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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Nov 23, 2023 • 37min

Wie war das damals…? Als Deutschland zum Einwanderungsland wurde

Im Sommer 1973 legen tausende ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter in den Kölner Ford-Werken die Arbeit nieder. Sie fordern "Eine Mark mehr" - aber ihnen geht es nicht allein um mehr Lohn, sondern um Gleichbehandlung gegenüber ihren deutschen Kollegen. Es bleiben nicht die einzigen "wilden Streiks" in diesem Jahr, die von Betriebsräten und Gewerkschaften nicht unterstützt werden und denen meist die Polizei ein Ende setzt. 1973 ist aber auch ein Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik, denn in diesem Jahr stoppt die Bundesregierung die Anwerbung von sogenannten "Gastarbeitern", Männern und Frauen aus der Türkei, Italien, Griechenland oder Jugoslawien. Sie kamen seit den 1950er Jahren als billige Arbeitskräfte, viele von ihnen blieben - obwohl daran bei Abschluss der Anwerbeabkommen kaum jemand gedacht hat. Autoren: Michael Zametzer & Christian SchaafCreditsAutoren dieser Folge: Christian Schaaf, Michael Zametzer Redaktion: Heike Simon, Eva Kötting, Nicole Hirsch  Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN
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Nov 17, 2023 • 21min

VERSCHWÖRUNG? - Das Haberfeldtreiben

Brauchtum oder nackte Selbstjustiz? - Mit vermummten oder geschwärzten Gesichtern zogen Gruppen von jungen Männern nachts vor das Haus eines oder einer Beklagten. Dort trugen sie in Versform angebliche moralische Vergehen vor. Oft kam das "Haberfeldtreiben" einem Rufmord gleich. Im 18. und 19 Jahrhundert wurde es in Teilen Bayerns als folgenschwerer Rügebrauch praktiziert und von der Obrigkeit verfolgt. Autor: Herbert Becker (BR 2007) Credits Autor/in dieser Folge: Herbert Becker Regie: Eva Demmelhuber Es sprachen: Julia Fischer, Peter Weiß, Stephan Zinner, Andreas Borcherding, Alexander Duda Redaktion: Hildegard Hartmann Linktipp: BR24 Thema des TagesBR24 / Podcast / ARD AudiothekEin Thema, das gerade die Nachrichten beherrscht. Im Thema des Tages von BR24 erfahren Sie täglich, was dahintersteckt. Von Politik über Wirtschaft bis hin zu Kultur sprechen wir in jeder Folge mit unseren Korrespondentinnen und Korrespondenten im In- und Ausland oder Expertinnen und Experten. Wir bringen Sie auf den neuesten Stand, Sie erfahren die Hintergründe und was die Nachricht für Sie bedeutet. An jedem regulären Werktag in der Früh und am Abend bei BR24 im Radio und hier als Podcast. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Weitere Folgen zur Staffel: VERSCHWÖRUNG? - Die Illuminaten VERSCHWÖRUNG? - Die Tempelritter Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:55 – Der Ursprung der Haberer TC 03:22 – Selbstjustiz mit Ziegenfell? TC 04:43 – Ein Schwur zur Verschwiegenheit TC 06:40 – Gericht mit Gedicht TC 08:21 – Ein Treiben ohne Strafe… TC 12:21 -  … oder doch sündhafter Unfug? TC 17:48 – Die Bayern habern heute noch TC 19:13 – Outro   Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 0:15 - Intro  Atmo:  Geschrei und Lärm. (Band G 619, Take Nr. 1 und/oder Take bei 6´00´) Haberer He, Bauer! Schick´s aussi, dei´ Hur´. noch Atmo: Der Krach nimmt zu Haberer Schick´s aussi! Mir wollen ihrer ´s Haberfeld treiben! Sprecherin:  Ein Haberfeldtreiben! Vor einem Bauernhaus im bairischen Oberland haben sich zwanzig oder dreißig Männer versammelt: die Haberer. Wahrscheinlich sind es junge Burschen – ganz sicher sagen kann man es nicht, denn sie haben sich Bärte aus Rosshaar umgebunden und ihre Gesichter schwarz angemalt. Sie verlangen vom Bauern, dass er seine Tochter vor die Tür schickt. Sie soll sich unsittlich benommen haben. Haberer Aussi mit ihrer, sonst zünd´ ma dir an Hof oo!  Sprecherin:  Die Haberer machen einen Höllenlärm. Außer Ratschen und Trommeln kommen Kuhglocken und Trompeten zum Einsatz, es wird auf Bretter geschlagen, mit Peitschen geschnalzt, gejohlt und geklatscht. Kein Wunder, dass es ihr Opfer mit der Angst zu tun bekommt. Aber es nützt nichts. Der Bauer fürchtet um seinen Hof, und so muss die Ärmste aus dem Haus. noch Atmo + Geschrei (Band G 619, Take bei 8´10´) Sprecherin:  Jetzt gibt einer der Versammelten – der Habermeister - ein Zeichen (mit der Hand). Es wird ruhig. Haberer Handelts recht und bleibts dabei g´scheit Des woll´n am Kaiser Karl vom Untersberg seine Leit. 1. Zuspielung (Ende) Sprecherin:  Dass er sich auf den Kaiser Karl im Untersberg beruft, gehört zum Ritual. Aber der Ursprung dieser Anrufung ist ebenso unklar der des Haberfeldtreibens insgesamt. TC 01:55 -  Der Ursprung der Haberer Sprecher: Der zeitgeschichtliche Hintergrund legt gewisse Vermutungen nahe: Die ersten Haberfeldtreiben, von denen wir wissen, haben im frühen 18. Jahrhundert stattgefunden. In dieser Zeit überzog der so genannte Spanische Erbfolgekrieg ganz Europa. Bayern, das von kaiserlich-österreichischen Truppen besetzt war, hatte schwer zu leiden. Aufstände wurden blutig niedergeworfen und feindliche Söldner traten Recht und Gesetz mit Füßen.  Sprecherin:  Die Menschen waren verzweifelt - und flüchteten sich in die Erinnerung an bessere Zeiten. Die Wundergläubigkeit blühte und alte Mythen erwachten zu neuem Leben.  Sprecher: Einer Sage zufolge residierte der "große Kaiser Karl des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" mit seinen Getreuen im Untersberg und wartete darauf, den Unterdrückten als Retter und Befreier zu Hilfe zu kommen. Der Untersberg liegt im Berchtesgadener Land, ganz im Südosten Bayerns. Sprecherin:  Es lässt sich ohne weiteres ausmalen, was in diesen Zeiten der äußersten Not, der Bedrängnis und Gesetzlosigkeit in den Herzen rechtschaffener, patriotischer Männer vorging.  Atmo: (Trompete auf Band G 619, Take Nr. 3) Haberer: Manner, so geht´s nimmer weiter. Mir derf ma ned dulden, dass´s bei uns a jeder Haderlump ostellt, was eahm grad gfoid, ohne, dass er dafür gstraft werd´. Mir miass ma uns auf d´ Hinterfiaß stellen! Und wenn uns sonst koaner huift, dann der Kaiser Karl im Unterschberg!  Zustimmendes Raunen.  Sprecherin: Sie taten sich zusammen - zum so genannten Habererbund.  TC 03:22 – Selbstjustiz mit Ziegenfell? Sprecher: Woher die Begriffe "Haberer" und "Haberfeld" kommen, ist unklar. Als "Haber" bezeichnete man einst eine Ziege, mit "Feld" war vielleicht ein Fell gemeint. Das könnte bedeuten, dass bei den frühesten Treiben der Beschuldigte ein Ziegenfell übergezogen bekam. Sprecherin: Rätsel gibt auch der Habererbund auf.  Sprecher: Es gibt Stimmen, denen zufolge er eine verschworene Gemeinschaft war, die zu ihrer Blütezeit rund 2000 Mitglieder zählte; andere neigen zu der Ansicht, dass er nie existierte.  Sprecherin: In dem Fall hätte es sich bei den Teilnehmer an den Haberfeldtreiben um nichts anderes gehandelt, als um eine Zusammenrottung von ein paar Dutzend jungen Burschen, die sich einbildeten, die Bestrafung eines Übeltäters oder einer Übeltäterin selbst in die Hand nehmen zu können. Denn ein Gericht schalteten sie nicht ein – noch gaben sie ihrem Opfer die Möglichkeit, sich zu verteidigen.  Sprecher: Etwas Neues wäre das nicht gewesen. So genannte Rügebräuche sind schon aus weit zurück liegenden Zeiten bekannt. Bei den Germanen sollen Ehebrecherinnen dadurch bestraft worden sein, dass man ihnen das Haar abschnitt und sie dann nackt und unter den Schmährufen der ganzen Sippe aus dem Haus jagte. In Bayern kam es vor, dass sexuelle Vergehen angeprangert wurden, indem man dem oder der Beschuldigen Sägespäne vor das Haus streute oder dieses gar mit Kot beschmierte.  Atmo: (Trompete auf Band G 619, Take Nr. 3) TC 04:43 – Ein Schwur zur Moral   Sprecherin: Auch bei den Haberfeldtreiben wurden oft sexuelle Vergehen bestraft. Was heißt Vergehen? Bestimmt sind die Treiben oft von Burschen angezettelt worden, die selber keine Gelegenheit gehabt hatten, den geahndeten Fehltritt zu begehen. Während aber das Sägespänestreuen oder das Kotverschmieren spontan erfolgen konnten, erforderte das Haberfeldtreiben eine gewisse Organisation. Egal, ob es den Habererbund gegeben hat oder nicht: Ehe ein Treiben stattfand, mussten sich die Mitwirkenden treffen, um ihr Opfer auszuwählen und einen Zeitpunkt für das Losschlagen festzulegen; sie wählten einen der ihren zum Habermeister und sie schworen die unbedingte Geheimhaltung ihrer Aktivitäten.   Haberer: Manna, auf zum Schwur! Sprecherin: ... sagt der Habermeister in Ulrich Ragers Erzählung "Aufstand der Haberer", die auf wahren Begebenheiten beruht. Dann liest er, zum Mitsprechen für die anderen, den Haberereid vor.  