

Alles Geschichte - Der History-Podcast
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Hinter allem steckt Geschichte und wir erzählen sie euch - euer History-Podcast.
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Jul 5, 2024 • 23min
VORSTÖSSE - Pickelhaube und Kokosnuss
Wer auf der Südsee-Insel Samoa einen Blick ins Telefonbuch wirft, kann sich auf eine Überraschung gefasst machen. Nachnamen wie Keil, Thieme und Retzlaff zeugen von einer Zeit, die in Deutschland fast vergessen ist: Einen "Platz an der Sonne" suchte das Deutsche Reich auch auf Neuguinea, Samoa und anderen Südseeinseln. Die deutsche Kolonialzeit in der Südsee ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz der Geschichte. Von Klaus Uhrig (BR 2014)
Credits Autor: Klaus Uhrig Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel, Jerzy May Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Joseph Hiery Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: WDR (2023): Die deutsche Kolonialzeit – Was wir heute über sie wissen Am Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das Deutsche Reich zu den Kolonialmächten Europas. Mit mörderischer Brutalität unterdrückten deutsche Kolonialherren die Bewohner der besetzten Länder. Ein düsteres Geschichtskapitel, über das bis heute noch wenig bekannt ist. JETZT ANSEHEN
Das Kalenderblatt (2011): Deutsch-Neuguinea wird reguläre Kolonie (01.04.1899) Der 1. April 1899 bedeutete für die Papua-Bevölkerung den Anbruch einer neuen Zeit, denn Deutsch-Neuguinea wurde reguläre Kolonie des Deutschen Reichs. Bis heute ist es schwer, die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung vor der Kolonisierung zu rekonstruieren. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:MUSIK
Erzählerin:Ob seine melanesischen Diener Otto Ehlers wirklich aufgegessen haben, das lässt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Unwahrscheinlich ist es aber nicht. Im tiefen Dschungel Neuguineas gibt es keine großen Tiere, die man jagen könnte und überhaupt kaum Nahrungsquellen. Wem hier die Vorräte ausgehen, den könnte so ein wohlgenährter Deutscher schon in Versuchung bringen.
MUSIK ENDE
Erzähler:Vielleicht haben sie ihn auch einfach nur erschossen, weil sie genug von seinen abstrusen Plänen hatten. Einmal die größte Insel der Südsee von Norden nach Süden durchqueren, zu Fuß, durch den unerforschten, dichten Dschungel. Das wäre selbst heute eine Schnapsidee. Im Jahre 1895 ist es der reinste Selbstmord.
Erzählerin:Obendrein lässt sich Ehlers auch noch eine Kiste Gold und ein Stahlrohrbett durch den Urwald tragen. Ein zivilisierter Forschungsreisender schläft doch nicht in der Hängematte. Was er allerdings mit dem Gold vorhatte …. keine Ahnung.
Erzähler:Klar ist nur: Ehlers kommt nie auf der Südseite der Insel an. Von seinen 40 Dienern überleben nur 22. Und als der deutsche Landeshauptmann von Neuguinea, Curt von Hagen, später die Mörder stellen will, wird auch er im Urwald erschossen.
Erzählerin:Spätestens jetzt reibt sich wohl so mancher in der Heimat verwundert die Augen: Was genau wollten wir noch mal auf diesen gottverlassenen Dschungel-Inseln?
MUSIK
Erzähler:Ja genau, was eigentlich?
MUSIK
Erzählerin:Das deutsche Kolonialreich in der Südsee wirkt erst mal wie eine Randnotiz der Geschichte. Ein Kuriosum. Reichsdampfer am Korallenriff. Kuckucksuhr an der Kokospalme. Vielen Deutschen ist bis heute völlig unbekannt, dass das Deutsche Reich Kolonien im Südpazifik hatte. Also ein paar ganz kleine Kolonien.
Erzähler:Die Inseln der Südsee sind der letzte weiße Fleck auf den Landkarten der Europäer. Erst im 18. Jahrhundert entdecken Handelsschiffe und Weltreisende die weitläufigen Inselreiche im Südpazifik – von den Hawaii-Inseln im Norden, über die winzigen Atolle Mikronesiens, bis hin zu den polynesischen Inselgruppen Tahiti und Samoa. Paradiesische Eilande – und dazwischen: Tausende Meilen offene See.
Erzählerin:Bald stecken Engländer und Franzosen ihre Claims ab, Spanier, Holländer, Portugiesen, Amerikaner. Jeder will ein Stückchen vom Paradies abhaben. Und die Deutschen?
O-Ton Joseph Hiery:Das ist ne durchaus interessante Geschichte: Was machten die Deutschen da in der Mitte des 19. Jahrhunderts?Erzählerin:Professor Joseph Hiery ist einer der wirklich seltenen Südsee-Kolonial-Experten, die es in Deutschland gibt. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Historiker von der Universität Bayreuth mit diesem Thema; diesem kolonialen Spezialfall, der so ganz anders verlief, als die Kolonisierung Afrikas.
O-Ton Joseph Hiery:Kolonialismus bedeutet normalerweise, dass eine christliche Mission zuerst kommt, und dann übernimmt der koloniale Staat. Das haben wir häufig auch in der Südsee. Bei den Deutschen hat die Mission nie eine Rolle gespielt für die Kolonialisierung in der Südsee. Eine Mission kam erst, nachdem das Kolonie war, aber der Handel, der Handel, wenn man will, das Geld.
Erzähler:Statt Soldaten oder Priester sind es nämlich deutsche Händler, die sich zuerst in die Südsee vorwagen. Und Walfänger. Zu diesem Zeitpunkt ist Waltran eine unersetzliche Ressource – vor allem für die Kerzenherstellung, elektrisches Licht gibt es ja noch nicht. Und die größten Walherden durchstreifen in dieser Zeit eben den Südpazifik.
Erzählerin:Immer wieder lassen sich deutsche Matrosen auf den paradiesisch wirkenden Eilanden nieder. Diese sogenannten „Beachcomber“ gründen Familien mit einheimischen Frauen und gehen ganz in der Kultur der Einheimischen auf.
O-Ton Joseph Hiery:Und dann kam von Südamerika Mitte des 19. Jahrhunderts ein deutscher Geschäftsmann, der in Valparaiso Geschäfte machte für ein deutsches Handelshaus, und kam nach Samoa und fand vor Ort auf fast jeder Insel einen Deutschen. Und das waren so die geborenen Agenten für seine Handelstätigkeit, denn über diese gemeinsame Zugehörigkeit, es gab ja noch keinen deutschen Nationalstaat, aber über die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, lag es nahe, die mit Geschäften zu beauftragen. Das Wirtschaftsunternehmen wuchs. Und das fiel dann zufällig mit der Zeit in die Reichsgründung durch Bismarck hinein. Dann kam die Idee: Na ja, da, wo die Engländer noch nicht sind, da setzen wir uns ein. Schützen eigentlich die Wirtschaftsinteressen.
MUSIK
Erzähler:Im November 1884 hisst Otto Finsch, der sogenannte „Forschungsagent des Neuguinea-Konsortiums“, im fernen Nordosten Neuguineas die erste deutsche Flagge in der Südsee. Bis Ende Dezember reklamieren verschiedene Kapitäne dazu noch zahlreiche umliegende Inseln für das Deutsche Reich, und dazu die – Zitat – „unbestritten herrenlosen“ Archipele der Marshall-, Providence- und Brown-Inseln.
Erzählerin:Wobei „unbestritten herrenlos“ sich natürlich nur auf weiße Kolonialherren bezieht. Die Inseln sind alles andere als unbewohnt. Aber die dunkelhäutigen Melanesier und Mikronesier werden von der Kolonial-Ideologie der Zeit bestenfalls als „edle Wilde“ gesehen – aus der Zeit gefallene Steinzeitvölker, die es zu zivilisieren gilt.
Erzähler:Wohlgemerkt: Es sind Handelskapitäne, die die deutsche Flagge hissen. Deutsche Kolonie wird Nordost-Neuguinea erst 15 Jahre später. Bis dahin steht dieses sogenannte „Kaiser-Wilhelm-Land“ zwar unter dem Schutz des Reiches. Doch die Verwaltung liegt in den Händen der privaten „Neuguinea-Kompagnie“ – ein Konsortium aus Berliner Bankiers und Finanzinvestoren.
Erzählerin:Lange bleibt das Schutzgebiet die einzige deutsche Besitzung in der Südsee. Deutsche Missionare versuchen, den äußerst unwilligen Melanesiern ihre Religion nahezubringen und ihnen den unter wahren Christenmenschen dann doch eher verpönten Kannibalismus auszureden. Deutsche Unternehmer gründen Kokos-Plantagen und deutsche Verwaltungsbeamte geben den melanesischen Inseln anständige deutsche Namen: Neupommern. Neubrandenburg. Bismarck-Archipel.
Erzähler:Dann, Ende der 1890er Jahre, können die Deutschen ihr Kolonialreich noch einmal entscheidend erweitern. Von den schwächelnden Spaniern kauft man für 25 Millionen Peseten Palau, sowie die Marianen- und Karolineninseln.
MUSIK
Erzählerin:Und schließlich fällt der Blick der Deutschen auf ein mögliches Juwel in der kolonialen Perlenkette: das Polynesische Samoa. Ein Archipel aus wunderschönen Inseln, ein zweites Hawaii sozusagen. Offiziell noch keine Kolonie, wirtschaftlich gesehen aufgeteilt zwischen deutschen, englischen und amerikanischen Interessen.
Erzähler:An dieser Stelle kommt wieder Otto Ehlers ins Spiel. Der exzentrische Reisende mit dem Stahlrohrbett, der einige Zeit später im Dschungel Neuguineas mutmaßlich ein unrühmliches Ende als Abendessen finden wird.
MUSIK ENDE
Erzählerin:1894 ist eben dieser Otto Ehlers noch wohlauf, und widmet sich fleißig seinem liebsten Hobby, der Fernreise. Genauer gesagt: Der patriotischen Fernreise. Joseph Hiery:
O-Ton Joseph Hiery:Ja, also Otto Ehlers ist so ein deutscher Dandy-Reisender, der relativ wohlhabend ist, wohl nichts arbeitet, weil er so viel Geld hat, und meint, er müsse die Welt sehen und dann auf den Spuren der deutschen Flaggenhissungen in die Welt reist und als erster da sein will, wenn da die deutsche Fahne gehisst wird. Und glaubt, er kommt nach Samoa, und die deutsche Fahne wird gehisst, und er kann da Beifall klatschen.
Erzähler: In dieser Hinsicht ist Samoa eine Enttäuschung für Ehlers: Das Deutsche Reich denkt zunächst gar nicht daran, auf Samoa irgendeine Fahne aufzuziehen. Zu fragil scheint das Mächtegleichgewicht mit Amerikanern und Engländern. Zu unsicher der Nutzen eines solchen Unternehmens.
Erzählerin:Dass sich das keine fünf Jahre später ändert, ist dann allerdings wohl auch Ehlers zu verdanken. Genauer gesagt: Dem Buch, das Ehlers nach seiner Rückkehr nach Deutschland schreibt: Samoa – Perle der Südsee.
MUSIK
Zitator Ehlers:Im Westen tauchte die matt leuchtende Scheibe des Vollmonds in die Wogen, während im Osten ein rosiger Schein das Nahen der Sonne verkündete. Und in diesem zauberhaften Zwielicht aus opalfarbig schillernder Flut sich erhebend, lag vor mir, vom Fuße zum Gipfel in dem üppigen Tropengrün prangend, die Insel Upolu. Wo soll ich armer Reisender Worte hernehmen, den wunderbaren Reiz dieses Bildes zu schildern, wie in trockener Prosa den Zauber eines lyrischen Gedichts, den Duft eines Blütenstraußes wiedergeben.
MUSIK ENDE
Erzähler:Zusammengefasst: Die Samoa-Inseln sind das reinste Paradies. In ihm leben besonders edle und schöne Menschen mit bronzefarbener Haut – kein Vergleich zu anderen Wilden. Und die Deutschen sollten sich diese Inseln unbedingt holen, bevor jemand anders schneller sein könnte.
Erzählerin:Eine exotistische Schwärmerei eben. In einer an Schwärmereien nicht eben armen Zeit. Nichts Besonderes, dieser Bericht – könnte man meinen. Doch dann wird Ehlers‘ Reisebericht überraschend zum Bestseller.
O-Ton Joseph Hiery:Und dann wird das im Reichstag zitiert in der Debatte, ob man Samoa Geld geben soll. Das Geld sei doch alles ins Meer geschmissen, argumentieren die Linksliberalen und die Sozialdemokraten, Taifun geht regelmäßig darüber, alles geht wieder kaputt. Und dann zitiert damals der Gouverneur Deutsch-Neuguineas das Buch – ja und: Das müssen sie doch kennen! Wie toll! Und wir haben solche prächtigen Menschen da. Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Deutschen, diese prächtigen Menschen zu schützen vor den bösen Franzosen, den bösen Engländern, den bösen Amerikanern und keiner kann’s so gut machen wie wir!
Erzählerin:Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das Argument, das schließlich den Reichstag zur Bewilligung der Gelder für eine Kolonie bringt, ist nicht etwa das deutsche Handelsinteresse, und auch kein militärisches Kalkül. Es ist der ebenso arrogante wie naive Wunsch, den edelsten aller edlen Wilden vor der Inkompetenz der anderen Kolonialmächte zu schützen.
Erzähler:Diese Reichstagsdebatte ist dabei alles andere als eine besonders kuriose Episode innerhalb des deutschen Kolonialbetriebs. Sie ist vielleicht der Schlüssel zu dem, was in den nächsten Jahren entstehen sollte: der „Sonderfall Samoa“, die mit Abstand ungewöhnlichste aller deutschen Kolonien.
O-Ton Joseph Hiery:Zunächst einmal ist’s ein, wenn man so will, klingt merkwürdig, ein positiver Rassismus hier zu erkennen. Das heißt, das Kolonialamt und seine Vorläuferbehörde im Auswärtigen Amt haben mal festgelegt, die Südsee-Insulaner sind anders zu behandeln als die Afrikaner.
Erzähler: Konkret heißt das: keine Prügelstrafe. Keine Eisenkette. Keine Sklavenarbeit auf den Plantagen wie in den deutschen Kolonien in Afrika.
Erzählerin:Zumindest nicht für die Samoaner. Bei den deutlich dunkelhäutigeren Bewohnern Neuguineas ist die Kolonialverwaltung weniger zimperlich.
O-Ton Joseph Hiery:Bei den Samoanern heißt es dann sogar: Das sind eigentlich Arier. Die sind mit uns verwandt. Und vielleicht jetzt nicht so ganz auf unserer Stufe, aber da bringen wir sie ja da hin. Und sie sind alle besser als die anderen, die da rumwohnen.
Erzähler:Samoa wird eine Art Modell-Kolonie. Aber nicht im Sinne einer effizienten Ausbeutung, ganz im Gegenteil. Gouverneur wird Wilhelm Solf, ein Bürgerssohn und Schöngeist, der in der Heimat zunächst Literatur und Sanskrit studiert hatte.
Erzählerin:Solf lässt die gesellschaftlichen Strukturen der Samoaner weitgehend weiterbestehen – unter deutscher Oberherrschaft, versteht sich. Und versucht, sich ansonsten möglichst wenig in ihre Angelegenheiten einzumischen. Während sich andere Kolonialbeamte verwundert die Augen reiben, verkündet Solf: Eigentlich sei doch Samoa primär das Land der Samoaner. Joseph Hiery:
O-Ton Joseph Hiery:Während es Deutsch-Neuguinea hieß und Deutsch-Westafrika und Deutsch-Südwestafrika, hieß das Samoa, es hieß nicht Deutsch-Samoa offiziell, und die Deutschen, die da waren, mussten gemäß Diktion des Gouverneurs „Fremde“ genannt werden.
Erzähler:Vielleicht trägt diese Haltung der Deutschen zu der Souveränität bei, mit der die Samoaner auf die koloniale Situation reagieren: Sie bewahren, was sie bewahren wollen, und nehmen begierig alles auf, was ihre Lebenssituation verbessern könnte.
Erzählerin:Vor allem in der Medizin und der Landwirtschaft sind die Deutschen den Samoanern so weit voraus, dass jedes Dorf einen riesigen Vorteil hat, wenn ein Weißer dort lebt. Möglicherweise liegt darin auch die Ursache für den phänomenalen Erfolg der christlichen Missionare bei den Samoanern.
O-Ton Joseph Hiery:Die wollten Weiße haben – sag ich jetzt mal platt – weil der „Besitz“ eines Weißen aus einheimischer Sicht bedeutete Zugriff auf dessen Wissen und die Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse. Und den, den man am ehesten haben konnte, der länger da blieb, das war ein Priester oder ein Pastor.
MUSIK
Erzähler:Während in Samoa einzelne Dörfer regelrecht darum kämpfen, wer denn nun einen Missionar bekommen würde, führen deutsche Missionare auf der melanesischen Insel Neupommern über 4.000 Kilometer westlich von Samoa einen ganz anderen Kampf.
MUSIK ENDE
Erzählerin:Den ums nackte Überleben.
MUSIK
Erzähler:Am 13. August 1904 richten Melanesier vom Volk der Baining unter den katholischen Missionaren der Missions-Station St. Paul ein Massaker an. Der fieberkranke Missionschef Pater Rascher wird im Bett liegend erschossen, die Missionsschwester Angela am Fuß des Altars mit einer Axt erschlagen.
Erzählerin:Was war geschehen? Woher kam dieser grenzenlose Hass?
MUSIK ENDE
Erzähler:Den hatten sich die Missionare wohl weitgehend selbst zuzuschreiben. St. Paul war keine einfache Missionsstation. Hier sollte eines von vielen sogenannten „Christendörfern“ entstehen, in denen umerzogene Melanesier ein christliches Leben führen sollten – völlig losgelöst von ihrer eigentlichen Kultur, die die Missionare regelrecht verteufelten. Vor allem den allesbestimmenden Ahnenkult der Melanesier wollten die Missionare rigoros ausmerzenErzählerin:Pater Raschert hatte sogar das erste Gebot extra für seine melanesischen Schäfchen umgeschrieben.
Zitator Pater Raschert:Ich bin der Herr, dein Gott – du sollst keinen Totenkult treiben!
Erzählerin:Hinzu kam die strenge Sexualmoral – den Melanesiern völlig fremd – und ihre rigide Durchsetzung mit Prügelstrafen und Predigten vom Höllenfeuer – sowie ein völliges Unverständnis der Missionare für die politischen Verhältnisse unter den Einheimischen.
MUSIK
Erzähler:Als die Gewalt schließlich nach einer besonders brutalen Prügel-Orgie in der Missionsstation eskaliert, sind kurze Zeit später alle zehn deutschen Missionare von St. Paul tot.
Erzählerin.Es ist eine ganz ähnliche Gemengelage aus Arroganz, Selbstherrlichkeit und der unseligen Prügelstrafe, die sechs Jahre später zum größten Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in der Südsee führt. Ort des Geschehens: Ponape, eine mikronesische Insel, auf der fünf Völker in winzigen Stammes-Staaten leben.
Erzähler:Am 18. Oktober 1910 wird Gustav Boeder, Leiter des Verwaltungsbezirks Ostkarolinen, durch einen Gewehrschuss in den Bauch niedergestreckt und von einem aufgebrachten Einheimischen schließlich durch einen weiteren Schuss in den Kopf getötet (MUSIK ENDE). Auch zwei weitere deutsche Kolonialbeamte und fünf Mikronesier in deutschen Diensten werden von Aufständischen ermordet, die allesamt dem Volk der Sokehs angehören. Ein Blutvergießen mit Ansage.
Erzählerin:Auf Ponape gibt es da bereits seit einigen Jahren große Spannungen zwischen einzelnen Völkern der Insel und den deutschen Kolonialherren. Sie beginnen im Jahr 1901, als der äußerst diplomatische und friedliebende Gouverneur Hahl abberufen und durch Victor Berg ersetzt wird. Berg hatte zuvor in den deutsche Kolonien in Afrika gedient - wo ein deutlich brutaleres Kolonialregime geführt wurde.
Erzähler:Bereits 54 Tage nach seiner Ankunft schickt Berg ein Memorandum nach Berlin, in dem er die „energische wirtschaftliche Erschließung“ der Insel fordert und für den Fall eines Aufstandes eine „schonungslose Strafexpedition“ vorschlägt.
MUSIK
Erzählerin:1907 schändet Berg persönlich eine Grabstätte, als er im Auftrag des Leipziger Völkerkundemuseums Ausgrabungen vornimmt. Einen Tag später stirbt Berg. Sonnenstich, sagt der Arzt. Die Rache der Geister, sagen die Ponapesen.
Erzähler:Es folgt eine Zeit der Unruhe. Lange bleibt der Posten vakant. Gouverneur eines potentiellen Pulverfasses am Ende der Welt zu werden, ist für deutsche Beamte nicht unbedingt ein Traumjob (MUSIK ENDE). Schließlich wird Gustav Boeder Inselchef. Wie Berg ist auch er Afrika-erprobt. Und ein großer Freund der Prügelstrafe. Joseph Hiery:O-Ton Joseph Hiery:Der hat gemeint, er müsse hier afrikanische Methoden einführen. Daraufhin hat eine Ethnie, oder wie wir deutsch sagen: Stamm, revoltiert und es gab einen Aufstand. Der hat allerdings nur diese eine Ethnie betroffen. Das ist ohnehin schon ne kleine Insel mit sehr vielen anderen Ethnien, die haben sich nicht dem angeschlossen.
Erzählerin:Die völlig überrumpelten Deutschen verschanzen sich nach dem Beginn des Aufstands in ihrer Hauptstadt Kolonia und fordern Hilfe aus der Heimat an - die nach langen Wochen des zermürbenden Wartens tatsächlich auch kommt.
