul 11, 2024 • 32min

OMAS TASCHE UND DAS HITLER-ATTENTAT - Das Erbe (4/4)

"Der 20. Juli war der Schicksalstag unserer Familie". Das hat die Oma von Thies Marsen immer wieder behauptet. Und tatsächlich ändert sich nach dem misslungenen Attentat auf Adolf Hitler für das junge Paar alles. Von Thies Marsen (BR 2024)Credits Autor: Thies Marsen Regie: Martin Heindel Es sprachen: Thies Marsen, Maresa Sedlmeir, Sebastian Kempf, Friedrich Schloffer & Peter Veit   Technik: Robin Auld & Roland BöhmSounddesign: Dagmar Petrus  Redaktion: Nicole Ruchlak, Thomas Morawetz & Johannes Berthoud Eine Produktion des BR 2024 von RadioWissen und dem BR StoryTeam Literaturtipp: Sophie von Bechtolsheim, Verlag Herder (2019): Stauffenberg – Mein Großvater war kein Attentäter (Gesprächspartnerin in Folge 4) Linktipps: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Sie ist ein Ort der Erinnerung, der politischen Bildungsarbeit, des aktiven Lernens, der Dokumentation und der Forschung. Mit einer umfangreichen Dauerausstellung, wechselnden Sonderausstellungen und einem vielfältigen Veranstaltungs- und Veröffentlichungsangebot informiert sie über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Gedenkstätte will zeigen, wie sich einzelne Menschen und Gruppen in den Jahren 1933 bis 1945 gegen die nationalsozialistische Diktatur gewehrt und ihre Handlungsspielräume genutzt haben. ZUR WEBSITE Dokumentation Obersalzberg    Die Dokumentation Obersalzberg ist ein Lern- und Erinnerungsort. Sie setzt sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der NS-Diktatur auseinander. Regelmäßige Veranstaltungen, öffentliche Rundgänge und ein umfangreiches Bildungsangebot ergänzen unsere Dauerausstellung. Fachlich betreut wird die Dokumentation Obersalzberg vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUR WEBSITE Bundesarchiv Berlin: Benutzung und Auskunft aus der digitalisierten NSDAP-Mitgliederkartei Recherchen zu einzelnen Personen in der Mitgliederkartei werden auf Antrag durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesarchivs durchgeführt. Nutzerinnen und Nutzer erhalten daraufhin eine entsprechende Auskunft und – sofern vorhanden – Scans der Karteikarten. ZUM ARCHIV Militärarchiv Freiburg ZUM ARCHIV Besonderer Linktipp der Redaktion: 11 KM: der tagesschau-Podcast Geschichten zum Weitererzählen und Recherchen, die bewegen. 11KM ist ein aktuelles Thema in aller Tiefe – spannend, investigativ und hochwertig. Victoria Koopmann und die besten Journalist:innen der ARD nehmen euch mit ins Geschehen, liefern euch neue Perspektiven und tauchen mit euch ab. So steht "11KM" für die rund elf Kilometer, die es hinab geht zum tiefsten messbaren Punkt der Erde im Marianengraben. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Jul 11, 2024 • 27min

OMAS TASCHE UND DAS HITLER-ATTENTAT - Der Anschlag (3/4)

Schon wenige Tage vor dem 20. Juli wollen die Attentäter um Stauffenberg Hitler töten - und zwar bei Berchtesgaden, auf dem Obersalzberg, dem zweiten "Führerhauptquartier". Zur selben Zeit sind ebenfalls in Berchtesgaden: Oma und Opa des Autors. Und eine Tasche, in der die Bombe für das Attentat versteckt ist... Von Thies Marsen (BR 2024)Credits Autor: Thies Marsen Regie: Martin Heindel Es sprachen: Thies Marsen, Maresa Sedlmeir, Sebastian Kempf, Friedrich Schloffer & Peter Veit   Technik: Robin Auld & Roland BöhmSounddesign: Dagmar Petrus  Redaktion: Nicole Ruchlak, Thomas Morawetz & Johannes Berthoud Eine Produktion des BR 2024 von RadioWissen und dem BR StoryTeam Linktipps: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Sie ist ein Ort der Erinnerung, der politischen Bildungsarbeit, des aktiven Lernens, der Dokumentation und der Forschung. Mit einer umfangreichen Dauerausstellung, wechselnden Sonderausstellungen und einem vielfältigen Veranstaltungs- und Veröffentlichungsangebot informiert sie über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Gedenkstätte will zeigen, wie sich einzelne Menschen und Gruppen in den Jahren 1933 bis 1945 gegen die nationalsozialistische Diktatur gewehrt und ihre Handlungsspielräume genutzt haben. ZUR WEBSITE Dokumentation Obersalzberg    Die Dokumentation Obersalzberg ist ein Lern- und Erinnerungsort. Sie setzt sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der NS-Diktatur auseinander. Regelmäßige Veranstaltungen, öffentliche Rundgänge und ein umfangreiches Bildungsangebot ergänzen unsere Dauerausstellung. Fachlich betreut wird die Dokumentation Obersalzberg vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUR WEBSITE Bundesarchiv Berlin: Benutzung und Auskunft aus der digitalisierten NSDAP-Mitgliederkartei Recherchen zu einzelnen Personen in der Mitgliederkartei werden auf Antrag durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesarchivs durchgeführt. Nutzerinnen und Nutzer erhalten daraufhin eine entsprechende Auskunft und – sofern vorhanden – Scans der Karteikarten. ZUM ARCHIV Militärarchiv Freiburg ZUM ARCHIV Besonderer Linktipp der Redaktion: Archivradio – Geschichte im Original   Das Radio: Seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte. Im Podcast „Archivradio – Geschichte im Orignal“ lassen sich so einmalige Momente und Ereignisse der Geschichte – fast wie live – anhören und miterleben. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Jul 11, 2024 • 37min

OMAS TASCHE UND DAS HITLER-ATTENTAT - Der Opa (2/4)

Was hat sein Opa während des Nationalsozialismus gemacht? Thies Marsens Recherchen ergeben: Sein Großvater war ein Karriere-Offizier, der es tatsächlich bis in den Generalstab geschafft hat - in den näheren Umkreis von Hitler. Und er war an Wehrmachtseinsätzen beteiligt, von denen die Oma nie erzählt hat. Von Thies Marsen (BR 2024)Credits Autor: Thies Marsen Regie: Martin Heindel Es sprachen: Thies Marsen, Maresa Sedlmeir, Sebastian Kempf, Friedrich Schloffer & Peter Veit   Technik: Robin Auld & Roland BöhmSounddesign: Dagmar Petrus  Redaktion: Nicole Ruchlak, Thomas Morawetz & Johannes Berthoud Eine Produktion des BR 2024 von RadioWissen und dem BR StoryTeam Linktipps: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Sie ist ein Ort der Erinnerung, der politischen Bildungsarbeit, des aktiven Lernens, der Dokumentation und der Forschung. Mit einer umfangreichen Dauerausstellung, wechselnden Sonderausstellungen und einem vielfältigen Veranstaltungs- und Veröffentlichungsangebot informiert sie über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Gedenkstätte will zeigen, wie sich einzelne Menschen und Gruppen in den Jahren 1933 bis 1945 gegen die nationalsozialistische Diktatur gewehrt und ihre Handlungsspielräume genutzt haben. ZUR WEBSITE Dokumentation Obersalzberg    Die Dokumentation Obersalzberg ist ein Lern- und Erinnerungsort. Sie setzt sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der NS-Diktatur auseinander. Regelmäßige Veranstaltungen, öffentliche Rundgänge und ein umfangreiches Bildungsangebot ergänzen unsere Dauerausstellung. Fachlich betreut wird die Dokumentation Obersalzberg vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUR WEBSITE Bundesarchiv Berlin: Benutzung und Auskunft aus der digitalisierten NSDAP-Mitgliederkartei Recherchen zu einzelnen Personen in der Mitgliederkartei werden auf Antrag durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesarchivs durchgeführt. Nutzerinnen und Nutzer erhalten daraufhin eine entsprechende Auskunft und – sofern vorhanden – Scans der Karteikarten. ZUM ARCHIV Militärarchiv Freiburg ZUM ARCHIV Besonderer Linktipp der Redaktion: Tatort Geschichte – True Crime meets History Bei Tatort Geschichte verlassen Niklas Fischer und Hannes Liebrandt, zwei Historiker von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, den Hörsaal und reisen zurück zu spannenden Verbrechen aus der Vergangenheit: eine mysteriöse Wasserleiche im Berliner Landwehrkanal, der junge Stalin als Anführer eines blutigen Raubüberfalls oder die Jagd nach einem Kriegsverbrecher um die halbe Welt. True Crime aus der Geschichte unterhaltsam besprochen. Im Fokus steht die Frage, was das eigentlich mit uns heute zu tun hat. "Tatort Geschichte" ist ein Podcast von Bayern 2 in Zusammenarbeit mit der Georg-von-Vollmar-Akademie. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Jul 11, 2024 • 28min

OMAS TASCHE UND DAS HITLER-ATTENTAT - Der Auftrag (1/4)

War Oma am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt? Der Autor Thies Marsen ist zunächst sehr skeptisch, als ihm seine Großmutter eröffnet: Sie habe die Aktentasche besorgt, in der Graf von Stauffenbergs Bombe platziert war. Dann taucht er in die Familiengeschichte ein. Was er herausfindet, lässt ihn bis heute nicht los. Von Thies Marsen (BR 2024)Credits Autor: Thies Marsen Regie: Martin Heindel Es sprachen: Thies Marsen, Maresa Sedlmeir, Sebastian Kempf, Friedrich Schloffer & Peter Veit   Technik: Robin Auld & Roland BöhmSounddesign: Dagmar Petrus  Redaktion: Nicole Ruchlak, Thomas Morawetz & Johannes Berthoud Eine Produktion des BR 2024 von RadioWissen und dem BR StoryTeam Linktipps: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Sie ist ein Ort der Erinnerung, der politischen Bildungsarbeit, des aktiven Lernens, der Dokumentation und der Forschung. Mit einer umfangreichen Dauerausstellung, wechselnden Sonderausstellungen und einem vielfältigen Veranstaltungs- und Veröffentlichungsangebot informiert sie über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Gedenkstätte will zeigen, wie sich einzelne Menschen und Gruppen in den Jahren 1933 bis 1945 gegen die nationalsozialistische Diktatur gewehrt und ihre Handlungsspielräume genutzt haben. ZUR WEBSITE Dokumentation Obersalzberg    Die Dokumentation Obersalzberg ist ein Lern- und Erinnerungsort. Sie setzt sich mit der Geschichte des Obersalzbergs und der NS-Diktatur auseinander. Regelmäßige Veranstaltungen, öffentliche Rundgänge und ein umfangreiches Bildungsangebot ergänzen unsere Dauerausstellung. Fachlich betreut wird die Dokumentation Obersalzberg vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUR WEBSITE Bundesarchiv Berlin: Benutzung und Auskunft aus der digitalisierten NSDAP-Mitgliederkartei Recherchen zu einzelnen Personen in der Mitgliederkartei werden auf Antrag durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesarchivs durchgeführt. Nutzerinnen und Nutzer erhalten daraufhin eine entsprechende Auskunft und – sofern vorhanden – Scans der Karteikarten. ZUM ARCHIV Militärarchiv Freiburg ZUM ARCHIV Besonderer Linktipp der Redaktion: BAYERN 3 True Crime – Unter Verdacht Wer wird hier zu Recht, wer zu Unrecht verdächtigt? Was, wenn Menschen unschuldig verurteilt werden und ihnen niemand glaubt? Oder andersherum: Wenn der wahre Täter oder die wahre Täterin ohne Strafe davonkommen? In der 7. Staffel des erfolgreichen BAYERN 3 True Crime Podcasts sprechen Strafverteidiger Dr. Alexander Stevens und BAYERN 3 Moderatorin Jacqueline Belle über neue spannende Kriminalfälle. Diesmal geht es um Menschen, die unter Verdacht geraten sind. Wer ist schuldig? Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Und werden am Ende immer die Richtigen verurteilt? ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Jul 5, 2024 • 23min