Haberer: Ich schwöre bei meinem Leben unverbrüchliches Schweigen zu wahren über den Habererbund und über das heutige Treiben. Nicht List, nicht Gewalt, nicht Zuchthaus, nicht Tod soll mich bewegen, diesen Schwur zu brechen, so wahr mir Gott helfe. Amen. Sprecher: Nachdem sie diesen Eid abgelegt haben, marschieren die Haberer zum Treibplatz und stellen sich auf. Das Ziel des Treibens könnte ebenso ein betrügerischer Händler, ein meineidiger Bauer, ein bestechlicher Beamter oder ein Bierpantscher sein.  Sprecherin: In unserem Fall ist die junge Frau mit der angeblich lockeren Moral aus dem Haus gekommen. Nach der Anrufung des Kaisers Karl steigt der Habermeister unter dem Johlen und Lärmen der anderen auf ein Fass oder einen Leiterwagen.  Atmo: (Geschrei auf Band G 619, Take bei 6´00´) TC 06:40 – Zu Gericht durch ein Gedicht  Sprecher: Das eigentliche Gericht beginnt. Es besteht im Wesentlichen aus dem Aufsagen oder Absingen von Versen. Sie sind alles andere als anspruchsvoll. Meistens stimmt das Versmaß nicht, dafür ist die Sprache umso derber.  Sprecherin: Der Journalist und Brauchtumsforscher Georg Queri hat in seinem Buch "Bauernerotik und Bauernfehme in Oberbayern" viele der Verse gesammelt. Sie gehen ungefähr so:    Zitator:  Der Fanni, der kimmt so guad wie a jeder recht, ich glaub', dass die die ganze Woch  Tag und Nacht immer möcht´, Mit ihrane Burschen kennt sie si´ scho lang nimmer aus, die liefern ihr das ganze Jahr stehende Mittel ins Haus. Sprecher: Nach jedem dieser Verse folgt das gleiche Frage- und Antwortspiel. Der Habermeister fragt:  Habermeister:  Is des wahr? Atmo: (Geschrei auf Band G 619, Take bei 6´00´ und/oder Take Nr. 1) Sprecher: Woraufhin ihm die Haberer lauten Halses bestätigen, dass es wahr ist, und er sie auffordert:   Habermeister:  Dann treibts es gscheid! Sprecher: Jetzt machen die Haberfeldtreiber mit ihren Lärminstrumenten ordentlich Krach - so lange, bis der Haberermeister ein Handzeichen gibt und einen weiteren Vers vorträgt. Zum Schluss droht er damit, im nächsten Jahr wieder zu kommen, falls sich die - oder der - Angeklagte nicht bessert. Noch einmal wird Krawall geschlagen, dann ziehen sich die Haberer zurück. Der Spuk ist zu Ende.   Sprecherin: Allerdings nicht unbedingt für die Person, der das Treiben gegolten hat. Gerade in kleineren Gemeinden ist diese Art der Volksjustiz schon fast eine soziale Hinrichtung. Zur Polizei oder zum Gericht zu gehen, weil man sich zu Unrecht angeschuldigt fühlt, kann man kaum.  TC 08:21 – Ein Treiben ohne Strafe Sprecher: Das erste Haberfeldtreiben, das amtlich beurkundet ist, fand 1716 in Vagen, einem Dorf im Mangfalltal, statt. Es galt einer jungen Frau. Ursula Steindl hieß sie, und ihr Vater wollte die Schmähung seiner Tochter auf gar keinen Fall auf sich sitzen lassen. Er zeigte siebzehn Vagener an, von denen er behauptete, sie hätten ... Zitator:  ...allerhand iniuriosen, gschray, schnalzen und stain werfen sambt anderen Romorereyen veriebet.  Sprecher: Keiner der Haberer wurde bestraft - jedenfalls nicht wegen der Schädigung des Rufes von Ursula Steindl. In dem Protokoll ist ausdrücklich vermerkt, dass es sich beim Haberfeldtreiben um einen von Justiz und Geistlichkeit tolerierten Volksbrauch handle. Das bedeutet: Der Brauch war zu dieser Zeit in der Gegend zwischen Isar und Inn längst bekannt und verbreitet.  Sprecherin:  Dass trotzdem sechzehn Haberer zu je zwei und ein gewisser Georg Sauerlacher sogar zu vier Schillingen Strafe verurteilt worden ist, kam daher, dass bei dem Treiben der Schuppen der Steindls beschädigt worden ist.  Haberer:  Wegen dem bläden Schupfa!  Wahrscheinlich wer´n s´ hoid ein paar Brettln braucht ham, zum Draufhauen, damit´s a bissl an Krach gibt.  Sprecher: Nur wegen des Schadenersatzes findet sich in den Akten ein Vermerk. Wäre nichts zu Bruch gegangen, hätten wir von dem Treiben nie erfahren. Fünfzig Jahre später sah es schon ein wenig anders aus. Nach einem Treiben in Parsberg bei Miesbach im Jahr 1766 nämlich behandelte die Obrigkeit die Haberer weit weniger nachsichtig.  Haberer:  Ei´gsperrt ham s´ es! Eine soichane Gemeinheit!  Sprecher: Ihr Beschwerdebrief ist erhalten. Zitator:  Da des Sterzls Tochter sich fleischlich vergangen und ein Kind zur Welt geboren, ... so verfügten wir uns nach dem in hiesiger Gegend altherkömmlichen Brauch ... zu gedachtem Sterzl und verrichteten mit Pritschen, Kuhschellen und Ketten, dann Abschießung einiger Terzerolen die gewöhnliche Musik, ohne jedoch dem Sterzl nur den mindesten Schaden in dessen Zaun, Fenstern oder anderem zuzufügen, sondern begnügten uns lediglich mit dieser für junge Burschen ausgesehenen Lustbarkeit, worauf uns aber das löbliche Pfleggericht Miesbach sogleich bei Wasser und Brot ... in die tiefste Malefizkeuche warf, sodann öffentlich durch den Amtmann in dem Markt herumführen und einen jeden ... um neun Gulden hat abstrafen lassen. Haberer: Und dass eahna die ungerechten Strafgelder restituiert wer´n, da drum ham s´  bitt´. Aber nix war´s. Sprecherin:  Die Regierung hat anscheinend gar nicht recht verstanden, was die 23 Bestraften überhaupt angestellt haben sollten. Jedenfalls hat sie von dem Miesbacher Gericht eine Erklärung verlangt. Sprecher: Die Antwort erfolgte in einer zwar altmodischen, aber sehr deutlichen Sprache. In dem mehrere Seiten langen Schreiben wurde zunächst der Ablauf eines Haberfeldtreibens geschildert, und sodann erläutert, warum es sich dabei um einen unbedingt strafwürdigen Akt handelt. Haberer:  Ah, gäh, strafwürdig! Zitator:  Villfältig geschieht es, daß einige von diesen Purschen die mit Schindl belegte häußer abdeckhen, die fenster einschlagen vnd die zäun zusammen reissen. iederzeit aber springen sye in einem Creiß herumb, vnd tretten dieweils nit anderst auf, als wan ein hexen tanz daselbst Vorbeygegangen were." Haberer:  Is´ dees vielleicht verboten, dass man im Kreis rumspringt? Sprecher: Das Miesbacher Gericht jedenfalls sah in einem Treiben, bei dem sich die Mitwirkenden wie Räuber und Diebe vermummen, durchaus keine für junge Burschen geeignete Lustbarkeit. Und die Regierung befahl, alles zu tun, ... Zitator: ... das derley unzulässige Mißbräuche gänzlich außgerottet ... werden. Haberer:  Aber do ham sa si brennt! Es ist weitergehabert wor´n, da ham de ganzen Erlasse nix gnutzt. Bis die Obrigkeit wos von am Treiben erfahren hod, war´s sowieso scho lang vorbei. Und dass dene Hanswurschten vom Landg´richt oaner was verraten häd – gäh! Des häd si´ gor koaner traut.  TC 12:21 - …oder doch sündhafter Unfug? Sprecher: Also breitete sich die Sitte – oder Unsitte – des Haberfeldtreibens weiter aus. Nicht nur das: Die Zahl der Männer, die an den einzelnen Treiben teilnahmen, wurde immer größer und immer öfter waren sie mit Gewehren bewaffnet. Längst beschränkten sie sich nicht mehr darauf, jungen Frauen und kleinen Betrügern Angst einzujagen. Nicht selten wurden nun die Gehaberten verprügelt, und in zunehmendem Maß wurden die Träger von Ämtern und Würden zum Gegenstand der Anschuldigungen. Sprecherin:  Einer der von Georg Queri zitierten Verse geht – in einigermaßen verständliches Bairisch übersetzt – so:  Atmo: (Geschrei auf Band G 619, Take bei 8´10´) Haberer:  Weils halt der Pfarrer, der Stier, duad gar a so treibn, so sind wir halt heut kemma zum Haberfeldtreibn.  Die oafältign Bauern dan si beklagn, weil da Pfarra nach eahnerne Weiba duad jag´n; wenn oane krank is, hat s´ Sorgen beim Beichten, weil er ihr allwei duad zwischen d'  Fiaß einigreifen. Das is a Graus! Moant er denn, es fahrt d' Seel zwischn de Fiass raus? Is´s ned a Schand für an Pfarrvorstand?  Sprecherin:  Diese Anwürfe hat 1841 der Pfarrer von Irschenberg über sich ergehen lassen müssen. Anscheinend beruhte das, was man gegen ihn vorbrachte, durchaus nicht auf Erfindungen, denn der gehaberte Pfarrer wurde tatsächlich seines Amtes enthoben.   Musik: Die Interpreten: "Schlegellied" (auf: "Stollen 4"; # 10) Sprecher: Aber nun hatten die Haberer nach der Staatsgewalt auch die Geistlichkeit gegen sich. Erzbischof Gregor von Scherr nannte das Haberfeldtreiben... Zitator:  ... einen Unfug, der den Ruhm, den sich die Bewohner des Bayrischen Hochlandes durch ihr entschiedenes Festhalten am heiligen Glauben und durch ihre treue Anhänglichkeit an Fürst und Vaterland erworben haben, nicht wenig verdunkelt.  Sprecher: Und er drohte, es sei... Zitator:  ...über alle Anstifter und Teilnehmer dieses als schwer sündhaft ... bezeichneten Unterfangens der größere Kirchenbann auszusprechen. Sprecherin: Die Haberer leisteten sich wirklich allerhand. Kurz nachdem die Polizei ein paar Burschen verhaftet hatte, die bei dem Treiben gegen den Pfarrer dabei gewesen sein sollen, ging beim Miesbacher Gericht ein anonymes Schreiben ein. Darin drohten die anderen Haberer mit dem Niederbrennen des Gerichtsgebäudes, ja sogar mit der Ermordung eines Gerichts-Assessors, für den Fall, dass man ihre Freunde nicht frei lasse. Haberer:  Des war bloß a Drohung.  