O-Ton Joseph Hiery:Das Kaiserreich hat relativ brutal reagiert – Schiffe hingeschickt und dann die Aufständischen exekutiert, die Ethnie weggebracht von der Insel auf ne andere Insel exiliert, wenn man so will.
MUSIK
Erzähler:Es bleibt die einzige größere Kriegsaktion der Deutschen in der Südsee. Das allerdings liegt vielleicht auch daran, dass die Zeit des deutschen Kolonialreiches vier Jahre später schon wieder vorüber ist.
MUSIK ENDE
Erzählerin:Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, sind die Deutschen in der Südsee völlig chancenlos. Und das Reich denkt gar nicht daran, die dann doch ziemlich unbedeutenden Kolonien zu unterstützen. Kämpfe gibt es nur – ganz kurz – auf Neuguinea, das aber innerhalb von kürzester Zeit von australischen Truppen eingenommen wird.Erzähler:Auf Samoa ergeben sich die deutschen kampflos einer neuseeländischen Flotte. Die Neuseeländer – als sogenanntes britisches „Dominion“ selbst noch eine halbe Kolonie – übernehmen die Kolonialverwaltung.
Erzählerin:Dabei stellen sie sich so ungeschickt und arrogant an, dass sie innerhalb von kürzester Zeit die Ablehnung der einheimischen Samoaner provozieren.
Erzähler:Als die Neuseeländer 1918 ein Seuchenschiff im Hafen von Apia anlegen lassen, stirbt ein Drittel der gesamten Bevölkerung an der spanischen Grippe. Spätestens jetzt setzt auf Samoa eine Verklärung der deutschen Herrschaft ein. Im Gegensatz zur neuseeländischen Verwaltung sei das „die gute alte Zeit“.
O-Ton Joseph Hiery:Als ich da hinkam, lebten ja noch Leute, ich hab viele befragt aus der deutschen Kolonialzeit. Und dann hört man dann Stereotype, die positiv sind über Deutsche. Die haben die besten Ärzte und so weiter und so weiter. Das ist relativ stark verankert, aber im Kontrast zur Erfahrung mit den Neuseeländern.
MUSIK
Erzählerin:Deutschland und die Südsee – das bleibt ein kurzes Abenteuer. Allzu prägend ist die deutsche Zeit für viele der Kolonien nicht. Dazu ist die Kolonialzeit zu kurz und die Zahl der Deutschen zu gering. Zu keinem Zeitpunkt leben viel mehr als 4.000 von ihnen in der Südsee. Erzähler:Allerdings: Wenn man genau hinsieht, kann man schon noch einige deutsche Einflüsse erkennen. Zum Beispiel in der Mischsprache „Tok Pisin“, die heute noch in Papua-Neuguinea gesprochen wird. In ihr finden sich zahlreiche, häufig verfremdete, deutsche Lehnworte – „spaisesima“ zum Beispiel, also „Speisezimmer“. Oder, selbsterklärend: „saiskanake“.
MUSIK ENDE
Erzählerin:Den stärksten Einfluss hatte Deutschland sicherlich auf Samoa. In Apia steht bis heute ein Gerichtsgebäude im Kolonialstil, es gibt eine zu deutscher Marschmusik paradierende Polizei-Kapelle und eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes – ehemaliger Vizepremier und Autor eines eher mäßigen Liebesromans – hört auf den illustren Namen Misa Telefoni Retzlaff...
Erzähler:… wobei Misa ein traditioneller Samoanischer Würdentitel ist, und der Retzlaff von seinem Großvater Erich Retzlaff stammt, einem deutschen Kolonialbeamten. Telefoni schließlich heißt die ganze Familie ehrenhalber, (MUSIK: C1205330 012 [00‘43‘‘]) seitdem eben jener Erich Anfang des 20. Jahrhunderts in Samoa das Telefon eingeführt hatte.
Erzählerin:Und was wurde eigentlich aus Wilhelm Solf, dem deutschen Gouverneur Samoas?
Erzähler:Der wird 1918 kurz deutscher Außenminister, 1920 dann schließlich deutscher Botschafter in Tokio. Dort erreicht ihn 1923 ein Brief aus Samoa. Ob es nicht irgendwie möglich wäre, dass er zurückkäme und wieder Gouverneur in Apia werde. Noch heute hat Solf in Samoa einen ausgezeichneten Ruf.MUSIK
Erzählerin:Gustav Boeder dagegen, der prügelnde Inselchef Ponapes, hat da wohl andere Spuren in der Erinnerung hinterlassen. 1983 stürzen Unbekannte seinen Grabstein um und schänden seine letzte Ruhestätte.

Jul 5, 2024 • 22min
VORSTÖSSE - Entdecker ohne Ruhm
Alle großen Entdeckungsreisenden von Kolumbus über Humboldt und Cook hatten einheimische Begleiter. Ohne die Leistungen der indigenen Helfer wären die großen europäischen Forschungsexpeditionen nie gelungen. Und auch unter den indigenen Helfern gab es natürlich Menschen mit Forscherdrang und Entdeckergeist. Auch wenn sie nie so berühmt wurden, wie ihre europäischen Kollegen. Von Sabine Straßer (BR 2018)
Credits Autorin: Sabine Straßer Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Benedict Schregle, Katja Schild Technik: Peter Urban Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Volker Matthies, Dr. Detlev Quintern, Prof. Dr. Fuat Sezgin, Prof. Thomas Höllmann, Dr. Moritz von Brescius Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: funk (2018): Mount Everest – Klettern für die Träume anderer am höchsten Berg der Welt Jedes Jahr ziehen hunderte Bergsteiger und Abenteuerlustige los, um sich ihren Traum vom Mount Everest zu erfüllen. Einmal auf dem Dach der Welt stehen – eine lukrative Touristenattraktion für den kleinen Himalaya-Staat Nepal, eines der ärmsten Länder der Welt. Doch was auf der einen Seite Arbeitsmöglichkeiten für die lokalen Bergführer und Träger – die Sherpas – bedeutet, bringt auf der anderen Seite lebensbedrohliche Risiken für sie mit. Dennis und Patrick Weinert sind zum Everest Base Camp getrekkt und haben mit Bergsteigern, Sherpas und ihren Familien gesprochen, um herauszufinden, was passiert, wenn nicht jeder vom Everest zurückkehrt. JETZT ANSEHEN
Terra X (2022): Die größten Irrtümer des Christoph Kolumbus Kolumbus entdeckte im Jahr 1492 Amerika - zumindest aus europäischer Sicht. Doch begeisterten sich die Menschen seiner Zeit für sein Vorhaben? Und hat er ich bei der Routenplanung verrechnet? Zum Film mit Christoph Kolumbus größten Irrtümern geht es HIER Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:Zitator:„Christoph Kolumbus, spanisch Cristóbal Colón, geboren um 1451 in der Republik Genua, gestorben 1506 in Valladolid, war ein spanischer Seefahrer in kastilischen Diensten, der im Jahr 1492 Amerika entdeckte, als er eine Insel der Bahamas erreichte.“ (Wikipedia)
Zitatorin:1492! Das Jahr der Entdeckung Amerikas!
Zusp.1 Quintern:Kolumbus hat Amerika entdeckt,.. ja...(lacht). Ich denke, Kolumbus steht für die nach wie vor anhaltende Mythenbildung eurozentristischer Provenienz, im Hinblick auf eine sogenannte Entdeckungsgeschichte. Meiner Meinung nach war er in erster Linie ein Eroberer, ein Konquistador. wir wissen beispielsweise, dass er als Pirat tätig war und Schiffe der Maya überfallen und geplündert hat. Also, ich denke, es bedarf einer Neuschreibung des Kolumbus in der Geschichte. (0:40)
Sprecherin:Sagt Detlev Quintern, Islamwissenschaftler, Historiker und Direktor für Lehre und Entwicklung an der Fuat Sezgin Research Foundation for the History of Science in Islam in Istanbul. Ein Institut, an dem unter anderem zu der Frage geforscht wird, wie sehr die europäischen Entdecker sich auf Erkenntnisse arabischer Wissenschaftler gestützt haben. Denn: die Araber konnten schon Jahrhunderte vor den Europäern Längen- und Breitengrade ermitteln und brauchbare Karten zeichnen. Aber dazu später. Zunächst steht fest: Kolumbus war in Amerika nicht alleine. Der Kontinent, den er zeitlebens für Indien hielt, war zur Zeit seiner sogenannten „Entdeckung“ bereits vollständig bewohnt.
Sprecher:Kolumbus traf auf der Bahamas-Insel Guanahani, wie sie von den Einheimischen genannt wurde, das Volk der Arawak. Sie haben dem fremden Spanier und dessen Besatzung wohl gezeigt, was man auf ihrer Insel essen konnte und was nicht. Wo man gefahrlos sein Lager aufschlagen konnte. Vermutlich auch, wie man von ihrer Insel auf andere Inseln kam.
Meeresrauschen? Atmo? Musikakzent?
Sprecherin:Die sogenannte Entdeckungsgeschichte der Welt müsste dringend umgeschrieben werden, findet auch der Politik- und Kulturwissenschaftler Prof. Volker Matthies von der Universität Hamburg.
Zusp. 2 Matthies:Es handelt sich um eine Heldengeschichte, die Entdecker wurden gesehen als omnipotente Heroen, als Helden, die nicht der Hilfe der Einheimischen bedurften, um ihre Ziele zu erreichen, das war aber nicht der Fall. Diese Entdecker waren oft ganz jämmerliche Gestalten, die lebensnotwendig auf die Unterstützung indigener Begleiter angewiesen waren. (0:27)
Musik-Akzent
Sprecher:Christoph Kolumbus schrieb über das indigene Volk auf den Bahamas, die Arawak, in seinen Logbüchern, diese seien naiv und immer gerne bereit zu teilen. Die Spanier begannen schon bald, sie für Arbeitsdienste zu versklaven.
Morde, Plünderungen, Krankheiten kamen dazu: Gut einhundert Jahre nach der Ankunft von Kolumbus auf den Bahamas gab es keine Arawak mehr.
Musikakzent
Zusp. 3 Matthies:Es ist so, dass die europäischen Entdecker die Vorreiter des Imperialismus und Kolonialismus waren, und sie haben die Indigenen ja nur als passive Objekte ihrer Entdeckung gesehen. (0:14)
Sprecherin:Der Politikwissenschaftler Volker Matthies hat in seinem Buch über indigene Begleiter europäischer Forschungsreisender zusammengetragen, wofür die europäischen Reisenden über Jahrhunderte Ureinwohner oder Angehörige fremder Völker gebraucht oder besser: missbraucht haben:
Zusp. 4 Matthies:Zum einen als politische Autoritäten, die ihnen überhaupt erst erlaubten, in diesen Ländern zu reisen, dann als Sprach- und Landeskundige, beziehungsweise als Dolmetscher, Wegweiser, Mediatoren, interkulturelle Vermittler, und Diplomaten im Umgang mit indigenen Ethnien, ferner als Transporteure, als Lastenträger, als Bootsführer, Paddler, Tiertreiber und Tierpfleger, als Expeditionsleiter und Führer von Karawanen, schließlich als persönliche Diener, als Köche oder Krankenpfleger und nicht zuletzt auch als Jäger und Sammler zur Beschaffung von Naturalien für die naturkundlichen Sammlungen. (0:44)
Sprecher:Die meisten dieser indigenen Helfer blieben in der Geschichtsschreibung namenlos. Nur einzelne Ureinwohner fanden Eingang in die Logbücher und Aufzeichnungen der großen Eroberer.
Musik-Akzent Sprecherin:Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Aztekin Malinche, die dem Konquistador Hernán Cortés im 16. Jahrhundert bei der Eroberung Mexikos behilflich war.
Zusp. 5 MatthiesSie war eine Aztekenfürstentochter, ihre Familie gehörte zum mittleren Landadel, sie wurde dann aber zu einer Sklavin der Maya, und sie fiel dann in die Hände der Spanier, als diese im Konflikt mit den Maya gesiegt hatten. (0:17)
Sprecherin:Malinches neuer Besitzer Cortés merkte schnell, dass ihm diese Frau ihm nicht nur als Sexsklavin gute Dienste leisten würde:
Zusp. 6 MatthiesDiese Aztekin namens Malinche war ein Sprachgenie, sie konnte Aztekisch oder Nahuatl, wie man auch sagt, und sie konnte auch Maya und lernte ganz schnell Spanisch; und wurde sozusagen die Art Chefdolmetscherin des Konquistadors Cortés. Man muss wohl sagen, dass ohne ihr Verhandlungsgeschick und ihre Dolmetscherkünste die Eroberung Mexikos viel schwieriger und langwieriger geworden wäre. (0:26)
Sprecherin:Was Malinche in ihrer Heimat Mexiko übrigens bis heute nachgetragen wird:
Zusp. 7 Matthies:Dort gilt sie als eine Verräterin an der Sache des mexikanischen Volkes, denn ihr schiebt man die Hauptschuld daran zu, dass die Eroberung Mexikos so erfolgreich verlaufen ist. Interessant ist, dass es sozusagen abgeleitet von ihrem Namen den Begriff des Malinchismo gibt, der so etwas bedeutet, wie Verrat an der mexikanischen Kultur und der Hinwendung zu fremdem Kulturen. (0:29)Sprecherin:Der eigenen Kultur entrissen, in der fremden nicht anerkannt – das war oft das Schicksal der Dolmetscher – oder, bei den Entdeckern oft noch beliebter: Dolmetscherinnen. Das galt auch für spätere Forschungsreisen:
Atmo Pferdegetrappel? Westernmusik?
Zusp. 8 Matthies:Ein berühmtes Beispiel ist die Expedition von Lewis und Clark, 1804 bis 1806, die Durchquerung Nordamerikas im Auftrag der amerikanischen Regierung. Lewis und Clark, zwei Offiziere, waren überlebenswichtig angewiesen auf eine […] Dolmetscherin, eine Shoshonin […] namens Sacagawea, die shoshonisch und andere Sprachen sprach, und was ihnen erlaubte, mit den Gruppen, die sie unterwegs trafen, überhaupt in Verhandlungen einzutreten. (0:34)
Sprecherin: Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass die Frau auf der Expedition ihr gerade mal zwei Monate altes Baby dabeihatte. In Regionen, die sie aus ihrer Kindheit kannte, erwies sie sich wohl als besonders gute Wegführerin – und sie begegnete dort auf traurige Weise auch ihrer eigenen Vergangenheit.
Zusp. 9 MatthiesHier traf sie eine Freundin aus Jugendtagen, die ihr aber leider auch erzählen musste, dass der Großteil ihrer Familienangehörigen verstorben war, ein ganz dramatisches Wiedersehen fand statt mit ihrem Bruder, hier kam es dann auch zu Ausbrüchen von Tränen, sie musste die Verhandlungen immer wieder unterbrechen, weil der Tränenfluss lief. (0:25)
Sprecherin:Eine der seltenen Überlieferungen, in denen eine indigene Helferin der europäischen Entdeckungsreisenden als menschliches beschrieben wird. Über Jahrhunderte tauchen die Führer, Dolmetscher und Wegbegleiter in den Aufzeichnungen nur in ihren Funktionen auf - oder als Forschungsgegenstand.
Sprecher:Ein trauriges Beispiel dafür sind der bayerische Naturforscher Johann Baptist Spix und sein Botaniker-Kollege Carl Friedrich Philipp von Martius. Die beiden reisten Mitte des 19. Jahrhunderts im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ins Innere Brasiliens und hatten dort natürlich Kontakt mit der indigenen Bevölkerung, allerdings mit fragwürdiger Einstellung, erzählt der heutige Akademie-Präsident Prof. Thomas Höllmann.
Zusp. 10 HöllmannDa hat man festzuhalten, dass die zwei Kinder mit nach München gebracht haben, zwei Kinder, die zwei unterschiedliche Sprachen sprachen und nicht miteinander kommunizieren konnten, und ganz übel anzumerken, diese Kinder haben in München nur noch kurze Zeit überlebt und wurden dann am südlichen Friedhof beigesetzt. (0:21)
Sprecherin:Zwei Kinder einfach so nach Europa zu verschleppen, galt in der Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts nicht als unmenschlich. Ähnlich wie Kolumbus und die Konquistadoren betrachteten auch spätere Forscher und Wissenschaftler die Indigenen als Objekte ihrer Entdeckung und als Arbeitskräfte. Obwohl de facto viele von ihnen an Ausführung und Planung von Expeditionen maßgeblich beteiligt waren.
Musik-AkzentSprecher:Wie zum Beispiel der ehemalige Sklave Sidi Mubarak Bombay, der dem Entdecker John Hanning Speke und einigen anderen Forschungsreisenden Mitte des 19. Jahrhunderts in Ostafrika als Karawanenführer bei der Suche nach den Quellen des Nils half.
Zusp. 11 MatthiesSeine Verdienste waren die eines anerkannten Führers der Expedition, er war Dolmetscher, Informant und Diplomat in den Verhandlungen mit den lokalen Autoritäten, wenn es darum ging, Durchmarschrechte zu bekommen oder Wasserstellen nutzen zu dürfen, oder Proviant zu erwerben. (0:24)
Sprecherin:Die berühmte Nilquellen-Expedition war ein von Großbritannien und der Royal Geographic Society großzügig unterstütztes Projekt. Der Sklave und spätere Karawanenführer Sidi Mubarak Bombay wird in den Aufzeichnungen darüber wohl auch deshalb so viel erwähnt, weil er ein markanter Charakter war.
Zusp. 12 MatthiesDie Europäer nannten als seine kritischen Punkte seine Trunksucht, seine Vorliebe für Frauen und seine Neigung zur Nutzung von Expeditionsressourcen für seine privaten Zwecke. (0:13)
Sprecherin:Der sansibarische Trunkenbold, Frauenheld und Dieb Sidi Mubarak Bombay war aber de facto wohl der eigentliche Anführer der Expedition zu den Nilquellen. Der Kulturwissenschaftler Matthies geht sogar davon aus, dass die berühmte „europäische“ Nil-Expedition in Wahrheit ein afrikanisches Unternehmen war – die ohne Erlaubnis der Regierung von Sansibar nie hätte stattfinden können.
Zusp. 13 MatthiesDenn nominell herrschte der Sultan von Sansibar auch über große Teile Ostafrikas, dieser hatte immenses Interesse, seine Handelsinteressen zu intensivieren, es ging vor allem um Elfenbein und Sklavenhandel. Und er gab der Expedition seine Fahne mit, die blutrote Fahne von Sansibar, die sie vorweg tragen sollten. Es wehte also nicht die britische Flagge der Expedition voraus, sondern die Flagge Sansibars. (0:29)
Sprecherin:Was die europäischen Forschungsreisenden natürlich nicht an die große Glocke hängten.
Akzent
Sprecher:Als positives Beispiel im Umgang mit den einheimischen Helfern sind dagegen die Gebrüder Schlagintweit zu nennen, die berühmten Münchner Naturforscher, die Mitte des 19. Jahrhundert für ihre großen Indien- und Himalaya-Expeditionen bekannt wurden. Der Historiker Moritz von Brescius von der Universität Bern hat in deren Aufzeichnungen erstaunlich viele Hinweise auf indigene Partner gefunden. Beispielsweise auf einen Indo-Portugiesen namens Mr. Monteiro, der von den Schlagintweits zunächst für das Präparieren und Verpacken von Sammlungsgegenständen eingestellt wurde – sich aber schnell zum Oberaufseher der riesigen ethnografischen und naturhistorischen Sammlung – und ihrer indigenen Sammler - entwickelte.
Zusp. 14 von BresciusMr. Monteiro war eben in der Lage, aufgrund seiner eigenen Sprachfertigkeiten und seiner persönlichen Autorität diese Sammler zu koordinieren, aber dabei blieb es nicht. Die indigenen Helfer der Schlagintweits zeigten selber eine große Reisefreude oder eine große Neugierde, auch neue Techniken zu erlernen, sich auch mit wissenschaftlichem Instrumentarium aus Europa auseinanderzusetzen. (0:45)Sprecherin:Der indisch-portugiesische Mr. Monteiro und andere nicht-europäische Assistenten wie der multilinguale Schriftgelehrte Sayad Mohammad Said aus Kalkutta, der indische Arzt Harkishen, der usbekische Experte für Handelsrouten Murad aus Bokhara und der muslimische Karawanenführer Mohammed Amin – sie alle spielten eine wichtige Rolle bei der Himalaya-Expedition der Schlagintweits:
Zusp. 15 Von BresciusIch würde so weit gehen, dass das Monopol des Forschers nicht bei den Schlagintweits lag, bei dieser Expedition. Mr. Monteiro aber auch andere indigene Assistenten der Expedition, Wegführer und Übersetzer, waren zum Teil durchaus ausgebildete Forscher, das waren zum Teil geschulte Kartografen, es waren zum Teil ausgebildete Doktoren, die geschult waren und viel praktische Erfahrung mitbrachten und die selbst auch zu Entdeckern wurden, im Zuge der Schlagintweit-Expedition, weil sie die Brüder in Gebiete begleiteten, die für sie selbst zum Teil unbekannt waren. (0:37)
Sprecherin:Insbesondere wenn die Brüder Schlagintweit das britisch kontrollierte Gebiet verließen, kam es dann auch oft zu einem Rollenwechsel:
Zusp. 16 Von BresciusDas heißt, die Brüder waren gezwungen, die ganze Führung der Expedition an ihnen gänzlich unbekannte Personen abzugeben, die dann eben über die Routenwahl entschieden, die für die Proviantversorgung verantwortlich waren und die Brüder hatten ständig Angst vor Verrat, weil sie diesen Karawanenführern ausgeliefert waren. (0:21)
Sprecher:Erstaunlich ist bei den Schlagintweit-Brüdern, dass sie die Rolle ihrer asiatischen Assistenten und Führer in ihren Aufzeichnungen offen würdigen.