VORSTÖSSE - Pickelhaube und Kokosnuss

Wer auf der Südsee-Insel Samoa einen Blick ins Telefonbuch wirft, kann sich auf eine Überraschung gefasst machen. Nachnamen wie Keil, Thieme und Retzlaff zeugen von einer Zeit, die in Deutschland fast vergessen ist: Einen "Platz an der Sonne" suchte das Deutsche Reich auch auf Neuguinea, Samoa und anderen Südseeinseln. Die deutsche Kolonialzeit in der Südsee ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz der Geschichte. Von Klaus Uhrig (BR 2014) Credits Autor: Klaus Uhrig Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel, Jerzy May Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Joseph Hiery Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: WDR (2023): Die deutsche Kolonialzeit – Was wir heute über sie wissen Am Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das Deutsche Reich zu den Kolonialmächten Europas. Mit mörderischer Brutalität unterdrückten deutsche Kolonialherren die Bewohner der besetzten Länder. Ein düsteres Geschichtskapitel, über das bis heute noch wenig bekannt ist. JETZT ANSEHEN Das Kalenderblatt (2011): Deutsch-Neuguinea wird reguläre Kolonie (01.04.1899) Der 1. April 1899 bedeutete für die Papua-Bevölkerung den Anbruch einer neuen Zeit, denn Deutsch-Neuguinea wurde reguläre Kolonie des Deutschen Reichs. Bis heute ist es schwer, die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung vor der Kolonisierung zu rekonstruieren. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:MUSIK Erzählerin:Ob seine melanesischen Diener Otto Ehlers wirklich aufgegessen haben, das lässt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Unwahrscheinlich ist es aber nicht. Im tiefen Dschungel Neuguineas gibt es keine großen Tiere, die man jagen könnte und überhaupt kaum Nahrungsquellen. Wem hier die Vorräte ausgehen, den könnte so ein wohlgenährter Deutscher schon in Versuchung bringen. MUSIK ENDE Erzähler:Vielleicht haben sie ihn auch einfach nur erschossen, weil sie genug von seinen abstrusen Plänen hatten. Einmal die größte Insel der Südsee von Norden nach Süden durchqueren, zu Fuß, durch den unerforschten, dichten Dschungel. Das wäre selbst heute eine Schnapsidee. Im Jahre 1895 ist es der reinste Selbstmord. Erzählerin:Obendrein lässt sich Ehlers auch noch eine Kiste Gold und ein Stahlrohrbett durch den Urwald tragen. Ein zivilisierter Forschungsreisender schläft doch nicht in der Hängematte. Was er allerdings mit dem Gold vorhatte …. keine Ahnung. Erzähler:Klar ist nur: Ehlers kommt nie auf der Südseite der Insel an. Von seinen 40 Dienern überleben nur 22. Und als der deutsche Landeshauptmann von Neuguinea, Curt von Hagen, später die Mörder stellen will, wird auch er im Urwald erschossen. Erzählerin:Spätestens jetzt reibt sich wohl so mancher in der Heimat verwundert die Augen: Was genau wollten wir noch mal auf diesen gottverlassenen Dschungel-Inseln? MUSIK Erzähler:Ja genau, was eigentlich? MUSIK Erzählerin:Das deutsche Kolonialreich in der Südsee wirkt erst mal wie eine Randnotiz der Geschichte. Ein Kuriosum. Reichsdampfer am Korallenriff. Kuckucksuhr an der Kokospalme. Vielen Deutschen ist bis heute völlig unbekannt, dass das Deutsche Reich Kolonien im Südpazifik hatte. Also ein paar ganz kleine Kolonien. Erzähler:Die Inseln der Südsee sind der letzte weiße Fleck auf den Landkarten der Europäer. Erst im 18. Jahrhundert entdecken Handelsschiffe und Weltreisende die weitläufigen Inselreiche im Südpazifik – von den Hawaii-Inseln im Norden, über die winzigen Atolle Mikronesiens, bis hin zu den polynesischen Inselgruppen Tahiti und Samoa. Paradiesische Eilande – und dazwischen: Tausende Meilen offene See. Erzählerin:Bald stecken Engländer und Franzosen ihre Claims ab, Spanier, Holländer, Portugiesen, Amerikaner. Jeder will ein Stückchen vom Paradies abhaben. Und die Deutschen? O-Ton Joseph Hiery:Das ist ne durchaus interessante Geschichte: Was machten die Deutschen da in der Mitte des 19. Jahrhunderts?Erzählerin:Professor Joseph Hiery ist einer der wirklich seltenen Südsee-Kolonial-Experten, die es in Deutschland gibt. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Historiker von der Universität Bayreuth mit diesem Thema; diesem kolonialen Spezialfall, der so ganz anders verlief, als die Kolonisierung Afrikas. O-Ton Joseph Hiery:Kolonialismus bedeutet normalerweise, dass eine christliche Mission zuerst kommt, und dann übernimmt der koloniale Staat. Das haben wir häufig auch in der Südsee. Bei den Deutschen hat die Mission nie eine Rolle gespielt für die Kolonialisierung in der Südsee. Eine Mission kam erst, nachdem das Kolonie war, aber der Handel, der Handel, wenn man will, das Geld. Erzähler:Statt Soldaten oder Priester sind es nämlich deutsche Händler, die sich zuerst in die Südsee vorwagen. Und Walfänger. Zu diesem Zeitpunkt ist Waltran eine unersetzliche Ressource – vor allem für die Kerzenherstellung, elektrisches Licht gibt es ja noch nicht. Und die größten Walherden durchstreifen in dieser Zeit eben den Südpazifik. Erzählerin:Immer wieder lassen sich deutsche Matrosen auf den paradiesisch wirkenden Eilanden nieder. Diese sogenannten „Beachcomber“ gründen Familien mit einheimischen Frauen und gehen ganz in der Kultur der Einheimischen auf. O-Ton Joseph Hiery:Und dann kam von Südamerika Mitte des 19. Jahrhunderts ein deutscher Geschäftsmann, der in Valparaiso Geschäfte machte für ein deutsches Handelshaus, und kam nach Samoa und fand vor Ort auf fast jeder Insel einen Deutschen. Und das waren so die geborenen Agenten für seine Handelstätigkeit, denn über diese gemeinsame Zugehörigkeit, es gab ja noch keinen deutschen Nationalstaat, aber über die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, lag es nahe, die mit Geschäften zu beauftragen. Das Wirtschaftsunternehmen wuchs. Und das fiel dann zufällig mit der Zeit in die Reichsgründung durch Bismarck hinein. Dann kam die Idee: Na ja, da, wo die Engländer noch nicht sind, da setzen wir uns ein. Schützen eigentlich die Wirtschaftsinteressen. MUSIK Erzähler:Im November 1884 hisst Otto Finsch, der sogenannte „Forschungsagent des Neuguinea-Konsortiums“, im fernen Nordosten Neuguineas die erste deutsche Flagge in der Südsee. Bis Ende Dezember reklamieren verschiedene Kapitäne dazu noch zahlreiche umliegende Inseln für das Deutsche Reich, und dazu die – Zitat – „unbestritten herrenlosen“ Archipele der Marshall-, Providence- und Brown-Inseln. Erzählerin:Wobei „unbestritten herrenlos“ sich natürlich nur auf weiße Kolonialherren bezieht. Die Inseln sind alles andere als unbewohnt. Aber die dunkelhäutigen Melanesier und Mikronesier werden von der Kolonial-Ideologie der Zeit bestenfalls als „edle Wilde“ gesehen – aus der Zeit gefallene Steinzeitvölker, die es zu zivilisieren gilt. Erzähler:Wohlgemerkt: Es sind Handelskapitäne, die die deutsche Flagge hissen. Deutsche Kolonie wird Nordost-Neuguinea erst 15 Jahre später. Bis dahin steht dieses sogenannte „Kaiser-Wilhelm-Land“ zwar unter dem Schutz des Reiches. Doch die  Verwaltung liegt in den Händen der privaten „Neuguinea-Kompagnie“ – ein Konsortium aus Berliner Bankiers und Finanzinvestoren. Erzählerin:Lange bleibt das Schutzgebiet die einzige deutsche Besitzung in der Südsee. Deutsche Missionare versuchen, den äußerst unwilligen Melanesiern ihre Religion nahezubringen und ihnen den unter wahren Christenmenschen dann doch eher verpönten Kannibalismus auszureden. Deutsche Unternehmer gründen Kokos-Plantagen und deutsche Verwaltungsbeamte geben den melanesischen Inseln anständige deutsche Namen: Neupommern. Neubrandenburg. Bismarck-Archipel. Erzähler:Dann, Ende der 1890er Jahre, können die Deutschen ihr Kolonialreich noch einmal entscheidend erweitern. Von den schwächelnden Spaniern kauft man für 25 Millionen Peseten Palau, sowie die Marianen- und Karolineninseln. MUSIK Erzählerin:Und schließlich fällt der Blick der Deutschen auf ein mögliches Juwel in der kolonialen Perlenkette: das Polynesische Samoa. Ein Archipel aus wunderschönen Inseln, ein zweites Hawaii sozusagen. Offiziell noch keine Kolonie, wirtschaftlich gesehen aufgeteilt zwischen deutschen, englischen und amerikanischen Interessen. Erzähler:An dieser Stelle kommt wieder Otto Ehlers ins Spiel. Der exzentrische Reisende mit dem Stahlrohrbett, der einige Zeit später im Dschungel Neuguineas mutmaßlich ein unrühmliches Ende als Abendessen finden wird. MUSIK ENDE Erzählerin:1894 ist eben dieser Otto Ehlers noch wohlauf, und widmet sich fleißig seinem liebsten Hobby, der Fernreise. Genauer gesagt: Der patriotischen Fernreise. Joseph Hiery: O-Ton Joseph Hiery:Ja, also Otto Ehlers ist so ein deutscher Dandy-Reisender, der relativ wohlhabend ist, wohl nichts arbeitet, weil er so viel Geld hat, und meint, er müsse die Welt sehen und dann auf den Spuren der deutschen Flaggenhissungen in die Welt reist und als erster da sein will, wenn da die deutsche Fahne gehisst wird. Und glaubt, er kommt nach Samoa, und die deutsche Fahne wird gehisst, und er kann da Beifall klatschen. Erzähler: In dieser Hinsicht ist Samoa eine Enttäuschung für Ehlers: Das Deutsche Reich denkt zunächst gar nicht daran, auf Samoa irgendeine Fahne aufzuziehen. Zu fragil scheint das Mächtegleichgewicht mit Amerikanern und Engländern. Zu unsicher der Nutzen eines solchen Unternehmens. Erzählerin:Dass sich das keine fünf Jahre später ändert, ist dann allerdings wohl auch Ehlers zu verdanken. Genauer gesagt: Dem Buch, das Ehlers nach seiner Rückkehr nach Deutschland schreibt: Samoa – Perle der Südsee. MUSIK Zitator Ehlers:Im Westen tauchte die matt leuchtende Scheibe des Vollmonds in die Wogen, während im Osten ein rosiger Schein das Nahen der Sonne verkündete. Und in diesem zauberhaften Zwielicht aus opalfarbig schillernder Flut sich erhebend, lag vor mir, vom Fuße zum Gipfel in dem üppigen Tropengrün prangend, die Insel Upolu. Wo soll ich armer Reisender Worte hernehmen, den wunderbaren Reiz dieses Bildes zu schildern, wie in trockener Prosa den Zauber eines lyrischen Gedichts, den Duft eines Blütenstraußes wiedergeben. MUSIK ENDE Erzähler:Zusammengefasst: Die Samoa-Inseln sind das reinste Paradies. In ihm leben besonders edle und schöne Menschen mit bronzefarbener Haut – kein Vergleich zu anderen Wilden. Und die Deutschen sollten sich diese Inseln unbedingt holen, bevor jemand anders schneller sein könnte. Erzählerin:Eine exotistische Schwärmerei eben. In einer an Schwärmereien nicht eben armen Zeit. Nichts Besonderes, dieser Bericht – könnte man meinen. Doch dann wird Ehlers‘ Reisebericht überraschend zum Bestseller. O-Ton Joseph Hiery:Und dann wird das im Reichstag zitiert in der Debatte, ob man Samoa Geld geben soll. Das Geld sei doch alles ins Meer geschmissen, argumentieren die Linksliberalen und die Sozialdemokraten, Taifun geht regelmäßig darüber, alles geht wieder kaputt. Und dann zitiert damals der Gouverneur Deutsch-Neuguineas das Buch – ja und: Das müssen sie doch kennen! Wie toll! Und wir haben solche prächtigen Menschen da. Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Deutschen, diese prächtigen Menschen zu schützen vor den bösen Franzosen, den bösen Engländern, den bösen Amerikanern und keiner kann’s so gut machen wie wir! Erzählerin:Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das Argument, das schließlich den Reichstag zur Bewilligung der Gelder für eine Kolonie bringt, ist nicht etwa das deutsche Handelsinteresse, und auch kein militärisches Kalkül. Es ist der ebenso arrogante wie naive Wunsch, den edelsten aller edlen Wilden vor der Inkompetenz der anderen Kolonialmächte zu schützen. Erzähler:Diese Reichstagsdebatte ist dabei alles andere als eine besonders kuriose Episode innerhalb des deutschen Kolonialbetriebs. Sie ist vielleicht der Schlüssel zu dem, was in den nächsten Jahren entstehen sollte: der „Sonderfall Samoa“, die mit Abstand ungewöhnlichste aller deutschen Kolonien. O-Ton Joseph Hiery:Zunächst einmal ist’s ein, wenn man so will, klingt merkwürdig, ein positiver Rassismus hier zu erkennen. Das heißt, das Kolonialamt und seine Vorläuferbehörde im Auswärtigen Amt haben mal festgelegt, die Südsee-Insulaner sind anders zu behandeln als die Afrikaner. Erzähler: Konkret heißt das: keine Prügelstrafe. Keine Eisenkette. Keine Sklavenarbeit auf den Plantagen wie in den deutschen Kolonien in Afrika. Erzählerin:Zumindest nicht für die Samoaner. Bei den deutlich dunkelhäutigeren Bewohnern Neuguineas ist die Kolonialverwaltung weniger zimperlich. O-Ton Joseph Hiery:Bei den Samoanern heißt es dann sogar: Das sind eigentlich Arier. Die sind mit uns verwandt. Und vielleicht jetzt nicht so ganz auf unserer Stufe, aber da bringen wir sie ja da hin. Und sie sind alle besser als die anderen, die da rumwohnen. Erzähler:Samoa wird eine Art Modell-Kolonie. Aber nicht im Sinne einer effizienten Ausbeutung, ganz im Gegenteil. Gouverneur wird Wilhelm Solf, ein Bürgerssohn und Schöngeist, der in der Heimat zunächst Literatur und Sanskrit studiert hatte. Erzählerin:Solf lässt die gesellschaftlichen Strukturen der Samoaner weitgehend weiterbestehen – unter deutscher Oberherrschaft, versteht sich. Und versucht, sich ansonsten möglichst wenig in ihre Angelegenheiten einzumischen. Während sich andere Kolonialbeamte verwundert die Augen reiben, verkündet Solf: Eigentlich sei doch Samoa primär das Land der Samoaner. Joseph Hiery: O-Ton Joseph Hiery:Während es Deutsch-Neuguinea hieß und Deutsch-Westafrika und Deutsch-Südwestafrika, hieß das Samoa, es hieß nicht Deutsch-Samoa offiziell, und die Deutschen, die da waren, mussten gemäß Diktion des Gouverneurs „Fremde“ genannt werden. Erzähler:Vielleicht trägt diese Haltung der Deutschen zu der Souveränität bei, mit der die Samoaner auf die koloniale Situation reagieren: Sie bewahren, was sie bewahren wollen, und nehmen begierig alles auf, was ihre Lebenssituation verbessern könnte. Erzählerin:Vor allem in der Medizin und der Landwirtschaft sind die Deutschen den Samoanern so weit voraus, dass jedes Dorf einen riesigen Vorteil hat, wenn ein Weißer dort lebt. Möglicherweise liegt darin auch die Ursache für den phänomenalen Erfolg der christlichen Missionare bei den Samoanern. O-Ton Joseph Hiery:Die wollten Weiße haben – sag ich jetzt mal platt – weil der „Besitz“ eines Weißen aus einheimischer Sicht bedeutete Zugriff auf dessen Wissen und die Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse. Und den, den man am ehesten haben konnte, der länger da blieb, das war ein Priester oder ein Pastor. MUSIK Erzähler:Während in Samoa einzelne Dörfer regelrecht darum kämpfen, wer denn nun einen Missionar bekommen würde, führen deutsche Missionare auf der melanesischen Insel Neupommern über 4.000 Kilometer westlich von Samoa einen ganz anderen Kampf. MUSIK ENDE Erzählerin:Den ums nackte Überleben. MUSIK Erzähler:Am 13. August 1904 richten Melanesier vom Volk der Baining unter den katholischen Missionaren der Missions-Station St. Paul ein Massaker an. Der fieberkranke Missionschef Pater Rascher wird im Bett liegend erschossen, die Missionsschwester Angela am Fuß des Altars mit einer Axt erschlagen. Erzählerin:Was war geschehen? Woher kam dieser grenzenlose Hass? MUSIK ENDE Erzähler:Den hatten sich die Missionare wohl weitgehend selbst zuzuschreiben. St. Paul war keine einfache Missionsstation. Hier sollte eines von vielen sogenannten „Christendörfern“ entstehen, in denen umerzogene Melanesier ein christliches Leben führen sollten – völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Kultur, die die Missionare regelrecht verteufelten. Vor allem den allesbestimmenden Ahnenkult der Melanesier wollten die Missionare rigoros ausmerzenErzählerin:Pater Raschert hatte sogar das erste Gebot extra für seine melanesischen Schäfchen umgeschrieben. Zitator Pater Raschert:Ich bin der Herr, dein Gott – du sollst keinen Totenkult treiben! Erzählerin:Hinzu kam die strenge Sexualmoral – den Melanesiern völlig fremd – und ihre rigide Durchsetzung mit Prügelstrafen und Predigten vom Höllenfeuer – sowie ein völliges Unverständnis der Missionare für die politischen Verhältnisse unter den Einheimischen. MUSIK Erzähler:Als die Gewalt schließlich nach einer besonders brutalen Prügel-Orgie in der Missionsstation eskaliert, sind kurze Zeit später alle zehn deutschen Missionare von St. Paul tot. Erzählerin.Es ist eine ganz ähnliche Gemengelage aus Arroganz, Selbstherrlichkeit und der unseligen Prügelstrafe, die sechs Jahre später zum größten Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in der Südsee führt. Ort des Geschehens: Ponape, eine mikronesische Insel, auf der fünf Völker in winzigen Stammes-Staaten leben. Erzähler:Am 18. Oktober 1910 wird Gustav Boeder, Leiter des Verwaltungsbezirks Ostkarolinen, durch einen Gewehrschuss in den Bauch niedergestreckt und von einem aufgebrachten Einheimischen schließlich durch einen weiteren Schuss in den Kopf getötet (MUSIK ENDE). Auch zwei weitere deutsche Kolonialbeamte und fünf Mikronesier in deutschen Diensten werden von Aufständischen ermordet, die allesamt dem Volk der Sokehs angehören. Ein Blutvergießen mit Ansage. Erzählerin:Auf Ponape gibt es da bereits seit einigen Jahren große Spannungen zwischen einzelnen Völkern der Insel und den deutschen Kolonialherren. Sie beginnen im Jahr 1901, als der äußerst diplomatische und friedliebende Gouverneur Hahl abberufen und durch Victor Berg ersetzt wird. Berg hatte zuvor in den deutsche Kolonien in Afrika gedient - wo ein deutlich brutaleres Kolonialregime geführt wurde. Erzähler:Bereits 54 Tage nach seiner Ankunft schickt Berg ein Memorandum nach Berlin, in dem er die „energische wirtschaftliche Erschließung“ der Insel fordert und für den Fall eines Aufstandes eine „schonungslose Strafexpedition“ vorschlägt. MUSIK Erzählerin:1907 schändet Berg persönlich eine Grabstätte, als er im Auftrag des Leipziger Völkerkundemuseums Ausgrabungen vornimmt. Einen Tag später stirbt Berg. Sonnenstich, sagt der Arzt. Die Rache der Geister, sagen die Ponapesen. Erzähler:Es folgt eine Zeit der Unruhe. Lange bleibt der Posten vakant. Gouverneur eines potentiellen Pulverfasses am Ende der Welt zu werden, ist für deutsche Beamte nicht unbedingt ein Traumjob (MUSIK ENDE). Schließlich wird Gustav Boeder Inselchef. Wie Berg ist auch er Afrika-erprobt. Und ein großer Freund der Prügelstrafe. Joseph Hiery:O-Ton Joseph Hiery:Der hat gemeint, er müsse hier afrikanische Methoden einführen. Daraufhin hat eine Ethnie, oder wie wir deutsch sagen: Stamm, revoltiert und es gab einen Aufstand. Der hat allerdings nur diese eine Ethnie betroffen. Das ist ohnehin schon ne kleine Insel mit sehr vielen anderen Ethnien, die haben sich nicht dem angeschlossen. Erzählerin:Die völlig überrumpelten Deutschen verschanzen sich nach dem Beginn des Aufstands in ihrer Hauptstadt Kolonia und fordern Hilfe aus der Heimat an - die nach langen Wochen des zermürbenden Wartens tatsächlich auch kommt. O-Ton Joseph Hiery:Das Kaiserreich hat relativ brutal reagiert – Schiffe hingeschickt und dann die Aufständischen exekutiert, die Ethnie weggebracht von der Insel auf ne andere Insel exiliert, wenn man so will. MUSIK Erzähler:Es bleibt die einzige größere Kriegsaktion der Deutschen in der Südsee. Das allerdings liegt vielleicht auch daran, dass die Zeit des deutschen Kolonialreiches vier Jahre später schon wieder vorüber ist. MUSIK ENDE Erzählerin:Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, sind die Deutschen in der Südsee völlig chancenlos. Und das Reich denkt gar nicht daran, die dann doch ziemlich unbedeutenden Kolonien zu unterstützen. Kämpfe gibt es nur – ganz kurz – auf Neuguinea, das aber innerhalb von kürzester Zeit von australischen Truppen eingenommen wird.Erzähler:Auf Samoa ergeben sich die deutschen kampflos einer neuseeländischen Flotte. Die Neuseeländer – als sogenanntes britisches „Dominion“ selbst noch eine halbe Kolonie – übernehmen die Kolonialverwaltung. Erzählerin:Dabei stellen sie sich so ungeschickt und arrogant an, dass sie innerhalb von kürzester Zeit die Ablehnung der einheimischen Samoaner provozieren. Erzähler:Als die Neuseeländer 1918 ein Seuchenschiff im Hafen von Apia anlegen lassen, stirbt ein Drittel der gesamten Bevölkerung an der spanischen Grippe. Spätestens jetzt setzt auf Samoa eine Verklärung der deutschen Herrschaft ein. Im Gegensatz zur neuseeländischen Verwaltung sei das „die gute alte Zeit“. O-Ton Joseph Hiery:Als ich da hinkam, lebten ja noch Leute, ich hab viele befragt aus der deutschen Kolonialzeit. Und dann hört man dann Stereotype, die positiv sind über Deutsche. Die haben die besten Ärzte und so weiter und so weiter. Das ist relativ stark verankert, aber im Kontrast zur Erfahrung mit den Neuseeländern. MUSIK Erzählerin:Deutschland und die Südsee – das bleibt ein kurzes Abenteuer. Allzu prägend ist die deutsche Zeit für viele der Kolonien nicht. Dazu ist die Kolonialzeit zu kurz und die Zahl der Deutschen zu gering. Zu keinem Zeitpunkt leben viel mehr als 4.000 von ihnen in der Südsee. Erzähler:Allerdings: Wenn man genau hinsieht, kann man schon noch einige deutsche Einflüsse erkennen. Zum Beispiel in der Mischsprache „Tok Pisin“, die heute noch in Papua-Neuguinea gesprochen wird. In ihr finden sich zahlreiche, häufig verfremdete, deutsche Lehnworte – „spaisesima“ zum Beispiel, also „Speisezimmer“. Oder, selbsterklärend: „saiskanake“. MUSIK ENDE Erzählerin:Den stärksten Einfluss hatte Deutschland sicherlich auf Samoa. In Apia steht bis heute ein Gerichtsgebäude im Kolonialstil, es gibt eine zu deutscher Marschmusik paradierende Polizei-Kapelle und eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes – ehemaliger Vizepremier und Autor eines eher mäßigen Liebesromans – hört auf den illustren Namen Misa Telefoni Retzlaff... Erzähler:… wobei Misa ein traditioneller Samoanischer Würdentitel ist, und der Retzlaff von seinem Großvater Erich Retzlaff stammt, einem deutschen Kolonialbeamten. Telefoni schließlich heißt die ganze Familie ehrenhalber, (MUSIK: C1205330 012 [00‘43‘‘]) seitdem eben jener Erich Anfang des 20. Jahrhunderts in Samoa das Telefon eingeführt hatte. Erzählerin:Und was wurde eigentlich aus Wilhelm Solf, dem deutschen Gouverneur Samoas? Erzähler:Der wird 1918 kurz deutscher Außenminister, 1920 dann schließlich deutscher Botschafter in Tokio. Dort erreicht ihn 1923 ein Brief aus Samoa. Ob es nicht irgendwie möglich wäre, dass er zurückkäme und wieder Gouverneur in Apia werde. Noch heute hat Solf in Samoa einen ausgezeichneten Ruf.MUSIK Erzählerin:Gustav Boeder dagegen, der prügelnde Inselchef Ponapes, hat da wohl andere Spuren in der Erinnerung hinterlassen. 1983 stürzen Unbekannte seinen Grabstein um und schänden seine letzte Ruhestätte.
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Jul 5, 2024 • 22min