Sprecherin: Aber eine, die man sehr Ernst nehmen musste. Zwar äscherten sie nicht das Miesbacher Gerichtsgebäude ein, dafür verübten sie in Rosenheim eine Brandstiftung.  Sprecher: Nun reagierte der Staat mit Härte: In mehreren Dörfern, in denen es zu Treiben gekommen war, wurden Soldaten einquartiert.   Musik: Die Interpreten: "Peter Reindl" (auf: "Stollen 4"; # 14) Sprecherin: Und die Stationierung musste von den Bauern bezahlt werden! Die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden versuchten alles Mögliche, um diese Last abzuwenden. Sie bemühten die Gerichte und wandten sich mit Eingaben und Bitten an die Behörden, ja sogar an den König. Derweil ging das Habern in anderen Gemeinden fröhlich weiter.  Sprecher: Die Zahl der Treiben nahm sogar zu, und die Zahl derer, die daran mitwirkten, ebenfalls. Bis zu dreihundert Mann sollen es mitunter gewesen sein. Sie schossen scharf und sie zündeten Feuerwerkskörper. In einigen Fällen kam es zwischen den Haberern und der Polizei zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.  Zitator:  Vergangene Nacht eineinhalbstündiger Kampf mit Haberfeldtreibern bei Rosenheim. Mehrere Verhaftungen worunter einige Leichtverwundete, ein Mann todt. Unsererseits kein Verlust. Sprecher: ...heißt es in einem Telegramm des Bezirksamts von 1866. Sprecherin: Bei dem Gefecht hatten die Haberfeldtreiber nicht nur einen Mann verloren – sie büßten allmählich auch den Rückhalt bei der Bevölkerung ein. Nach und nach verkamen ihre Aktionen zu Besäufnissen mit Volksfestcharakter, bei denen es um alles Mögliche ging, aber gewiss nicht um die Aufrechterhaltung von Sitte und Moral.  Sprecher: Dafür gewannen Polizei und Gericht an Ansehen. Das Verständnis für ihr Einschreiten wuchs.  Sprecherin: Alte Haberer erzählten bereits voller Stolz von den großartigen Treiben in früheren Tagen, da entschloss sich in Miesbach eine Gruppe von Männern, an die alte Habererherrlichkeit anzuknüpfen. Ihren Anführer, den Daxer von Wall, bewunderte man dafür, dass er der Obrigkeit ab und zu eins auswischte. Leider war er von zweifelhaftem Charakter. Schon bei den Anklagen, die er in seinen Habererversen erhob, handelte es sich um reine Verleumdungen. Außerdem waren die Teilnehmer untereinander zerstritten; einer von ihnen verriet das Vorhaben, die Polizei schritt ein, es kam zu einer Schießerei.  Sprecher: Das Haberfeldtreiben von Miesbach, in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1893 gilt als das letzte von Bedeutung. Bereits am 12. Oktober verpflichtete die Königliche Regierung von Oberbayern die Gemeindebehörden, ... Zitator:  ... in Vorbereitung befindliche Haberfeldtreiben zu verhindern und die in der Ausführung begriffenen zu unterdrücken; ... sie stellen einen Landfriedensbruch dar, welcher an den Teilnehmern mit Gefängnisstrafe bis zu 5 Jahren und an den Rädelsführern mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren zu ahnden ist.  Sprecherin: Die Bevölkerung zeigte Verständnis. Sie fühlte sich von den Staatsorganen besser vertreten als von den Rügerichtern, die offensichtlich in erster Linie Freude am Radau hatten.  TC 17:48 – Die Bayern habern heute noch  Sprecher: Es kam noch zu ein paar kleineren Treiben, alles in allem aber schlief der Brauch ein... Sprecherin: ... um später – viel später – wieder entdeckt zu werden.  Sprecher: Von den Gegnern des Flughafens im Erdinger Moos zum Beispiel, die der bayerischen Staatsregierung und den Betreibern der Flughafengesellschaft die Leviten lasen, von Demonstranten, die vor dem Landwirtschaftsministerium aufmarschierten, um gegen die Genmanipulation zu protestieren.  Sprecherin: Und von Vereinen wie "D´Haberer e.V." in Miesbach. Ein Haberer alten Schlages allerdings würde sich wundern, wenn er deren Satzung lesen könnte.  Zitator:  Die Haberer sehen es als ihre wichtigste Aufgabe an, daß sie das altbayerische bäuerliche Trachtenbrauchtum des Haberfeldtreibens bewahren. Deshalb wirkt man bei Faschingszügen oder beim Bürgerfest mit, wo man in gewohnter derber Weise Haberfeld treibt.  Haberer:  Beim Faschingszug? ... Wos san denn des für oa?  Zitator:  Die Miesbacher Haberer bieten Gewähr, daß es sich bei ihrer Vereinigung um eine lustige Gesellschaft entsprechend der Oberlandler Sitte, aber auch um einen bodenständigen Brauchtums-Erhaltungs-Verein mit dem notwendigen ernsten Hintergrund handelt.  Haberer:  Soso. Brauchtums-Erhaltungs-Verein. Ja mei. Es hod hoid ois sei Zeit. Und die von uns Haberer, die is scheint´s vorbei. Musik: Die Interpreten: "Andachtsjodler" (auf: "Stollen 4"; # 4); (anfängliches Glockengeläut unter den vorangegangenen Text gelegt)  TC 19:13 – Outro 
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Nov 17, 2023 • 22min

VERSCHWÖRUNG? – Die Tempelritter

Eigentlich wollten die Tempelritter nur das Grab Christi in Jerusalem und die Pilger schützen. Doch bald wurden die Templer Polit-Strategen und Bankiers. Ihr dramatisches Ende machte sie zu Stars in Mystery-Romanen. Wer hatte ein Interesse an ihrer Ausrottung? Haben sie in Form von Geheimgesellschaften überlebt? Und was haben die Templer mit dem heiligen Gral zu tun? Autor: Christian Feldmann (BR 2010) Credits Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Stefan Wilkening, Detlef Kügow Technik: Cordula Wanschura Redaktion: Brigitte Reimer Linktipp: Archivradio - Geschichte im OriginalSWR2 / Podcast / ARD AudiothekDas Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte.ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Weitere Folgen zur Staffel: VERSCHWÖRUNG? - Die Illuminaten VERSCHWÖRUNG? - Das Haberfeldtreiben Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:00 – Intro TC 02:10 – Die Tempelritter – der Beginn TC 04:27 – Zwischen Tapferkeit und Frömmigkeit TC 07:23 – Die Macht der Tempelritter TC 09:00 – Der König und die Scheiterhaufen TC 15:10 – Justizskandal TC 16:52 – Legenden und Verschwörungen TC 18:51 – Outro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:00 – Intro  ATMO nächtliche Verhaftung: Pferdetrippeln und –wiehern, Kommandos, eingeschlagene Türen, Schreie (?) Erzählerin: An einem Freitag, dem Dreizehnten, brach die Katastrophe über die Tempelritter herein. Im Morgengrauen des 13. Oktober 1307 schwärmten in ganz Frankreich Verhaftungstrupps aus. In zahlreichen Burgen dasselbe Spiel: Man überrumpelte die Wachen, holte die schlaftrunkenen Ritter aus den Betten, legte sie in Ketten und führte sie ab. Genauso hatte es der König in versiegelten Briefen an die Justizbeamten befohlen, die bei Todesstrafe erst am Morgen dieses Tages geöffnet werden durften. ATMO kurz hoch Erzählerin: Wie viele Tempelritter an diesem schwarzen Freitag in die Kerker des Königs geworfen wurden, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Verhört hat man in den folgenden Monaten jedenfalls an die neunhundert. Aber was heißt da verhört; die Krone hatte angeordnet: Erster Zitator: Die Wahrheit ist genau und nötigenfalls mit der Folter zu erforschen. Erzählerin: Was das bedeutete, lässt sich erahnen, wenn man die Aussagen der so Behandelten im späteren Gerichtsverfahren liest.  ATMO Folter: Mörderische Schreie, hallend (?) Zweiter Zitator: Man hat mir die Hände so auf den Rücken gebunden, dass das Blut aus den Nägeln lief. Dann warf man mich in eine Grube, für ungefähr eine Stunde. Erzählerin: So der Ritter Ponsard de Gisy. Sein Mitbruder im Orden, Gérard du Passage, berichtet, man habe seinen Körper hochgezogen und an die Gliedmaßen und Geschlechtsteile Gewichte gehängt, bis er ohnmächtig geworden sei.  Erzähler: Weshalb diese Torturen? Was sollten die Ritter gestehen? Gotteslästerliche Handlungen, die Anbetung von Götzen, Kontakte zu Geheimbünden und muslimischen Bruderschaften und – besonders pikant – homosexuelle Praktiken. Wozu sich unter der Folter tatsächlich nicht wenige bekannten. Erzählerin: Götzendienst, Ketzerei, Sodomie? Ausgerechnet die Tempelritter, der Elite-Orden des Mittelalters, dessen Mitglieder im Heiligen Land zu Hunderten für ihren Glauben gestorben waren? Es ist eine sonderbare und traurige Geschichte. Melancholische, vielleicht fremdländische Musik (Flöte? Laute?) TC 02:10 – Die Tempelritter – der Beginn Erzähler: Diese Geschichte beginnt im Jahr des Herrn 1120 in Jerusalem. Da sprechen neun Ritter aus Burgund und der Champagne unter der Führung eines gewissen Hugue de Payens bei König Baudoin II. vor. Sie erläutern ihm ihre Absicht, eine Gemeinschaft zu gründen, um die Pilger auf ihrem Weg zu den heiligen Stätten vor Räubern und Wegelagerern zu schützen. Eine bewaffnete Truppe, die aber nach dem Vorbild frommer Stiftsherren in Armut, Keuschheit und Gehorsam zusammenleben soll.  