Zusp. 17 Von BresciusDamals gab es Publikationskonventionen in Europa, die es den meisten europäischen Reisenden untersagten, zuzugeben, wie abhängig sie von der Führung und der Hilfe dieser unbekannten indigenen Helfer waren, in Übersee. Das brach mit dem Bild des allmächtigen, allwissenden, mutigen, europäischen Forschers, der immer an der Spitze seiner Expeditionstruppe ins Unbekannte schreitet.
Die Brüder hingegen waren sehr offen darin. //
Musik-Akzent
Sprecher:Nochmal zurück in der Geschichte: auch vom berühmten englischen Seefahrer James Cook weiß man, dass er auf seiner berühmten Seefahrt durch die Südsee im 18. Jahrhundert einen Nautiker namens Tupaia oder Tupia an seiner Seite hatte, der von den Einheimischen oft für den Anführer der Schiffsexpedition gehalten wurde.
Zusp. 18 MatthiesTupia war ein Polynesier, er stammte von der Insel Rai Ratea, in der Nähe von Tahiti und er entstammte einer polynesischen Adelsfamilie und einer Familie von Navigatoren und Seefahrern. Er selbst war Priester eines Götterkults und ausgewiesener Navigator. (0:18)
Sprecherin:.. und er konnte dolmetschen und diplomatische Verhandlungen führen. Was James Cook sehr entgegen kam. Eines der spannendsten Artefakte, die Cook von seinen Reisen durch den Pazifik mitbrachte, ist die berühmte Tupia-Karte, eine Art „mental map“, die der Polynesier damals gezeichnet hat.
Zusp. 19 MatthiesDas Orginal dieser Karte ist nicht mehr vorhanden, es gibt aber drei Kopien, drei Abschriften. Es geht vor allem um den Seeraum zwischen den Gesellschaftsinseln. Dutzende von Inseln hat er sozusagen aus dem Kopf heraus in der oralen Tradition seiner Familie angeordnet auf Segelrichtungen, bezogen auf die Insel Raiatea als Zentrum der Gesellschaftsinseln. (0:30)
Sprecher:Nicht zuletzt jahrhundertealtes polynesisches Wissen hat James Cook also erfolgreich durch die Südsee geleitet.
Sprecherin:Andere wieder profitierten vom uralten Wissen der arabischen Seefahrt. Auch hier bringt die Forschung interessante Beiträge zum sogenannten „europäischen Entdeckungszeitalter“ ans Licht. So gilt als sicher, dass der berühmte portugiesische Seefahrer Vasco da Gama den Seeweg nach Indien gar nicht selbst entdeckt hat, sondern wohl eher auf altbekannten Wegen der arabischen Handelsschifffahrt unterwegs war, sagt der Islamwissenschaftler Detlev Qintern.
Zusp. 20 QuinternAus Forschungen portugiesischer Kollegen wissen wir, dass Vasco da Gama von einem arabischen Piloten der Weg gezeigt worden ist, so dass er nach Indien gelangen konnte. Dass er während dieser Fahrt arabische Seekarten gesehen hatte, mit Längen- und Breitengraden versehen, das ist bekannt, und dass er Hilfe hatte von arabischen Nautikern, die ihm den Weg zeigten. (0:43)
Sprecher:Es sind nämlich nicht nur die Leistungen der Ureinwohner Amerikas, Afrikas oder Asiens in der europäischen Entdeckungsgeschichte systematisch unterschlagen worden. Auch die Beiträge der arabischen Wissenschaften und der arabischen Nautiker kommen in den Expeditionsgeschichten der Europäer nicht vor. Sprecherin:Womit wir wieder bei Kolumbus wären. Forschungen deuten darauf hin, dass der berühmte Spanier auf seinem Weg nach Amerika das uralte Wissen arabischer Seefahrer im Gepäck hatte. Ein Thema, das den im Sommer 2018 verstorbenen berühmten türkischen Arabisten und Islamwissenschaftler Fuat Sezgin sehr beschäftigt hat. An seinem Vermächtnis arbeitet Detlev Quintern an der Fuat Sezgin Research Foundation in Istanbul. Er sagt, die Forschung weiß zwar nicht genau, wer Kolumbus auf seiner ersten Schiffsreise zu den Bahamas begleitet hat…
Zusp. 21 QuinternGleichwohl wissen wir aus seinen Tagebüchern, dass er über Karten verfügte, Seekarten, die die vorgelagerten Inseln in der Karibik zeigten und diese Karten - das ist der große Beitrag von Fuat Sezgin - diese Karten in einen langzeithistorischen Kontext zu stellen, und zurückzuführen auf arabisches Wissen. (0:26)
Sprecher:Kolumbus könnte also bei der Überfahrt nach Amerika tatsächlich auf alte arabische Seekarten zurückgegriffen haben – möglicherweise sogar arabische Lotsen dabeigehabt haben – so die Ansicht der Forscher am Fuat Sezgin-Insitut. Keine abwegige Vorstellung. Schließlich währte die Maurenherrschaft in Spanien und die sogenannte Reconquista, die Rückeroberung, ja bis in die Zeit von Kolumbus hinein. Spätere Denkschulen der Renaissance waren zudem bemüht, die gesamte europäische Kultur auf griechische Quellen zurückzuführen – und islamische Wurzeln möglichst zu tilgen.
Sprecherin:Und was haben die Angehörigen des einheimischen Volkes der Arawak auf der Bahamas-Insel Guanahani für Kolumbus und dessen Besatzung getan? Waren sie die ersten, die den Spaniern ihr wertvolles Wissen über den fremden Kontinent anvertrauten – bevor diese anfingen, ihn zu unterwerfen? Haben die Arawak die ersten Europäer eingewiesen, in Flora, Fauna und Kultur der Karibik?
Sprecherin:Es gibt noch einiges zu entdecken, im „großen europäischen Entdeckungszeitalter“. Als sicher gilt schon jetzt: Die meisten der berühmten europäischen Expeditionen und Forschungsreisen waren aus heutiger Sicht wohl eher Gemeinschaftsprojekte. Internationale, multiethnische und multireligiöse Unternehmungen. Reisen, die oft auf dem uralten Wissen anderer Völker aufbauten. „Europäisch“ war am „europäischen Entdeckungszeitalter“ vor allem die Idee der Kolonialisierung, und: die tiefe Überzeugung von der eigenen kulturellen Überlegenheit.

Jul 5, 2024 • 23min
VORSTÖSSE - Die Expeditionen der Brüder Schlagintweit
Ochsenfrösche, Steine, Tibetisches Edelweiß, sogar Wasser - die Münchner Brüder Schlagintweit brachten von ihrer Indien-Expedition in den 1850er-Jahren nach Bayern mit, was ihnen von die Forschernasen kam. Ihr Anspruch auf Wissen und Erkenntnis war allumfassend, ganz nach dem Vorbild von Alexander von Humboldt. Von Bettina Weiß (BR 2015)
Credits Autorin: Bettina Weiz Regie: Martin Trauner Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Carsten Fabian Technik: Jochen Fornell Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Hermann Kreutzmann, Prof. Felix Driver, Dr. Cornelia Lüdeke, Dr. Shekhar Pathak Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD Crime Time (2024): Tatunca Nara – und die Toten im Dschungel Die 31. Staffel der erfolgreichen Doku-Serie begibt sich auf die Spuren eines außergewöhnlichen Falls, der bereits als Vorlage für Indiana Jones diente: Ende der 1960er Jahre wandert Günther Hans Hauck nach Brasilien aus und erfindet sich dort eine neue Identität als Nachfahre einer indigenen Kultur, die bislang unentdeckt tief im Dschungel in einem gigantischen Reich lebe. Viele Menschen packt die Faszination und sie folgen dem selbst ernannten Oberhaupt „Tatunca Nara“ in den Regenwald. Für einige endet die Expedition tödlich. Ein Team der ARD Crime Time begibt sich auf Spurensuche. Das Ziel der Reise: ein Ort im brasilianischen Regenwald, wo der Hochstapler auch heute noch leben soll. IN DER MEDIATHEK Linktipps: BR (2015): Die Gebrüder Schlagintweit Einst erforschten die drei Brüder Adolph, Hermann und Robert Schlagintweit in ausgedehnten Expeditionen den Himalaya. Heute sind diese bayerischen Entdecker fast vergessen, doch damals waren sie Pioniere auf dem Dach der Welt. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk Kultur (2021): Der schmale Grat zwischen Triumph und Tragödie 2021 war ein besonderes Bergjahr: Der K2 wurde von zehn Alpinisten aus Nepal als letzter Achttausender erstmals im Winter bezwungen. Andere Bergsteiger stürzten dort ab. Was treibt sie an, sich unter extremen Bedingungen in Lebensgefahr zu begeben? JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:MUSIK
SPRECHERIN:Die Welt erkunden. Selbst losgehen. Selbst ermessen, wie hoch die Berge sind und wie tief die Wässer und wie unterschiedlich die Menschen: Hermann und Adolf Schlagintweit aus München beginnen damit als Teenager.
ATMO Schritte
SPRECHERIN:Im Jahr 1842, im Alter von 16 und 13, unternehmen die Brüder aus der feinen Theatinerstraße in München eine weite Wanderung in die bayerischen und tiroler Berge. Sie schwärmen von der...
SPRECHER:...einfach erhabenen Pracht der Natur, die uns hier umgibt.
SPRECHERIN:Auf Fotos posieren die Arztsöhne bukolisch mit Schäferhüten und Hirtenstäben. Sie wagen sich auf Berge, deren Gipfel vor ihnen noch keiner erklommen hat. Romantik. Sportliche Herausforderung. Das sind die Grundlagen dafür, dass sich die Schlagintweits für etwas begeistern, was zu ihrer Zeit neu ist: Expeditionen. Dazu kommt der Wissensdurst.
MUSIK
SPRECHERIN:Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Globus längst umrundet. Wer fürs europäische Publikum noch Neues erkunden will, muss Expeditionen machen, also aufwändig in Extremregionen vordringen: zum Nord- oder Südpol, in Dschungel, die von Schlafkrankheit versucht sind – oder eben ins Hochgebirge, wie die Schlagintweits. Im Gymnasium interessieren sich Hermann und Adolf besonders für Erdkunde. Eifrige Einserschüler. Hinterher studieren sie das Fach. Und immer intensiver bereisen sie die Alpen. Es ist die Ära, in der Enzyklopädien wie der „Brockhaus“ die Bücherregale vieler Bildungsbürger füllen und das Wissen der Welt verheißen, vollständig von A bis Z.
ATMO Schritte
SPRECHERIN:Und so bestimmen die Schlagintweits auf ihren Touren durch die Alpen Luftdrücke, Temperaturen, Seehöhen und Schneedicken. Sie zählen Blumen. Sie vermessen Gletscher in Österreich und der Schweiz. Sie fertigen mit großer Akribie Zeichnungen und Aquarelle von Gebirgszügen an, produzieren das Monte-Rosa-Massiv und die Zugspitze in mini, als Reliefs aus Zinkguss.
MUSIK
SPRECHERIN:Messen, bestimmen, zählen, aufzeichnen, in Beziehung setzen, und zwar alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, das Klima und die Gesteine und die Gestirne: So hat es auch Alexander von Humboldt gemacht, als er durch Südamerika gereist ist. Er ist das große Vorbild der Schlagintweit-Brüder. Die Schlagintweits besuchen ihn in Berlin und gewinnen seine Sympathie. Der Preuße ist zu der Zeit achtzig Jahre alt, berühmt und bestens vernetzt am Königshof und im europäischen Wissenschaftsbetrieb. Mit seiner tatkräftigen Unterstützung wagen die Münchner Brüder – in den Worten von Robert Schlagintweit...
SPRECHER: die Verwirklichung eines Wunsches, der mich seit Jahren lebhaft beschäftigt hatte, oder besser gesagt, seit meiner frühesten Jugend (und der durch wiederholte Reisen in den Alpen stetig genährt und am Leben erhalten wurde), dessen Erfüllung jedoch über sehr lange Zeit vollkommen jenseits der Grenzen des Möglichen erschienen wäre.
SPRECHERIN:Der Traum der Schlagintweits ist eine Expedition in den Himalaya.
MUSIK
SPRECHERIN:So eine Expedition ist ein Großunternehmen. Um das Gebirge nach ihren Vorstellungen vollständig zu erkunden, brauchen die Forscher Theodoliten, Barometer, verschiedene Thermometer, Magnetometer und andere Instrumente. Bestes und modernstes Gerät. Alleine eine Fotoausrüstung wiegt damals 200 Kilo. Ihr Gepäck wird so umfangreich sein, dass es 20 Kamele brauchen wird, um alles zu transportieren. Dazu kalkulieren sie mit einem Tross von Kameltreibern, Trägern, Köchen, Kartographen, persönlichen Dienern, Dolmetschern und vielen anderen.
SPRECHER: Ungeachtet aller Einschränkung konnte man bei der indischen Art zu Reisen ohne acht bis zehn Menschen für einen von uns nicht vorwärts kommen.
SPRECHERIN:So versuchen die Brüder, öffentliche Mittel für ihre geplante Expedition zu bekommen. Was die Könige von Bayern und Preußen zahlen, sind Tropfen auf den heißen Stein. Da ebnet Alexander von Humboldt den Schlagintweits den Weg nach England, zur britischen Ostindiengesellschaft in London.
MUSIK
SPRECHERIN:Die britische Ostindiengesellschaft ist gerade dabei, ihre Macht in Indien auszuweiten. Im 17. Jahrhundert hatte sie als private Handelsfirma angefangen, gestützt auf ein paar Kontore an der indischen Küste. Diese Niederlassungen baute sie später zu Kolonien aus. Zur Zeit der Brüder Schlagintweit ist sie Territorialmacht geworden. Sie beherrscht Gebiete, die mehrmals so groß sind wie England. Es ist der Übergang von Kolonialismus zu Imperialismus, erklärt der Berliner Geograph Hermann Kreutzmann. Kurz darauf wird der Staat die Ostindiengesellschaft übernehmen und die Königin von England wird sich zur Kaiserin erklären, zum „Emperor“ von Indien.
1. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das war die wertvollste Kolonie, die England jemals gehabt hat, und die möchte sie schützen. Und Imperialismus ist die Antwort darauf.
SPRECHERIN:Mit dem „Imperialismus“, dem Drang, ein „Empire“ weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu beherrschen, kommt die Expedition à la Schlagintweit als Forschungsweise auf.
2. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Wenn man ein Territorium dominieren möchte, muss man wissen, welche Menschen dort leben, welchen Tätigkeiten sie ausüben, welche Reichtümer es dort gibt, und wir sind in einer Phase des Cartesianischen Denkens, also des rechenhaften Denkens, also wo es beginnt, Statistiken aufzulegen. Zahlen zu erheben, Messungen durchzuführen, und das ist dann auch, was die Expedition der Gebrüder Schlagintweit ausmacht. Das ist die Zeit, wo die Rechenhaftigkeit eine zentrale Rolle spielt. Und das ist ja auch verbunden mit Imperialismus, mit der Kontrolle, mit der Einführung von Verwaltung. Alles ist zweckgebunden. Und die Wissenschaft ist die Dienerin des Imperialismus.
SPRECHERIN:Wie sich die Interessen von Wissenschaft und Imperialismus treffen können, zeigen die Verhandlungen der Brüder Schlagintweit mit der Britischen Ostindiengesellschaft. Die möchte eigentlich nur, dass die Schlagintweits eine von anderen begonnene Studie zu Ende führen und messen, wie magnetisch verschiedene Regionen Indiens sind. Aber die Brüder wollen mehr. Schließlich zielt ihr Humboldtscher Ansatz auf Vollständigkeit. Sie werben:
SPRECHER:Sehr gerne werden wir unsere größte Aufmerksamkeit auch allen Fragen von praktischem Nutzen zuwenden, wie etwa der geologischen Altersbestimmung der verschiedenen Kohlevorkommen Indiens, dem Vorkommen von Salz oder der praktischen Verwendung des Schwefels, der im westindischen Sindh vorkommt.
SPRECHERIN:Mehr als vier Jahre planen, verhandeln und taktieren die Brüder Schlagintweit. Am Ende zahlt die Britische Ostindiengesellschaft den Löwenanteil ihrer Expedition und macht sie damit möglich.
MUSIK
SPRECHERIN:1854 schiffen sich Hermann, Adolf und ihr jüngerer Bruder Robert nach Indien ein. Schon auf der Reise beginnen sie, Wasser an verschiedenen Stellen aus dem Meer zu schöpfen und sein spezifisches Gewicht zu bestimmen. Sie messen wie besessen, in Indien angekommen erst recht, außer Magnetismus unter anderem auch die Temperatur, Entfernungen, Seehöhen, den Luftdruck, die Horizontal- und Vertikalwinkel von Bergen, die Dicke von Schneedecken auf Fels und die Länge und Breite der Hände und Füße von Indern und Inderinnen aus verschiedenen Regionen. Sie erklimmen Berge, schaffen es bis zu einer Höhe von 6.788 Metern, wagen sich in Wälder.
SPRECHER:Am Fuße des Berges ließen wir auch die Pferde zurück, und sogleich begann ein steiles Hinaufsteigen. Aber nur langsam kamen wir auf dem Abhange vorwärts, denn es war eine mühsame und zeitraubende Arbeit, in dem Dschungel, der an Großartigkeit und Dichtigkeit Alles bisher von mir Gesehene übertraf, irgendeinen Weg hindurch zu hauen. Mir waren in kurzer Zeit die Kleider zerfetzt; das geringste Vergnügen schienen meine Hindus aus dem Flachland an dieser Expedition zu haben, obwohl sie ihre zahlreichen Dornenwunden fast vergaßen über den Gedanken, unerwartet dem Tiger zu begegnen.
SPRECHERIN:Abenteuer und Gefahr gehören zur Expedition – aber auch generalstabsmäßige Planung. Der Londoner Geographiehistoriker Felix Driver beleuchtet diesen sehr praktischen Zusammenhang von Imperialismus und Expeditionen.
3. ZUSPIELUNG (Felix Driver)by the 19th century European military might is extending itself around the world, and I think that idea about expeditions and explorations also diffuse around the world...
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Im 19. Jahrhundert hat sich europäische Militärmacht rund um die Welt ausgedehnt, und die Idee der Expedition hat sich auch weltweit verbreitet. In gewisser Weise wurden die größeren Expeditionen auch in militärischer Weise organisiert. Man musste unter sehr schwierigen Bedingungen von A nach B kommen, man musste für die Logistik, Nahrungsmittel und Vorräte sorgen, und es überrascht nicht, dass das Militär entweder an den Expeditionen beteiligt oder ein wichtiges Vorbild war.
... and it is not surprising that the military were either involved in expeditions or were an important model for how to get from A to B in very difficult environments. So it is a sort of military the model.
SPRECHERIN:Die Schlagintweits werden manchmal von Soldaten begleitet, immer führen sie Pistolen mit sich.
SPRECHER:Waffen sind - neben ihrer Wichtigkeit für den persönlichen Schutz -, besonders als Artikel zu erwähnen, die als Geschenke geeignet sind.
SPRECHERIN:Seine Waffen verschenken – das klingt nach Frieden und Vertrauen. Tatsächlich steht die Expedition in weniger friedlichem Zusammenhang, als die Brüder Schlagintweit es vielleicht selbst wahrhaben wollen. Im 19. Jahrhundert ist die Zeit vorbei, in der Reisende Entdecker und Händler auf Augenhöhe waren – wie etwa Marco Polo oder Mitarbeiter der Britischen Ostindiengesellschaft in deren Anfängen. Nun geht es den europäischen Auftraggebern von Expeditionen darum, Gebiete in fremden Erdteilen zu beherrschen, erklärt der Geograph Hermann Kreutzmann
4. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das ist der Übergang vom Handelsaustausch in eine Dominanzphase hinein, und die endet mit Grenzziehung. Die afghanischen Grenzen werden um 1893, 95 geschaffen, und in dieses Spiel geraten die Brüder Schlagintweit hinein.
SPRECHERIN:Um die Macht in Afghanistan und dem übrigen Mittelasien ringen England, Russland und China. Die Schlagintweits, in britischem Auftrag unterwegs, erkunden dabei nicht nur die britische Machtsphäre, sondern auch Gebiete außerhalb. Sie sind Kundschafter. Spitzel. Wie andere Expeditionsreisende, die etwa von Russland oder Frankreich finanziert sind.
5. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das sind Reisende, die mit einem - Sie könnten sagen Vorwand kommen, sagen, Botanisierer oder Geologen, oder sie interessieren sich für die Gletscher, das Klima oder für andere Dinge, das sind Reisende, die dann sich der Wissenschaft verschrieben haben, die ein Bürgertum bedienen in unseren Landen, in den geographischen Gesellschaften, wenn die Vorträge halten, die verkehren in Zirkeln, erzählen interessante Geschichten, werden gesponsert von Wohlhabenden, jedes Jahr an Weihnachten gibt es die Reiseberichte von diesen Leuten als Buch gebunden, da - unter dem Mantel der Wissenschaft reisen Leute, die gleichzeitig aber auch Informationen liefern, die für die politischen Interessen der Staaten, aus denen sie stammen, sehr gut verwertbar sind.
SPRECHERIN:Außerhalb der britischen Machtsphäre gehen die Schlagintweits unterschiedlich vor. In Kaschmir etwa warten und verhandeln sie, bis sie von örtlichen Machthabern eine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung bekommen. In Turkestan etwa verkleiden sich die Münchner als einheimische Händler.
SPRECHER:Hier war es, wo wir zuerst unsere Turki-Bekleidung anlegten, da wir nun, so weit vorgeschritten, bei etwaiger Begegnung mit Turkistani-Caravanen nicht als Europäer auffallen sollten. Dabei bekamen wir auch den Kopf geschoren; wir zogen vor, dies mit einer Schere in der Art ausführen zu lassen, als hätte das Rasiren mit dem Messer schon einige Zeit vorher stattgefunden.