VORSTÖSSE - Entdecker ohne Ruhm

Alle großen Entdeckungsreisenden von Kolumbus über Humboldt und Cook hatten einheimische Begleiter. Ohne die Leistungen der indigenen Helfer wären die großen europäischen Forschungsexpeditionen nie gelungen. Und auch unter den indigenen Helfern gab es natürlich Menschen mit Forscherdrang und Entdeckergeist. Auch wenn sie nie so berühmt wurden, wie ihre europäischen Kollegen. Von Sabine Straßer (BR 2018) Credits Autorin: Sabine Straßer Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Benedict Schregle, Katja Schild Technik: Peter Urban Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Volker Matthies, Dr. Detlev Quintern, Prof. Dr. Fuat Sezgin, Prof. Thomas Höllmann, Dr. Moritz von Brescius Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: funk (2018): Mount Everest – Klettern für die Träume anderer am höchsten Berg der Welt Jedes Jahr ziehen hunderte Bergsteiger und Abenteuerlustige los, um sich ihren Traum vom Mount Everest zu erfüllen. Einmal auf dem Dach der Welt stehen – eine lukrative Touristenattraktion für den kleinen Himalaya-Staat Nepal, eines der ärmsten Länder der Welt. Doch was auf der einen Seite Arbeitsmöglichkeiten für die lokalen Bergführer und Träger – die Sherpas – bedeutet, bringt auf der anderen Seite lebensbedrohliche Risiken für sie mit. Dennis und Patrick Weinert sind zum Everest Base Camp getrekkt und haben mit Bergsteigern, Sherpas und ihren Familien gesprochen, um herauszufinden, was passiert, wenn nicht jeder vom Everest zurückkehrt. JETZT ANSEHEN Terra X (2022): Die größten Irrtümer des Christoph Kolumbus Kolumbus entdeckte im Jahr 1492 Amerika - zumindest aus europäischer Sicht. Doch begeisterten sich die Menschen seiner Zeit für sein Vorhaben? Und hat er ich bei der Routenplanung verrechnet? Zum Film mit Christoph Kolumbus größten Irrtümern geht es HIER  Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:Zitator:„Christoph Kolumbus, spanisch Cristóbal Colón, geboren um 1451 in der Republik Genua, gestorben 1506 in Valladolid, war ein spanischer Seefahrer in kastilischen Diensten, der im Jahr 1492 Amerika entdeckte, als er eine Insel der Bahamas erreichte.“ (Wikipedia) Zitatorin:1492! Das Jahr der Entdeckung Amerikas! Zusp.1 Quintern:Kolumbus hat Amerika entdeckt,.. ja...(lacht). Ich denke, Kolumbus steht für die nach wie vor anhaltende Mythenbildung eurozentristischer Provenienz, im Hinblick auf eine sogenannte Entdeckungsgeschichte. Meiner Meinung nach war er in erster Linie ein Eroberer, ein Konquistador. wir wissen beispielsweise, dass er als Pirat tätig war und Schiffe der Maya überfallen und geplündert hat. Also, ich denke, es bedarf einer Neuschreibung des Kolumbus in der Geschichte. (0:40) Sprecherin:Sagt Detlev Quintern, Islamwissenschaftler, Historiker und Direktor für Lehre und Entwicklung an der Fuat Sezgin Research Foundation for the History of Science in Islam in Istanbul. Ein Institut, an dem unter anderem zu der Frage geforscht wird, wie sehr die europäischen Entdecker sich auf Erkenntnisse arabischer Wissenschaftler gestützt haben. Denn: die Araber konnten schon Jahrhunderte vor den Europäern Längen- und Breitengrade ermitteln und brauchbare Karten zeichnen. Aber dazu später. Zunächst steht fest: Kolumbus war in Amerika nicht alleine. Der Kontinent, den er zeitlebens für Indien hielt, war zur Zeit seiner sogenannten „Entdeckung“ bereits vollständig bewohnt. Sprecher:Kolumbus traf auf der Bahamas-Insel Guanahani, wie sie von den Einheimischen genannt wurde, das Volk der Arawak. Sie haben dem fremden Spanier und dessen Besatzung wohl gezeigt, was man auf ihrer Insel essen konnte und was nicht. Wo man gefahrlos sein Lager aufschlagen konnte. Vermutlich auch, wie man von ihrer Insel auf andere Inseln kam. Meeresrauschen? Atmo? Musikakzent? Sprecherin:Die sogenannte Entdeckungsgeschichte der Welt müsste dringend umgeschrieben werden, findet auch der Politik- und Kulturwissenschaftler Prof. Volker Matthies von der Universität Hamburg. Zusp. 2 Matthies:Es handelt sich um eine Heldengeschichte, die Entdecker wurden gesehen als omnipotente Heroen, als Helden, die nicht der Hilfe der Einheimischen bedurften, um ihre Ziele zu erreichen, das war aber nicht der Fall. Diese Entdecker waren oft ganz jämmerliche Gestalten, die lebensnotwendig auf die Unterstützung indigener Begleiter angewiesen waren. (0:27) Musik-Akzent Sprecher:Christoph Kolumbus schrieb über das indigene Volk auf den Bahamas, die Arawak, in seinen Logbüchern, diese seien naiv und immer gerne bereit zu teilen. Die Spanier begannen schon bald, sie für Arbeitsdienste zu versklaven. Morde, Plünderungen, Krankheiten kamen dazu: Gut einhundert Jahre nach der Ankunft von Kolumbus auf den Bahamas gab es keine Arawak mehr. Musikakzent Zusp. 3 Matthies:Es ist so, dass die europäischen Entdecker die Vorreiter des Imperialismus und Kolonialismus waren, und sie haben die Indigenen ja nur als passive Objekte ihrer Entdeckung gesehen. (0:14) Sprecherin:Der Politikwissenschaftler Volker Matthies hat in seinem Buch über indigene Begleiter europäischer Forschungsreisender zusammengetragen, wofür die europäischen Reisenden über Jahrhunderte Ureinwohner oder Angehörige fremder Völker gebraucht oder besser: missbraucht haben: Zusp. 4 Matthies:Zum einen als politische Autoritäten, die ihnen überhaupt erst erlaubten, in diesen Ländern zu reisen, dann als Sprach- und Landeskundige, beziehungsweise als Dolmetscher, Wegweiser, Mediatoren, interkulturelle Vermittler, und Diplomaten im Umgang mit indigenen Ethnien, ferner als Transporteure, als Lastenträger, als Bootsführer, Paddler, Tiertreiber und Tierpfleger, als Expeditionsleiter und Führer von Karawanen, schließlich als persönliche Diener, als Köche oder Krankenpfleger und nicht zuletzt auch als Jäger und Sammler zur Beschaffung von Naturalien für die naturkundlichen Sammlungen. (0:44) Sprecher:Die meisten dieser indigenen Helfer blieben in der Geschichtsschreibung namenlos. Nur einzelne Ureinwohner fanden Eingang in die Logbücher und Aufzeichnungen der großen Eroberer. Musik-Akzent Sprecherin:Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Aztekin Malinche, die dem Konquistador Hernán Cortés im 16. Jahrhundert bei der Eroberung Mexikos behilflich war. Zusp. 5 MatthiesSie war eine Aztekenfürstentochter, ihre Familie gehörte zum mittleren Landadel, sie wurde dann aber zu einer Sklavin der Maya, und sie fiel dann in die Hände der Spanier, als diese im Konflikt mit den Maya gesiegt hatten. (0:17) Sprecherin:Malinches neuer Besitzer Cortés merkte schnell, dass ihm diese Frau ihm nicht nur als Sexsklavin gute Dienste leisten würde: Zusp. 6 MatthiesDiese Aztekin namens Malinche war ein Sprachgenie, sie konnte Aztekisch oder Nahuatl, wie man auch sagt, und sie konnte auch Maya und lernte ganz schnell Spanisch; und wurde sozusagen die Art Chefdolmetscherin des Konquistadors Cortés. Man muss wohl sagen, dass ohne ihr Verhandlungsgeschick und ihre Dolmetscherkünste die Eroberung Mexikos viel schwieriger und langwieriger geworden wäre. (0:26) Sprecherin:Was Malinche in ihrer Heimat Mexiko übrigens bis heute nachgetragen wird: Zusp. 7 Matthies:Dort gilt sie als eine Verräterin an der Sache des mexikanischen Volkes, denn ihr schiebt man die Hauptschuld daran zu, dass die Eroberung Mexikos so erfolgreich verlaufen ist. Interessant ist, dass es sozusagen abgeleitet von ihrem Namen den Begriff des Malinchismo gibt, der so etwas bedeutet, wie Verrat an der mexikanischen Kultur und der Hinwendung zu fremdem Kulturen. (0:29)Sprecherin:Der eigenen Kultur entrissen, in der fremden nicht anerkannt – das war oft das Schicksal der Dolmetscher – oder, bei den Entdeckern oft noch beliebter: Dolmetscherinnen. Das galt auch für spätere Forschungsreisen: Atmo Pferdegetrappel? Westernmusik? Zusp. 8 Matthies:Ein berühmtes Beispiel ist die Expedition von Lewis und Clark, 1804 bis 1806, die Durchquerung Nordamerikas im Auftrag der amerikanischen Regierung. Lewis und Clark, zwei Offiziere, waren überlebenswichtig angewiesen auf eine […] Dolmetscherin, eine Shoshonin […] namens Sacagawea, die shoshonisch und andere Sprachen sprach, und was ihnen erlaubte, mit den Gruppen, die sie unterwegs trafen, überhaupt in Verhandlungen einzutreten. (0:34) Sprecherin: Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass die Frau auf der Expedition ihr gerade mal zwei Monate altes Baby dabeihatte. In Regionen, die sie aus ihrer Kindheit kannte, erwies sie sich wohl als besonders gute Wegführerin – und sie begegnete dort auf traurige Weise auch ihrer eigenen Vergangenheit. Zusp. 9 MatthiesHier traf sie eine Freundin aus Jugendtagen, die ihr aber leider auch erzählen musste, dass der Großteil ihrer Familienangehörigen verstorben war, ein ganz dramatisches Wiedersehen fand statt mit ihrem Bruder, hier kam es dann auch zu Ausbrüchen von Tränen, sie musste die Verhandlungen immer wieder unterbrechen, weil der Tränenfluss lief. (0:25) Sprecherin:Eine der seltenen Überlieferungen, in denen eine indigene Helferin der europäischen Entdeckungsreisenden als menschliches   beschrieben wird. Über Jahrhunderte tauchen die Führer, Dolmetscher und Wegbegleiter in den Aufzeichnungen nur in ihren Funktionen auf - oder als Forschungsgegenstand. Sprecher:Ein trauriges Beispiel dafür sind der bayerische Naturforscher Johann Baptist Spix und sein Botaniker-Kollege Carl Friedrich Philipp von Martius. Die beiden reisten Mitte des 19. Jahrhunderts im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ins Innere Brasiliens und hatten dort natürlich Kontakt mit der indigenen Bevölkerung, allerdings mit fragwürdiger Einstellung, erzählt der heutige Akademie-Präsident Prof. Thomas Höllmann. Zusp. 10 HöllmannDa hat man festzuhalten, dass die zwei Kinder mit nach München gebracht haben, zwei Kinder, die zwei unterschiedliche Sprachen sprachen und nicht miteinander kommunizieren konnten, und ganz übel anzumerken, diese Kinder haben in München nur noch kurze Zeit überlebt und wurden dann am südlichen Friedhof beigesetzt. (0:21) Sprecherin:Zwei Kinder einfach so nach Europa zu verschleppen, galt in der Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts nicht als unmenschlich. Ähnlich wie Kolumbus und die Konquistadoren betrachteten auch spätere Forscher und Wissenschaftler die Indigenen als Objekte ihrer Entdeckung und als Arbeitskräfte. Obwohl de facto