Erzählerin: König Baudoin ist begeistert. Er schenkt den Franzosen spontan einen Teil seines Palastes in Jerusalem, der auf den Fundamenten des salomonischen Tempels steht.  Dort baut die Gemeinschaft ihre erste Niederlassung, neben dem Felsendom, der heutigen Al-Aksa-Moschee, und von daher bekommt sie ihren Namen: die Ritter vom Tempel Salomons, die Templer. Erzähler: Neun Jahre später erhalten die Tempelritter auf der Synode von Troyes ihre kirchliche Anerkennung. Bald sind sie nicht nur in Palästina, sondern in allen Teilen Europas präsent, in England, Norditalien, Deutschland, Böhmen, Ungarn, Polen.  Erzählerin: Anfang des 14. Jahrhunderts, als die große Verhaftungswelle durch Frankreich rollt, dürfte es im ganzen Abendland an die viertausend Templer gegeben haben. Sie sind berühmt für zwei Dinge: für ihren Kampfgeist und ihre disziplinierte, asketische Lebensweise. In Palästina schützen sie längst nicht mehr nur die Pilgerwege, sondern führen Kriege mit islamischen Truppen. 1167 heißt es in einem für Pilger bestimmten Traktat: ATMO Schlacht: Pferdegetrappel, Hornsignale, Kommandorufe, Schwertergeklirr, Todesschreie Erster Zitator: „Die Templer sind ausgezeichnete Ritter, die in der Schlacht einen weißen Mantel mit rotem Kreuz tragen. Sie sind die Ersten, die in die Schlacht gehen, und die Letzten, die zurück kommen. Erklingt die Trompete, um den Befehl zum Vorrücken zu geben, singen sie fromm diesen Psalm Davids: „Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib die Ehre!“, legen die Lanzen ein und stürzen sich auf den Feind. Einen Rückzug erlauben sie sich nie. Entweder werfen sie den Feind ganz nieder, oder sie sterben.“ TC 04:27 – Zwischen Tapferkeit und Frömmigkeit  Erzählerin: Sie müssen tatsächlich ausgesprochen tapfere Krieger gewesen sein. Als sie 1187 bei Hattin in Galiläa eine Niederlage erleiden, stellt Sultan Saladin 230 gefangene Templer vor die Alternative, zum Islam überzutreten oder zu sterben. Alle 230 Ritter ziehen es vor, sich köpfen zu lassen.  Um 1219 entert eine sarazenische Übermacht vor Damiette ein Schiff der Templer: Kurz entschlossen schlagen sie das eigene Schiff leck und gehen zusammen mit den Feinden unter.  Zweiter Zitator: „Wilder als Löwen und sanfter als Lämmer – Erzählerin: – nennt sie der mystische Theologe und Kreuzzugsprediger Bernhard von Clairvaux und trifft damit die andere Seite des Templer-Lebens. In ihren burgähnlichen Abteien leben sie wie Mönche, wenn sie sich auch mehr um ihre Waffen und Pferde kümmern müssen als um die Landwirtschaft oder das Abschreiben der Bibel, wie es andere Ordensleute tun. Das Chorgebet pflegen sie genauso intensiv, und ihre Armut beeindruckt viele Beobachter. Zweiter Zitator: „Jeder bekam ein gleiches Maß Wein; je zwei aßen von einem Teller, um sich gegenseitig zur Mäßigkeit anzuhalten. Freitags fastete jeder, mit Ausnahme der Kranken.“ Erzähler: In diesen Zusammenhang gehört auch das Siegel der Templer, das zwei Ritter hintereinander auf einem Pferd sitzend zeigt. Als man ihnen den Prozess macht, führt man diese Darstellung als Beweis für homosexuelle Verirrungen an. Die Forschung ist sich aber ziemlich sicher, dass das Siegel die Armut der Tempelritter illustrieren soll, von denen sich zwei jeweils ein Pferd teilen. Geistliche Autoren wie Petrus Venerabilis haben ihnen jedenfalls ins Stammbuch geschrieben, sie sollten nicht nur gegen Heiden und Strauchdiebe kämpfen, sondern auch gegen die Versuchungen des eigenen Blutes: Erster Zitator: „Ihr seid Mönche in euren Tugenden, Ritter in euren Taten!“ Erzählerin:  In dieser ungewöhnlichen Doppelrolle des Mönchs und Kriegers liegt die Faszination des neuen Ordens, aber auch sein Verhängnis:  die Templer sind immer ein wenig anders als der kirchliche Mainstream, wenn man so sagen will, sie pflegen ihre Eigenheiten und scheinen unberechenbar. Das vermutet zumindest der Journalist und Buchautor Franjo Terhart, der die Geschichte des Ordens erforscht hat: Zuspielung Terhart 3 (1’24“; bitte die beiden Streichungen noch vornehmen): „Kämpfende Mönche, die, man kann schon fast sagen, die so ausgebildet sind wie Ninja-Krieger im japanischen Mittelalter, das ist schon sehr ungewöhnlich. Also das ist die eine Geschichte des Templerordens, die andere ist, dass sie das Christentum doch sehr anders gesehen haben. Wenn man Texte liest, dass sie, ja, auch bestimmte Stellen des Neuen Testamentes, Stellen aus dem Alten Testament völlig anders ausgelegt haben, eben nichtchristlich, ketzerisch. Das find ich sehr spannend, dass sie sich das getraut haben! Denn im Mittelalter traute sich niemand, freiheitlich zu denken.“ TC 07:23 – Die Macht der Tempelritter Erzählerin: Der Templerorden baut eine gewaltige Macht auf, sammelt Grundbesitz und Privilegien, rüstet eine eigene Flotte aus, betreibt Geldgeschäfte im großen Stil – doch damit beginnt auch sein Untergang. Die frommen und zugleich wehrhaften Mönche, die die Pilgerwege und Handelsstraßen im Heiligen Land schützen, fördern die politischen Mächte eine Zeit lang gern. Als die Templer aber zu Kaufherren und Bankiers werden, erscheinen sie als gefährliche Rivalen.  Zuspielung Terhart 7 (36“): „Sie haben sich über ganz Europa ausgebreitet, haben eine Struktur geschaffen, auch eine logistische Struktur, die es ihnen ermöglichte, Nachrichten damals in sehr kurzer Zeit über mehrere Länder hinweg zu transportieren. Sie haben den Scheck erfunden, wenn man so will, den Euroscheck; das heißt: Wenn ein Kaufmann in England sagte, ich reise ins Heilige Land, aber ich will mein Geld nicht mitnehmen, aber ich will doch trotzdem was kaufen, was mach ich denn nun, da haben die Templer gesagt, hier hast du einen Brief von uns, einen Scheck, darauf zahlst du dein Geld ein, sagen wir mal die und die Summe, und wenn du dort in Jerusalem bist, dann kannst du sie vorlegen und dann zahlen wir dir das Geld wieder aus.“ Erzähler: Zum Verhängnis wird den Templern auch, dass ihr Orden international agiert, von einer Art christlichem Völkerbund träumt und sich der Kontrolle durch die Nationalstaaten und ihre Könige mehr und mehr entzieht. Die Tempelritter machen so ziemlich alle Fehler, die man machen kann: Sie treten arrogant auf, zeigen ihre Schätze her, weil sie meinen, dass man sich an eine so reiche Truppe nicht heran wagen würde. Statt sich mit den anderen Ritterorden zu verbünden, verstricken sie sich in Rivalitäten und führen blutige Bruderkriege. Das bringt ihnen viele Feinde. ATMO Königshof: Fanfaren, Trompetengeschmetter, Glocken, Stimmengewirr  TC 09:00 – Der König und die Scheiterhaufen Erzählerin: In unmittelbarer Nachbarschaft der Pariser Templerburg residiert der Mann, dem diese Entwicklung ausgesprochen gelegen kommt: König Philipp „der Schöne“, fromm, aber eiskalt und mit allen Anlagen zum Tyrannen, hat sich für seine vielen Kriege hoch verschuldet – unter anderem bei den Tempelrittern. Die Steuern hat er schon erhöht, die Währung abgewertet, den Besitz der französischen Juden konfisziert; jetzt bietet sich eine Gelegenheit, den sagenhaften Templerschatz in die Finger zu bekommen. Philipps engster Berater Guillaume de Nogaret sammelt seit Monaten eifrig belastende Aussagen käuflicher Denunzianten und aus dem Orden verstoßener Tempelritter. Am 13.10.1307 ist seine Stunde gekommen. Erzähler: Die Macht der Kirche haben Nogaret und sein König nicht zu fürchten. Papst Clemens V. ist ein verzagter Charakter und abhängig von Philipp. Außerdem kann man Papst Clemens, dessen Privatleben nicht gerade sauber ist, mit einem Konzil drohen, das ihn absetzen könnte. Schwach wie er ist, stellt er sich nicht entschieden genug gegen den König.  Melancholischer Musikakzent wie oben Erzählerin: Hat sie denn niemand gewarnt vor der großen Verhaftungsaktion? Haben die Templer keine Freunde am Königshof? Oder sind sie so blind, arrogant oder auch treuherzig, dass sie die drohende Gefahr nicht sehen wollen? Zwei Tage nach der Massenverhaftung soll König Philipp dem Ordensgroßmeister Jacques de Molay einen Deal vorgeschlagen haben: Er werde Molay entkommen lassen, seine Flucht freilich als Schuldeingeständnis an die große Glocke hängen. Molays Ordensbrüder raten ihm, die Chance zu nutzen, ausländische Monarchen und den Papst zu Hilfe zu rufen; doch der Großmeister antwortet ebenso redlich wie naiv: Erster Zitator: „Es liegt kein Grund zur Flucht vor, denn wir sind ohne Schuld, und der Orden ist gut und ehrenhaft. Verzweifelt nicht, Brüder!