SPRECHERIN:Diese Tricks klappen nicht immer. Die Schlagintweits werden hingehalten, absichtlich fehlinformiert und beraubt. Diener von ihnen werden als Geiseln genommen. Trotzdem lassen sie nicht locker. Sie reisen weiter, trennen sich zeitweise, damit jeder einzelne Bruder noch mehr messen, noch mehr sammeln kann, überqueren raue Hochpässe, erkunden Gletscher und mittelasiatische Weiten bis nach Kaschgar. Die Stadt liegt an einem wichtigen Knotenpunkt der Seidenstraßen. Im Kampf um die Macht in Mittelasien ist Kaschgar strategisch so wichtig, dass es zu jener Zeit verbotenes Land für Europäer ist. Adolf Schlagintweit wagt sich trotzdem hin.
6. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das waren junge Leute, die wollten sich einen Namen machen, und die wollten etwas schaffen, was andere vor ihnen nicht geschafft haben.
SPRECHERIN:Adolf Schlagintweit bezahlt den Besuch in Kaschgar mit dem Leben. Bald nach seiner Ankunft im August 1857 wird er enttarnt und geköpft.
MUSIK
SPRECHERIN:Adolfs Brüder Hermann und Robert kehren nach Europa zurück. Der Tod ihres Bruders während der Expedition schockiert sie zutiefst. Trotzdem schreiben sie den Bericht über ihre Reise wie eine Empfehlung, auch Expeditionen zu machen, mit allerhand praktischen Tipps: wo man im Himalaya Zigarren kaufen kann, wann Gamaschen hilfreich sind, dass sich Brandy besser als Wein oder Bier fürs Reisen eignet, was Maultiere für den Gepäcktransport kosten, wie man mit kleinen Papieraufklebern an den Verschlüssen von Vorratsbüchsen, die wie Talismane wirken, verhindern kann, dass die Köche wertvolle Vorräte verplempern, und dass man die Dolmetscher und Reiseführer am besten erst am Ende der Reise bezahlt und am Erfolg beteiligt. Der Geographie-Historiker Felix Driver weist darauf hin, dass sich im 19. Jahrhundert, als Expeditionen „in“ wurden, vielerorts eine regelrechte Industrie von Reiseleitern und Expeditionsausstattern entwickelte.
7. ZUSPIELUNG (Felix Driver)There are parallels between the ways in which certain local figures become guides, become experts, become interpreters. And they help a series of expeditions, they might be British expeditions, they might be ...
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Es gibt Parallelen darin, wie bestimmte Leute Reiseleiter, Experten oder Dolmetscher werden. Sie helfen einer Reihe von Expeditionen, egal ob es britische, deutsche oder amerikanische sind, und sie sammeln einen gewaltigen Erfahrungsschatz an. So wie die Sherpas die Experten auf den Bergen werden gibt es andere, die Experten darin werden, durch Amazonien oder Ostafrika zu navigieren. Sie kennen das Land, die politische Situation und die Sprachen. Sie sind oft nicht aus der Gegend selbst, aber sie spielen diese sehr wichtige Vermittlerrolle. Und die Europäer werden sehr abhängig von ihnen. Dass sie mit solchen Vermittlern arbeiten ist eine Gemeinsamkeit von Expeditionen in sehr, sehr verschiedenen Teilen der Welt.
... And Europeans become very dependent on them. So that is a common feature which you find actually in very, very different parts of the world.
SPRECHERIN:Für die Logistik mögen solche Dienstleister praktisch sein. Aber für die Wissenschaft bergen sie Probleme, sagt der Geograph Hermann Kreutzmann.
8. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Die Schlagintweits waren sehr stark auf Dolmetscher und Begleiter angewiesen, und diese Dolmetscher und Begleiter haben auch diese Situation häufig genutzt, um ihnen Räuberpistolen zu erzählen. Geschichten zu machen, für die es keine Belege gab, weil sie wussten, sie sind das einzige Sprachrohr, das mit ihnen spricht. Und sie haben ihre Version einer Geschichte geliefert. Oder auch interessante Geschichten geliefert, wenn man damit viel Geld verdienen konnte.
SPRECHERIN:Die Brüder Schlagintweit kehren jedoch mit mehr als mit Geschichten, Daten und Bildern aus Indien zurück. Sie haben auch handfestere Dinge gesammelt, unter anderem
SPRECHER:20.000 Steine, 12.000 Pflanzen, 6000 Vögel, ausgestopft oder als Skelett, fast 600 Baumdurchschnitte, 250 Gipsabgüsse von Menschengesichtern, 46 Schädel und 21 komplette Skelette von Indern und Inderinnen, dazu Tierskelette, präparierte Fische, Muscheln, Schmuck, Hausgeräte, Kleider und Waffen sowie lebende Wildesel, Pferde und Kamele für den Berliner Zoo
SPRECHERIN:Das alles melden sie nach ihrer Rückkunft Alexander von Humboldt, ihrem Förderer und wissenschaftlichem Vorbild. An dessen Anspruch, „die ganze materielle Welt“ darzustellen, scheitern sie jedoch. Niemand zahlt ihnen die Arbeit, die Sammlung vollständig auszuwerten und auszustellen. Sie muss mehrfach umziehen. Dabei zerfallen die Tierskelette. Motten zerfressen kostbare Stoffe. Fast ein Vierteljahrhundert müht sich Hermann Schlagintweit mit dem Material. Mit 56 Jahren stirbt er, bald darauf auch sein Bruder Robert.
Musikakzent
SPRECHERIN:Die Erben verkaufen von der verrottenden Sammlung, was zu verkaufen ist. Viele Steine und einige Fische in Spiritus geben sie einem Mineralienhändler in Kommission. Der verhökert ein paar Dinge, ansonsten schreibt er von
SPRECHER:Wertlosem Geröll. Wenn Sie – wie ich hoffe und darum bitte – mich einmal in Bonn besuchen, wollen wir einen Spaziergang auch über den Weg machen, der damit gepflastert worden.
MUSIK
SPRECHERIN:
Je mehr die Welt vermessen und machtpolitisch verteilt ist, desto weniger Expeditionen im Stil der Schlagintweits finden statt. Für sein Fach meint der Berliner Geographie-Professor Hermann Kreutzmann:
9. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Heute würden wir von solchen Expeditionen nicht mehr sprechen. In unserem Fall hat sich das vollkommen verändert zu der damaligen Zeit,
SPRECHERIN:An die Stelle der Expedition tritt – wenn nicht gleich auf die Erkundung vor Ort verzichtet und die Welt am Computer modelliert wird – die Feldforschung: Statt wie die Schlagintweits ganz Indien plus Himalaya plus Teile Mittelasiens möglichst vollständig in vier Jahren zu bereisen, zu vermessen und darzustellen, spezialisiert sich der Forscher oder die Forscherin nun lieber gründlich auf einen einzigen Ort.
10. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Das ist heute häufig anders, weil wir doch junge Leute haben, die dann auch lokale Sprachen erlernen, bevor sie Feldforschung durchführen und nicht auf Dolmetscher angewiesen sind, wenn sie da etwas machen. Ein Doktorand von mir hat sich über Heiratsverhalten in Kaschgar promoviert, der hat vorher Uighurisch und Chinesisch gelernt, um dort zu arbeiten
SPRECHERIN:Er ist auch ohne Verkleidung gereist und lebendig wiedergekehrt. Die Forscher präsentieren ihre Ergebnisse idealerweise nicht nur in Berlin und London, sondern entwickeln sie gemeinsam mit Wissenschaftlern in den erforschten Gebieten weiter.
11. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Ich habe mehrfach in Kaschgar Konferenzen gemacht, ich habe in Lhasa in Tibet Konferenzen organisiert, in Khorog in Tadschikistan, in Duschanbe, in Gilgit in Pakistan, gemeinschaftlich mit den Partnern vor Ort werden diese Konferenzen organisiert.
SPRECHERIN:Der Erkenntniswert einer einzelnen Expedition ist gering, auch für Naturwissenschaften. Die Meteorologin und Wissenschaftshistorikerin Cornelia Lüdeke betrachtet zum Beispie die Klimawerte.
12. ZUSPIELUNG (Cornelia Lüdeke)Die Daten der Schlagintweits sind natürlich auch nur ausschlaggebend für die drei Jahre, die sie damals im Himalaya unterwegs waren. Und wir wissen ja selber: Es gibt Winter, wo viel Schnee ist, und dann gibt es wieder Jahre, wo wenig Schnee fällt. Im Grunde ist das ein Zufallsergebnis, man müsste da auch längere Zeitreihen über 30 Jahre haben. Weil Klima wird über 30 Jahre sozusagen bestimmt.
SPRECHERIN:Allerdings sind die Schlagintweitschen Messungen so gut nachvollziehbar, dass sie für weitere Forschungen heutzutage wertvolle historische Bezugswerte liefern.
13. ZUSPIELUNG (Cornelia Lüdeke)Heute kann man beispielsweise untersuchen, wie sich die Schneehöhen ändern, vielleicht aufgrund der Klimaänderung.
MUSIK
14. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak – englisch ohne overvoice)Due to Nain Singh Rawat many people also know about Schlagintweit brothers! Otherwise Schlagintweit brothers also forgotten in India.
SPRECHERIN:In Indien wäre die Expedition der Brüder Schlagintweit vergessen – wäre da nicht Nain Singh Rawat, sagt der Historiker Shekhar Pathak aus Nainital im Himalaya.
15. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)He was just doing portering! But when he joined the group, he was great learner. he was so sensitive - everything which the Schlagintweit brothers were doing, he followed that...
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Nain Singh Rawat war nur ein Träger! Aber als er zur Expedition dazustieß, hat er sehr viel gelernt. Er hat alles, was die Schlagintweits taten, mitverfolgt, Barometer und Prismen bedient und Landkarten gezeichnet. Er hat den Brüdern Tibetisch beigebracht und gleichzeitig von ihnen Englisch gelernt. Es war ein großartiges Lernen, und zwar in beide Richtungen. Die Schlagintweits entdeckten den Funken, der in Nain Singh Rawat schlummerte. Nicht einmal sein eigener Cousin hatte es entdeckt. Nur die Schlagintweits!
...And they realized the spark inside Nain Singh Rawat! otherwise nobody else, even his own cousin Mani singh never realized the spark inside Nain Singh Rawat. But Schlagintweit brothers did!
SPRECHERIN:Nach dem Dienst für die Schlagintweits arbeitete Nain Singh Rawat auch für britische Wissenschaftler und Landvermesser. Er erkundete viel Neuland für die Briten und erhielt höhere Auszeichnungen von britischen Institutionen als seine ehemaligen Arbeitgeber aus München.
16. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)I am not only proud of him. I always been thinking how such a person emerged in our part of Himalaya! From zero how he reached to a certain summit!Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Ich bin nicht nur stolz auf ihn. Ich denke immer: dass so jemand aus unserem Himalaya stammt! Von null aus hat er so einen Karrieregipfel erreicht!
SPRECHERIN:Auch andere Inder hätten viel von den Briten gelernt, und in manchen Dingen sei man in Indien England wissenschaftlich voraus gewesen, hebt Shekhar Pathak hervor. So begann die Vermessung Indiens über 60 Jahre, bevor in England die Königliche Geographische Gesellschaft gegründet wurde. Der Berliner Geograph Hermann Kreutzmann erinnert an den machtpolitischen Hintergrund der Vermessung und Erkundung von Bergen und Bodenschätzen.
17. ZUSPIELUNG (Hermann Kreutzmann)Es war dieses Experiment, was man in der Imperialismustheorie derart beschreibt: Fertigware wird aus Europa nach Asien, Afrika und Übersee geliefert, und Rohstoffe kommen aus der Gegenrichtung, und das ist zum großen Nutzen Europas und zum Schaden des Restes der Welt.
SPRECHERIN:Trotzdem. Sein Kollege aus Indien verteidigt Expeditionen wie etwa die der Schlagintweits.
18. ZUSPIELUNG (Shekhar Pathak)So it was part of larger colonial scheme. Definitely. But it is also contributing to the larger human knowledge. This is the positive point in whole history of exploration. And this exploration not only contributed in the scheme of colonialism in Asia, or in Orient, it also contributed in larger context the knowledge about lesser known, unknown places to the larger world.
Englisch. Darauf OVERVOICE-SPRECHER:Sie waren Teil eines kolonialen Plans. Na klar! Aber sie haben auch zum größeren Wissen der Menschheit beigetragen. Das ist das Gute an der Geschichte der Expeditionen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Welt jetzt mehr über Orte weiß, die einst unbekannt waren.

Jun 28, 2024 • 40min
EINFACH MODE! Die Unterwäsche, präsentiert von ICONIC
Alles Geschichte stellt vor: "ICONIC - Modegeschichte mit Aminata Belli”. Es gibt entsetzliche Worte für Kleidungsstücke, die wir doch eigentlich sehr schätzen: Brunzhosen, zum Beispiel. Oder es ist nur sehr verschämt von ihnen die Rede. Dabei können wir uns heute ein Leben ohne Unterwäsche kaum noch vorstellen. Dabei kam die Menschheit die längste Zeit "ohne" aus. Wie dann aus einem langen Untergewand unsere heutige Unterwäsche wurde, erzählt Host Aminata Belli in dieser Episode. Von Mariia Fedorova (BR 2024)
Credits Autorin: Mariia FedorovaRegie: Martin ZeynEs sprachen: Aminata Belli, Ann-Kathrin MittelstraßRedaktion: Vanessa Schneider und Martin Zeyn, BR KulturIm Interview: Abby Cox, Julia Fritzsche Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: ICONIC – Modegeschichte mit Aminata Belli Dieser Podcast erzählt in jeder Episode die Geschichte eines ikonischen Kleidungsstück von Kapuzenpulli und Doc Martens zu Fußballshirt, Handtasche und Jeans und den gesellschaftlichen, technologischen und sozialen Umbrüchen, die Modetrends oft begleiten. Aminata Belli nimmt mit in die Geschichte vieler Lieblingsteile. Woher kommt ihre Coolness? Wie schaffen sie es, für große popkulturelle Momente, Subkulturen oder Underdogs zu stehen? JETZT ANHÖREN Linktipps: radioWissen (2022): Unterwäsche – Hautnahes im Wandel der Zeit Noch bis vor kurzem trugen Mann und Frau ganz wie im Mittelalter nur ein langes Hemd auf der nackten Haut. Erst seit dem 19.Jahrhundert findet Unterwäsche reißenden Absatz. Zu dieser Folge vom Podcast radioWissen geht es HIER Deutschlandfunk (2023): Lernen geht auch in Jogginghose Im letzten Jahr ging diese Schlagezeile durch die Medien: „Der Bundeselternrat will Kleiderregeln an den Schulen etablieren“ – nicht zu freizügig und auch nicht zu „lottrig“ sollen die Klamotten der Kids sein. Macht das Sinn? Katharina Hermes kann dem Vorschlag in ihrem Kommentar nichts abgewinnen. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN

Jun 28, 2024 • 23min
EINFACH MODE! Wer hat die Hosen an?
Von Männern in Strumpfhosen zu Frauen im Hosenanzug - jahrhundertelang war die Hose in Europa Symbol von Männlichkeit und Macht, Klassenkonflikten und Geschlechtsunterschieden. Und nicht zuletzt deshalb heiß umstritten: Von der Rolle der Hose in der Französischen Revolution wie im Kampf um die Emanzipation und der Jugendrevolte des 20. Jahrhunderts. Von Ulrike Rückert (BR 2024)Credits Autorin: Ulrike Rückert Regie: Irene Schuck Es sprachen: Berenike Beschle, Stefan Wilkening, Katja Bürkle Technik: Susanne Herzig Redaktion: Nicole Ruchlak Besonderer Linktipp der Redaktion: BR: ICONIC – Modegeschichte mit Aminata Belli Dieser Podcast erzählt in jeder Episode die Geschichte eines ikonischen Kleidungsstück von Kapuzenpulli und Doc Martens zu Fußballshirt, Handtasche und Jeans und den gesellschaftlichen, technologischen und sozialen Umbrüchen, die Modetrends oft begleiten. Aminata Belli nimmt mit in die Geschichte vieler Lieblingsteile. Woher kommt ihre Coolness? Wie schaffen sie es, für große popkulturelle Momente, Subkulturen oder Underdogs zu stehen? JETZT ANHÖREN Linktipps: funk (2021): Männer im Rock – Darum irritiert uns das! Männer in Kleidern oder Röcken - das ist nicht nur ein echter Fashiontrend, sondern auch ein riesiges Aufregerthema. Männer, die im Alltag Röcke tragen sind selten und es erfordert viel Mut. Nur was hält Männer eigentlich davon ab, Sommerkleider zu tragen? Historisch gibt es die strikte Trennung von Männer- und Frauenkleidung noch gar nicht so lange: Im 18. Jahrhundert brachte das aufsteigende Bürgertum neue Moralvorstellungen mit, die strikt zwischen Mann und Frau unterschieden und damit unseren Geschmack mitprägten. Heute sehen Modeexpert:innen darin einen neuen Trend, der sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Die Nachfrage nach gender-neutraler Kleidung, die Geschlechtergrenzen sogar gänzlich überwindet, sei da und das Ganze auch nicht mehr nur ein kurzlebiger Trend, sondern liege an einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung. Zum Film geht es HIER. ARD alpha (2022): Mode und Geschlechterrollen Für die einen ist sie die schönste Nebensache der Welt, für andere überflüssiger Luxus. Und doch kommt keiner an ihr vorbei: der Mode. Sie ist das ausdruckstärkste und augenfälligste Kommunikationsmittel, über das wir Menschen verfügen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:34 – Von barbarisch bis populärTC 07:31 – Die Bedrohung der „Männlichkeit“TC 10:14 – Andere Zeiten rücken anTC 14:48 – Das amerikanische Bloomer-KostümTC 17:33 – Eroberung des SportsTC 19:07 – Wer hat jetzt die Hosen an?TC 22:00 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
MUSIK
ERZÄHLERIN Die Sängerin Esther Ofarim trug edlen schwarzen Samt und Perlenkette, als sie an einem Abend im September 1966 die Bar im Hamburger Grandhotel Atlantic betrat. Ein Angestellter forderte sie auf, die Bar zu verlassen und sich umzuziehen, wenn sie wiederkommen wolle. Der Grund für den Affront: Das todschicke Outfit des Weltstars war – ein Hosenanzug.
MUSIK
ERZÄHLERIN Die Sache schlug Wellen. Einer Reporterin erklärte der Hoteldirektor, man erwarte von den Gästen „vorschriftsmäßige Garderobe“, und sobald die Damenhosen „offiziell anerkannt“ seien, werde man sie selbstverständlich akzeptieren. Die Hamburger Hosenaffäre ist ein Beispiel für das Konfliktpotential in der Geschichte des zweigeteilten Beinkleids.
ZITATOR Hosen. Sind eine bekannte Kleidung, womit die Manns-Personen den Unter-Leib bedecken.
ERZÄHLERIN So definiert ein Lexikon aus dem 18. Jahrhundert und erläutert weiterhin:
ZITATOR „Hosen ihres Mannes hat das Weib.“ Ist ein bekanntes Sprüchwort, so von denen herrschsüchtigen Weibern gesaget wird, welche ihren Männern in allen befehlen und das Regiment über selbige führen wollen.TC 01:34 – Von barbarisch bis populär
ERZÄHLERIN Die Geschichte der Hose ist lang. Ötzis Beinlinge aus Fell waren ein Vorläufer. Die ältesten richtigen Hosen, die Archäologen ausgegraben haben, gehörten asiatischen Reiten vor dreitausend Jahren. Germanen und Kelten trugen Hosen, Griechen und Römer allerdings fanden die Dinger barbarisch. Auch ist die Hose nicht von Natur aus männlich, zwischen Indien und Grönland finden sich in der Geschichte der Menschheit viele Völker mit behosten Frauen. Aber im Mittelalter wurde die Hose in Europa zum Symbol von Männlichkeit und von Macht im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Die Redensart von der Frau, die die Hosen anhaben will, war schon im 13. Jahrhundert geläufig, jedoch ging es damals nicht um das Oberbekleidungsstück, das im Deutschen heute Hose heißt. Denn das war auch bei Männern aus der Mode.
MUSIK
ZITATOR Der Gast schritt an das Bett,da war ein weißes Gewand für ihn bereitet.Einen Bruchgürtel von Gold und Seidezog man darunter.Rote Hosen aus Scharlach streifte man ihm über.
ERZÄHLERIN So beschreibt Wolfram von Eschenbach in seinem Roman „Parzival“ um das Jahr 1200 das Outfit eines Ritters bei Hofe. Das Gewand war lang, und „Hosen“ ist das mittelhochdeutsche Wort für Strümpfe oder Beinlinge. Die trugen auch Frauen unterm Kleid. Der „Bruchgürtel“ hielt die Bruch – eine Unterhose.
MUSIK
ERZÄHLERIN:In Heinrich Wittenwilers Satire „Der Ring“, verfasst rund zweihundert Jahre später, bekommt der Bräutigam bei einer Bauernhochzeit guten Rat:
ZITATOR Das sag ich dir ganz grad heraus:Du bist der Herr in deinem Haus!Wiss’, und trägt dein Weib die Bruch,Sie wird dein Unglück und dein Fluchwider Gott und sein Gebot!Hierzu wirst du der Leute Spott.