viele von ihnen an Ausführung und Planung von Expeditionen maßgeblich beteiligt waren. Musik-AkzentSprecher:Wie zum Beispiel der ehemalige Sklave Sidi Mubarak Bombay, der dem Entdecker John Hanning Speke und einigen anderen Forschungsreisenden Mitte des 19. Jahrhunderts in Ostafrika als Karawanenführer bei der Suche nach den Quellen des Nils half. Zusp. 11 MatthiesSeine Verdienste waren die eines anerkannten Führers der Expedition, er war Dolmetscher, Informant und Diplomat in den Verhandlungen mit den lokalen Autoritäten, wenn es darum ging, Durchmarschrechte zu bekommen oder Wasserstellen nutzen zu dürfen, oder Proviant zu erwerben. (0:24) Sprecherin:Die berühmte Nilquellen-Expedition war ein von Großbritannien und der Royal Geographic Society großzügig unterstütztes Projekt. Der Sklave und spätere Karawanenführer Sidi Mubarak Bombay wird in den Aufzeichnungen darüber wohl auch deshalb so viel erwähnt, weil er ein markanter Charakter war. Zusp. 12 MatthiesDie Europäer nannten als seine kritischen Punkte seine Trunksucht, seine Vorliebe für Frauen und seine Neigung zur Nutzung von Expeditionsressourcen für seine privaten Zwecke. (0:13) Sprecherin:Der sansibarische Trunkenbold, Frauenheld und Dieb Sidi Mubarak Bombay war aber de facto wohl der eigentliche Anführer der Expedition zu den Nilquellen. Der Kulturwissenschaftler Matthies geht sogar davon aus, dass die berühmte „europäische“ Nil-Expedition in Wahrheit ein afrikanisches Unternehmen war – die ohne Erlaubnis der Regierung von Sansibar nie hätte stattfinden können. Zusp. 13 MatthiesDenn nominell herrschte der Sultan von Sansibar auch über große Teile Ostafrikas, dieser hatte immenses Interesse, seine Handelsinteressen zu intensivieren, es ging vor allem um Elfenbein und Sklavenhandel. Und er gab der Expedition seine Fahne mit, die blutrote Fahne von Sansibar, die sie vorweg tragen sollten. Es wehte also nicht die britische Flagge der Expedition voraus, sondern die Flagge Sansibars. (0:29) Sprecherin:Was die europäischen Forschungsreisenden natürlich nicht an die große Glocke hängten. Akzent Sprecher:Als positives Beispiel im Umgang mit den einheimischen Helfern sind dagegen die Gebrüder Schlagintweit zu nennen, die berühmten Münchner Naturforscher, die Mitte des 19. Jahrhundert für ihre großen Indien- und Himalaya-Expeditionen bekannt wurden. Der Historiker Moritz von Brescius von der Universität Bern hat in deren Aufzeichnungen erstaunlich viele Hinweise auf indigene Partner gefunden. Beispielsweise auf einen Indo-Portugiesen namens Mr. Monteiro, der von den Schlagintweits zunächst für das Präparieren und Verpacken von Sammlungsgegenständen eingestellt wurde – sich aber schnell zum Oberaufseher der riesigen ethnografischen und naturhistorischen Sammlung – und ihrer indigenen Sammler - entwickelte. Zusp. 14 von BresciusMr. Monteiro war eben in der Lage, aufgrund seiner eigenen Sprachfertigkeiten und seiner persönlichen Autorität diese Sammler zu koordinieren, aber dabei blieb es nicht. Die indigenen Helfer der Schlagintweits zeigten selber eine große Reisefreude oder eine große Neugierde, auch neue Techniken zu erlernen, sich auch mit wissenschaftlichem Instrumentarium aus Europa auseinanderzusetzen. (0:45)Sprecherin:Der indisch-portugiesische Mr. Monteiro und andere nicht-europäische Assistenten wie der multilinguale Schriftgelehrte Sayad Mohammad Said aus Kalkutta, der indische Arzt Harkishen, der usbekische Experte für Handelsrouten Murad aus Bokhara und der muslimische Karawanenführer Mohammed Amin – sie alle spielten eine wichtige Rolle bei der Himalaya-Expedition der Schlagintweits: Zusp. 15 Von BresciusIch würde so weit gehen, dass das Monopol des Forschers nicht bei den Schlagintweits lag, bei dieser Expedition. Mr. Monteiro aber auch andere indigene Assistenten der Expedition, Wegführer und Übersetzer, waren zum Teil durchaus ausgebildete Forscher, das waren zum Teil geschulte Kartografen, es waren zum Teil ausgebildete Doktoren, die geschult waren und viel praktische Erfahrung mitbrachten und die selbst auch zu Entdeckern wurden, im Zuge der Schlagintweit-Expedition, weil sie die Brüder in Gebiete begleiteten, die für sie selbst zum Teil unbekannt waren. (0:37) Sprecherin:Insbesondere wenn die Brüder Schlagintweit das britisch kontrollierte Gebiet verließen, kam es dann auch oft zu einem Rollenwechsel: Zusp. 16 Von BresciusDas heißt, die Brüder waren gezwungen, die ganze Führung der Expedition an ihnen gänzlich unbekannte Personen abzugeben, die dann eben über die Routenwahl entschieden, die für die Proviantversorgung verantwortlich waren und die Brüder hatten ständig Angst vor Verrat, weil sie diesen Karawanenführern ausgeliefert waren. (0:21) Sprecher:Erstaunlich ist bei den Schlagintweit-Brüdern, dass sie die Rolle ihrer asiatischen Assistenten und Führer in ihren Aufzeichnungen offen würdigen. Zusp. 17 Von BresciusDamals gab es Publikationskonventionen in Europa, die es den meisten europäischen Reisenden untersagten, zuzugeben, wie abhängig sie von der Führung und der Hilfe dieser unbekannten indigenen Helfer waren, in Übersee. Das brach mit dem Bild des allmächtigen, allwissenden, mutigen, europäischen Forschers, der immer an der Spitze seiner Expeditionstruppe ins Unbekannte schreitet. Die Brüder hingegen waren sehr offen darin. // Musik-Akzent Sprecher:Nochmal zurück in der Geschichte: auch vom berühmten englischen Seefahrer James Cook weiß man, dass er auf seiner berühmten Seefahrt durch die Südsee im 18. Jahrhundert einen Nautiker namens Tupaia oder Tupia an seiner Seite hatte, der von den Einheimischen oft für den Anführer der Schiffsexpedition gehalten wurde. Zusp. 18 MatthiesTupia war ein Polynesier, er stammte von der Insel Rai Ratea, in der Nähe von Tahiti und er entstammte einer polynesischen Adelsfamilie und einer Familie von Navigatoren und Seefahrern. Er selbst war Priester eines Götterkults und ausgewiesener Navigator. (0:18) Sprecherin:.. und er konnte dolmetschen und diplomatische Verhandlungen führen. Was James Cook sehr entgegen kam. Eines der spannendsten Artefakte, die Cook von seinen Reisen durch den Pazifik mitbrachte, ist die berühmte Tupia-Karte, eine Art „mental map“, die der Polynesier damals gezeichnet hat. Zusp. 19 MatthiesDas Orginal dieser Karte ist nicht mehr vorhanden, es gibt aber drei Kopien, drei Abschriften. Es geht vor allem um den Seeraum zwischen den Gesellschaftsinseln. Dutzende von Inseln hat er sozusagen aus dem Kopf heraus in der oralen Tradition seiner Familie angeordnet auf Segelrichtungen, bezogen auf die Insel Raiatea als Zentrum der Gesellschaftsinseln. (0:30) Sprecher:Nicht zuletzt jahrhundertealtes polynesisches Wissen hat James Cook also erfolgreich durch die Südsee geleitet. Sprecherin:Andere wieder profitierten vom uralten Wissen der arabischen Seefahrt. Auch hier bringt die Forschung interessante Beiträge zum sogenannten „europäischen Entdeckungszeitalter“ ans Licht. So gilt als sicher, dass der berühmte portugiesische Seefahrer Vasco da Gama den Seeweg nach Indien gar nicht selbst entdeckt hat, sondern wohl eher auf altbekannten Wegen der arabischen Handelsschifffahrt unterwegs war, sagt der Islamwissenschaftler Detlev Qintern. Zusp. 20 QuinternAus Forschungen portugiesischer Kollegen wissen wir, dass Vasco da Gama von einem arabischen Piloten der Weg gezeigt worden ist, so dass er nach Indien gelangen konnte. Dass er während dieser Fahrt arabische Seekarten gesehen hatte, mit Längen- und Breitengraden versehen, das ist bekannt, und dass er Hilfe hatte von arabischen Nautikern, die ihm den Weg zeigten. (0:43) Sprecher:Es sind nämlich nicht nur die Leistungen der Ureinwohner Amerikas, Afrikas oder Asiens in der europäischen Entdeckungsgeschichte systematisch unterschlagen worden. Auch die Beiträge der arabischen Wissenschaften und der arabischen Nautiker kommen in den Expeditionsgeschichten der Europäer nicht vor. Sprecherin:Womit wir wieder bei Kolumbus wären. Forschungen deuten darauf hin, dass der berühmte Spanier auf seinem Weg nach Amerika das uralte Wissen arabischer Seefahrer im Gepäck hatte. Ein Thema, das den im Sommer 2018 verstorbenen berühmten türkischen Arabisten und Islamwissenschaftler Fuat Sezgin sehr beschäftigt hat. An seinem Vermächtnis arbeitet Detlev Quintern an der Fuat Sezgin Research Foundation in Istanbul. Er sagt, die Forschung weiß zwar nicht genau, wer Kolumbus auf seiner ersten Schiffsreise zu den Bahamas begleitet hat… Zusp. 21 QuinternGleichwohl wissen wir aus seinen Tagebüchern, dass er über Karten verfügte, Seekarten, die die vorgelagerten Inseln in der Karibik zeigten und diese Karten - das ist der große Beitrag von Fuat Sezgin - diese Karten in einen langzeithistorischen Kontext zu stellen, und zurückzuführen auf arabisches Wissen. (0:26) Sprecher:Kolumbus könnte also bei der Überfahrt nach Amerika tatsächlich auf alte arabische Seekarten zurückgegriffen haben – möglicherweise sogar arabische Lotsen dabeigehabt haben – so die Ansicht der Forscher am Fuat Sezgin-Insitut. Keine abwegige Vorstellung. Schließlich währte die Maurenherrschaft in Spanien und die sogenannte Reconquista, die Rückeroberung, ja bis in die Zeit von Kolumbus hinein. Spätere Denkschulen der Renaissance waren zudem bemüht, die gesamte europäische Kultur auf griechische Quellen zurückzuführen – und islamische Wurzeln möglichst zu tilgen. Sprecherin:Und was haben die Angehörigen des einheimischen Volkes der Arawak auf der Bahamas-Insel Guanahani für Kolumbus und dessen Besatzung getan? Waren sie die ersten, die den Spaniern ihr wertvolles Wissen über den fremden Kontinent anvertrauten – bevor diese anfingen, ihn zu unterwerfen? Haben die Arawak die ersten Europäer eingewiesen, in Flora, Fauna und Kultur der Karibik? Sprecherin:Es gibt noch einiges zu entdecken, im „großen europäischen Entdeckungszeitalter“. Als sicher gilt schon jetzt: Die meisten der berühmten europäischen Expeditionen und Forschungsreisen waren aus heutiger Sicht wohl eher Gemeinschaftsprojekte. Internationale, multiethnische und multireligiöse Unternehmungen. Reisen, die oft auf dem uralten Wissen anderer Völker aufbauten. „Europäisch“ war am „europäischen Entdeckungszeitalter“ vor allem die Idee der Kolonialisierung, und: die tiefe Überzeugung von der eigenen kulturellen Überlegenheit.
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Jul 5, 2024 • 23min