“ Erzählerin: Währenddessen läuft in den Gefängnissen bereits die Foltermaschinerie an. König Philipp lässt die Ordensschätze inventarisieren. Scheinheilig ernennt er sich selbst zum Treuhänder aller Templergüter in seinem Reich, behauptet, man werde sie für den nächsten Kreuzzug verwahren. Papst Clemens braucht Wochen, um gegen die offensichtlichen Verstöße gegen kirchliches und weltliches Recht zu protestieren – und wird brüskiert: Seine Legaten werden am Pariser Königshof gar nicht vorgelassen. Als Papst Clemens den französischen Großinquisitor absetzt, der sich als Philipps willfähriges Werkzeug erwiesen hat, kanzelt ihn ein königlicher Minister beim Reichstag in Tours unverschämt ab: Zweiter Zitator: „Dem König verdankt die Kirche mehr als Euch. Wenn also König, Prälaten und Barone, dazu das ganze Volk auf rasche Erledigung dieses Geschäfts drängen, dann beeilt Euch gefälligst. Sonst müssen wir mit Euch eine andere Sprache reden.“ Dramatischer, peitschender Musikakzent Erzähler: So verschwinden die Templer in den Folterkellern des Königs. Erst nach mehr als zwei Jahren rafft sich der Papst auf: Er appelliert an die Templer, sich vor seiner Kommission zu verteidigen. Überraschenderweise öffnen sich die Gefängnisse, Hunderte von Folteropfern strömen nach Paris, um endlich für die Wahrheit Zeugnis abzulegen: Zweiter Zitator: „Die Anklagen sind sinnlos, schändlich, ehrlos und unerhört. Sie sind eine Lüge. (…) Alle Brüder des Tempels, die solche Lügen anerkannt haben, sagten aus Angst vor dem Tode aus.“ Erzähler: Obwohl die Professoren der berühmten Sorbonne dem König das Recht bestreiten, über die Ordensritter zu urteilen, obwohl ähnliche Verfahren im Ausland, in Mainz, in Zypern, in Ravenna mit der glänzenden Rehabilitierung der Templer zu Ende gehen, verurteilt eine eilends einberufene Bischofssynode unter dem Vorsitz Marignys in Paris 54 Tempelritter zum Feuertod. Begründung: Mit dem Widerruf ihrer Geständnisse hätten sie sich als rückfällige Ketzer erwiesen.  Peitschender Musikakzent oder ATMO Feuertod: prasselnde Flammen, Glocken, Schreie (?) Erzählerin: Die übrigen Templer kommen zurück in ihre Gefängnisse. Noch einmal zwei Jahre päpstlichen Schweigens, dann erklärt Clemens am 3. April 1312 in der Bulle „Vox in excelsis“ den Orden für aufgehoben. Die gerade zum Konzil von Vienne versammelten Kardinäle und Bischöfe stimmen zu: Die Vorwürfe gegen den Orden seien zwar unbewiesen, aber sein Ruf habe durch den langen Prozess so gelitten, dass man ihn im Interesse der Kirche lieber aufheben solle.  König Philipp höchstpersönlich ist mit einer schwer bewaffneten Truppe in Vienne erschienen, um auf die Kirchenväter Druck auszuüben. Eine interessante Nuance: Die päpstliche Bulle enthält keine Verurteilung. Der Orden wird nicht einmal aufgelöst, sondern lediglich – per Verwaltungsakt – suspendiert.  Erzähler: Den Besitz der Templer überschreibt der Papst zwar dem Konkurrenzorden der Johanniter. Doch Philipp und seine Berater wissen sich Rat: Sie stellen eine astronomische Rechnung für den Unterhalt der gefangenen Tempelritter auf und kassieren nach einigem Feilschen und Schachern tatsächlich fast das ganze Eigentum des in Ungnade gefallenen Ordens. Verstörender Musikakzent Erzählerin: Noch einmal zwei Jahre unwürdiger Prozesse. Der Großmeister der Templer, Jacques de Molay, hat alle Folterorgien überlebt. Am 18. März 1314 soll der Schuldspruch fallen, öffentlichkeitswirksam vor dem Portal von Notre Dame.  ATMO Feuertod: prasselnde Flammen, Glocken, Schreie Erzählerin: Als man ihn zum Scheiterhaufen auf einer kleinen Seine-Insel schleppt, bittet er seine Henker, ihn mit dem Gesicht gegen Notre Dame anzubinden. Die Gottesmutter soll das Letzte sein, das seine Augen sehen.  Wenige Wochen danach stirbt Papst Clemens, ein umstürzender Leuchter steckt seinen Katafalk – also das schwarz verhängte Gerüst, auf dem sein Sarg steht - in Brand. Im November fällt König Philipp einem Jagdunfall zum Opfer. Für das abergläubische Volk lauter Anzeichen eines Gottesurteils. Verstörender Musikakzent TC 15:10 -  Justizskandal  Erzähler: Die Liquidierung des Templerordens war ein Justizskandal, ein durchsichtiger Trick, seine Macht zu brechen und an seine Schätze zu kommen, da sind sich viele Forscher, wie Andreas Beck sicher. Und deswegen sollten sie nachträglich rehabilitiert werden, meint Andreas Beck: Zuspielung Beck 2 (1’08“; bitte den Schluss rausstreichen!): „Das Urteil stand von vornherein fest: Ich will euer Geld; der Papst war zu schwach, sich dagegen zu wehren, die Templer selbst waren innerlich ausgehöhlt und konnten sich auch nicht wehren; wenn sie zusammengehalten hätten, hätten sie den Philipp den Schönen ohne weiteres das Fürchten lehren können. Aber man sollte diesen Templerprozess wieder aufrollen, weil er Unrecht war. Papst Johannes Paul II. hat sich bei allen möglichen Menschen entschuldigt, bei den Zwangsbekehrungen, bei den Inquisitionen, bei allen möglichen, aber nicht bei den Templern.“ Erzählerin: Dem Papst könnte es die Rehabilitierung der Opfer erleichtern, dass die Historikerin Barbara Frale 2007 im vatikanischen Geheimarchiv hochbrisantes Aktenmaterial entdeckt hat: Aufzeichnungen mehrerer Kardinäle über den Prozess und vor allem ihre abschließende Entscheidung, die ausdrücklich im Namen und mit der Autorität des Papstes erfolgte. Daraus geht hervor: Die Templer hatten ihre Treue zur Kirche bekannt und für alles, was man ihnen vorgeworfen habe, Vergebung erbeten. Zweiter Zitator: „Daher ordnen wir an, dass sie losgesprochen und wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden.“ Erzählerin: Warum Papst Clemens das entlastende Dokument damals nicht veröffentlicht hat, das kann Barbara Frale allerdings auch nicht erklären. Sie vermutet, König Philipp habe ihn eingeschüchtert und bedroht. Immerhin ließ der Papst dem Orden ein Hintertürchen offen, indem er ihn nur suspendierte, nicht auflöste. Markanter Musikakzent TC 16:52 – Legenden und Verschwörungen Erzähler: Was wurde aus den überlebenden Templern? Aus denen, die nach einem erzwungenen Widerruf aus den Gefängnissen entlassen wurden oder die sich der Verhaftung durch Flucht entzogen hatten? Franjo Terhart hat eine ganz bestimmte Vermutung: Zuspielung Terhart 1 (1’17“, den ersten Satz bitte streichen): „Wenige Tage vor diesem berühmten Freitag 1307 hat sich eine Flotte von Schiffen von La Rochelle, das war damals der größte Hafen am Atlantik, der größte Hafen der  Templer, abgesetzt, und diese Flotte wurde nie mehr gesehen. Also da ist die Frage: Wo ist diese Flotte geblieben, sind da Schiffe untergegangen? Nein, also ich denke, die werden nach Schottland gesegelt sein, denn es gibt dort etwas sehr Faszinierendes, ich hab mir das angeschaut, auf der Mall of Kentaire, einer großen Halbinsel, von dort aus kann man wunderbar nach Nordirland rüber schauen, da finden sich Gräber dieser Templer, die damals dorthin geflohen sein müssen. Also es ist schon davon auszugehen, dass die Schotten die Templer aufgenommen haben und dass sich einige Templer dorthin flüchten konnten.“ Erzählerin: Die These vom Weiterleben der Templer in Schottland wird von etlichen durchaus seriösen Historikern vertreten. In Portugal und Spanien soll der Orden ebenfalls überlebt und bei der Reconquista, der Zurückeroberung christlichen Territoriums von den Mauren, hervorragende Arbeit geleistet haben. Das rote Templerkreuz leuchtete von den Schiffen von Vasco da Gama und Christoph Kolumbus.  All die anderen spannenden Theorien von Geheimgesellschaften und im Untergrund agierenden Ritterbünden, von einem mysteriösen Orden namens Prieuré de Sion [gespr.: Sión], von verschütteten Krypten und erpresserischen Abbés, all diese Geschichten gehören vermutlich ins Reich der Phantasie. Ebenso wie die immer wieder auflebenden Spekulationen, die Templer hätten esoterisches und magisches Geheimwissen gehütet, und deshalb habe man sie liquidieren müssen.  Stoff auf jeden Fall genug für hartnäckige Verschwörungstheorien und Legenden. TC 18:51 – Outro 
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Nov 17, 2023 • 23min

VERSCHWÖRUNG? – Die Illuminaten

