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Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie über viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunächst geduldet, erklärte man die "Fremden" bald zu Vogelfreien. Danach kam es immer wieder zu Tötungen und Vertreibungen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma offiziell registriert. Auf diese Akten griffen später die Nationalsozialisten zurück, als sie sie verfolgten und massenhaft ermordeten.Der 19. Dezember ist der jährliche Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma. Autorin: Maike Brzoska (BR 2022)
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Linktipps:
RESPEKT (2023): Geschichte der Sinti und Roma
In Europa leben ca. 12 Millionen Sinti und Roma. Damit sind sie die größte ethnische Minderheit auf dem Kontinent. Sie erleben laufend Diskriminierung und Vorurteile. Woher kommt das? Über die Geschichte der Sinti und Roma in Europa.
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Planet Wissen (2022): Ausgegrenzt und benachteiligt – Vorurteile gegen Sinti und Roma
Sinti und Roma leben seit mehr als 600 Jahren in Deutschland und trotzdem denken viele, dass sie nicht dazugehören. Der Blick auf sie ist immer noch getrübt durch Vorurteile, die mit der heutigen Lebensrealität der Menschen nichts zu tun haben. Im Schulunterricht wird die Geschichte und der Völkermord an diesen Volksgruppen im Nationalsozialismus kaum erwähnt.
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Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 00:43 – Im Hungerstreik
TC 02:01 – Die Ursprünge der Sinti und Roma
TC 03:36 – Ein Volk mit vielen Namen
TC 04:48 – Mittelalterliche Handelsbeziehungen und Geleitbriefe
TC 07:04 - Vogelfrei
TC 09:40 – Systematische Diskriminierung im Kaiserreich
TC 11:58 - Im Nationalsozialismus: die lebensgefährliche „Rassenfrage“
TC 13:53 - Im Vernichtungslager
TC 15:41 – „Porajmos“ – Ein vertuschter Völkermord
TC18:42 – Eine gebrochene Generation
TC 20:37 – Angst trotz Anerkennung
TC 22:42 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro
Podcast-Ansage:
Hier ist radioWissen. Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie über viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunächst geduldet, erklärte man die „Fremden“ bald zu Vogelfreien. Zuerst wurden sie ausgrenzt, dann vertrieben und getötet. Im Nationalsozialismus wurden sie systematisch ermordet. Dieses Unrecht wurde lange geleugnet.
Musik: Z8020108141 In der Finsternis 0‘30
TC 00:43 – Im Hungerstreik
SPRECHERIN
April 1980 in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau. Die Männer liegen auf einfachen Pritschen, ein Kissen im Nacken, manche haben sich mit einer Decke zugedeckt. In ihren Blicken: feste Entschlossenheit. Es sind zwölf Sinti, die an diesem geschichtsträchtigen Ort im Hungerstreik sind. Darunter auch Überlebende des Porajmos, wie der Völkermord durch die Nationalsozialisten auf Romanes genannt wird, bei dem Hunderttausende Roma und Sinti getötet wurden.
01 O-TON (Rose)
Es waren fünf Überlebende beteiligt, von Auschwitz, von Dachau, und mit Mauthausen war einer beteiligt, der hat die Zwangssterilisation erfahren, der wurde unfruchtbar gemacht.
Musik: Z8020108141 In der Finsternis 0‘29
SPRECHERIN
Sagt Romani Rose im Interview mit dem Historiker Jan Selling für das Dokumentationszentrum RomArchive (englisch ausgesprochen). Rose gehört zu den Jüngeren des Hungerstreiks. Er hat 13 Familienangehörige im Holocaust verloren. Mit der Protestaktion wollen sie auf anhaltendes Unrecht aufmerksam machen. Ihre Forderung: die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten.
02 O-TON (Rose)
Dieses Verbrechen musste im Sinne des Strafrechts und des internationalen Rechts durch die Bundesregierung anerkannt werden. (13)
Musik: Z8019016129 Dark figures 0‘31
TC 02:01 – Die Ursprünge der Sinti und Roma
SPRECHERIN
Es war der traurige Höhepunkt einer mindestens 600 Jahre langen und sehr wechselhaften Geschichte der Minderheit auf deutschem Boden. Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Nordwestindien. Von dort zogen sie vermutlich zunächst nach Persien und dann nach Südeuropa, sagt die Historikerin Karola Fings. Sie leitet die „Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“ der Universität Heidelberg.