VORSTÖSSE - Die Expeditionen der Brüder Schlagintweit

Ochsenfrösche, Steine, Tibetisches Edelweiß, sogar Wasser - die Münchner Brüder Schlagintweit brachten von ihrer Indien-Expedition in den 1850er-Jahren nach Bayern mit, was ihnen von die Forschernasen kam. Ihr Anspruch auf Wissen und Erkenntnis war allumfassend, ganz nach dem Vorbild von Alexander von Humboldt. Von Bettina Weiß (BR 2015) Credits Autorin: Bettina Weiz Regie: Martin Trauner Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Carsten Fabian Technik: Jochen Fornell Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Hermann Kreutzmann, Prof. Felix Driver, Dr. Cornelia Lüdeke, Dr. Shekhar Pathak Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: BR (2015): Die Gebrüder Schlagintweit Einst erforschten die drei Brüder Adolph, Hermann und Robert Schlagintweit in ausgedehnten Expeditionen den Himalaya. Heute sind diese bayerischen Entdecker fast vergessen, doch damals waren sie Pioniere auf dem Dach der Welt. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2021): Der schmale Grat zwischen Triumph und Tragödie   2021 war ein besonderes Bergjahr: Der K2 wurde von zehn Alpinisten aus Nepal als letzter Achttausender erstmals im Winter bezwungen. Andere Bergsteiger stürzten dort ab. Was treibt sie an, sich unter extremen Bedingungen in Lebensgefahr zu begeben? JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:MUSIK SPRECHERIN:Die Welt erkunden. Selbst losgehen. Selbst ermessen, wie hoch die Berge sind und wie tief die Wässer und wie unterschiedlich die Menschen: Hermann und Adolf Schlagintweit aus München beginnen damit als Teenager. ATMO Schritte SPRECHERIN:Im Jahr 1842, im Alter von 16 und 13, unternehmen die Brüder aus der feinen Theatinerstraße in München eine weite Wanderung in die bayerischen und tiroler Berge. Sie schwärmen von der... SPRECHER:...einfach erhabenen Pracht der Natur, die uns hier umgibt. SPRECHERIN:Auf Fotos posieren die Arztsöhne bukolisch mit Schäferhüten und Hirtenstäben. Sie wagen sich auf Berge, deren Gipfel vor ihnen noch keiner erklommen hat. Romantik. Sportliche Herausforderung. Das sind die Grundlagen dafür, dass sich die Schlagintweits für etwas begeistern, was zu ihrer Zeit neu ist: Expeditionen. Dazu kommt der Wissensdurst. MUSIK SPRECHERIN:Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Globus längst umrundet. Wer fürs europäische Publikum noch Neues erkunden will, muss Expeditionen machen, also aufwändig in Extremregionen vordringen: zum Nord- oder Südpol, in Dschungel, die von Schlafkrankheit versucht sind – oder eben ins Hochgebirge, wie die Schlagintweits. Im Gymnasium interessieren sich Hermann und Adolf besonders für Erdkunde. Eifrige Einserschüler. Hinterher studieren sie das Fach. Und immer intensiver bereisen sie die Alpen. Es ist die Ära, in der Enzyklopädien wie der „Brockhaus“ die Bücherregale vieler Bildungsbürger füllen und das Wissen der Welt verheißen, vollständig von A bis Z. ATMO Schritte SPRECHERIN:Und so bestimmen die Schlagintweits auf ihren Touren durch die Alpen Luftdrücke, Temperaturen, Seehöhen und Schneedicken. Sie zählen Blumen. Sie vermessen Gletscher in Österreich und der Schweiz. Sie fertigen mit großer Akribie Zeichnungen und Aquarelle von Gebirgszügen an, produzieren das Monte-Rosa-Massiv und die Zugspitze in mini, als Reliefs aus Zinkguss. MUSIK SPRECHERIN:Messen, bestimmen, zählen, aufzeichnen, in Beziehung setzen, und zwar alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, das Klima und die Gesteine und die Gestirne: So hat es auch Alexander von Humboldt gemacht, als er durch Südamerika gereist ist. Er ist das große Vorbild der Schlagintweit-Brüder. Die Schlagintweits besuchen ihn in Berlin und gewinnen seine Sympathie. Der Preuße ist zu der Zeit achtzig Jahre alt, berühmt und bestens vernetzt am Königshof und im europäischen Wissenschaftsbetrieb. Mit seiner tatkräftigen Unterstützung wagen die Münchner Brüder – in den Worten von Robert Schlagintweit... SPRECHER: die Verwirklichung eines Wunsches, der mich seit Jahren lebhaft beschäftigt hatte, oder besser gesagt, seit meiner frühesten Jugend (und der durch wiederholte Reisen in den Alpen stetig genährt und am Leben erhalten wurde), dessen Erfüllung jedoch über sehr lange Zeit vollkommen jenseits der Grenzen des Möglichen erschienen wäre. SPRECHERIN:Der Traum der Schlagintweits ist eine Expedition in den Himalaya. MUSIK SPRECHERIN:So eine Expedition ist ein Großunternehmen. Um das Gebirge nach ihren Vorstellungen vollständig zu erkunden, brauchen die Forscher Theodoliten, Barometer, verschiedene Thermometer, Magnetometer und andere Instrumente. Bestes und modernstes Gerät. Alleine eine Fotoausrüstung wiegt damals 200 Kilo. Ihr Gepäck wird so umfangreich sein, dass es 20 Kamele brauchen wird, um alles zu transportieren. Dazu kalkulieren sie mit einem Tross von Kameltreibern, Trägern, Köchen, Kartographen, persönlichen Dienern, Dolmetschern und vielen anderen. SPRECHER: Ungeachtet aller Einschränkung konnte man bei der indischen Art zu Reisen ohne acht bis zehn Menschen für einen von uns nicht vorwärts kommen. SPRECHERIN:So versuchen die Brüder, öffentliche Mittel für ihre geplante Expedition zu bekommen. Was die Könige von Bayern und Preußen zahlen, sind Tropfen auf den heißen Stein. Da ebnet Alexander von Humboldt den Schlagintweits den Weg nach England, zur britischen Ostindiengesellschaft in London. MUSIK SPRECHERIN:Die britische Ostindiengesellschaft ist gerade dabei, ihre Macht in Indien auszuweiten. Im 17. Jahrhundert hatte sie als private Handelsfirma angefangen, gestützt auf ein paar Kontore an der indischen Küste. Diese Niederlassungen baute sie später zu Kolonien aus. Zur Zeit der Brüder Schlagintweit ist sie Territorialmacht geworden. Sie beherrscht Gebiete, die mehrmals so groß sind wie England. Es ist der Übergang von Kolonialismus zu Imperialismus, erklärt der Berliner Geograph Hermann Kreutzmann. Kurz darauf wird der Staat die Ostindiengesellschaft übernehmen und die Königin von England wird sich zur Kaiserin erklären, zum „Emperor“ von Indien. 1. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das war die wertvollste Kolonie, die England jemals gehabt hat, und die möchte sie schützen. Und Imperialismus ist die Antwort darauf. SPRECHERIN:Mit dem „Imperialismus“, dem Drang, ein „Empire“ weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu beherrschen, kommt die Expedition à la Schlagintweit als Forschungsweise auf. 2. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Wenn man ein Territorium dominieren möchte, muss man wissen, welche Menschen dort leben, welchen Tätigkeiten sie ausüben, welche Reichtümer es dort gibt, und wir sind in einer Phase des Cartesianischen Denkens, also des rechenhaften Denkens, also wo es beginnt, Statistiken aufzulegen. Zahlen zu erheben, Messungen durchzuführen, und das ist dann auch, was die Expedition der Gebrüder Schlagintweit ausmacht. Das ist die Zeit, wo die Rechenhaftigkeit eine zentrale Rolle spielt. Und das ist ja auch verbunden mit Imperialismus, mit der Kontrolle, mit der Einführung von Verwaltung. Alles ist zweckgebunden. Und die Wissenschaft ist die Dienerin des Imperialismus. SPRECHERIN:Wie sich die Interessen von Wissenschaft und Imperialismus treffen können, zeigen die Verhandlungen der Brüder Schlagintweit mit der Britischen Ostindiengesellschaft. Die möchte eigentlich nur, dass die Schlagintweits eine von anderen begonnene Studie zu Ende führen und messen, wie magnetisch verschiedene Regionen Indiens sind. Aber die Brüder wollen mehr. Schließlich zielt ihr Humboldtscher Ansatz auf Vollständigkeit. Sie werben: SPRECHER:Sehr gerne werden wir unsere größte Aufmerksamkeit auch allen Fragen von praktischem Nutzen zuwenden, wie etwa der geologischen Altersbestimmung der verschiedenen Kohlevorkommen Indiens, dem Vorkommen von Salz oder der praktischen Verwendung des Schwefels, der im westindischen Sindh vorkommt. SPRECHERIN:Mehr als vier Jahre planen, verhandeln und taktieren die Brüder Schlagintweit. Am Ende zahlt die Britische Ostindiengesellschaft den Löwenanteil ihrer Expedition und macht sie damit möglich. MUSIK SPRECHERIN:1854 schiffen sich Hermann, Adolf und ihr jüngerer Bruder Robert nach Indien ein. Schon auf der Reise beginnen sie, Wasser an  verschiedenen Stellen aus dem Meer zu schöpfen und sein spezifisches Gewicht zu bestimmen. Sie messen wie besessen, in Indien angekommen erst recht, außer Magnetismus unter anderem auch die Temperatur, Entfernungen, Seehöhen, den Luftdruck, die Horizontal- und Vertikalwinkel von Bergen, die Dicke von Schneedecken auf Fels und die Länge und Breite der Hände und Füße von Indern und Inderinnen aus verschiedenen Regionen. Sie erklimmen Berge, schaffen es bis zu einer Höhe von 6.788 Metern, wagen sich in Wälder. SPRECHER:Am Fuße des Berges ließen wir auch die Pferde zurück, und sogleich begann ein steiles Hinaufsteigen. Aber nur langsam kamen wir auf dem Abhange vorwärts, denn es war eine mühsame und zeitraubende Arbeit, in dem Dschungel, der an Großartigkeit und Dichtigkeit Alles bisher von mir Gesehene übertraf, irgendeinen Weg hindurch zu hauen. Mir waren in kurzer Zeit die Kleider zerfetzt; das geringste Vergnügen schienen meine Hindus aus dem Flachland an dieser Expedition zu haben, obwohl sie ihre zahlreichen Dornenwunden fast vergaßen über den Gedanken, unerwartet dem Tiger zu begegnen. SPRECHERIN:Abenteuer und Gefahr gehören zur Expedition – aber auch generalstabsmäßige Planung. Der Londoner Geographiehistoriker Felix Driver beleuchtet diesen sehr praktischen Zusammenhang von Imperialismus und Expeditionen. 3. ZUSPIELUNG (Felix Driver)by the 19th century European military might is extending itself around the world, and I think that idea about expeditions and explorations also diffuse around the world... Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Im 19. Jahrhundert hat sich europäische Militärmacht rund um die Welt ausgedehnt, und die Idee der Expedition hat sich auch weltweit verbreitet. In gewisser Weise wurden die größeren Expeditionen auch in militärischer Weise organisiert. Man musste unter sehr schwierigen Bedingungen von A nach B kommen, man musste für die Logistik, Nahrungsmittel und Vorräte sorgen, und es überrascht nicht, dass das Militär entweder an den Expeditionen beteiligt oder ein wichtiges Vorbild war. ... and it is not surprising that the military were either involved in expeditions or were an important model for how to get from A to B in very difficult environments. So it is a sort of military the model. SPRECHERIN:Die Schlagintweits werden manchmal von Soldaten begleitet, immer führen sie Pistolen mit sich. SPRECHER:Waffen sind - neben ihrer Wichtigkeit für den persönlichen Schutz -, besonders als Artikel zu erwähnen, die als Geschenke geeignet sind. SPRECHERIN:Seine Waffen verschenken – das klingt nach Frieden und Vertrauen. Tatsächlich steht die Expedition in weniger friedlichem Zusammenhang, als die Brüder Schlagintweit es vielleicht selbst wahrhaben wollen. Im 19. Jahrhundert ist die Zeit vorbei, in der Reisende Entdecker und Händler auf Augenhöhe waren – wie etwa Marco Polo oder Mitarbeiter der Britischen Ostindiengesellschaft in deren Anfängen. Nun geht es den europäischen Auftraggebern von Expeditionen darum, Gebiete in fremden Erdteilen zu beherrschen, erklärt der Geograph Hermann Kreutzmann 4. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das ist der Übergang vom Handelsaustausch in eine Dominanzphase hinein, und die endet mit Grenzziehung. Die afghanischen Grenzen werden um 1893, 95 geschaffen, und in dieses Spiel geraten die Brüder Schlagintweit hinein. SPRECHERIN:Um die Macht in Afghanistan und dem übrigen Mittelasien ringen England, Russland und China. Die Schlagintweits, in britischem Auftrag unterwegs, erkunden dabei nicht nur die britische Machtsphäre, sondern auch Gebiete außerhalb. Sie sind Kundschafter. Spitzel. Wie andere Expeditionsreisende, die etwa von Russland oder Frankreich finanziert sind. 5. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das sind Reisende, die mit einem - Sie könnten sagen Vorwand kommen, sagen, Botanisierer oder Geologen, oder sie interessieren sich für die Gletscher, das Klima oder für andere Dinge, das sind Reisende, die dann sich der Wissenschaft verschrieben haben, die ein Bürgertum bedienen in unseren Landen, in den geographischen Gesellschaften, wenn die Vorträge halten, die verkehren in Zirkeln, erzählen interessante Geschichten, werden gesponsert von Wohlhabenden, jedes Jahr an Weihnachten gibt es die Reiseberichte von diesen Leuten als Buch gebunden, da - unter dem Mantel der Wissenschaft reisen Leute, die gleichzeitig aber auch Informationen liefern, die für die politischen Interessen der Staaten, aus denen sie stammen, sehr gut verwertbar sind. SPRECHERIN:Außerhalb der britischen Machtsphäre gehen die Schlagintweits unterschiedlich vor. In Kaschmir etwa warten und verhandeln sie, bis sie von örtlichen Machthabern eine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung bekommen. In Turkestan etwa verkleiden sich die Münchner als einheimische Händler. SPRECHER:Hier war es, wo wir zuerst unsere Turki-Bekleidung anlegten, da wir nun, so weit vorgeschritten, bei etwaiger Begegnung mit Turkistani-Caravanen nicht als Europäer auffallen sollten. Dabei bekamen wir auch den Kopf geschoren; wir zogen vor, dies mit einer Schere in der Art ausführen zu lassen, als hätte das Rasiren mit dem Messer schon einige Zeit vorher stattgefunden. SPRECHERIN:Diese Tricks klappen nicht immer. Die Schlagintweits werden hingehalten, absichtlich fehlinformiert und beraubt. Diener von ihnen werden als Geiseln genommen. Trotzdem lassen sie nicht locker. Sie reisen weiter, trennen sich zeitweise, damit jeder einzelne Bruder noch mehr messen, noch mehr sammeln kann, überqueren raue Hochpässe, erkunden Gletscher und mittelasiatische Weiten bis nach Kaschgar. Die Stadt liegt an einem wichtigen Knotenpunkt der Seidenstraßen. Im Kampf um die Macht in Mittelasien ist Kaschgar strategisch so wichtig, dass es zu jener Zeit verbotenes Land für Europäer ist. Adolf Schlagintweit wagt sich trotzdem hin. 6. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das waren junge Leute, die wollten sich einen Namen machen, und die wollten etwas schaffen, was andere vor ihnen nicht geschafft haben. SPRECHERIN:Adolf Schlagintweit bezahlt den Besuch in Kaschgar mit dem Leben. Bald nach seiner Ankunft im August 1857 wird er enttarnt und geköpft. MUSIK SPRECHERIN:Adolfs Brüder Hermann und Robert kehren nach Europa zurück. Der Tod ihres Bruders während der Expedition schockiert sie zutiefst. Trotzdem schreiben sie den Bericht über ihre Reise wie eine Empfehlung, auch Expeditionen zu machen, mit allerhand praktischen Tipps: wo man im Himalaya Zigarren kaufen kann, wann Gamaschen hilfreich sind, dass sich Brandy besser als Wein oder Bier fürs Reisen eignet, was Maultiere für den Gepäcktransport kosten, wie man mit kleinen Papieraufklebern an den Verschlüssen von Vorratsbüchsen, die wie Talismane wirken, verhindern kann, dass die Köche wertvolle Vorräte verplempern, und dass man die Dolmetscher und Reiseführer am besten erst am Ende der Reise bezahlt und am Erfolg beteiligt. Der Geographie-Historiker Felix Driver weist darauf hin, dass sich im 19. Jahrhundert, als Expeditionen „in“ wurden, vielerorts eine regelrechte Industrie von Reiseleitern und Expeditionsausstattern entwickelte. 7. ZUSPIELUNG (Felix Driver)There are parallels between the ways in which certain local figures become guides, become experts, become interpreters. And they help a series of expeditions, they might be British expeditions, they might be ... Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Es gibt Parallelen darin, wie bestimmte Leute Reiseleiter, Experten oder Dolmetscher werden. Sie helfen einer Reihe von Expeditionen, egal ob es britische, deutsche oder amerikanische sind, und sie sammeln einen gewaltigen Erfahrungsschatz an. So wie die Sherpas die Experten auf den Bergen werden gibt es andere, die Experten darin werden, durch Amazonien oder Ostafrika zu navigieren. Sie kennen das Land, die politische Situation und die Sprachen. Sie sind oft nicht aus der Gegend selbst, aber sie spielen diese sehr wichtige Vermittlerrolle. Und die Europäer werden sehr abhängig von ihnen. Dass sie mit solchen Vermittlern arbeiten ist eine Gemeinsamkeit von Expeditionen in sehr, sehr verschiedenen Teilen der Welt. ... And Europeans become very dependent on them. So that is a common feature which you find actually in very, very different parts of the world. SPRECHERIN:Für die Logistik mögen solche Dienstleister praktisch sein. Aber für die Wissenschaft bergen sie Probleme, sagt der Geograph Hermann Kreutzmann. 8. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Die Schlagintweits waren sehr stark auf Dolmetscher und Begleiter angewiesen, und diese Dolmetscher und Begleiter haben auch diese Situation häufig genutzt, um ihnen Räuberpistolen zu erzählen. Geschichten zu machen, für die es keine Belege gab, weil sie wussten, sie sind das einzige Sprachrohr, das mit ihnen spricht. Und sie haben ihre Version einer Geschichte geliefert. Oder auch interessante Geschichten geliefert, wenn man damit viel Geld verdienen konnte. SPRECHERIN:Die Brüder Schlagintweit kehren jedoch mit mehr als mit Geschichten, Daten und Bildern aus Indien zurück. Sie haben auch handfestere Dinge gesammelt, unter anderem SPRECHER:20.000 Steine, 12.000 Pflanzen, 6000 Vögel, ausgestopft oder als Skelett, fast 600 Baumdurchschnitte, 250 Gipsabgüsse von Menschengesichtern, 46 Schädel und 21 komplette Skelette von Indern und Inderinnen, dazu Tierskelette, präparierte Fische, Muscheln, Schmuck, Hausgeräte, Kleider und Waffen sowie lebende Wildesel, Pferde und Kamele für den Berliner Zoo SPRECHERIN:Das alles melden sie nach ihrer Rückkunft Alexander von Humboldt, ihrem Förderer und wissenschaftlichem Vorbild. An dessen Anspruch, „die ganze materielle Welt“ darzustellen, scheitern sie jedoch. Niemand zahlt ihnen die Arbeit, die Sammlung vollständig auszuwerten und auszustellen. Sie muss mehrfach umziehen. Dabei zerfallen die Tierskelette. Motten zerfressen kostbare Stoffe. Fast ein Vierteljahrhundert müht sich Hermann Schlagintweit mit dem Material. Mit 56 Jahren stirbt er, bald darauf auch sein Bruder Robert. Musikakzent SPRECHERIN:Die Erben verkaufen von der verrottenden Sammlung, was zu verkaufen ist. Viele Steine und einige Fische in Spiritus geben sie einem Mineralienhändler in Kommission. Der verhökert ein paar Dinge, ansonsten schreibt er von SPRECHER:Wertlosem Geröll. Wenn Sie – wie ich hoffe und darum bitte – mich einmal in Bonn besuchen, wollen wir einen Spaziergang auch über den Weg machen, der damit gepflastert worden. MUSIK SPRECHERIN: Je mehr die Welt vermessen und machtpolitisch verteilt ist, desto weniger Expeditionen im Stil der Schlagintweits finden statt. Für sein Fach meint der Berliner Geographie-Professor Hermann Kreutzmann: 9. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Heute würden wir von solchen Expeditionen nicht mehr sprechen. In unserem Fall hat sich das vollkommen verändert zu der damaligen Zeit, SPRECHERIN:An die Stelle der Expedition tritt – wenn nicht gleich auf die Erkundung vor Ort verzichtet und die Welt am Computer modelliert wird – die Feldforschung: Statt wie die Schlagintweits ganz Indien plus Himalaya plus Teile Mittelasiens möglichst vollständig in vier Jahren zu bereisen, zu vermessen und darzustellen, spezialisiert sich der Forscher oder die Forscherin nun lieber gründlich auf einen einzigen Ort. 10. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das ist heute häufig anders, weil wir doch junge Leute haben, die dann auch lokale Sprachen erlernen, bevor sie Feldforschung durchführen und nicht auf Dolmetscher angewiesen sind, wenn sie da etwas machen. Ein Doktorand von mir hat sich über Heiratsverhalten in Kaschgar promoviert, der hat vorher Uighurisch und Chinesisch gelernt, um dort zu arbeiten SPRECHERIN:Er ist auch ohne Verkleidung gereist und lebendig wiedergekehrt. Die Forscher präsentieren ihre Ergebnisse idealerweise nicht nur in Berlin und London, sondern entwickeln sie gemeinsam mit Wissenschaftlern in den erforschten Gebieten weiter. 11. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Ich habe mehrfach in Kaschgar Konferenzen gemacht, ich habe in Lhasa in Tibet Konferenzen organisiert, in Khorog in Tadschikistan, in Duschanbe, in Gilgit in Pakistan, gemeinschaftlich mit den Partnern vor Ort werden diese Konferenzen organisiert. SPRECHERIN:Der Erkenntniswert einer einzelnen Expedition ist gering, auch für Naturwissenschaften. Die Meteorologin und Wissenschaftshistorikerin Cornelia Lüdeke betrachtet zum Beispie die Klimawerte. 12. ZUSPIELUNG (Cornelia Lüdeke)Die Daten der Schlagintweits sind natürlich auch nur ausschlaggebend für die drei Jahre, die sie damals im Himalaya unterwegs waren. Und wir wissen ja selber: Es gibt Winter, wo viel Schnee ist, und dann gibt es wieder Jahre, wo wenig Schnee fällt. Im Grunde ist das ein Zufallsergebnis, man müsste da auch  längere Zeitreihen über 30 Jahre haben. Weil Klima wird über 30 Jahre sozusagen bestimmt. SPRECHERIN:Allerdings sind die Schlagintweitschen Messungen so gut nachvollziehbar, dass sie für weitere Forschungen heutzutage wertvolle historische Bezugswerte liefern. 13. ZUSPIELUNG (Cornelia Lüdeke)Heute kann man beispielsweise untersuchen, wie sich die Schneehöhen ändern, vielleicht aufgrund der Klimaänderung. MUSIK 14. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak – englisch ohne overvoice)Due to Nain Singh Rawat many people also know about Schlagintweit brothers! Otherwise Schlagintweit brothers also forgotten in India. SPRECHERIN:In Indien wäre die Expedition der Brüder Schlagintweit vergessen – wäre da nicht Nain Singh Rawat, sagt der Historiker Shekhar Pathak aus Nainital im Himalaya. 15. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)He was just doing portering! But when he joined the group, he was great learner. he was so sensitive - everything which the Schlagintweit brothers were doing, he followed that... Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Nain Singh Rawat war nur ein Träger! Aber als er zur Expedition dazustieß, hat er sehr viel gelernt. Er hat alles, was die Schlagintweits taten, mitverfolgt, Barometer und Prismen bedient und Landkarten gezeichnet. Er hat den Brüdern Tibetisch beigebracht und gleichzeitig von ihnen Englisch gelernt. Es war ein großartiges Lernen, und zwar in beide Richtungen. Die Schlagintweits entdeckten den Funken, der in Nain Singh Rawat schlummerte. Nicht einmal sein eigener Cousin hatte es entdeckt. Nur die Schlagintweits! ...And they realized the spark inside Nain Singh Rawat! otherwise nobody else, even his own cousin Mani singh never realized the spark inside Nain Singh Rawat. But Schlagintweit brothers did! SPRECHERIN:Nach dem Dienst für die Schlagintweits arbeitete Nain Singh Rawat auch für britische Wissenschaftler und Landvermesser. Er erkundete viel Neuland für die Briten und erhielt höhere Auszeichnungen von britischen Institutionen als seine ehemaligen Arbeitgeber aus München. 16. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)I am not only proud of him. I always been thinking how such a person emerged in our part of Himalaya! From zero how he reached to a certain summit!Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Ich bin nicht nur stolz auf ihn. Ich denke immer: dass so jemand aus unserem Himalaya stammt! Von null aus hat er so einen Karrieregipfel erreicht! SPRECHERIN:Auch andere Inder hätten viel von den Briten gelernt, und in manchen Dingen sei man in Indien England wissenschaftlich voraus gewesen, hebt Shekhar Pathak hervor. So begann die Vermessung Indiens über 60 Jahre, bevor in England die Königliche Geographische Gesellschaft gegründet wurde. Der Berliner Geograph Hermann Kreutzmann erinnert an den machtpolitischen Hintergrund der Vermessung und Erkundung von Bergen und Bodenschätzen. 17. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Es war dieses Experiment, was man in der Imperialismustheorie derart beschreibt: Fertigware wird aus Europa nach Asien, Afrika und Übersee geliefert, und Rohstoffe kommen aus der Gegenrichtung, und das ist zum großen Nutzen Europas und zum Schaden des Restes der Welt. SPRECHERIN:Trotzdem. Sein Kollege aus Indien verteidigt Expeditionen wie etwa die der Schlagintweits. 18. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)So it was part of larger colonial scheme. Definitely. But it is also contributing to the larger human knowledge. This is the positive point in whole history of exploration. And this exploration not only contributed in the scheme of colonialism in Asia, or in Orient, it also contributed in larger context the knowledge about lesser known, unknown places to the larger world. Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Sie waren Teil eines kolonialen Plans. Na klar! Aber sie haben auch zum größeren Wissen der Menschheit beigetragen. Das ist das Gute an der Geschichte der Expeditionen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Welt jetzt mehr über Orte weiß, die einst unbekannt waren.
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Jun 28, 2024 • 40min