ERZÄHLERIN Die Unterhose machte den Mann. Und der Mann hatte dafür zu sorgen, dass er der Herr im Haus war, wie es auch die Bibel bestimmte. Frauen galten als launisch, eitel, gierig und herrschsüchtig, und hielt man sie nicht unter Kontrolle, geriet die Welt aus den Fugen. So waren französische Schwänke, italienische Novellen und deutsche Fastnachtsspiele bevölkert von Frauen, die – oft ganz handgreiflich – versuchten, ihrem Mann die Hose zu entreißen. Die Geschichten warnten unbotmäßige Frauen vor drastischen Strafen oder führten dem männlichen Publikum vor, welche Demütigungen ihm bei einer Niederlage drohten:
MUSIK
ZITATOR Die Betten machen, kehren, waschen,sudeln und prudeln in der Aschen.
ERZÄHLERINEine Revolution in der Männermode nach der Großen Pest im 14. Jahrhundert brachte die Hose als Oberbekleidung zurück. In einer Chronik ist zu lesen:
ZITATOR Nachdem das Sterben ein Ende hatte, da hob die Welt wieder an zu leben und fröhlich zu sein, und machten die Männer neue Kleidung. Die Röcke waren so eng, dass ein Mann nicht darin schreiten konnte, und waren eine Spanne über die Knie. Danach machten sie die Röcke ganz kurz, eine Spanne über den Gürtel.
ERZÄHLERIN Die jungen Männer schnitten immer mehr von ihren Gewändern ab, bis nur ein Wams übrigblieb, das kaum noch den Po bedeckte. Das rückte wohlgeformte Beine – Gipfel männlicher Schönheit – in vorteilhaftes Licht, aber zwischen dem Wams und den langen Strümpfen blitzte die Bruch und womöglich blanke Haut hervor. Zur Abhilfe nähte man die Beinlinge hinten zusammen und setzte vorn einen Latz ein. Voilà, die Hose war wieder da, und im Deutschen trug sie nun auch diesen Namen. Von nun an war sie das männliche Kleidungsstück. Und bald in den wunderlichsten Erscheinungen zu sehen.
MUSIK
ZITATOR Mir kann keiner eine zu abenteuerliche Form eines Kleids aufbringen, denn je seltsamere Kleidung, nach Schnitt von Hosen, Wams und Schuhen, einer aufbringt, je lieber trag ich’s.
ERZÄHLERIN … bekannte der Augsburger Konrad Schwarz im 16. Jahrhundert, durchaus typisch für den modebewussten Mann der Renaissance. Männer von Adel und nun auch die stolzen Bürger der Städte zeigten nicht nur Figur, sondern auch, wer sie waren und was sie sich leisten konnten. Wie ein Pfau spreizte man das schillernde Gefieder. Nach der Strumpfhosenphase waren Hosen für drei Jahrhunderte mehr oder weniger kurz und meist farbenfroh. Die Hosenwissenschaft kennt Dutzende von Namen für Modestile, die miteinander konkurrierten oder sich abwechselten - eng anliegend oder bauschig weit, kugelig rund ausgepolstert, geschlitzt mit kontrastfarbig herausquellendem Futter, bestickt, mit Bändern und Schleifen verziert. Und das Gemächt verpackt in protzig großen Schamkapseln.
ZITATOR Und möchte mancher meinen, er sehe einen Kramladen aufgetan, so mit mancherley Farben von Nesteln, Bändeln, Schlüpffen sind sie an Haut und Haaren, an Hosen und Wambs, an Leib und Seel behenket, beschlencket, beknöpfet und beladen.
ERZÄHLERIN … spottete der Satiriker Johann Michael Moscherosch zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Und dann kam die Rheingrafenhose – die ein Rock war. Ein knielanger, weiter Rock, üppig garniert mit Spitzen, Bänderbüscheln und Schleifen, und darunter schaute eine Pluderhose mit breiten Spitzenvolants heraus. Eine Zeitlang war das der Hit an Europas Fürstenhöfen. Zur selben Zeit sah Samuel Pepys in London Irritierendes:
ZITATOR In den Gallerien finde ich die Hofdamen in ihrer Reitkleidung, mit Mänteln und Wämsern gerade wie meine, mit Perücken und mit Hüten, so dass, würde nicht ein langer Unterrock unter ihren Männermänteln schleifen, niemand sie für Frauen halten könnte, was ein seltsamer Anblick war und mir nicht gefiel. TC 07:31 – Die Bedrohung der „Männlichkeit“
MUSIK
ERZÄHLERIN Die Ordnung der Geschlechter verlangte auch sichtbare Verschiedenheit, was ebenfalls auf biblischem Gebot beruhte:
ZITATOR Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun.
ERZÄHLERIN Das Verbot galt für beide Geschlechter, doch es ist nicht für beide dasselbe, wenn die Frau dem Mann untergeordnet ist. Der Unterschied besteht darin, so der Schriftsteller Eugen Isolani, dass …
ZITATOR … die erhabene und herrschende Stellung des Mannes nicht erniedrigt werden solle durch das Weib, das sich als Mann zeigt, und nicht durch die Selbsterniedrigung des sich als Weib gebärdenden Mannes.
ERZÄHLERIN Wenn Frauen sich Männerkleider aneigneten, sah man die Männermacht bedroht. Das war nicht nur eine Frage der Optik - man hegte den Verdacht, dass die Kleidung Frauen auch ein anderes Selbstgefühl gebe. Im 16. Jahrhundert schrieb der englische Humanist Richard Hyrde:
ZITATOR Eine Frau soll nicht Männerkleidung verwenden, denn es ließe sie denken, sie hätte den Stolz eines Mannes.
ERZÄHLERIN Etwas prosaischer bemerkte das Journal des Luxus und der Moden 1802 über die damals aktuellen absatzlosen Frauenschuhe:
ZITATOR Flache Sohlen geben Sicherheit und Bestimmtheit, der Gang wird selbständiger, und niemand kann läugnen, daß die hohen Hacken jedem Weibe ungesehene Fesseln anlegen, wodurch die Hülfe des Mannes ihm auf jedem Schritte nöthig wurde.
ERZÄHLERIN Hutformen, Jackenschnitte und Absätze waren eine Sache, doch die Hose blieb ein Tabu. Aber auch dieses wurde oft gebrochen. Viele Frauen reisten in Hosen, weil es bequemer war. Englische Aristokratinnen gingen in Hosen auf die Jagd. Königin Christina von Schweden trug gern Männerkleider. Katharina die Große und Marie Antoinette ritten im Herrensitz in Hosen, Männerrock und Dreispitz, und ließen sich auch so malen. Und was ist mit dieser Anmerkung in einem Lexikon aus den Siebzehnhundertachtzigern gemeint?
ZITATOR Bisweilen trägt auch das Frauenzimmer, besonders zur Winters=Zeit, Beinkleider, um sich desto besser vor der Kälte zu verwahren; und es wäre zu wünschen, daß sich das Frauenzimmer, der Gesundheit wegen, dieser Tracht mehr bediente.
ERZÄHLERIN Um 1700 herum hatte die Männerhosenpracht ein Ende. Man trug nun schlichte Kniebundhosen, die fast völlig verschwanden unter langen Jacken mit weiten Schößen. Im Laufe des Jahrhunderts wurde die Silhouette schlanker, die Jacken offen getragen und die Schöße schräg zurückgeschnitten. Man zeigte wieder Bein, in knallengen Hosen. Wer keine muskulöse Adonis-Statur vorweisen konnte, packte gern Polster und Wachsprothesen unter die Hosen. TC 10:14 – Andere Zeiten rücken an
MUSIK
ERZÄHLERIN Die Revolution in Frankreich war auch eine Revolution der Hosen. Die radikalsten Umstürzler erklärten die Kniebundhose, die „Culotte“, zum Symbol der aristokratischen Willkürherrschaft, weshalb man sie „Sansculotten“ nannte, „ohne Kniehosen“. Zeichen des republikanischen Geistes sollten die „Pantalons“ sein, lange Hosen. Mit diesen zeigten sich auch einige Revolutionärinnen. Frauen waren überall dabei, sie diskutierten in der Öffentlichkeit mit, gründeten politische Clubs und forderten gleiche Bürgerrechte für ihr Geschlecht. Das ging den Herren dann doch zu weit. Sie verboten den Frauen die Clubs und Versammlungen, und die Männerhosen auch. Da vermeldete das Journal des Luxus und der Moden eine neue Revolution:
MUSIK
ZITATOR Der Anzug der Damen ist ganz ohne Beyspiel. Sie tragen nemlich, wie die Männer, Pantalons von fleischfarben seidnem Zeuche, und darüber einen Rock von feinstem Mousseline, der an der Seite bis aufs Knie aufgeschürzt, und mit einer Agraffe befestigt wird.
ERZÄHLERIN Tatsächlich hatten diese Pantalons mit denen der Männer nichts gemein, es waren Leggings aus Trikotstoff - so ziemlich das einzige, was die Pariserinnen noch unter hauchdünnen Kleidern trugen, nachdem sie Korsetts und Unterröcke beiseite geworfen hatten. Dennoch hielt man die offensichtlich für gewagter als die sogenannte „Nuditäten-Mode“ der durchsichtigen Chemisenkleider. Diese Welle überrollte Europa, doch die Pantalons machten nur wenige mit. Die spätere Schriftstellerin Bettina Brentano schrieb an Goethes Mutter:
ZITATORIN Jetzt raten Sie einmal, was der Schneider für mich macht! Ein paar Hosen? Ja! Vivat! Jetzt kommen andre Zeiten angerückt.
ERZÄHLERIN Andere Zeiten kamen in der Tat, allerdings brachten sie keine größeren Freiheiten, nicht einmal modische. In der auf göttliches Gebot gegründeten Weltordnung war jedem sein Platz zugewiesen, bestimmt durch Stand und Geschlecht, und man hatte sich dementsprechend zu verhalten. Mit der Aufklärung und der Erschütterung des Ständesystems war diese Ordnung obsolet geworden. Die Unterordnung der Frauen war damit nicht abgeschafft, aber sie brauchte eine neue Begründung. Sie fand sich im Geschlechtscharakter. Frauen und Männer seien, so Wilhelm von Humboldt, von Natur aus völlig verschieden, mit ganz gegensätzlichen Eigenschaften, so dass …
ZITATOR … vernünftiger Weise auch nicht einmal der Gedanke entstehen kann, den Charakter des einen mit dem des anderen zu vertauschen.
ERZÄHLERIN Bislang waren Sanftmut, Geduld und Fügsamkeit Verhaltensweisen, die von Frauen erwartet wurden. Nun war es ihre Natur. Benahmen sie sich anders, galten sie nicht mehr als widerspenstig, sondern als unnatürlich, krankhaft. Eine richtige Frau war der liebevolle Engel im Haus und verlangte weder in der Ehe noch in der Gesellschaft gleiche Rechte. Damit war das Thema des Zanks um die Hosen keineswegs aus der künstlerischen Welt geschafft. Die Frau, die die Hosen anhaben will, war im 19. Jahrhundert ein höchst beliebtes Sujet für Karikaturisten. Eine Zeichnung allein wurde über Jahrzehnte in mehreren Ländern mit kleinen Veränderungen immer wieder kopiert: Ein Mann und ein Frau zerren an einer Hose, angefeuert von einem anderen Paar, bei dem er schon der Hose beraubt ist, die sie unter ihrem Rock trägt. Aus den Bildtexten der deutschen Version:
MUSIK
ZITATORIN Grosser Zank, Zwischen einem Mann und seiner Frau: wer von beyden die Hosen tragen und im Haus die Ober-Herrschaft haben soll.
ZITATOR Lieber sterbe ich, als meiner Frau die Hosen zu lassen; der Mann soll immer der Herrscher seyn.
ERZÄHLERIN Dabei lassen sich in den verschiedenen Versionen dieser Karikatur auch die Hosenmoden der Zeit verfolgen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigten sich die Männer in engen Pantalons zu Frack und Weste noch figurbetont und gedämpft farbenfreudig, am Ende steckten sie in der Uniform des dunklen Anzugs. Industrialisierung und Gründerboom verlangten Effizienz statt eitler Selbstpräsentation. Mit den Worten des Ästhetikprofessors Friedrich Theodor Vischer aus dem Jahr 1879:
ZITATOR Das männliche Kleid soll überhaupt nicht für sich schon etwas sagen, nur der Mann selbst, der darin steckt, mag durch seine Züge, Haltung, Gesicht, Worte und Thaten seine Persönlichkeit geltend machen.TC 14:48 – Das amerikanische Bloomer-Kostüm
MUSIK
ERZÄHLERIN Zur Ausstellung des männlichen Erfolgs war die Ehefrau da, in dekorativen Kleidern, in denen man schwerlich arbeiten konnte, selbst wenn man das musste. Um 1850 waren Frauen wieder fest ins Korsett geschnürt und schleppten unter ihren weiten Röcken ein halbes Dutzend steife Unterröcke mit sich herum. Zu dieser Zeit lebte Elizabeth Cady Stanton in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat New York. Einige Jahre zuvor hatte sie hier die erste Frauenrechtsversammlung in den Vereinigten Staaten organisiert und radikale Forderungen nach Gleichberechtigung gestellt.
ZITATORIN Mrs. Miller kam mich besuchen, gekleidet im türkischen Stil – kurzer Rock, weite Hosen aus feinem schwarzem Tuch, ein spanischer Umhang, der bis zum Knie reichte, ein sehr kleidsames Kostüm und überaus geeignet zum Gehen bei jedem Wetter. Meine Kusine zu sehen, wie sie, mit einer Laterne in einer Hand und einem Baby in der andern, mit Leichtigkeit und Anmut die Treppe hinaufstieg, während ich, mit wallenden Gewändern, mich mit Mühe hinaufzog, von Laterne und Baby gar nicht zu reden, überzeugte mich sogleich, dass eine Reform der Frauenkleidung sehr nötig war, und ich legte umgehend einen ähnlichen Anzug an.
ERZÄHLERIN Ähnliche Kostüme hatten schon andere ausprobiert. Aber Stanton und ihre Freundin Amelia Bloomer, die eine kleine Frauenzeitschrift herausgab, rührten die Trommel dafür. Es wurde bekannt als „Bloomer-Kostüm“, schlug Wellen in den USA und in Europa und löste eine Flut von Karikaturen, bissigen Pressekommentaren und Spottliedern aus. Vermutlich verstanden die Lästermäuler durchaus, dass es Elizabeth Cady Stanton und Amelia Bloomer keineswegs nur um praktischere Kleidung ging.
ZITATORIN Mir scheint, wenn die Frau völlige Freiheit genösse, würde sie sich genau wie ein Mann anziehen. In männlicher Kleidung könnten wir reisen, durch alle Straßen unserer Städte gehen ohne einen Beschützer, siebenhundert Dollar im Jahr fürs Unterrichten bekommen statt dreihundert und zehn Dollar fürs Nähen eines Mantels statt zwei oder drei, wie wir es jetzt haben.
ERZÄHLERIN … schrieb Stanton an einen Freund. Einige hundert Frauen in Amerika, über mehrere Staaten verteilt, trugen das Bloomer-Kostüm. Dafür wurden sie auf der Straße begafft, von johlenden Kindern verfolgt und mit Hohn übergossen. Nach zwei, drei Jahren hatten fast alle Frauen entnervt aufgegeben. Die radikalen Suffragetten der Jahrhundertwende vermieden solche Experimente. Sie wollten nicht schrullig wirken und damit andere Frauen abschrecken. Die Hosenfrage war damit nicht gestorben, allerdings tauchte sie nun in einem anderen Bereich wieder auf: als Frauen sich den Sport eroberten.
TC 17:33 – Eroberung des Sports
ZITATORIN Man redet der Frau ein, daß sie kränklich sei und schwach und daher des männlichen Schutzes bedürfe; denn ahnte sie die ihr angeborne Kraft und Gesundheit, so könnte der souveräne Mensch in ihr erwachen
ERZÄHLERIN … schrieb die Schriftstellerin Hedwig Dohm 1874. Mediziner warnten eindringlich, dass Sport Frauen zu Mannweibern mache und die Gebärfähigkeit beeinträchtige. Sie sollten sich auf maßvolle Gymnastik und Reigentanz beschränken. Sportbegeisterte Frauen ließen sich damit aber nicht von Hockey, Schwimmen, Skifahren, Rudern, Bergsteigen und Boxen abhalten und mussten dabei Lösungen für die Kleiderfrage finden. In der Turnhalle setzten sich knielange Pluderhosen als Sportdress durch. Ansonsten verwandten Frauen viel Erfindungsgabe darauf, um selbst auf Alpengipfeln nicht in einer Hose gesehen zu werden. Lieber konstruierten sie textile Verwandlungsapparate, wie die Rockhose dieser Bergtouristin:
ZITATORIN Über der Wäsche trage ich eine Hose, am Knie seitlich geknöpft und durch einige Falten so erweitert, dass ich frei ausschreiten kann. Der fußfreie Rock ist sehr faltig. Ich kann ihn entweder rings mit einem Riemen schürzen, oder ich ziehe ihn an der Stelle empor, welche durch den An- und Abstieg freie Bewegung fordert.
ERZÄHLERIN Mit dem Fahrrad-Hype um 1900 wurden Frauenbeine in Hosen dann auch öffentlichkeitstauglich. Die Knickerbocker-Trägerinnen riskierten dennoch, von aufgebrachten Passanten mit Matsch beworfen oder in Ausflugslokale nicht eingelassen zu werden. TC 19:07 – Wer hat jetzt die Hosen an?
MUSIK
ERZÄHLERIN 1907 wollte die Sängerin Claire Waldoff in einem Berliner Kabarett kess in Herrenanzug und Zylinder auftreten, doch da griff die Obrigkeit ein. Sie durfte nur im Kleid auf die Bühne. Ein paar Jahre später später kreierten Pariser Modeschöpfer „Hosenkleider“. Wagemutige Damen flanierten damit durch europäische Metropolen und ernteten Hohn und Spott. In München allerdings blieb man gelassen.
ZITATOR Die neuen Kostüme, die man bei der Parademusik vor der Residenz, des Nachmittags im Englischen Garten und des Abends im Hoftheater sah, fanden ein aufmerksames Interesse, das sich aber in schicklichen Formen kundgab.
ERZÄHLERIN Im Ersten Weltkrieg übernahmen Frauen viele bisherige Männerjobs, aber nicht die männlichen Arbeitshosen. Wenn ein Rock ganz unbrauchbar war, wurden von der Männerkleidung verschiedene Modelle eingeführt. So bekamen Streckenläuferinnen bei der Eisenbahn und Arbeiterinnen in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets Kniebundhosen. In den Zwanzigerjahren schnitten sich Frauen die Haare und die Röcke ab und Fliegerinnen in Hosen und Lederjacke waren die Idole junger Mädchen. Trotzdem hieß es auch in den Dreißigern kategorisch:
ZITATORIN Hosen? Nur im Heim, für den Strand und den Sport!
ERZÄHLERIN Als Marlene Dietrich sich in einem Hosenanzug im Herrenschnitt sehen ließ, verbot ihr Filmstudio ihr das prompt, doch sie hatte schon eine neue Mode gestartet. In den USA brachte Levi’s „Lady Levi“ auf den Markt, die erste Jeans speziell für Frauen. In der Schweiz trat Nelly Diener, Europas erste Stewardess, ihren Dienst an. Ihre selbstkreierte Uniform bestand aus Sakko und Hosenrock. Erst vierzig Jahre später durften die ersten Flugbegleiterinnen wieder Hosen tragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Keilhose und die Capri-Hose erfunden. Als Audrey Hepburn in dem Film “Sabrina” eine schwarze Capri-Hose trug, prophezeite eine Zeitschrift:
MUSIK
ZITATOR Mehr Frauen als je zuvor werden in diesem Sommer „die Hosen anhaben“, daran besteht kein Zweifel! Glücklicherweise nur im modischen Sinn.