03 O-TON (Fings)
Es gibt verschiedene Theorien, aber die für mich plausibelste ist die, dass es so eine relativ kohärente Auswanderung gegeben hat einer Gruppe aus Nordwestindien dann bis nach Persien, und die sich relativ lange im Byzantinischen Reich aufgehalten hat. Und erst mit dem Vordringen der osmanischen Truppen so ab dem 15. Jahrhundert begann dann die Migration nach Westeuropa.
SPRECHERIN
Diese Migrationsroute belegen vor allem sprachwissenschaftliche Forschungen.
04 O-TON (Fings)
Das Romanes hat sehr alte Wortbestandteile, und da gibt es sehr viele Wortbestandteile zum Beispiel aus dem Griechischen, woraus man dann schließen kann, dass es dort lange Aufenthaltszeiten gegeben hat.
SPRECHERIN
Viele Sinti und Roma sprechen noch heute Romanes, auch Marcella Reinhardt.
05 O-TON (Reinhardt)
Latscho Diewes lautrenge. Miro Lab hi Marcella Reinhardt me hum i Sintezza me hum i Vorsitzende vom Regionalverband Deutscher Sinti und Roma in Augsburg, Schwaben.
SPRECHERIN
Übersetzt bedeutet das:
06 O-TON (Reinhardt)
Schönen guten Tag an alle, ich bin eine Sintizza, mein Name ist Marcella Reinhardt. Ich bin Vorsitzende vom Regionalverband Deutscher Sinti und Roma Schwaben.
TC 03:36 – Ein Volk mit vielen Namen
SPRECHERIN
Die Bezeichnungen „Sinti und Roma“, oder „Sintizze und Romnja“ in der weiblichen Form, sind von der Minderheit selbst gewählt. Den Begriff „Zigeuner“ lehnen sie ganz klar ab.
07 O-TON (Reinhardt)
Der Name Zigeuner ist für uns eine Fremdbezeichnung. Mit diesem Namen sind unsere Verwandten in die Gaskammern getrieben worden und grausam ermordet und ich möchte mit dieser Fremdbezeichnung nicht genannt werden.
SPRECHERIN
Mittlerweile haben sich die Bezeichnungen Sinti und Roma weitgehend durchgesetzt, auch wenn es immer noch Erklärungsbedarf gibt. So deutet der Doppelname bereits an, dass es sich keineswegs um eine einheitliche Gruppe handelt.
08 O-TON (Fings)
Das sind einmal die deutschen Sinti, die haben eine ganz eigene Geschichte, weil das diejenigen sind, die tatsächlich in den deutschsprachigen Landen seit dem Mittelalter leben. Sie haben einen eigenen Romanes-Dialekt, das ist die eine große Gruppe, die in Deutschland lebt und eben sehr lange ansässig ist. Und die andere Gruppe, die mit Roma bezeichnet wird, das sind diejenigen, die meist so aus Südosteuropa kamen. Und der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma hat sich damals dafür entschieden, diese beiden größten Gruppen als namenführende Begriffe zu verwenden.
TC 04:48 – Mittelalterliche Handelsbeziehungen und Geleitbriefe
SPRECHERIN
Als die Sinti im späten Mittelalter in die deutschsprachigen Länder einwanderten, wurden sie zunächst überwiegend positiv aufgenommen.
09 O-TON (Fings)
Es entstanden Handelsbeziehungen und auch zum Teil persönliche Beziehungen. Es gab Schutzbriefe, das war ja damals üblich, dass es einen Schutzherren gab; einen Grafen, einen Herzog, einen Kaiser oder einen König, die eben in der Lage waren, bestimmte Gruppen unter ihre Fittiche zu nehmen.
Musik: Z8036179109 Servants and farmhands B 0‘45
SPRECHERIN
Einen solchen Geleitbrief gewährte zum Beispiel König Sigismund 1423 – in diesem Fall nicht für einen Sinto, sondern für den Rom Ladislaus Waywoda.
ZITATOR (förmlich vorgetragen)
Sooft daher dieser Ladislaus Waywoda und sein Stamm in unser Herrschaftsgebiet gelangt, vertrauen wir fest auf die von euch geleisteten Treuegelübde und tragen Euch auf, daß Ihr eben diesen (…) vor jedem Grenzhindernis und jeder Schwierigkeit schützen und bewahren sollt.