Adam Weishaupt war herrschsüchtig, eitel und einer der Professoren an der Universität Ingolstadt, die man gehört haben musste! Mit 28 Jahren gründete er 1776 einen Geheimbund, den Illuminatenorden - "Die Erleuchteten". Um keinen anderen Geheimbund ranken sich buntere Verschwörungstheorien. Autor: Hans Hinterberger (BR 2014) CreditsAutor/in dieser Folge: Hans HinterbergerRegie: Eva DemmelhuberEs sprachen: Julia Fischer, Peter Weiß, Friedrich SchlofferTechnik: Miriam BöhmRedaktion: Thomas Morawetz Linktipps: Mythos: Das Geheimnis der IlluminatenDie größten Rätsel der Geschichte / ZDFinfo Doku Vor über 200 Jahren gründet Adam Weishaupt den Geheimbund der Illuminaten. Seitdem gelten sie als mysteriöse Weltverschwörer. Wer waren die Illuminaten wirklich? Und gibt es sie noch heute? Verfügbar bis 31.10.2026JETZT ANSEHEN Lost in Nahost - Der Podcast zum Krieg in Israel und GazaBR 24 / ARD AudiothekDer Konflikt im Nahen Osten eskaliert. Die aktuellen Geschehnisse überholen sich teilweise selbst und bei Instagram, TikTok und Co. ist es schwer, den Überblick zu behalten: Was sind Infos, was sind Fake-News und was ist Propaganda? In diesem Podcast beantworten die Korrespondent:innen der ARD aus dem Studio Tel Aviv und Expert:innen Eure Fragen, ordnen ein und erklären die Lage.ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Weitere Folgen zur Staffel: VERSCHWÖRUNG? - Die Tempelritter VERSCHWÖRUNG? - Das Haberfeldtreiben Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:14 – Die Illuminaten … aus Ingolstadt? TC 02:51 – Ein Kind der Aufklärung TC 04:39 – Die Anfänge im Dunst der Tabakpfeife TC 06:38 – Ein Geheimbund ohne Geheimnis?  TC 07:30 – Ein Herrschsüchtiger und sein Kreis der „Erleuchteten“ TC 10:19 – Was Goethe und Knigge mit den Illuminaten zu tun haben TC 12:30 – Weit weg von Weltherrschaft  TC 14:03 – Die wahre Macht der Illuminaten  TC 15:36 – Die große Stunde der Verschwörungstheorien TC 20:20 – Ein einfache Lösung TC 21:40 – Outro  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 0:15 – Intro  (Atmo: Filmmusik aus „Illuminati“, möglichst actionreich  ) Erzählerin: Es gibt sie… zumindest im Kino. 4,5 Millionen deutsche Kinobesucher wollten 2009 „Illuminiati“ sehen. Sie wollten mit Hauptdarsteller Tom Hanks hinter die Geheimnisse des Ordens blicken, der die Fäden der Welt angeblich in den Händen hält. Dass dieser Geheimbund unglaublich mächtig, weltweit agierend und alles unterwandernd sein soll, das weiß dank Hollywood jeder. Weit weniger bekannt ist, dass es sich bei den Illuminaten zunächst um eine … bayerische Sache handelt. OT Michael Klarner „(3x Klopfen) Die Loge ist eröffnet! Liebe Brüder, wer von Euch kann das Licht sehen?“ (Atmo aus Stadtführung weiter laufen lassen) TC 01:14 – Die Illuminaten … aus Ingolstadt? Erzähler Ingolstadt. Der Stadtführer Michael Klarner steht in einer tiefschwarzen Kluft des 18. Jahrhunderts, mit weißer Perücke und schwarzen Dreispitzhut auf dem Kopf, in einer Seitengasse vor Dutzenden Zuhörern. Neben ihm steht ein Tisch mit schwarzer Decke, Totenschädel und Degen darauf. Gruselstimmung. Er liest aus illuminatischen Texten, wie sie in den Aufnahme-Ritualen der sogenannten Logen des Ordens benutzt wurden. OT Michael Klarner „Eure Augen sehen heller, Euer Geist ist heiterer, Ihr habt einen Schritt näher zum Lichte getan. Aber ganz ist die Finsternis und Blödigkeit noch nicht von Euch gewichen! .. Das ist bitte ein Originaltext aus dem 18 Jahrhundert….“ (Atmo aus Stadtführung weiter laufen lassen)  Erzähler Seine „Illuminatenstadtführung“ ist einmal mehr ausverkauft. Aber warum genau in Ingolstadt? Ganz einfach: Hier, mitten in Bayern, wurde der legendäre Geheimorden am 1. Mai 1776 gegründet. Er ist das Werk des damals erst 28-jährigen Ingolstädter Universitätsprofessors Adam Weißhaupt. (Atmo aus!) O-Ton Prof. Marco Frenschkowski: „Das Ganze fängt ja fast als eine Art Studentenbund an. Die ersten Anhänger waren ja Studenten, ganz klar. Und dann war es wohl erfolgreicher, als Weißhaupt es überhaupt vorhergesehen hat, nicht?“ Erzählerin Sagt Professor Marco Frenschkowski, Religionswissenschaftler an der Uni Leipzig. Er befasst sich seit Jahren mit dem Thema Geheimbünde. Und die hatten gerade im 18. Jahrhundert Hochkonjunktur. (Musik:  Frühklassik, Heiter, Aufbruchstimmung, Klavier ) TC 02:51 – Ein Kind der Aufklärung   Erzählerin: Es ist die Zeit der Aufklärung, der Vernunft. Naturwissenschaft und neue Gesellschaftsmodelle faszinieren die progressiven Geister jener Zeit. Auch Adam Weißhaupt. Freilich war seine Universität, die Hohe Schule zu Ingolstadt, nicht gerade die ideale Umgebung für neue Gedanken.  (Musikwechsel: Liturgische Orgel, dominierend, weihevoll, evtl. Bach) Erzähler Denn diese Hochschule war fest in der Hand eines bereits bestehenden Ordens: Der Jesuiten.  Und die hatten Ingolstadt, unter der wohlwollenden Förderung durch die bayerischen Herrscher, zu einer Hochburg des Katholizismus und der Gegenreformation geformt. OT Michael Klarner „So war etwa auf Grund des jesuitischen Widerstands die Modernisierung des Lehrangebotes und die Einführung fortschrittlicher Studienfächer, wie etwa Chemie oder Botanik lange Zeit nicht möglich. Und auch sonst war es mit wissenschaftlicher Freiheit nicht her. Und das freilich bekam die hohe Schule auch zu spüren. Die Studenten orientierten sich andernorts, besuchten andere Universitäten und die hohe Schule zu Ingolstadt verlor Ihre einstige Bedeutung.“ Erzähler Erklärt der Illuminaten-Stadtführer vor dem alten Universitätsgebäude. Auch der Orden der Jesuiten, der selbst in vielen Staaten der Unterwanderung und verschwörerischer Machenschaften verdächtigt wird, ist damals nicht unumstritten. Unter dem Druck solcher Vorwürfe muss Papst Clemens XIV. den Orden 1773 sogar aufheben. Gerade in Ingolstadt ändert das … trotzdem nichts! Die Jesuiten sind offiziell verboten, aber das Personal bleibt das gleiche. Wo sollte man auch plötzlich so viele neue Professoren hernehmen? OT- Michael Klarner „In Ermangelung weltlicher Lehrer blieben viele der Ex-Jesuiten schlicht in Ihren Ämtern.“ TC 04:39 – Die Anfänge im Dunst der Tabakpfeife  Erzählerin Und der Aufklärer Adam Weißhaupt bleibt so weiterhin ein isolierter Einzelgänger unter seinen ex-jesuitischen Kollegen. Schlecht für einen, der doch den intellektuellen Austausch sucht, der über neue Ideen, neue Zeiten sprechen möchte.  (Atmo Männer im Gespräch, Gemurmel) Erzähler Da hilft nur die Gesellschaft von Gleichgesinnten, und wenn er diese unter den Professorenkollegen schon nicht findet, dann eben unter seinen Studenten. Die Illuminatenstadtführung ist inzwischen an einem der ersten Treffpunkte in Ingolstadt angekommen: OT Michael Klarner „Dieses Haus in der Griesmühlgasse. Wohl dort formiert sich am 1. Mai 1776 der Bund der Perfektibilisten oder auch Bienenorden genannt, bestehend aus Professor Weißhaupt und vier seiner Studenten.“ Erzählerin Viel mehr sollten es erst einmal auch nicht werden. In den ersten beiden Jahren wächst dieser Orden kaum. Was da in Ingolstadt Woche für Woche zusammenkommt, ist eher ein überschaubarer Akademiker-Stammtisch, als eine geheime Weltmacht. Man diskutiert im Dunst von Weishaupts Tabakspfeife über aufklärerische Werke, mögliche Rituale des Geheimordens, Codenamen für die Mitglieder wie Spartacus oder Ajax und schließlich auch einen endgültigen Namen für den Orden. Zu welchem Mythos der einmal werden sollte, kann man noch nicht ahnen: Illuminati – die Erleuchteten. Die Idee des „Geheimbundes an sich“ kommt aber nicht von Ihnen. Prof. Frenschkowski: OT Prof. Marco Frenschkowski „In der Tat. Das 18. Jahrhundert ist ja auch die Zeit, in der auch die Freimaurer ihre großen weltgeschichtlichen Erfolge sozusagen tätigen. Rituale üben eine große Faszination aus. Das hängt auch damit zusammen, dass vieles aus der Adelsgesellschaft in die Bürgergesellschaft hineinwandert. Und die meisten dieser Bünde, die in das weitere Umfeld der Freimaurer gehören, dazu zählen auch die Illuminaten, haben Einweihungsrituale und Initiationsriten genutzt.“ TC 06:38 – Ein Geheimbund ohne Geheimnis? Erzähler Exklusive Zeremonien, das Geheime, das macht eben eine Sache besonders -  sowohl bei den noch jungen Illuminaten als auch bei den schon etablierten Freimaurern. Weißhaupt hatte sich Freimauer-Logen angesehen. Dass er dann lieber seinen eigenen Bund gründet, mag zunächst daran liegen, dass die Freimaurer sich zu dieser Zeit intern im Streit befinden. Manche Kräfte schlagen, im Widerspruch zu den rationalen Aufklärern, eher mystifizierende und okkulte Töne an. Nicht nur Weißhaupt, sondern auch manche Freimaurer können damit nichts anfangen und wechseln in Lauf der Zeit zu den nüchterneren Illuminaten. OT Prof. Marco Frenschkowski: „Sie waren ein stückweit rationaler, aufgeklärter. Nur im Rückblick, in unseren Filmen, Romanen, gesellschaftlichen Phantasien, da werden sie dann mystifiziert. Aber eigentlich waren sie eine sehr aufgeklärte Sache.