ERZÄHLERIN In den Sechzigern und Siebzigern waren Hosen aus der Mode für Frauen schon nicht mehr wegzudenken, von den jungen Jeansträgerinnen bis zur Pariser Haute Couture. In der Bundesrepublik kauften Frauen schon mehr Hosen als Röcke. Aber in Büros waren Hosen immer noch tabu, bei offiziellen Anlässen galten sie als unpassend, und Esther Ofarim war nicht die einzige Frau, die wegen ihrer Hose aus einem Restaurant oder Hotel verwiesen wurde. Heute sind Hosen für Frauen kein Thema mehr. Und Männer experimentieren mit Röcken, wenn auch nur eine winzige Minderheit.TC 22:00 – Outro

Jun 21, 2024 • 38min
WIE WAR DAS DAMALS? Als wir 1974 zu Hause Weltmeister wurden
1954 gab es das "Wunder von Bern". 1990 den ersten gesamtdeutsche WM-Sieg. 2006 war zwar kein Titel drin, dafür berauschte sich Fußballdeutschland am schwarz-rot-goldenen "Sommermärchen". 2014 schlug die DFB-Elf Argentinien im Endspiel. Und 1974? Auch in diesem Jahr wurde Deutschland Fußballweltmeister - im eigenen Land! Und das mit der angeblich "besten Mannschaft aller Zeiten": Beckenbauer, Hoeneß, Netzer, Overath, Müller! Noch Fragen? Ja! Warum ist diese Weltmeisterschaft dann im kollektiven Gedächtnis der Deutschen eher ins Abseits geraten? War es die schlechte Stimmung im Trainingslager Malente? Wirkte das Olympiaattentat von 1972 noch nach? Oder war es einfach das legendär schlechte Wetter, das ganze Stadien in Seenplatten verwandelte? In der neuesten Ausgabe von "Wie war das damals?" schauen Christian Schaaf und Michael Zametzer zurück ins Jahr 1974, als wir zuhause Weltmeister wurden.Credits Autoren: Christian Schaaf und Michael Zametzer Redaktion: Eva Kötting und Heike SimonIm Interview: Dr. Jutta Braun, Manni Breuckmann Linktipps:mdr (2024): Unsere Mannschaft ´74 Für die DDR-Nationalmannschaft war der sportliche Höhepunkt die WM-Teilnahme 1974 mit dem 1:0-Sieg gegen die Bundesrepublik. Diese Doku-Reihe blickt gemeinsam mit vielen Zeitzeugen auf diese Fußball-Sensation zurück. JETZT ANSEHEN ARD (2024): Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024? Deutschland. Sommer. Fußball-WM 2006: Eine Nation erlebt ein Sommermärchen. Deutschland, 18 Jahre später. Die UEFA Euro 2024. Ein verändertes Land. Und doch wieder ein fröhlich-friedliches Sommermärchen? Esther Sedlaczek nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Deutschland 2024 und zeichnet ein sportliches, unterhaltendes und nachdenkliches Bild zur Lage der „Fußball-Nation“. Sie trifft unter anderem Bundestrainer Julian Nagelsmann, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, den ARD-Fußball-Experten Bastian Schweinsteiger und Weltmeistertrainer Jogi Löw. Sie begegnet Fans und besucht die Alpengemeinde Garmisch-Partenkirchen, die sich auf Tausende Schotten während der Fußball-EM freut. Sie beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob der Fußball im Jahr 2024 wirklich noch eine Gesellschaft verbinden kann, die sich in vielem fast schon unversöhnlich gegenübersteht. IN DER MEDIATHEK Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN

Jun 14, 2024 • 12min
FUSSBALL! - Das "Wunder von Bern"
"Aus! Aus! Das Spiel ist aus! - Deutschland istWeltmeister!" Mit diesem Schrei des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann war die Sensation 1954 perfekt. Außenseiter Deutschland gewinnt die WM. Neun Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches kam in der Bundesrepublik das Gefühl auf: "Wir sind wieder wer!" Einige Historiker sehen deshalb im Fußballwunder von Bern die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Aber stimmt das wirklich? Von Christian Schaaf (BR 2010)
Credits Autor: Christian Schaaf Regie: Martin Trauner Es sprachen: Armin Berger Technik: Lydia Schön-Krimmer Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Thomas Raithel, Harry Valerien, Renate Schmidt, Wolf PosseltBesonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Wild Crimes Das Verbrechen lauert überall – auch zwischen Mensch und Tier. "Wild Crimes" liefert packende Storys von True Crime im Tierreich. In Staffel eins erzählen wir euch vom "Problembären" Bruno. Der war erst bei uns willkommen, dann wurde er gejagt und getötet. Wie kam es zu dieser dramatischen Wende? Wer hat ihn abgeschossen? Und war es gerechtfertigt, ihn zu töten? JETZT ANHÖREN
Linktipps: ARD (2024): Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024? Deutschland. Sommer. Fußball-WM 2006: Eine Nation erlebt ein Sommermärchen. Deutschland, 18 Jahre später. Die UEFA Euro 2024. Ein verändertes Land. Und doch wieder ein fröhlich-friedliches Sommermärchen? Esther Sedlaczek nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Deutschland 2024 und zeichnet ein sportliches, unterhaltendes und nachdenkliches Bild zur Lage der „Fußball-Nation“. Sie trifft unter anderem Bundestrainer Julian Nagelsmann, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, den ARD-Fußball-Experten Bastian Schweinsteiger und Weltmeistertrainer Jogi Löw. Sie begegnet Fans und besucht die Alpengemeinde Garmisch-Partenkirchen, die sich auf Tausende Schotten während der Fußball-EM freut. Sie beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob der Fußball im Jahr 2024 wirklich noch eine Gesellschaft verbinden kann, die sich in vielem fast schon unversöhnlich gegenübersteht. IN DER MEDIATHEK ARD (2022): 50er – Das Wunder von Bern und die Folgen In den 1950er-Jahren entstehen die Fußball-Nation Deutschland und der 11-Freunde-Mythos. Unter Trainer Sepp Herberger holt sich Deutschland als krasser Außenseiter den ersten WM-Titel. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:32 – 3:2 für DeutschlandTC 03:43 – Das Wunder ist perfektTC 06:41 – Nicht der schlechteste MythosTC 10:14 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
Zuspielung: Ausschnitt Reportage Zimmermann: „Deutschland im Endspiel der Weltmeisterschaft. Das ist ein echtes Fußballwunder. Ein Wunder allerdings, das auf natürlichem Weg zustande gekommen ist“ …
Sprecher4. Juli 1954. Die Republik sitzt nervös vor dem Radiogerät. Geschickt versucht der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann im verregneten Berner Wankdorfstadion die Hörer darauf vorzubereiten, dass die Nationalmannschaft gegen den haushohen Favoriten Ungarn praktisch chancenlos ist. Eine Niederlage scheint unausweichlich. Denn schon in der Vorrunde hatte die Auswahl des kommunistischen Landes die Mannschaft um Nationaltrainer Sepp Herberger mit 8:3 vernichtend geschlagen. Und so ist das erste Wunder dieses denkwürdigen Juli-Sonntags, dass die Deutschen überhaupt im Finale der Weltmeisterschaft stehen. Der Historiker Thomas Raithel hat sich intensiv mit der Weltmeisterschaft 1954 auseinandergesetzt. Für ihn steht fest: Die deutsche Mannschaft hatte bei dem Turnier sehr viel Glück gehabt.
2. Zuspielung: Thomas Raithel: „Es war sicher Glück dabei. Man könnte quasi von einer Verkettung von glücklichen Umständen sprechen. Das fängt an mit der Besetzung der Vorrunde. Die haben eine leichte Gruppe gehabt. Mit zwei Siegen gegen die Türkei waren die Deutschen eine Runde weiter. Das ging weiter mit den Losen in den Halbfinalen. Die Ungarn hatten mit Brasilien und Uruguay die erheblich schwereren Gegner. […] Glück war auch das Wetter. Der Regen hat so ein bisschen die technischen Unterschiede zwischen den Ungarn und den Deutschen nivelliert. Und vor allem muß man sehen: Der Austragungsort Schweiz. Das waren zum Teil Spiele in Heimspielatmosphäre, die die Deutschen da hatten. Wenn man das alles zusammen nimmt, dann ist Begriff des Wunders ist also nicht ganz aus der Luft gegriffen.“ Sprecher Doch das eigentliche Wunder dieses Tages, der Titelgewinn, ließ auf sich warten. Gleich nach dem Anpfiff schien es so, als ob das Spiel ein Fiasko für die deutsche Mannschaft werden sollte - ähnlich wie die 8:3 Niederlage gegen Ungarn in der Vorrunde. Denn schon in der sechsten Minute fällt das erste Tor für die Ungarn. TC 02:32 – 3:2 für Deutschland
3. Zuspielung: Zimmermann 1:0: „Kocsis müsste schießen. Nachschuss Puscas. Tor! Was wir befürchtet haben, ist eingetreten. Der Blitzstart der Ungarn hat ihnen die Führung eingebracht.“
Sprecher Zwei Minuten später folgt der zweite Treffer der Ungarn. Doch dann die Sensation. In der 18. Minute schießt der Nürnberger Max Morlock den Anschluss-Treffer. Zum Ende der zweiten Halbzeit kommt es dann zur Sensation. Helmut Rahn schießt das 3:2 und Sportreporter Zimmermann verliert die Fassung.
5. Einspielung: Zimmermann nach 3:2: „3:2 für Deutschland! Fünf Minuten vor dem Spielende! Halten Sie mich für verrückt. Halten Sie mich für übergeschnappt! Ich glaube auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben und sollten sich an der Begeisterung unserer Mannschaft mitfreuen und sollten jetzt Daumen halten.“
Sprecher In einem atemberaubenden Spiel verteidigen die Deutschen ihren Vorsprung. Bis wenige Minuten später der erlösende Schlusspfiff erklingt.
6. Einspielung: Zimmermann: Aus Aus Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister! Schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale in Bern! TC 03:43 – Das Wunder ist perfekt
SprecherDas Wunder war perfekt. Der 4. Juli 1954 war der wohl glücklichste Tag, den die junge Republik seit ihrer Gründung fünf Jahre zuvor erlebt hatte. Und so erinnern sich auch noch heute Menschen gerne an dieses Datum zurück, die mit Fußball eigentlich wenig am Hut hatten, wie etwa die SPD-Politikerin Renate Schmidt, damals 11 Jahre alt.
7. Einspielung: „Meine Eltern saßen bei Freunden vor dem Radiogerät und haben gefiebert. Dann kam dieses erlösende Tor. Und mein Vater hat uns alle geküsst und wir haben 50 Pfennige geschenkt bekommen. Das war damals für ein Kind meines Alters ungeheuer viel Geld. Ein Eis mit zwei Kugeln hat damals ein Zehnerle gekostet. Ein Kinobesuch für Kinder war mit 70 Pfennigen zu haben. Es war ein Haufen Geld. Ich fand, das war ein wunderbarer Tag.“
SprecherZur selben Zeit im Berner Wankdorfstadion. Die Schlachtenbummler stimmen das Deutschland-Lied an. 8. Einspielung: „Deutschland, Deutschland über alles!“
SprecherDeutschland, Deutschland über alles. Diese erste Strophe der Nationalhymne war zwei Jahre zuvor durch die dritte Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ersetzt werden. Aber diese Entscheidung ist offenbar noch nicht bei allen Bundesbürgern angekommen - vielleicht auch, weil es zuvor kaum Gelegenheit für die Deutschen gab, ihre Hymne öffentlich anzustimmen?
9. Einspielung: Reportage Triumphzug München: „Nun biegen wir von der Bayerstraße in die Goethestraße ein. Und hier hängen auch Transparente wie in den vielen anderen Straßen. Der Jubel kennt keine Grenzen. Und schon wieder drängen die einzelnen …“
Sprecher (ab „Grenzen“ drüber): Zwei Tage später. Die Nationalmannschaft wird in München empfangen. Tausende Menschen säumen die Straßen und versuchen einen Blick auf die Helden von Bern zu erhaschen. Harry Valerien, damals Sportreporter:
10. Einspielung: (Harry Valerien zu Triumphzug): „Im Grunde war das ein, das Wort mag ich nicht, weil einen das an Zeiten erinnert, die hinter uns liegen, aber ein Zug des Triumphes – wenn das erlaubt ist das zu sagen. Ein überwältigendes Ereignis, weil die Menschen halt aus dem Häuschen waren. Weil sie die Strecke säumten, die Bahnhöfe bevölkerten. Im Grunde mussten sie sich irgendwo ausdrücken. Sie mussten hinausschreien: Freunde, dass wir das schaffen! Dann schaffen wir vielleicht noch viel mehr! Auf andere Weise. Und wenn Sie sich vorstellen, dass da die letzten Gefangenen gar nicht zu hause waren. Aus Stalingrad, oder anderen Gefangenenlagern. Aber das ist sehr schwer zu verstehen, wenn man das nicht selbst erlebt und erfühlt hat. TC 06:41 – Nicht der schlechteste Mythos
Sprecher Doch auch schon vor dem Sieg von Bern hatte es in der jungen Bundesrepublik genug Anlass zum Optimismus gegeben. Seit Anfang der 50er Jahre kannte die Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland nur eine Richtung: Nach oben. Auch die Löhne stiegen und die Arbeitslosenquote sank. Dank des geschickt verhandelnden Bundeskanzlers Konrad Adenauer sollten die letzten Kriegsgefangene, vor allem aus dem Osten, schon bald nach Hause kommen. Und nun auch noch der Weltmeister-Titel! Im Nachhinein betrachtet, passiert es daher leicht, den Fußballsieg von Bern als das Gründungsereignis der Bundesrepublik Deutschland zu sehen. Doch das geht dem Historiker Thomas Raithel zu weit.
11. Einspielung: Raithel : Mythenbildung: „Das ist meines Erachtens ein Mythos! Es ist ein Mythos der der Versuchung erliegt, die Kontexte auszublenden und alles auf ein Ereignis zu projizieren. Das Interessante ist, man kann das sehr schön zeigen, wie dieser Mythos seit den fünfziger Jahren sukzessive gewachsen ist. Der war nicht sofort da. Die Zeitgenossen haben nicht vom „Wunder von Bern“ gesprochen. Das beginnt dann erst 1974. Zur Abgrenzung. Als die Deutschen zum zweiten Mal Weltmeister werden. Dann wird das „Fußballwunder von 54“ dem Triumph von Bern gegenübergestellt. Und dann wächst diese Mystifizierung immer weiter. Und das hat sehr viel damit zu tun, mit generellen Prozessen, wie in der Bundesrepublik historische Erinnerungen entstehen, transportiert aber auch verklärt werden.“
Sprecher Aber bereits schon am Abend des 6. Juli 1954, als die Nationalmannschaft im Münchner Löwenbräukeller empfangen wird, ist die Verklärung des Titelgewinns zu beobachten. Die Begrüßungsrede hält der damalige DFB-Präsident Peco Bauwens.
12: Einspielung: Bauwens: „Laßt uns, die alle hier sind, außer unseren 22 Kameraden einschließlich Herberger, von unseren Plätzen erheben, um auf unsere 22 Wackeren unseren Ruf auszubringen, worin aber eingeschlossen ist, dass das was sie geleistet haben zünden soll in unserer Jugend. Damit sie gute Deutsche werden auch für die fernste Zukunft. Ein dreifaches Hip Hip Hurra! (Jubelschreie)
Sprecher Kurze Zeit später blendete sich der Bayerische Rundfunk aus, der die Rede Bauwens live übertragen hatte. Der Grund: Die Rede weckte immer mehr Erinnerungen an die NS-Propaganda. Der große Rest der Republik ging mit dem Weltmeistertitel allerdings weitaus zurückhaltender um. Statt nationalistischer Überheblichkeit machte sich eher ein vorsichtiges Selbstvertrauen breit, nach dem Motto: „Wir sind wieder wer“. Insofern kann auch der Historiker Thomas Raithel der mythischen Verklärung des „Wunders von Bern“ etwas Positives abringen. 14. Einspielung Raithel Mythos: „Das ist nicht der schlechteste Mythos. Der hat, in gewisser Hinsicht, auch eine Barriere gebaut vor weiteren militärischen Mythen vielleicht. Und es ist ein Ereignis, das die Bundesrepublik durch den Erfolg des Sports auch westlicher und moderner gemacht hat.“
Sprecher Ansonsten hat die wahre Bedeutung des Endspiels der Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 wohl niemand anderes besser als Rundfunk Reporter Herbert Zimmermann erkannt:
15.Einspielung: Zimmermann: „Aber die Tatsache, dass man auch bei einem Weltmeisterschaftsendspiel die Sache nicht übermäßig ernst nimmt, sollte uns daran erinnern, dass es bei aller Freude und bei allem Einsatz hier lediglich um ein Spiel geht.!“
TC 10:14 – Outro

Jun 14, 2024 • 23min
FUSSBALL! - Deutschland, vom Nachzügler zum Weltmeister
Heute kaum vorstellbar: Es gab eine Zeit, da war der deutsche Fußball nur eine Sportart neben vielen anderen. Aber in den letzten hundert Jahren hat er sich schwer gemausert. Heute kommt keine andere Sportart mehr an ihn heran - finanziell, zuschauermäßig, medial. Von Erich Wartusch (BR 2021)
Credits Autor: Erich Wartusch Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger Technik: Adele Kurdziel, Robin Geigenscheder Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Manuel Neukirchner, Markwart Herzog Besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Wild Crimes Das Verbrechen lauert überall – auch zwischen Mensch und Tier. "Wild Crimes" liefert packende Storys von True Crime im Tierreich. In Staffel eins erzählen wir euch vom "Problembären" Bruno. Der war erst bei uns willkommen, dann wurde er gejagt und getötet. Wie kam es zu dieser dramatischen Wende? Wer hat ihn abgeschossen? Und war es gerechtfertigt, ihn zu töten? JETZT ANHÖREN
Linktipps:ARD (2024): Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024? Deutschland. Sommer. Fußball-WM 2006: Eine Nation erlebt ein Sommermärchen. Deutschland, 18 Jahre später. Die UEFA Euro 2024. Ein verändertes Land. Und doch wieder ein fröhlich-friedliches Sommermärchen? Esther Sedlaczek nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch Deutschland 2024 und zeichnet ein sportliches, unterhaltendes und nachdenkliches Bild zur Lage der „Fußball-Nation“. Sie trifft unter anderem Bundestrainer Julian Nagelsmann, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, den ARD-Fußball-Experten Bastian Schweinsteiger und Weltmeistertrainer Jogi Löw. Sie begegnet Fans und besucht die Alpengemeinde Garmisch-Partenkirchen, die sich auf Tausende Schotten während der Fußball-EM freut. Sie beschäftigt sich aber auch mit der Frage, ob der Fußball im Jahr 2024 wirklich noch eine Gesellschaft verbinden kann, die sich in vielem fast schon unversöhnlich gegenübersteht. IN DER MEDIATHEK ARD alpha (2024): Fußball und Fans (1978) Ein Reporterteam des Fernsehens der DDR war 1978 unterwegs mit Fans von Dynamo Dresden zu einem Auswärtsspiel. Die Rabauken entpuppten sich dabei als mehr oder weniger brave Bürger der DDR. Von Hooliganismus war damals - noch - nichts zu spüren. Der Film zeigt auf, wie das damals war in der DDR mit dem Fußballfan-Sein, welche Probleme das bereitete und wie man in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:47 – Von der FußlümmeleiTC 07:39 – Das Wunder von BernTC 10:57 – Scheitern & SkandaleTC 14:45 – FC Bayern: Man liebt sie oder hasst sieTC 16:37 – Europameisterinnen mit KaffeeserviceTC 19:11 – Geld regiert die FußballweltTC 22:13 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
Atmo Fußballspiel, Ansage des Stadionsprechers
MUSIK
Erzählerin:Ein Freitagabend in Köln. Südstadion. Das Duell zweier Traditionsmannschaften: Fortuna Köln – Preußen Münster. Beide haben in der Fußball-Bundesliga gespielt. Münster war sogar Gründungsmitglied. Das ist lange her. Nun sind sie in den Niederungen des Amateurfußballs angekommen.
MUSIK
OT 01 / 0.31 (Fans)„Es kommen immer mehr Clubs nach oben, die da eigentlich nichts verloren haben. Und die Traditionsvereine bleiben leider auf der Strecke. Wir leben noch ziemlich traditionell. Also man lebt immer noch in guten alten Zeiten klar, auf jeden Fall. / Da herrscht genauso viel Leben wie in den anderen Vereinen. Nur es ist nicht mehr so massig. / Hört sich jetzt doof an, aber es ist eine Familie. Man kennt die Leute hier zum Teil seit 20, 30 Jahren, und das ist einfach toll. / Also ich bin in Münster: Als 13-Jähriger durfte ich dann zum ersten Mal alleine ins Stadion. Seitdem renne ich dahin. Da gibt es viele von der Sorte, die inzwischen graue Haare haben. Aber da gehörst du hin.“
MUSIK
Erzählerin:Fußball – ein Sport für ein ganzes Leben: Die Jüngsten steigen als Bambini oder G-Junioren mit wenigen Jahren in den Verein ein, selbst bei den Über-60-Jährigen werden noch Turniere und Meisterschaften ausgetragen. In Deutschland betreiben derzeit etwa 1,8 Millionen Menschen den Sport in Vereinen. Eine ganze Menge, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Fußball in Deutschland lange Zeit verrufen war.
MUSIK ausTC 01:47 – Von der Fußlümmelei
Erzählerin:Während in England und Schottland Fußball oder artverwandte Ballspiele schon seit Jahrhunderten existierten, dauerte es eine ganze Weile, bis der Sport von der Insel auch in Deutschland richtig Fuß fassen konnte. Zum einen wurde alles argwöhnisch betrachtet, was vom großen europäischen Gegenspieler, dem britischen Empire, herüberkam. Zum anderen hatte der Sport vor mehr als hundert Jahren noch weitgehend eine andere Funktion, erklärt Manuel Neukirchner, der Leiter des Deutschen Fußballmuseums.