10 O-TON (Fings)
In den Genuss kamen Sinti eben auch zum Teil, weil man die Handelsbeziehungen schätzte oder weil es eine gewünschte Migration war. Aber natürlich waren diese mittelalterlichen Gesellschaften sehr brüchig und sehr schwierig und es gab ja zivilisatorisch sehr starke Umbrüche.
SPRECHERIN
Immer wieder kämpften Regenten um Besitztümer und Herrschaftsgebiete. Wandernde Gruppen waren irgendwann nicht mehr geduldet.
11 O-TON (Fings)
Man versuchte staatliche Macht herzustellen und man sonderte dabei diejenigen aus, die man als nicht passend ansah. Und es gab ja in den deutschen Landen damals ein großes Heer an mobilen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und nach Brot ihre Territorien wechselten und das wollte man eben gerade unterbinden. Man wollte die Leute an ein Territorium festbinden, man wollte dafür sorgen, dass bestimmte Regeln durchgesetzt werden. Und in diese Mühlen gerieten dann auch Sinti und Roma.
Musik: Z8036179130 After the battle 0‘33
TC 07:04 – Vogelfrei
SPRECHERIN
1498 erklärte der Freiburger Reichstag Sinti und Roma reichsweit zu Vogelfreien. Das bedeutete, jedermann konnte gegen sie vorgehen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es kam zu brutalen Übergriffen; es gab Hinrichtungen, Männer wurden gerädert und gevierteilt. Allerdings – das zeigen neuere Forschungen – war das eher die Ausnahme als die Regel.
12 O-TON (Fings)
Also Sinti haben sich in den 300 Jahren in den deutschen Landen angesiedelt und etabliert. Man kann anhand der Quellen eine große Bandbreite an Berufen feststellen, also im Handel und im Handwerk. Das wichtigste Gewerbe für Sinti in der frühen Neuzeit was das Militär, viele stiegen auch in hohe Offiziersränge auf.
SPRECHERIN
Einen ersten größeren Wendepunkt stellte die Zeit der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert dar.
13 O-TON (Fings)
Die Aufklärung brachte für Sinti und Roma nichts Gutes, weil sich da der Rassismus ausgeprägt hat. Es war die Zeit auch des Kolonialismus und man fing an die Menschen zu sortieren. Es wurde die Rasse erfunden und in dem Zusammenhang interessierten sich dann auch auf einmal Forscherinnen und Forscher sehr stark für Sinti und Roma, weil man sie als die Fremden im eigenen Land identifizierte.
SPRECHERIN
Der Kulturhistoriker und Statistiker Heinrich Grellmann etwa publizierte Ende des 18. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Werk und beschrieb darin ihre Sitten und Gebräuche.
14 O-TON (Fings)
Sie gelten auf einmal als Naturvölker, die unzivilisiert sind, die nicht in der Lage sind sozusagen am Prozess der europäischen Zivilisation teilzunehmen, die sich nicht verändern können, die nicht lernen können.
SPRECHERIN
Diese Eigenschaften seien der Minderheit von Geburt an gegeben, meinte Grellmann.
15 O-TON (Fings)
Und das war das Verheerende, weil damit jede Individualität negiert wurde und den Menschen auch kein angemessener Platz mehr in dieser Gesellschaft zugewiesen wurde, sondern im Gegenteil: Da entstand dann das ständige Aussortieren und Ausgrenzen.
Musik: Z8015897120 Frühling 0‘20
SPRECHERIN
Wandernde Sinti und Roma bekamen vielerorts keine Arbeitsgenehmigungen mehr, durften nur außerhalb der Stadtmauer siedeln, wenn sie nicht gleich vertrieben wurden. Gleichzeitig gab es aber auch viele Angehörige der Minderheit, die etabliert waren, auch im 1871 neu gegründeten Deutschen Reich.
TC 09:40 – Systematische Diskriminierung im Kaiserreich
16 O-TON (Fings)
Viele gingen im Ersten Weltkrieg für den Kaiser an die Front. Man fühlte sich durch und durch deutsch. Man kennt ja die Fotos in bayerischer Lederhose, in Uniformrock oder im Kommunionkleid, es gab bürgerliches Ambiente, es gab natürlich auch Armut, aber es gab eben eine ganz breite Palette an Lebensformen und ökonomischen Situationen.