EINFACH MODE! Die Unterwäsche, präsentiert von ICONIC

Alles Geschichte stellt vor: "ICONIC - Modegeschichte mit Aminata Belli”. Es gibt entsetzliche Worte für Kleidungsstücke, die wir doch eigentlich sehr schätzen: Brunzhosen, zum Beispiel. Oder es ist nur sehr verschämt von ihnen die Rede. Dabei können wir uns heute ein Leben ohne Unterwäsche kaum noch vorstellen. Dabei kam die Menschheit die längste Zeit "ohne" aus. Wie dann aus einem langen Untergewand unsere heutige Unterwäsche wurde, erzählt Host Aminata Belli in dieser Episode. Von Mariia Fedorova (BR 2024) Credits  Autorin: Mariia FedorovaRegie: Martin ZeynEs sprachen: Aminata Belli, Ann-Kathrin MittelstraßRedaktion: Vanessa Schneider und Martin Zeyn, BR KulturIm Interview: Abby Cox, Julia Fritzsche Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: ICONIC – Modegeschichte mit Aminata Belli Dieser Podcast erzählt in jeder Episode die Geschichte eines ikonischen Kleidungsstück von Kapuzenpulli und Doc Martens zu Fußballshirt, Handtasche und Jeans und den gesellschaftlichen, technologischen und sozialen Umbrüchen, die Modetrends oft begleiten. Aminata Belli nimmt mit in die Geschichte vieler Lieblingsteile. Woher kommt ihre Coolness? Wie schaffen sie es, für große popkulturelle Momente, Subkulturen oder Underdogs zu stehen? JETZT ANHÖREN Linktipps: radioWissen (2022): Unterwäsche – Hautnahes im Wandel der Zeit Noch bis vor kurzem trugen Mann und Frau ganz wie im Mittelalter nur ein langes Hemd auf der nackten Haut. Erst seit dem 19.Jahrhundert findet Unterwäsche reißenden Absatz. Zu dieser Folge vom Podcast radioWissen geht es HIER Deutschlandfunk (2023): Lernen geht auch in Jogginghose Im letzten Jahr ging diese Schlagezeile durch die Medien: „Der Bundeselternrat will Kleiderregeln an den Schulen etablieren“  – nicht zu freizügig und auch nicht zu „lottrig“ sollen die Klamotten der Kids sein. Macht das Sinn? Katharina Hermes kann dem Vorschlag in ihrem Kommentar nichts abgewinnen. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN

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