OT 02 / 0.39 (Neukirchner)„Die englische Fußlümmelei, die englische Krankheit, so wurde sie verschrien, kam so um 1830 erstmalig nach Deutschland und wurde abgelehnt, aus dem wilhelmischen Zeitverständnis heraus. Der Sport hatte eigentlich damals nur die Aufgabe, die jungen Menschen auf den Krieg vorzubereiten, zu Soldaten auszubilden. Der Wettkampfgedanke, den der Fußball in sich vereint, war verpönt. Sport war Drill, Sport war Turnen, überwiegend an den Geräten. Der Spielgedanke, der Homo ludens, der spielte eigentlich gar keine Rolle.“
Erzählerin:Erst im Jahr 1874 rief der Braunschweiger Professor Konrad Koch den ersten Schüler-Fußballverein ins Leben. Die Jüngeren sollten die neue Sportart voranbringen…
OT 03 / 0.31 (Neukirchner)„Und es waren einige Sportlehrer, die den Fußball dann doch allmählich hoffähig gemacht haben. Es wurden dann erste Fußballabteilungen in den Turnvereinen gegründet, also es gab noch keine Fußballvereine, aber Abteilungen. Koch war der erste, der Sportlehrer, der dann auch Spielnachmittage eingeräumt hatte, mit Fußball für die Kinder, und der dann auch das erste einheitliche Regelwerk vorgelegt hat für den Fußball. Und so kam der Fußball dann langsam in die Spur in Deutschland. Aber es war ein mühseliger Weg.“
MUSIK
Erzählerin:Im Januar 1900 wurde schließlich in einer Gaststätte in Leipzig der Deutsche Fußball-Bund gegründet. Der Sport organisierte sich immer stärker. Es wurden regionale Strukturen geschaffen, eine Deutsche Meisterschaft eingeführt und die offiziellen englischen Spielregeln übernommen. Doch zunächst blieb der Fußball noch einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht vorenthalten, erklärt der Sporthistoriker Markwart Herzog:
OT 04 / 0.31 (Herzog)„Die Menschen, die sich dann für das Fußballspiel begeistert haben und die Vereine gegründet haben, in der Kaiserzeit noch, das waren auch Leute, die dem Bürgertum angehört haben. Also Fußball ist kein Proletensport. Es ist kein Arbeitersport. Das war es weder in England noch in Deutschland. Wenn Sie sich Fotos von Spielen aus der Kaiserzeit anschauen: Da tragen die Leute Zylinder, sie haben ein Anzug an, ein weißes Hemd, das waren gesellschaftliche Ereignisse.“
Erzählerin:Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Hochzeit des Fußballsports. In der Weimarer Republik wurde er zusammen mit Boxen und Radfahren extrem populär. Zehntausende strömten in die Stadien. Große Mannschaften prägten das Spiel, langjährige Duelle. Die Rivalität war vor allem zwischen Nürnberg und Fürth extrem - zwei der dominierenden Mannschaften jener Jahre. Die deutsche Nationalmannschaft bestand sogar zweimal ausschließlich aus Nürnbergern und Fürthern. An der Feindseligkeit zwischen den beiden Vereinen änderte das aber nichts. Die Nürnberger Torwartlegende Heiner Stuhlfauth erinnert sich an ein Länderspiel auswärts gegen die Niederlande:
OT 05 / (Stuhlfauth) (liegt in zwei Längen vor: KURZ 0.38 / LANG 0.50)„Und so trafen wir in Nürnberg zusammen, die Fürther stiegen in die hinteren Waggons des D-Zugs ein. Und als wir das gesehen haben, sind wir in den vorderen Waggon eingestiegen, nur um damit wir mit den Fürther Spielern nicht zusammengekommen sind. Gesprochen wurde untereinander gar nichts. Blaschke hat zu mir gesagt: Ihr müsst doch wieder einig werden, Ihr müsst noch mal miteinander spielen. Ich habe gesagt: wir werden spielen, als ob wir zusammengehören. Und so war es auch - ein wunderbares Spiel - das erste Länderspiel, das Deutschland gegen Holland gewonnen hat, mit eins zu null.“
Erzählerin:Trotzdem ließen die großen internationalen Erfolge für Deutschland noch auf sich warten. MUSIK
Erzählerin:Besonders ernüchternd verlief das olympische Fußballturnier 1936 in Berlin, das wegweisend war für die Jahre des Nationalsozialismus. DFB-Museumsleiter Manuel Neukirchner:
OT 06 / 0.43 (Neukirchner)„Fußball hat dann aber im Dritten Reich sehr schnell an Strahlkraft verloren. Das hat natürlich auch mit 36 zu tun, als Adolf Hitler das erste Spiel im Fußball überhaupt besuchte: Deutschland gegen Norwegen. Und das ging kräftig in die Hose. Ein frühes Gegentor der Norweger, dann ein spätes Tor. Und dann war Adolf Hitler aus dem Stadion verschwunden und er hat nie wieder ein Spiel gesehen. Goebbels hat später auch während des Krieges Fußballspiele verboten, Länderspiele verboten, weil Goebbels gesagt hat: Man weiß nie, wie es ausgeht. Und er kann im Deutschen Reich für die Propaganda eigentlich nur Spiele akzeptieren, wo Deutschland ganz klar gewinnt. Und deswegen will er keine offiziellen Länderspiele mehr haben.“
Erzählerin:Trotzdem rollte auch während des Krieges der Ball weiter:
OT 07 / 0.30 (Neukirchner)„Für die Aufrechterhaltung der Moral wurde Fußball weiterhin stark eingesetzt auf regionaler und nationaler Ebene. Er wurde sogar auch auf ganz perfide Weise teilweise in Konzentrationslagern eingesetzt. In Theresienstadt, dem Durchgangslager, da wollten die Nazis einfach demonstrieren: „Schaut mal, hier wird Fußball gespielt, so schlimm ist das alles gar nicht!“TC 07:39 – Das Wunder von Bern
MUSIK
Erzählerin:Der Zweite Weltkrieg war zuende. Es folgte die Nachkriegszeit und der deutsche Fußball musste sich in der internationalen Sportwelt erst wieder um Akzeptanz bemühen. Dann kam 1954 das Wunder von Bern.
OT 08 / 0.17 (Neukirchner)„Es wird nie wieder ein Fußballspiel geben in Deutschland, das diese historische und gesellschaftliche Bedeutung für die Bundesrepublik erlangen wird wie dieses Spiel am 4. Juli 1954. Und es gibt viele, die in diesem Spiel auch die Geburtsstunde der jungen Bundesrepublik ausmachen.“
MUSIK
OT 09 / 1.50 Collage aus Reportage von 1954 + O-Ton-Nacherzählung (Neukirchner)
„Deutschland ist in der Welt isoliert. Deutschland ist beladen mit Schuld. Eine Nation sucht eine neue Identität, und in dieser schweren Zeit der Not, der materiellen Not kommt dann diese Fußball-Weltmeisterschaft, […] und Deutschland war ein Allerweltsgegner im internationalen Fußball. Und Ungarn war die Übermannschaft, die vier Jahre nicht mehr verloren hatte. Das war das Nonplusultra im Fußball weltweit. In einem vorherigen Spiel hat Ungarn schon gegen Deutschland acht zu drei gewonnen. Also da war ganz klar, wer da Chef war im Ring. […] Und dann hat diese Mannschaft um Fritz Walter nicht aufgegeben, immer weitergemacht, immer weitergemacht, hat den Anschlusstreffer geschafft, den Ausgleich geschafft und dann natürlich durch: -
OT 09 Collage aus Reportage von 1954
MUSIK
+ O-Ton-Nacherzählung (Neukirchner)Und Deutschland wird wirklich als Riesen-Überraschungsmannschaft Weltmeister und zeigt sich dann auch in dem Erfolg auf dem Platz bescheiden. Deutschland war so ein Stück zurück in der in der Weltgemeinschaft mit diesem Fußballspiel. Das war der erste kleine Mini-Schritt zurück.“TC 10:57 – Scheitern & Skandale
Erzählerin:Doch bald schon hatte Fußball-Deutschland Nachholbedarf: die Ligen waren regional zersplittert. Wer sind die besten Spieler für die Nationalmannschaft? Bei so vielen Ligen, so vielen Spielern behielten auch die Verantwortlichen kaum einen guten Überblick. Außerdem gab es selbst in den frühen 1960er Jahren offiziell ausschließlich Amateure, also keine bezahlten Berufsspieler. Ein Trugbild, weil die Realität anders aussah, weiß der Fußballforscher Markwart Herzog, der Leiter der Schwabenakademie Irsee:
OT 10 / 0.23 (Herzog)„Schon in der Weimarer Zeit haben gerade bei den Spitzen-Fußballmannschaften sicher alle Spieler Geld bekommen, ein Handgeld. Und das haben die Vereine aus schwarzen Kassen ausbezahlt. Das lag daran, dass der DFB den Berufsfußball verboten hat. Also ein Spieler durfte kein Geld dafür annehmen, dass er gespielt hat. Aber trotzdem haben die Vereine die Spieler bezahlen müssen, weil sie eben sonst anderswohin abgewandert wären.“
Erzählerin:Schon 1930 war der erste Versuch, eine nationale Liga zu gründen, gescheitert – und auch nach dem Krieg wollten die regionalen Fußballfürsten immer noch ihre eigenen Ligen nicht aufgeben. Erst das Scheitern bei der WM 1962 führte zu einem Umdenken. 1963 ging die Bundesliga an den Start:
Ausschnitt Moderation Bundesliga 1963 / MUSIK
OT 11 / 0.45 (Neukirchner)„Da gab es zunächst noch eine Deckelung des Gehaltes. Ich glaube, man durfte 1200 Mark verdienen. Aber man konnte das ausüben, ohne einen bürgerlichen Beruf nachweisen zu müssen. Und das war der erste Schritt in Richtung Professionalisierung. Die Clubs hatten auch Angst, die Gründungsvereine, ob sie das wirtschaftlich wirklich alles so tragen konnten, diese oberste Spielklasse, weil die Fahrtwege waren natürlich länger. Das bedeutete für die Klubs ja auch einen erhöhten Aufwand. Aber es hat sich gezeigt, dass es genau der richtige Weg war. Und nur so konnte Deutschland dann eben auch den Weg einschlagen, den Deutschland als Fußballnation eingeschlagen hat.“
Erzählerin:Deutschland wurde 1966 Vize-Weltmeister. Vier Jahre später WM-Dritter. Doch dann drohte der Höhenflug des Profifußballs in Deutschland jäh abzustürzen. Der Präsident der abgestiegenen Offenbacher Kickers, Horst Gregorio Canellas, ließ bei einer Geburtstags-Sommerparty plötzlich ein Tonband laufen:
MUSIK
OT 12 Canellas „…(mitgeschnittenes Tonband mit Spielabsprachen…)“
Erzählerin:Spielabsprachen, Bestechung. Fast ein Drittel der Bundesliga-Vereine war in den Bundesliga-Skandal verwickelt. Zahlreiche Spieler und Vereine wurden bestraft:
OT 13 DFB-Gericht „…(„Urteile werden vorgelesen“)
Erzählerin:Später gab es Begnadigungen. Doch die Fans wandten sich in Scharen ab. Die Zuschauerzahlen gingen stark zurück.
MUSIK aus
Auch der Fußball in der DDR hatte immer wieder mit Problemen zu kämpfen. In den ersten Jahren griff die Staatsmacht beherzt ein: Vereine wurden gegründet, umbenannt oder sogar umgesiedelt. Später entstand bei Fußballanhängern viel Frust, weil der Lieblingsverein des Stasi-Chefs Erich Mielke, Dynamo Berlin, ganz unverhohlen von den Schiedsrichtern bevorzugt wurde und Titel dadurch serienweise einfuhr. In und außerhalb der Stadien waren – wie auch im Westen - gewaltbereite Hooligans aktiv, die es im Arbeiter- und Bauernstaat jedoch offiziell nicht geben durfte. Der DDR-Fußball war aber auch erfolgreich: Magdeburg holte eine Europapokal-Trophäe, die Olympia-Auswahl 1976 gewann Gold und dann war da noch das einzige Spiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik bei einem großen Turnier – bei der Weltmeisterschaft 1974 in Hamburg:
MUSIK
03 – Ausschnitt BRD-DDR Kommentar
Erzählerin:Obwohl der Gastgeber mit 0:1 gegen die DDR verlor, wurde die Bundesrepublik dennoch Weltmeister. Vor allem dank der Spieler des FC Bayern München, der sich in den 1970er Jahren zum dominanten Verein in Deutschland aufschwang, dreimal den Europapokal der Landesmeister gewann und den Grundstein legte für bis die bis heute andauernde Polarisierung der deutschen Fußballfans.TC 14:45 – FC Bayern: Man liebt sie oder hasst sie
Die Bayern liebt man - wegen ihres Erfolges. Oder man hasst sie – ebenfalls wegen ihres Erfolges und der darum gewachsenen Arroganz – wie viele Fans anderer Vereine behaupten. In dieser Zeit spielten bei den Münchnern Stars, die den Fußball über Jahrzehnte prägten: Gerd Müller, der einen wohl unerreichbaren Torrekord in der Bundesliga aufstellte, Sepp Maier, der als Torhüter und Spaßvogel die Menschen begeisterte, Uli Hoeneß, der als Manager und Präsident den Verein jahrzehntelang steuerte, und nicht zuletzt Franz Beckenbauer, der dann 1990 als Bundestrainer die deutsche Nationalmannschaft zum dritten WM-Titel führte und mit umstrittenen Mitteln dank seiner internationalen Beziehungen die Weltmeisterschaft 2006 ins eigene Land holte. Paul Breitner, ebenfalls einer aus dem Kerngehäuse des Vereins, versucht zu erklären, warum es damals so gut lief:
OT 14 / 0.37 (Breitner)„Es gab natürlich auch in dieser Mannschaft Freundschaften, aber es gab etwas viel Wichtigeres fürs Berufsleben, nämlich absolute Kollegialität, Verantwortungsbewusstsein bei jedem, dass er nicht nur für sich, sondern auch für zehn, 15 oder 18 Kollegen zuständig ist. Das Entscheidende ist, dass eine erfolgreiche Mannschaft die Probleme, die sie hat, die auch nur im Entstehen sind, selbst erledigen muss. Das heißt, sie muss sich selbst reinigen. Und jede Mannschaft, die dazu jemand braucht, die wird keinen großen Erfolg haben können.“
Erzählerin:Die Titel brachten dem FC Bayern Popularität und eine steile sportliche und wirtschaftliche Entwicklung mit sich: Inzwischen ist er bei einem Jahresumsatz von mehr als 700 Millionen Euro angekommen. Der Verein: ein nicht mehr zu übersehender Wirtschaftsfaktor.TC 16:37 – Europameisterinnen mit Kaffeeservice
Obwohl die Münchner auch eine eigene Frauenmannschaft stellen, die ebenso regelmäßig Titel abräumt, ist der Frauenfußball in Deutschland von solchen Zahlen meilenweit entfernt. Sicherlich auch historisch bedingt: Erst 1970 wurde der Frauenfußball in Deutschland überhaupt zugelassen. Als 1989 die Nationalmannschaft erstmals Europameister wurde, bekamen Doris Fitschen und ihre Kolleginnen als Prämie ein Kaffeeservice. Als die Männer-Nationalmannschaft ein Jahr später Weltmeister wurde, gab es pro Spieler umgerechnet etwa 60.000 Euro.
OT 15 / 0.20 (Fitschen)„Ja, es frustet natürlich schon, wenn ich mir das noch mal vor Augen führe: 100 Länderspiele und ich habe quasi kein Penny dadurch verdient. Und die Männer, die haben nach ihrem zweiten Länderspiel schon ausgesorgt, das ist schon ein bisschen frustrierend. Aber andererseits kannte ich es auch nicht anders. Und es entwickelt sich ja doch. Aber es ist natürlich nicht mit dem Herrenfußball zu vergleichen.“
Erzählerin:Das Kaffeeservice von Doris Fitschen steht inzwischen im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Manuel Neukirchner zeigt es seinen Gästen gern, um zu illustrieren, wie schwierig es für die Frauen in Deutschland war:
OT 16 / 0.40 (Neukirchner)„Frauenfußball war lange Zeit verpönt, weil es sehr kampfbetonter Sport ist. Es war 1930, eine Metzgerstochter, Lotte Specht, die den Mut aufbrachte, per Zeitungsannonce nach Mitstreiterinnen zu suchen für den ersten Damen-Fußball-Club Frankfurt. Und daraufhin haben sich auch viele gemeldet: 30 Spielerinnen. Das war so das erste Mal, dass sich der Frauenfußball in Deutschland organisieren wollte. Und dann standen die Männer am Spielfeldrand, bewarfen die Frauen teilweise mit Steinen, bespuckten sie, verhöhnten sie. Und nach einem Jahr hat sich der Frauenfußball in Frankfurt, dieser Klub, auch schon wieder aufgelöst.“
Erzählerin:Inzwischen sind die deutschen Frauen erfolgreicher als die Männer: acht EM-Titel, zwei WM-Titel und ein Olympiasieg zeugen davon. Die deutsche Männer-Nationalmannschaft hatte dagegen nach dem WM-Titel 1990 und der der Wiedervereinigung zwar ein Übermaß an guten Spielern. Franz Beckenbauers Prophezeiung, der deutsche Fußball werde nun auf Jahre unschlagbar sein, erfüllte sich aber nicht. Und der DDR-Fußball wurde ebenso schnell abgewickelt wie viele der Industrien in den neuen Bundesländern: Hunderte von Spielern gingen in den Westen, die Traditionsvereine im Osten hatten weder die wirtschaftlichen noch die sportlichen Möglichkeiten mitzuhalten.TC 19:11 – Geld regiert die Fußballwelt
MUSIK
Erzählerin:Die 1990er Jahre trieben stattdessen eine Entwicklung voran, die den Fußball bis heute prägt: die Kommerzialisierung nimmt immer mehr zu, es gibt Fan-Artikel vom Türvorleger bis zur Unterhose, Fans zahlen Geld, um bei verschiedensten Fernseh- und Internetanbietern Spiele verfolgen zu können. Der Fußball dominiert die Sportberichterstattung in den Medien. Als Deutschland in Brasilien 2014 Weltmeister wird, sitzen hierzulande mehr als 34 Millionen Menschen vor dem Fernseher. In der Bundesliga wächst die finanzielle und damit auch die sportliche Kluft zwischen den großen und den kleinen Vereinen. Es gibt viele Fußball-Anhänger, die sich damit nicht mehr wohlfühlen:
OT 17 / 0.39 (Fans)„Es geht alles nur noch ums Geld, um Einfluss, und da finde ich, dass die Fans und der eigentliche Fußball teilweise schon auf der Strecke bleiben. / Dieses Getue ist mir einfach zu viel geworden. Die Experten, die vor und nach jedem Spiel eine Stunde, zwei Stunden oder auch während des Spiels dazugeschaltet werden, die interessieren mich alle kein Stück. / Alles wird noch mehr ausgebeutet. Im Fernsehen du kannst heutzutage, glaube ich, jeden Tag fünf Stunden Fußball schauen, musst halt dafür zahlen, sind kleine Beträge, das läppert sich insgesamt. Doch so dass dann eben jeder Spieler, auch wenn er nur ein Tor schießt, das das entscheidende Tor ist, einfach 100 Millionen mehr wert ist.“
Erzählerin:Der Sport entwickelt sich allmählich weg von den kleinen Plätzen hin zum globalen Medienphänomen. Zuletzt haben die kleineren Vereine deutschlandweit jedes Jahr rund 100.000 aktive Spieler verloren. Im Profibereich sind dagegen Ablösesummen für einzelne Akteure im zweistelligen Millionenbereich keine Seltenheit mehr. Manuel Neukirchner vom Deutschen Fußballmuseum:
OT 18 / 0.38 (Neukirchner)„Heute ist der Fußball einfach nur noch im wirtschaftlichen Zusammenhang zu denken. Angebot und Nachfrage bestimmt das gesellschaftliche Leben - auch im Fußball. Der Fußball löst unglaubliche Umsätze aus und davon profitieren alle die Akteure auf dem Platz, die Vereine, die Fernsehsender, die Medien, die Lizenzrechteinhaber. Das ist nicht mehr zurückzudrehen. Und wir haben in den letzten Jahren eigentlich gemerkt, dass auch wenn der Fußball immer wieder totgesagt worden ist, er nicht gestorben ist. Und ich glaube, dass auch in Zukunft das der Fall sein wird. Natürlich müssen wir aufpassen, dass die Spirale nicht überdreht wird.“
MUSIK
Erzählerin:Damit der Fußball in Deutschland auch weiterhin die Menschen trauern, jubeln und feiern lässt…
Collage Reporter-Torschreie aus Bundesliga-Saison / MUSIK
TC 22:13 – Outro

Jun 5, 2024 • 22min
D-DAY - In der Literatur
Ernest Hemingway, Jerome D. Salinger und Stefan Heym sind Autoren, die die Landung der alliierten Truppen in der Normandie erlebt haben. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre verfolgten die Ereignisse in Frankreich. Die Reaktionen der Schriftsteller auf den D-Day sowie die Perspektiven deutscher Literaturnobelpreisträger werden beleuchtet. Auch der Roman 'The Crusaders' von Stefan Heym nach dem Zweiten Weltkrieg und die Fernsehdoku über den D-Day werden thematisiert.

Jun 5, 2024 • 23min
D-DAY - Frankreichs Gedenken an die Landung der Alliierten
80 Jahre liegt die Landung der Alliierten in der Normandie zurück. Noch heute erinnern Bunkeranlagen und Panzer am Strand von Courseulle-sur-mer an die Befreiung von den Nationalsozialisten. Da es kaum noch Zeitzeugen gibt, ist es heutigen Bewohnern des Küstenörtchens besonders wichtig, weiterhin das Gedenken zu wahren. Von Andrea Burtz (BR 2024)Credits Autorin: Andrea Burtz Regie: Ron Schickler Es sprachen: Katja Bürkle, Ron Schickler, Andreas Neumann, Hemma Michel Technik: Robin Auld Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Romain LeChartier, Samuel LeVasseur, Corinne Vervaeke, Philippe Vervaeke, Eric Tabaud Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD History (2024): 24 h D-Day Der D-Day markiert den Startschuss zur Befreiung Westeuropas aus dem Griff der Naziherrschaft. Am 6. Juni 1944 greifen alliierte Soldaten deutsche Stellungen an gleich fünf Strandabschnitten in der Normandie an. Der Angriff erfolgt von See aus und gilt als das größte amphibische Ladungsunternehmen der Geschichte . Dieses Ereignis jährt sich nun zum 80. Mal. Doch so nah, so authentisch wurde diese Schlacht noch nie gezeigt. Amerikanische und britische Kameraleute sind in Landungsbooten, bei Beschuss am Strand und bei der Rettung Verletzter dabei. Ihr Originalmaterial, gedreht in schwarz-weiß, wurde für diese Dokumentation aufwendig bearbeitet und koloriert. Die historisch einzigartigen Aufnahmen erscheinen in Spielfilmqualität. Der Krieg bekommt Farbe. Und damit eine andere Wirkung. Wir schauen direkt in die Gesichter derer, Amerikaner, Kanadier, Briten und Deutsche, die meisten nicht viel älter als 20 Jahre. In „ 24 h D-Day“ erzählen sie ihren D-Day, den Tag den sie nie vergessen konnten. JETZT ANSEHEN Linktipp: arte (2024): Der D-Day und eine Reise in die Familiengeschichte In diesem Jahr ist es 80 Jahre her, dass alliierte Truppen in der Normandie landeten, um die Nazi-Herrschaft über Europa zu beenden. Daran wird international erinnert. Aber auch heute noch ist der D-Day für viele Menschen weit mehr als ein Gedenktag; er ist ein wesentliches Datum ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Familie. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN (flüsternd) TON 1Ich habe immer dasselbe Gefühl, wenn ich das Alter dieser Soldaten lese. Ich bin jetzt 30, die meisten sind jünger als ich. Der Älteste, der hier begraben ist, war 34. Ich habe Mitgefühl, wenn ich mich in ihre Lage versetze, mir ihre Lebenswege vorstelle. Was wohl im Moment der Landung in ihren Köpfen vorgegangen ist, und als sie sich entschlossen haben, herzukommen. Sie hatten keine Wahl. Auf Friedhöfen herrscht immer diese Stimmung von Ruhe und Gelassenheit.