Musik: Z8019017135 Passing landscapes 0‘47
SPRECHERIN
Von staatlicher Seite hatte allerdings schon im Kaiserreich eine diskriminierende Sonderbehandlung begonnen. Die Ausländerpolitik verschärfte sich, die Frage, wer eine Reichsangehörigkeit bekommt und wer nicht, spielte eine zunehmend größere Rolle. Sinti und Roma versuchte man auszusondern, dasselbe galt für Polen und Juden. 1899 war in München bereits eine sogenannte „Zigeunerzentrale“ eingerichtet worden. Mit modernsten Methoden erfasste die Behörde alle, die sie als „Zigeuner“ klassifizierte, in einer Datenbank. Auf diese Weise registrierte man sonst nur Serienstraftäter.
17 O-TON (Fings)
Und in Bayern wurde dann auch 1926 das sogenannte Zigeuner- und Arbeitsscheuen-Gesetz erlassen. Dieses Gesetz wurde schon zur Weimarer Zeit kritisiert, weil es rechtlich im Grunde genommen nicht zulässig war, und trotzdem hat dieses Gesetz einen sehr breiten Konsens gefunden.
SPRECHERIN
Die Folge dieses Gesetzes war, dass viele Angehörige der Minderheit aus Bayern flohen, zum Beispiel ins Rheinland.
18 O-TON (Fings)
Ich kenne selber einige Familien, deren Großeltern zu dieser Zeit dann ins Rheinland geflohen sind, weil es in Bayern nicht möglich war, einen Wandergewerbeschein zu bekommen, also die wirtschaftlichen Existenzen waren dadurch auch bedroht.
SPRECHERIN
Die Zeit im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik war einerseits geprägt von behördlicher Diskriminierung, andererseits konnten sich aber weiterhin viele Sinti und Roma gesellschaftlich behaupten oder zumindest ihre Situation verbessern, indem sie in andere Teile Deutschlands wanderten. Das änderte sich dramatisch, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen.
TC 11:58 – Im Nationalsozialismus: Am Rande der Existenz die lebensgefährliche „Rassenfrage“
19 O-TON (Fings)
1933 war dann in der Tat ein ganz massiver Einbruch auch für Sinti und Roma, weil jetzt war ja ein Staat gebildet worden, bei dem die sogenannte Rassenfrage an erster Stelle auf der Tagesordnung stand. Und natürlich zielten die Nationalsozialisten vor allem auf die jüdische Bevölkerung, das war die größte Gruppe im Reich, die man als Fremdrasse markierte. Aber eben auch Sinti und Roma merkten recht früh, dass sie nun stark unter Druck gerieten und in ihrer Existenz bedrängt wurden.
Musik: Z8023845106 War is coming 0‘19
SPRECHERIN
Mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 erklärten die Nationalsozialisten Sinti und Roma zur „fremden Rasse“. Für die etwa 20.000 Angehörigen der Minderheit im Reich hatte das gravierende Folgen.
20 O-TON (Fings)
Sie wurden dann nicht nur von der Polizei total erfasst, sondern auch von der sogenannten rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle, an deren Spitze ein Arzt und Psychiater, Dr. Robert Ritter, stand. Diese rassenhygienische Forschungsstelle hatte sich dann zur Aufgabe gesetzt, alle Sinti und Roma im Deutschen Reich rassistisch zu erfassen, zu katalogisieren, zu vermessen, Stammbäume wurden angelegt ab 1936. Und die rassenhygienische Forschungsstelle war auch maßgeblich verantwortlich für die Radikalisierung der Verfolgung während des Nationalsozialismus. Also sie entschieden mit, wenn irgendwelche Gesetze vorbereitet wurden oder Erlasse, sie fertigten Guthaben an, ob jemand ein sogenannter „Zigeuner“ oder „Zigeunermischling“ war. Und diese ganze Arbeit hatte dann natürlich auch gravierende Auswirkungen im Hinblick auf das Verfolgungsgeschehen.
TC 13:53 – Im Vernichtungslager
SPRECHERIN
Mit Kriegsbeginn 1939 durften Sinti und Roma ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. Das war gewissermaßen das Vorspiel für die späteren Deportationen in die Konzentrationslager.
21 O-TON (Fings)
Es war schon relativ früh klar, dass Sinti und Roma aus dem Reich deportiert werden sollten und es fand dann auch tatsächlich die erste Deportation im Mai 1940 statt, das waren etwa zweieinhalb Tausend Menschen, eher aus dem Westen und Nordwesten des Reiches, die dann in das besetzte Polen deportiert wurden.
SPRECHERIN
Aber auch den anderen Angehörigen der Minderheit setzten die Nationalsozialisten immer mehr zu. Oft mussten sie ihre Arbeit aufgeben und stattdessen Zwangsarbeit leisten.
22 O-TON (Fings)
Und im Dezember 1942 ordnete dann Heinrich Himmler an, dass alle Sinti und Roma im Deutschen Reich in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden.
SPRECHERIN
Systematisch wurden alle Sinti und Roma in die Vernichtungslager verschleppt. Frauen, Kinder, Männer – selbst, wenn diese gerade für die Nationalsozialisten an der Front kämpften.
23 O-TON (Fings)
Die wurden direkt mit der Uniform ins Lager eingewiesen. Und im Lager selber waren entsetzliche Zustände, so dass im Lager viele verstarben, entweder an Gewaltverbrechen, vor Hunger, an Krankheiten, die nicht behandelt wurden. Oder sie fielen den medizinischen Experimenten des berüchtigten Arztes Josef Mengele zum Opfer. Und nur einige wenige wurden dann selektiert und zur Zwangsarbeit in andere Lager überstellt, Ravensbrück oder Buchenwald beispielsweise. Und alle anderen wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordet.
Musik: C1587770106 Thoughtful gloom (reduziert) 1‘01
TC 15:41 – “Porajmos” – Ein vertuschter Völkermord
SPRECHERIN
Von den etwa 20.000 Sinti und Roma, die im Deutschen Reich lebten, wurden etwa drei Viertel ermordet. Insgesamt wurden im deutsch besetzten Europa und in den Ländern, die mit NS-Deutschland kollaborierten, Hunderttausende verfolgt und ermordet. Bis heute lässt sich eine annähernd genau Zahl der gesamten Todesopfer unter den europäischen Sinti und Roma nicht ermitteln. Schätzungen gehen von bis zu einer halben Million aus. Der Völkermord - auf Romanes „Porajmos“ genannt - war eine Grausamkeit unvorstellbaren Ausmaßes – die dennoch in der Nachkriegszeit so gut wie keine Beachtung fand. Stattdessen standen Sinti und Roma weiterhin unter Generalverdacht. Die Polizei erfasste sie immer noch in ihren Sonderabteilungen, sagt die Historikerin Yvonne Robel. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg.
24 O-TON (Robel)
Die berühmteste eigentlich in München, aber in Hamburg gab es eine Sonderabteilung innerhalb der Kriminalpolizei, die „Dienststelle für Landfahrer“ oft hieß, die gezielte Verfolgung von Personen, die irgendwie als Angehörige der Minderheit kenntlich geworden waren, betrieben.
SPRECHERIN
Auch in anderen staatlichen Institutionen, Ämtern und Behörden, stießen Sinti und Roma oft auf Ablehnung. Vielerorts arbeiteten noch dieselben Personen, die die Angehörigen der Minderheit während der NS-Zeit als „Zigeuner“ klassifiziert hatten und somit für Deportationen verantwortlich waren. Ähnliches konnte man in der Wissenschaft beobachten.
25 O-TON (Robel)
Es gibt die Akteure, die im Nationalsozialismus unter anderem in der rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle unter Robert Ritter gearbeitet haben, die auch in der Nachkriegszeit dann weiterarbeiteten, ihre Studien betrieben, die an Personen forschten, weiter ihr Wissen verbreiteten – und als Experten wahrgenommen wurden, da gab es überhaupt gar keinen Bruch.
SPRECHERIN
Schuldeingeständnisse, gar eine Anerkennung des Völkermords gab es von diesen sogenannten Experten nicht. Stattdessen hieß es beispielsweise, Sinti und Roma wären in Konzentrationslager gebracht worden, weil sie Kriminelle gewesen seien. Auch ein Urteil des obersten deutschen Gerichtes spiegelte das wider.
26 O-TON (Robel)
Es gab 1956 dieses Grundsatzurteil beim Bundesgerichtshof, das besagte, dass alle Verfolgung von Sinti und Roma vor 1943 nicht aus rassistischen Gründen erfolgt sei und deshalb nicht entschädigungsrelevant war […]. Das ist ein fatales Urteil für viele Überlebende gewesen, die auf Hilfe angewiesen wären, weil sie aus Verfolgungsgründen arbeitsunfähig waren; körperlich versehrt, Hilfe brauchten für ihre Familien und so weiter.
SPRECHERIN:
Wegen der fehlenden Aufarbeitung wirkten auch in der Bevölkerung die alten Vorurteile und Stereotype fort.
SPRECHER
Zitat aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs 1956: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist."