Atmo Friedhof
SPRECHERINEs ist ein sonniger Morgen in Bény-sur-mer. Romain ist der einzige Besucher auf dem kanadischen Soldatenfriedhof. Er stammt aus dem Nachbarort Courseulles und betreibt dort eine kleine Pension. Sein Blick schweift über die einheitlichen Grabsteine der 2.049 jungen Kanadier, die in den ersten Wochen der Normandie-Invasion im Juni 1944 gefallen sind. Auf jeder weißen Stele sind unter einem Ahornblatt Name, Rang und Todesdatum eingraviert. Dazwischen blühen Narzissen, Iris und rote Tulpen.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN, TON 2Es ist unvorstellbar. Jetzt sogar noch mehr. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sowas heute nochmal passieren könnte.Dass Menschen sechstausend Kilometer auf einem Schiff oder in einemFlugzeug hinter sich bringen, um ein Land zu retten, das sie gar nichtkennen. Ich glaube, wenn man heute Leute zwischen 20 und 30 fragenwürde, ob sie in der Lage wären, das zu tun, würden 99% „nein“ sagen. Es ist unvorstellbar, und das macht das Ganze noch stärker.
ATMO Friedhof
FREISTEHEND, SAMUEL LEVASSEUR, TON 3Je suis jardinier. Ca fait 30 ans que je fais le travailpour le cimetière.
SPRECHERINSamuel Levasseur ist seit 30 Jahren der einzige Gärtner des Soldatenfriedhofs. Im Ort heißt es, es sei der schönste der Region. Denn Samuel sorgt dafür, dass er ganzjährig blüht. Im Juni, zum Jahrestag der Landung, setzt er Klatschmohn.Damit schmückten schon die Einheimischen im Frühsommer 1944 die Gräber. Dem Gärtner ist es wichtig, den Gefallenen jeden Tag aufs Neue seine Ehre zu erweisen.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG SAMUEL LEVASSEUR TON 4 (Samuel, ov)Am Ende bleiben nur ihre Gräber. Ich bepflanze sie,damit sie hübsch aussehen, und um ihnen zu huldigen. Ein wunderschöner Tribut, den ich zollen kann. In diesem Jahr ist es vielleicht das letzte Mal, dass wir den Gedenktag mit Veteranen begehen. Zum Glück konnten wir die Andenken dieser Männer bewahren, ich habe einige gesammelt. Sie sollen nicht vergessen werden.
MUSIK SPRECHERINManche Angehörige hinterlassen Hochzeitsfotos, handgeschriebene Nachrichten und sogar Schmuck auf den Gräbern. Nach einer Weile entfernt Samuel Levasseur die verwitterten Gegenstände, damit der Gesamteindruck der Gedenkstätte nicht gestört wird. Aber er hebt all diese Dinge auf und beantwortet Besuchern Fragen. Die 30 Jahre Arbeit zwischen den Grabsteinen junger Soldaten haben ihn geprägt.
SPRECHERIN OV ÜBERSETZUNG CORINNE VERVAEKE; TON 5Er ist ein Poet! Seine Verse sind sehr bewegend, er schreibt wunderschöne, schlichte Gedichte, besonders über die Kanadier. Wenn er es mal wagt, seine Gedichte anderen vorzulesen –Samuel ist sehr schüchtern! – dann weinen alle. Sie sind so schön, dass alle in Tränen ausbrechen.
SPRECHERINFremdenführerin Corinne Vervaeke hat mit Besuchergruppen schon oft den Soldatenfriedhof Bény und seinen Gärtner besucht. Sie kennt seine Gedichte.
SPRECHERIN OV ÜBERSETZUNG CORINNE VERVAEKE, TON 6
Sie sind sehr kurz, nur wenige Zeilen. Er erzählt zum Beispiel vom Soldaten, der seine Familie in der Ferne zurücklassen muss, der das Meer überquert, auf normannischem Sand fälltund schließlich für immer in der Erde der Normandie schläft, weit entfernt vom gelobten Land.
SPRECHERINAn manchen Tagen kommen bis zu sechs Touristenbusse zum Soldatenfriedhof Bény,(Bénie) der auf einer Anhöhe liegt. Drei Kilometer Luftlinie vom Küstenabschnitt Juno Beach entfernt, wo die 3. Kanadische Division am 6. Juni 1944 landete. Vom Friedhof kann man in der Ferne das Meer sehen. Die winzigen bunten Punkte am Horizont sind Segel von Surfern wie Mathieu.Atmo WIND MEER
SPRECHER 1 OV, ÜBERSETZUNG SURFER MATTHIEU TON 6
Je nach Windrichtung ist es ein besonders beliebter Spot für alleWindsurfer. Wenn wir auf dem Wasser sind, sehen wir das große Kreuz dort, das sorgt für eine besondere Atmosphäre. Wir können wirklich relativ weit sehen, vor allem das Lothringerkreuz. Es dient uns als Orientierungspunkt, denn bis dorthin müssen wir kommen… , ah der Wind ist heute stark….))
MUSIK GBE3A2123420 The Tide Of Fear 00:45min
SPRECHERIN18 Meter ragt das Lothringerkreuz am Strand von Courseulles in den Himmel. Es wurde 1990 zu Ehren des ehemaligen Generals und Staatspräsidenten Charles de Gaulle errichtet. Am 14. Juni 1944, gut eine Woche nach dem D-Day, war de Gaulle am Juno Beach in Courseulles an Land gegangen - vier Jahre nachdem er vor dem Vichy Regime und den nationalsozialistischen deutschen Besatzern nach London ins Exil geflohen war. Das Doppelkreuz erinnert anseine Rückkehr. Die Freien Französischen Streitkräfte hatten das Symbol aus dem Mittelalter übernommen - als Gegenstück zum Hakenkreuz der Nationalsozialisten.
Fremdenführerin Corinne Vervaeke packt ihre Tasche für die großeFamilientour zum D-Day: Original Lebensmittelkarten, Helme und Pullover von US Soldaten, ein Feldtelefon. 60 Kilo Anschauungsmaterial aus der Zeit der Besatzung und Befreiung. Die Kinder dürfen alles anfassen und ausprobieren.
SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE TON 7
Das kratzt und piekt, das Feldtelefon ist schwer. Die Kinder dürfen es auf dem Rücken tragen… Damals sind die Soldaten mit ihren großen Rucksäcken ins Wasser gesprungen, sie hatten wirklich Gewicht! All das werden die Kinder ihr Leben lang nicht vergessen. Dinge anzufassen, das spricht die Sinne an und bleibt im Gedächtnis.
SPRECHERIN
Corinne Vervaeke hat ihr Haar mit kleinen Kämmchen zurückgesteckt, so wie es in den 1940er Jahren Mode war. Auch ihr Rock, Bluse und Schuhe stammen aus der Zeit. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hat die Sportlehrerin sich ihren großen Wunsch erfüllt, noch ein Geschichtsstudium anzuhängen. Seither macht sie Führungen in Courseulles. Corinne stammt aus der Region und kennt den Ort. Sie betont, dass es wichtig sei, zu unterscheiden: Zwischen den großen Festlichkeiten zum Jahrestag der Landung als Dank an die Veteranen. Und dem, was französischen Zivilisten damals während der Befreiung widerfahren ist.
SPRECHERIN OV, ÜBERSETZUNG CORINNE TON 9 Das war sehr schwer für die normannische Bevölkerung. Viele Häuser waren zerstört und ein Teil der Zivilisten durch die Bomben der Alliierten ums Leben gekommen. Heute muss man das alles ein bisschen vergessen, ein bisschen glätten und sich daran erinnern, dass wir dadurch heute in Frieden leben können. Passiert ist es derGeneration unserer Eltern. Für uns war die Befreiung dann ein großesGlück. Für uns ist eine Erinnerung - keine gelebte Realität!
SPRECHERINCorinnes Mann Philippe, nach 37 Jahren in der Armee nun im Ruhestand, definiert den D-Day ganz klar:
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG PHILIPPE VERVAEKE TON 10Für uns ist die Landung tatsächlich der erste Tag eines neuen Europa. Eines friedlichen Europa. Das ist nicht der 8. Mai. Der 8. Mai markiert das Ende des Krieges. Aber der entscheidende Faktor war füruns die Landung. Hier wurde klar, dass wir aufhören müssen, ständig Kriege zu führe, und dass wir Europa schaffen müssen.
MUSIK
SPRECHERINInteresse an der eigenen Geschichte zu wecken und Völkerverständigung zu unterstützen, ist für Philippe Vervaeke unerlässlich. Heute macht sich der Rentner für Städtepartnerschaften stark und unterstützt seine Frau bei ihren Führungen am Juno Beach. Auch er passt seine Kleidung dabei an die 40er Jahre an. DerHobbysammler kann aus seinem eigenen Fundus schöpfen: Er trägt Uniform und Schiffchen eines Kriegsberichterstatters bei US-Armee.SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE TON 11 (Reportagig)Da ist Philippe. Wir sind am Strandabschnitt der Kanadier, aber Philipp trägt keine kanadischeUniform…SPRECHER 2 OV Übersetzung Philippe: Also Kinder – wie bin ich gekleidet? … Es steht auf derTasche wie bei einem Camembert aus der Normandie… Ich bin ein Journalist…))
SPRECHERIN
Familien aus ganz Frankreich sind mit ihren Kindern gekommen, um beim Strandspaziergang zu erfahren, was sich hier im Jahr 1944 zugetragen hat. Wo genau der bekannte Panzer einen Bombenkrater füllte, damit nachkommende Fahrzeuge über ihn hinwegfahren konnten. Warum es wichtig war, all die kleinen Brücken über dem Flüsschen „Seulle“ zu schützen und wie klein die Provianttasche eines US Soldaten war. Nachdem die Kinder noch einen restaurierten Panzer bestaunt haben, geht es direkt aufs Dach eines Bunkers – auf den sogenannten „Atlantikwall“.
SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE, TON 12
Also – sieht das so aus wie eine Mauer? Stehen wir aufeiner Mauer? – (Kinder im Chor, FREI STEHEN LASSEN) NON! – Tatsächlich nennt man es Atlantikwall, weil es als Schutz diente. Eigentlich besteht er aber aus vielen einzelnen Bunkern.
13.O-TON: Trompetenstoß, Fliegerlärm
SPRECHERIN Philippe bläst zum Appell. Zufällig schießt am Himmel ein historischer Flieger über die Köpfe der erstaunten Besuchergruppe hinweg. Am Ende gibt es noch ein Quiz: Philippe zieht Soldatenhelme aus einer Tasche, die Kinder sollen das Land seiner Herkunft erraten.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG PHILIPPE TON 14
Ja, das ist einfach – ein deutscher! Es ist das einzigeObjekt meiner Sammlung, das nicht historisch ist. Der deutsche Helmgehört zum Kostüm des Films „Saving Private Ryan“, es ist eine Filmrequisite. Denn heute sind deutsche Sammlerstücke sehr, sehr teuer.
SPRECHERIN
Nach der zweistündigen Tour sind die Kinder beeindruckt. Was ein Soldat beim Sprung ins Meer mit sich führte und wie klein seine Essensration war, werden sie nicht vergessen.
ATMO STRAND/MEER
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG SURFER MATHIEU TON 15
Es gibt hier ja direkt das Museum – aber wir schauen uns das nicht ständig an. Wir leben in Courseulles, einem Ort, der für Wassersport wie geschaffen ist. Unter den heutigen Bedingungen ist es großartig!
SPRECHERINSurfer Mathieu rollt das Segel aus, um schnell raus aufs Meer zu kommen. Am Strand kennt man sich hier unter Wassersportlern.SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG SURFER MATHIEU TON 16Ganz ehrlich? Ich habe keine Zeit, um mir all das anzuschauen, was hier sich hier zugetragen hat. Ich bin zu sehr mit meinerArbeit beschäftigt. Die Gedenkveranstaltungen sind immer besonders, wir erleben dann die Geschichte ein bisschen noch einmal. Für unsEinheimische ist es gar nicht so leicht, da einen Platz zu bekommen. Aber es zieht Touristen an– das ist gut für die Region!
ATMO MeerSPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 17Hier am Strand gibt es auch eine Surfschule, die Leute haben hier Spaß, und ich gehe dort schwimmen. Ich denke nicht an die Landung, wenn ich meinen Hund ausführe. Manchmal vielleicht, aber nicht täglich.
MUSIK SPRECHERINPensionsbetreiber Romain liebt seine Heimat, die Normandie. Die sattenWiesen, die vielen Pferde, die blühenden Apfelbäume im Frühling und natürlich das Meer. Häufig wird er von seinen amerikanischen Gästen gefragt, ob er an dem Strand wirklich baden geht, an dem so viele Soldaten ihr Leben lassen mussten.SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 18Dann antworte ich, dass ich nicht daran denke. Das mag manchem verrückt erscheinen. (…) Ich sage den Leuten dann, wenn man an jedem Ort aufhört zu leben, an dem sich etwas Schlimmes ereignet hat, egal ob ein Krieg oder etwas anderes, dann könnte man nicht mehr leben. Besonders in der Normandie. Wir haben viele solcher Orte.
SPRECHERINSeit drei Jahren betreibt der 30jährige die kleine Pension in seiner Heimat Courseulles. Ein 4000 Seelen Ort, der im Sommer von Badegästen lebt und im restlichen Jahr von Geschichtstouristen. Das Haus aus dem 18. Jahrhundert hat Romain im Bewusstsein renoviert, künftig Gastgeber für Menschen aus aller Welt zu sein, die an der Normandie vor allem die berühmte Landung interessiert - weniger ihre Landschaft. Kanadier, Engländer, Amerikaner.SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 19
Natürlich kommen auch Franzosen. Für viele ist es so eine Art „Pilgerreise“, als müsse jeder Franzose einmal in seinem Leben dieLandungsstrände besucht haben. Viele Eltern waren schon als Kinder hier. Egal, ob es 10, 20, 30, 40 Jahre her ist – sie sagen: „Ja, ich war mit meinen Eltern hier, ich erinnere mich!“ Der Vorteil hier ist, dass sich nicht viel verändert hat. Was vor 40 Jahren hier war, ist es auch heute noch.
SPRECHERIN
Touristen wollen Gräber entfernter Verwandte besuchen oder ganz speziellen Fragen nachgehen. Romain hat durch seine Gäste viel Neues über die Region erfahren, obwohl er hier aufgewachsen ist. Schon als Kind hat er all die Erinnerungsstätten und Museen mit der Familie oder Schulklasse besucht; viele Anekdoten gehört, die hier von Generation zu Generation weitergetragen werden. Die meisten Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben.
MUSIK
SPRECHERIN
Romains Großvater beschrieb oft den unvorstellbaren Lärm der Detonationen in der Nacht des 6. Juni 1944, den er noch in Flers (flär) hören konnte. Einem Ort, der im Landesinneren 70 Kilometer von der Küste entfernt liegt. Ofterinnerte er daran, wie quälend lang die Befreiung war - der D-Day war nur der Anfang.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 20
Caen ist im August befreit worden. Die Alliierten sind aber schon Anfang Juni gelandet. Das muss man sich mal vorstellen: Sie haben Monate gebraucht, um diese 20 Kilometer vorzudringen. Es gab unerbittliche Kämpfe, dabei wurde Caen zu 90% zerstört, 3000 Zivilisten kamen ums Leben. Die Großmutter einer Freundin erzählte immer, dass sie während der Befreiung Caens durch die Alliierten fast alle Schulkameraden verloren hatte.
SPRECHERINIm Herbst 1944 saßen noch drei Kinder in der Klasse. Ein Bild, das sich bei Romain eingebrannt hat, obwohl er es nie gesehen hat.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC, TON 21
Das Foto da wurde am 14. Juni 1944 aufgenommen, eine Woche nach der Landung. Das ist de Gaulle, dort wo das Rathaus ist …
MUSIK GBY9Y2201307 Moonbow 00:52min
SPRECHERIN
Eric Tabaud ist stolz auf seine Sammlung. Über 10.000 Fotos hat der 63jährige Hobbyhistoriker bereits von Courseulles gesammelt und digitalisiert. Die Interessantesten präsentiert er auf seiner Internetseite. Das Museum, das sich mit der langen Geschichte Courseulles beschäftigt hat, ist seit ein paar Jahren geschlossen. Für Eric Tabaud ein Grund mehr, die Erinnerung an das kleine Industriestädtchen mit seinen Fotos lebendig zu halten. Eric ist im Ort bekannt. Seit über 100 Jahren betreibt seine Familie das historische Kinderkarussell am Strand. Großeltern, die jetzt mit ihren Enkeln kommen, sind früher selbst auf den Pferdchen und Zebras geritten. Eric sitzt oft an der Kasse.
ATMO: kurzes, unübersetztes Gespräch indirekt als Atmoaufgenommen TON 22
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 23
Es kommen viele Omas aus Courseulles zu meinem Karussell, die mich von klein auf kennen. Ich frage sie, ob sie alte Fotos haben und dann bringen sie welche mit. Sehr alte Fotos und so kann ich Ereignisse rekonstruieren…Das da sind Deutsche, die man am D-Day schon mittags festgenommen hat…Als die Deutschen damals Courseulles besetzt haben, haben sie alle Fotoapparate der Leute konfisziert. Sie wollten verhindern, dass sie den Alliierten Fotos der Befestigungsanlage zuspielen. Ein paar wenige haben ihre Apparate aber behalten und bei der Befreiung gleich wieder rausgeholt, um Fotos zu machen…MUSIK
SPRECHERIN
Fotos von gefangenen deutschen Soldaten, von riesigen Krankenhaus-Schiffen, die Verletzte auf Bahren versorgen. Von Bunkeranlagen.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 24
All die Fotos haben mir Leute vorbeigebracht… Das sind deutscheOffiziere im Jahr 42, während der Besatzung. Aus der Zeit habe ich nurwenige Fotos, aber es gibt welche. Da – sie überwachen den Strand…Und das sind die ersten Gräber, die Kanadier ausgehoben haben.
SPRECHERIN
Wie viele Menschen in Courseulles haben auch Erics Schwiegereltern nach der Invasion in einem der Bunker am Strand gewohnt, weil ihr Haus zerstört war. Familie Tabaud hat den Krieg überlebt. Ihr erstes Karussell jedoch nicht.SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 25
Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde mein Großvatereinberufen und das Karussell geschlossen. Mein Vater war damals 9, meine Tante 10. Die Familie besaß Land in der Nähe von Caen, züchtete Schafe und verbrachte die Winter auf den Feldern. Die Alten dachten, dieser Krieg würde niemals enden und das Karussell zu nichts mehr nütze sein. Da es kein Holz zum Heizen gab, haben sie begonnen, es zu verheizen. Nach dem Krieg haben wir dann ein neues Fahrgeschäft aus Blech bauen lassen.SPRECHERIN
Als Eric Tabaud 1996 den Betrieb von seinen Eltern übernommen hat, hat er das Fahrgeschäft nach historischer Vorlage nachbauen lassen. Einhörner, Pferdchen und Boote, die noch heute hier ihre Runden drehen, sind aber nicht mehr als aus Holz, sondern aus Harz. Handgemalte Engelchen strahlen von der Decke. Die musikalische Untermalung erinnert an die Anfangstage des Traditionsbetriebs.SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 26Wir spielen hier Jahrmarktorgelmusik. In Deutschlandund Holland gibt es davon besonders viel. Eines Tages, als ich einendeutschen Marsch gespielt habe, haben mir das Leute vorgeworfen, weil es doch Deutsche waren, die Krieg gegen uns geführt haben. Da habe ich gesagt: „Wir können doch nicht mit allen Menschen im Krieg bleiben, mit denen wir es irgendwann mal waren! Sonst sprechen wir irgendwann mit niemandem mehr.“ Am 6. Juni hänge ich hier am Karussell alle Flaggen auf, auch die deutsche.
SPRECHERINKrieg sei immer schlimm, und man müsse sich stets um Friedenbemühen. Damit die Grauen eines Kriegs niemals vergessen werden, müsse man an sie erinnern.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 27Ich organisiere in jedem Jahr einen „Erinnerungsweg“ amJuno Beach. Als die Alliierten am 6. Juni gelandet sind, starben 359kanadische Soldaten am Strand. Sie wurden schnell in Bény begraben.Mohn war die einzige Blume, die es damals gab. Also schmückte man die Gräber damit.
MUSIK
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 27Heute male ich an Strandabschnitten 359riesige Mohnblumen von vier bis zu zehn Metern in den Sand und lade die Menschen ein, sie zu schmücken. Mit Kieseln, Algen, Blumen - allem, was sie am Strand finden. Ich schreibe zu jeder Blume den Namen des Soldaten, sein Alter und bitte die Leute, ein Foto von ihrer Strandblume zu machen. Dann sollen sie im Internet recherchieren, ob sie noch Verwandte des Toten finden können. Sie sollen ihnen dann ein Foto ihrer Mohnblume schicken um zu zeigen, dass wir die Menschen nicht vergessen, die gekommen sind, um uns zu befreien.
Atmo Meer