27 O-TON (Robel)
Diese nationalsozialistische Schuldzuweisung, asozial zu sein, aus der Norm der Volksgemeinschaft aus sozialen Gründen auszuscheren, diese Zuweisung war extrem wirkmächtig in der Nachkriegszeit. Und die war so wirkmächtig, dass sie sich in die Entschädigungsgesetzgebung eingeschrieben hat.
Musik: Z8032962101 Aufbruch und Z8032962103 Aufbruch (reduced 2) 0‘39
TC 18:42 – Eine gebrochene Generation
SPRECHERIN
Die Situation änderte sich erst in den 1970er, 80er Jahren. Vor allem weil nun auch Angehörige der Minderheit selbst für ihre Rechte kämpften.
ZITATOR
Aufruf! An alle deutschen Sinti! Es ist langsam an der Zeit, auf Ungerechtigkeiten, die die Sinti heute schon wieder erdulden müssen, aufmerksam zu machen!
SPRECHERIN
In Heidelberg veröffentlichte das Zentral-Komitee der Sinti Westdeutschland einen Aufruf. In der DDR gab es nur ein paar hundert Angehörige der Minderheit. In Heidelberg mit dabei war auch Romani Rose.
28 O-TON (Rose)
Sie müssen wissen, die älteren Leute, die Generation meiner Eltern, die waren durch die Erfahrung des Nationalsozialismus gebrochen. (....) Und erst die Nachkriegsgeneration, die mit einem anderen Bewusstsein in Staat und Gesellschaft aufgewachsen ist, konnte sich mit diesem Kapitel des Unrechts durch die Nationalsozialisten auseinandersetzen. (10)
SPRECHERIN
Der Hungerstreik und andere Protestaktionen zeigten Wirkung. Im März 1982 empfing Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des kurz zuvor gegründeten Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Anschließend sagte er die Worte, auf die viele Angehörige der Minderheit lange gewartet hatten:
ZITATOR
Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermordes erfüllt.
SPRECHERIN
Die Erklärung Schmidts war ein Wendepunkt im Umgang mit Sinti und Roma in der Bundesrepublik, sagt Yvonne Robel.
29 O-TON (Robel)
Das war jetzt nicht nur Symbolpolitik, sondern das war auf einer moralischen Ebene extrem wichtig dieser Schritt.
Musik: Z8014761143 New beginning 0‘58
TC 20:37 – Angst trotz Anerkennung
SPRECHERIN
1995 wurden die deutschen Sinti und Roma als eine der vier alteingesessenen Minderheiten in Deutschland anerkannt, neben Friesen, Sorben und der dänischen Minderheit. Aber trotz alledem lebten und leben die alte Stereotype und Vorurteile in der Bevölkerung fort. Das wurde deutlich, als sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele osteuropäischen Staaten neuformierten. Alte Nationalismen flammten auf, es kam zu Vertreibungen und Fluchtwellen, vor allem während des Kosovo-Kriegs Ende der 1990er. Viele Sinti und Roma leugneten deshalb ihre Zugehörigkeit zur Minderheit. Das machen viele auch heute noch. Auch Marcella Reinhardt hat das lange Zeit getan – aus Angst, sie könnte ihren Job verlieren.
31 O-TON (Reinhardt)
Ich hatte, als ich meinen Job angefangen habe, gesagt, ich bin Italienerin.
Musik: Musik: Z8020108141 In der Finsternis 1‘09
SPRECHERIN
Denn immer noch sind Vorurteile und negative Stereotype weit verbreitet.
32 O-TON (Reinhardt)
Die Diskriminierung gibt es immer noch, das hat sich leider in den Generationen nicht verändert. Wir haben Jugendliche, die sich sehr schwer tun mit diesen Vorurteilen, gerade auf dem Bildungsweg ist es sehr schwer.
SPRECHERIN
Aber Marcella Reinhardt sieht auch viel Positives, insbesondere die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung und des Zentralrats habe hierzu beigetragen.
33 O-TON (Reinhardt)
Wenn ich bedenke, dass unsere Leute früher sich nie getraut haben, in der Mitte der Gesellschaft sich zu zeigen oder auch andersrum gesehen, wir waren in der Mitte der Gesellschaft nicht erwünscht und heute begrüßt man uns, wir machen zusammen Veranstaltungen, wir gedenken zusammen an die Opfer des Holocaust und wir arbeiten zusammen gegen Rassismus, da muss ich sagen, wir haben sehr große Erfolge erreicht.
TC 22:42 – Outro