“ TC 07:30 – Ein Herrschsüchtiger und sein Kreis der „Erleuchteten“  Erzählerin: Ein anderer Grund, warum Weißhaupt einen eigenen Bund ins Leben ruft, ist deutlich simpler. Er ist ein sehr von sich überzeugter, herrschsüchtiger und stets unzufriedener Mensch, der sich nicht gerne unterordnet. Der Tonfall, den er in Briefen gegenüber seinen Mitbrüdern an den Tag legt, zeugt davon. Zitator: „Wenn der Winterhalten einer von uns werden soll, so muss er noch ziemlich geschliffen werden. Erstmal gefällt mir sein Gang gar nicht. Seine Manieren sind roh und ungeschliffen. (…) Sucht junge, schon geschickte Leute, und keine solch rohe Kerls!“ Erzählerin: Und als ein Ordensbruder ihm eine Abhandlung vorlegt, die nicht Weißhaupts Erwartungen entspricht, bekommt er das zu hören: Zitator: „Das Manuskript habe ich erhalten. Es ist nicht einmal die Auslage für den Bothen werth. Lieber war es mir gewesen, wenn sie die Zeit zum Abschreiben auf eine reellere Arbeit verwendet hätten.“ Erzähler: Er möchte sich den Orden seiner persönlichen Träume bauen, leitet mit harter Hand – und ist vielleicht gerade deshalb in den ersten Jahren wenig erfolgreich in der Mitgliederwerbung. Aber dennoch: Einige folgen Weißhaupt - fasziniert von der Aura des Geheimen, des Neuen, des freieren Denkens – trotzdem der Orden intern nicht gerade freigeistig-liberal, sondern straff hierarchisch geführt ist. OT Prof. Marco Frenschkowski: „Weißhaupt ist nicht im modernen Sinne Demokrat, das ist nicht das Thema. Aber sagen wir mal so: Die traditionellen Adelsstrukturen, die fürstlichen Strukturen, die wurden sehr hinterfragt.“ Erzähler: Das ist revolutionär. Und findet Zuhörer. Im kleinen Kreise denkt man neue Zeiten an, mit denen man als „Erleuchtete“ die Welt beglücken möchte. OT Prof. Marco Frenschkowski „Also, was man will, ist natürlich Verbesserung der Gesellschaft, es spielen utopische Ideen eine Rolle, nicht so sehr im Sinne von Gerechtigkeit, sondern von Bildung und Kultur, das sind wichtige Güter. Aufklärung ist ein ganz wichtiges Gut. Aber die Idee, sagen wir mal, dass die Menschheit gelenkt werden müsse durch eine weise Gesellschaft, das ist natürlich schon so im Hintergrund. Das kann sich dann auch auswachsen zu Phantasien, dass man dann natürlich auch ein bisschen mehr das Sagen haben möchte in der Gesellschaft.“  (Atmo spannende Musik, geheimnisvoll) Erzählerin: Die Herrschaftsphantasien der Illuminaten. Da sind sie. Keinesfalls die ungebildeten Volksmassen, sondern eine Elite der erleuchteten Köpfe sollte den Lauf der Dinge beeinflussen – allerdings ohne offene Revolution gegen die herrschenden Mächte der Zeit. Es genüge, im Hintergrund zu wirken. Dieser Gedanke, dass eine Elite ohne zu viele Mitwisser zu herrschen habe, wurde auch innerhalb des Ordens so gehandhabt.  Erzähler (Atmo aus) Denn den meisten Mitgliedern wurden diese letzten Ziele Weißhaupts gar nicht offenbart. Für die meisten Ordensbrüder bleibt es nicht mehr als ein Diskussionszirkel mit besonderer Symbolik.  TC: 10:19 – Was Goethe und Knigge mit den Illuminaten zu tun haben Die Zahl seiner Mitglieder sollte jedoch ab 1780 rapide steigen. Vor allem dank des Eintritts eines Mannes: Freiherr Adolf von Knigge OT Michael Klarner „Knigge wird recht schnell zum zweitwichtigsten Mann des Illuminatenordens. Er bekommt den Ordensnamen Philo, und dieser umtriebige und zugleich pragmatische Philo wird zu einem gesellschaftlichen Türöffner für den gesamten Orden.“ Erzählerin Sagt Stadtführer Michael Klarner über den bekannten Aufklärer, der es schaffte, dass Weißhaupts Illuminatenorden nun weit über Ingolstadt hinauswuchs und dem im Übrigen später völlig zu Unrecht eine Rolle als Benimm-Apostel angedichtet wurde. Die Illuminaten werden durch ihn zum überregionalen Gesprächsthema. Adelige, Akademiker, Beamte und sogar regierende Fürsten treten aus Neugier und Aufklärungsbegeisterung ein. Sogar ein Johann Wolfgang von Goethe. OT Prof. Marco Frenschkowski: „Goethe wollte bei allem dabei sein, wollte bei allem mitreden, wollte auch wissen, worum es geht. Auch die Freimaurer haben ihn ja interessiert. Aber er hat sich da nicht weiter engagiert. Das ist nur so ein kurzer Flirt.“ Erzähler Überhaupt bleiben Kapazitäten vom Format Goethes eher die Ausnahme. Es gelingt den Illuminaten zwar auf rund 1.500 Mitglieder zu wachsen und  vielerorts neue Logen zu errichten, doch wirklich die geistige Elite zu bündeln, das gelingt nicht. Mancher, bei weitem nicht herausragende Kopf, tritt lediglich nur ein, weil er sich von dem Netzwerk persönliche Karrierevorteile erhofft. (Atmo Schritte, Aufbruch, Kutsche oder ähnliches) Erzählerin Selbst Knigge verlässt, nur vier Jahre nach seinem Eintritt, wieder den Orden. In Verbitterung. In einem Brief schreibt er: Zitator: „So konnte ich eine solche Beschimpfung nicht länger ertragen. Und nach dem Spartakus noch dazu grob wird, sehe ich nicht ein, mich länger soll wie ein Student behandeln lassen von so einem „Professor aus Ingolstadt“. Also habe ich ihm jeden Gehorsam aufgekündigt.  Ein Orden, der auf diese Art seine Mitglieder missbraucht und tyrannisiert, ja der stellt doch seine Mitbrüder unter ein ärgeres Joch als die Jesuiten.“ TC 12:30 – Weit weg von Weltherrschaft  Erzähler Es besteht also Mitte der 1780er-Jahre ein Orden, der nur bedingt gefestigt ist. Immer noch war er viel zu schwach, um tatsächlich sämtliche Schaltzentralen der Macht zu unterwandern.  Ein Orden, der sich zwar von Ingolstadt aus vor allem auf Bayern und einige Thüringische Kleinstaaten ausgedehnt hatte, der jedoch weit davon entfernt ist, globale Verschwörungen anzetteln zu können. Doch er war offenbar groß genug geworden, um jetzt die Aufmerksamkeit des Bayerischen Staates zu erregen. Der Kurfürst wird misstrauisch – und greift durch. OT Prof. Marco Frenschkowski „Das ist ja heute auch so, dass, wenn Gesellschaften so etwas elitäres, geheimes haben, für sich sind, Rituale nicht öffentlicher Art, Inhalte haben, die zum Teil confidential, vertraulich sind, ja dann werden die auch in unserer Gesellschaft durchaus mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Und das war natürlich gerade in Bayern, sagen wir es mal, sehr ausgeprägt. Also 1784 verbot dann der bayerische Kurfürst Karl Theodor, übrigens auch durch seinen Beichtvater beeinflusst,  ich zitiere: „Alle Communitäten, Gesellschaften und Verbindungen, die ohne seine landesherrliche Bestätigung begründet wurden.““ Erzählerin In insgesamt drei Erlässen werden von 1784-1787 die Illuminaten verboten. Bayern betreibt also durchaus einen gewissen Aufwand in der Sache, bleibt bei den Bestrafungen aber milde. Lange  Haftstrafen oder gar Hinrichtungen gibt es nicht. Auch wenn im letzten Edikt von 1787 zumindest formell die Todesstrafe angedroht wird. (Atmo Kutsche) TC 14:03 – Die wahre Macht der Illuminaten  Erzähler Weißhaupt muss aus Ingolstadt fliehen. Seit er den Orden in Bayern gegründet hatte, waren gerade einmal acht Jahre vergangen. Doch nun gründete sich, diesmal ohne sein Zutun, aber mit umso größerem Zutun des bayerischen Staates, wieder etwas in Bayern. Es sollte schon bald weit mächtiger erscheinen, als es der tatsächliche Orden jemals war: der Mythos der Illuminaten.  OT-Prof. Marco Frenschkowski Bei den Illuminaten liegt es vielleicht gerade daran, dass es sie nicht mehr gab. Die Freimaurer gab es eben, die konnte man auch besuchen und dann stellte man fest, dass die nicht ganz so spannend waren, wie man vielleicht gedacht hätte. Bei den Illuminaten ist es so: Man konnte vieles hineingeheimnissen, weil sie eben nicht mehr greifbar waren.“ (Musik, spannend) Erzählerin Der Gedanke liegt nahe: Warum sollte der Kurfürst sich über Jahre so intensiv mit dem Thema befassen? Das zeige doch, dass dieser Orden offensichtlich sehr mächtig sein musste – und eben nicht so einfach aufzuheben sei. Für Prof. Frenschkowski steigert sich Bayern hier schlicht in einen Trend der Zeit hinein: OT Prof. Marco Frenschkowski: „Unterwanderung durch Geheimgesellschaften ist ein zentrales Thema im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Es hat sich gegen die Jesuiten gerichtet, es richtet sich gegen die Freimaurer, dann, als die Französische Revolution ausgebrochen war wenige Jahre später, hat man eben auch da Geheimbünde im Hintergrund gesehen, zum Teil auch die Illuminaten, die damit sicherlich gar nichts zu tun haben, also die Ängste vor der Unterwanderung, das ist eine zentrale gesellschaftliche Angstphantasie dieser Ära.“ (Musik: „In der Halle des Bergkönigs“, oder ähnlich) TC 15:36 – Die große Stunde der Verschwörungstheorien   Erzähler  Und so schlägt die Stunde der Verschwörungstheoretiker, die unmittelbar damit beginnen die Illuminaten für so gut wie alles verantwortlich zu machen und bis heute nicht damit aufgehört haben. Die Französische Revolution, die Kornkreise in England,  ja sogar, dass am Wochenende nie ein Klempner zu erreichen sei –  für all das sollen die im Verborgenen fortbestehenden Illuminaten verantwortlich sein. Selbstverständlich soll auch die Weltmacht USA schon seit Ihrer Gründung – die übrigens der ausgewanderte und in George Washington umbenannte Adam Weißhaupt höchst selbst vorgenommen haben soll – von den Illuminaten gelenkt sein.  (Musik aus)  Erzählerin Beliebtester Beweis dafür: Der 1-Dollar-Schein. Der sei voller Illuminaten-Symbole. Zum Beispiel, sehr raffiniert versteckt, diese ganz winzig kleine Eule, seit jeher Zeichen der Illuminaten, dort rechts oben… Prof. Marco Frenschkowski hält von alledem ... nichts: OT Prof. Marco Frenschkowski: Das hat damit gar nichts zu tun. Da gibt es auch eigene Untersuchungen drüber. Natürlich gehören zum Selbstbild der USA auch Elemente aus dem 18. Jahrhundert, die eben aus diesem Aufklärungspathos stammen, nicht umsonst ist die USA eine Gründung dieser Jahre, nicht? Aber jetzt speziellere oder gar geheime Querverbindungen kann ich nicht wirklich sehen.“ Erzähler Wenn man sie offen sehen könnte, wären sie ja nicht geheim – könnten jetzt die Verschwörungstheoretiker sagen. Und spekulieren munter weiter. Sei es in mehr oder minder seriösen  „Forschungen“, sei es in Filmen oder Romanen. Den deutschen Illuminatenforscher Karl Koch hat das alles 1989 sogar in Wahnsinn und Selbstmord getrieben. 1998 entsteht aus seinem Schicksal ein Kinofilm, der den Mythos im Endeffekt wieder nur stärkt: „23 - nichts ist so wie es scheint“.  Erzählerin (Musik spannend an) 23… das soll eine geheime Zahl der Illuminaten sein. Ihre Macht erkenne man daran, dass die Quersumme wichtiger Daten, wie zum Beispiel beim Anschlag auf das World-Trade-Center am 11.9.2001, „immer“ 23 ergäbe. (Musik aus). Erzähler Und die Bedeutung dieser Zahl 23 lasse sich auch in Ingolstadt belegen,  (Atmo Stadtführung Schritte an) schließlich habe der damalige Versammlungsraum der Illuminaten nicht zufällig diese eine Adresse gehabt, die heute jeder Ingolstädter kennt: Theresienstraße 23. Der Illuminatenstadtführer Michael Klarner ist mit seiner Gruppe inzwischen dort angekommen und verdirbt den Verschwörungstheoretikern die Freude… OT Michael Klarner „Wir sind jetzt hier in der Theresienstraße vor dem Haus mit der Nummer 23. Und eine bronzene Plakette hier drüben erinnert daran, dass sich hier einst der Versammlungsort der Illuminaten befunden haben soll. Doch wer in die Geschichte eintaucht findet dafür keinen wirklichen Beleg. Und auch die Hausnummer 23 hat keine Historische Bedeutung, denn im 18. Jahrhundert hatte dieses Haus die Bezeichnung „am Weinmarkt 298“ und wenn sie das mal durch 23 teilen, kommt in jedem Fall keine gerade und damit sinnvolle Zahl heraus. Also einzelne von vielen Legenden, die sich heute um die Illuminaten ranken.“ (Atmo Stadtführung, Michael Klarner spricht) Erzählerin Die Stadtführung durch Ingolstadt geht dem Ende zu. 69 Minuten, also 3x23, hat sie gedauert.  Und die Zuhörer scheinen überzeugt zu sein, dass es alles nicht so weit her war, mit diesen Illuminaten. Eine Episode bayerischer Landesgeschichte, aber nichts von globaler Bedeutung. Aber wie kann man sicher sein? Was, wenn sämtliche Gegenbeweise zur Existenz und Macht der Illuminaten auch nur gezielt gefälscht und gestreut sind? Immerhin verabschiedet sich selbst der Illuminatenstadtführer mit diesem Gedanken von seinem Publikum: OT Michael Klarner „Ob sie meinen Ausführungen natürlich Glauben schenken wollen, das steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht sind es ja nur Nebelkerzen und Strohfeuer, die von der wirklichen Existenz der Illuminaten bis zum heutigen Tage ablenken wollen.“ (Atmo Beifall) Erzähler Auch wenn er es hier mit einem Lächeln gesagt hat: Kann es nicht genau so sein? Kann es Sie also doch noch geben? (Atmo Schritte) TC 20:20 – Eine einfach Lösung  Als die Gäste weg sind, setzt sich der Stadtführer – nun ohne seine Weißhaupt-Perücke- noch kurz auf eine Bank um etwas Mineralwasser zu trinken. Er selbst, sagt er, glaubt nicht daran, dass es die Illuminaten noch gibt. Nicht nur, weil viele Quellen dagegen sprechen. Vor allem, weil es bei dem ganzen Illuminaten-Mythos eigentlich um etwas vollkommen anderes als geschichtliche Fakten gehe: Um ein menschliches Bedürfnis in einer immer komplizierter werdenden Welt: OT Michael Klarner: „Also ich glaube es sind die Menschen generell immer auf der Suche nach Erklärungen. Und es gibt nun mal Dinge die passieren, die auf den ersten Blick nicht zu erklären sind. Ob das jetzt in der Wirtschaft komplexe Zusammenhänge des globalen Handels sind oder in anderen Bereichen. Man weiß nicht: Wieso passiert das so, wie es passiert? Und da ist es natürlich einfach zu sagen: Naja, das hat ja eigentlich den Ursprung in einer finsteren Verschwörung. Da drehen irgendwelche finsteren Mächte irgendetwas und deswegen passiert das jetzt. Dass man sich also Erklärungen sucht, für Dinge, die man vielleicht gar nicht erklären kann. Aber mit der Begründung, da stecken die Illuminaten dahinter, kann man es eigentlich jedem plausibel machen…. TC 21:40 - Outro
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Nov 9, 2023 • 23min

DER HITLERPUTSCH - Anfang vom Ende der Demokratie

München, 9. November 1923. Vor der Münchner Feldherrnhalle scheitert Adolf Hitlers Putschversuch kläglich. Doch die Folgen sollten sich als drastisch erweisen - für Deutschland und die Welt. Von Astrid Freyeisen (BR 2014) Credits Autor/in dieser Folge: Astrid Freyeisen Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Rainer Bock, Guntram Brattia, Katja Amberger Technik: Christiane Schmidbauer-Huber Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: Paula sucht Paula Podcast / Alles Geschichte / ARD Audiothek Das Tagebuch der jungen Undercover-Journalistin Paula Schlier gibt uns heute, 100 Jahre später, einen seltenen Einblick in die Anfänge des Nationalsozialismus in München. Aber wer war diese Frau, was hat sie motiviert, war sie überhaupt eine Heldin? Die BR-Reporterin Paula Lochte begibt sich auf Spurensuche: Paula Schlier und der Hitlerputsch 1923 (1/3) FOLGE 1 JETZT ANHÖREN Paula Schlier und #MeToo vor 100 Jahren (2/3) FOLGE 2 JETZT ANHÖREN Paula Schlier und die Gestapo (3/3) FOLGE 3 JETZT ANHÖREN Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier Dokumentation / ARD History / BR Fernsehen / Geschichte im Ersten Deutschland 1923: Inflation, Hunger, instabile politische Verhältnisse. In dieser Zeit schleicht sich die 24-jährige Paula Schlier undercover beim "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der NSDAP, ein und gerät mitten in Hitlers Putschversuch. (Verfügbar bis 07.11.2025) JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: 00:15 – Intro 02:22 – Die Stenotypistin Paula Schlier 04:48 – Das Krisenjahr 1923 06:21 – Der Aufstieg Hitlers08:39 – Die Unterstützer des Putschs10:37 – Die Landtagsabgeordnete Ellen Ammann11:47 – Der Marsch auf die Feldherrnhalle 15:47 – Ein Putsch mit Nachspiel  Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  MUSIK: Z8003086 101 (00‘36‘‘) Erzähler: Es muss eine gespenstische Szene gewesen sein: Da sitzt die Elite der bayerischen Politik im überfüllten Münchner Bürgerbräukeller. Am Rednerpult steht der sogenannte Generalstaatskommissar, ein Mann mit diktatorischer Macht: Gustav Ritter von Kahr, ein nuschelnder Redner mit Schnauzbart. Plötzlich stürmen Bewaffnete den Saal. Es sind Rechtsradikale. Darunter der Chefredakteur des Nazi-Blattes Völkischer Beobachter Alfred Rosenberg. Er würde sich später so erinnern: MUSIK ENDE O-Ton Alfred Rosenberg: Und als mit einem großen Krach das erste Maschinengewehr in den Saal rollte, zogen wir unsere entsicherten Pistolen aus den Taschen und gingen durch die Versammlung zum Rednerpult. MUSIK: Z8003086 101 (00‘15‘‘) Erzähler: An der Spitze: Adolf Hitler, 34 Jahre, Österreicher, vorbestraft wegen Landfriedensbruchs. Er steigt auf einen Stuhl, schießt in die Decke erklärt die Regierung für abgesetzt:  MUSIK ENDE Zitator: Eine deutsche nationale Regierung wird in Bayern hier in München heute noch ernannt. Ich schlage vor: Bis zum Ende der Abrechnung mit den Verbrechern, die Deutschland tief zugrunde richten, übernehme die Leitung der Politik ich. Erzähler: Es ist der Abend des 8. November 1923. Adolf Hitlers Putsch hat begonnen. In der rechtsradikalen Szene brodelte es. Hitler hatte der bayerischen Regierung eigentlich versprochen, nicht gegen sie vorzugehen. Jetzt aber nahm Hitler den Diktator Kahr, dessen Militärkommandanten und den Polizeichef in einem Hinterzimmer des Bierkellers als Geiseln. Sie gaben ihm ihr Wort, an seiner Regierung mitzuwirken. Zu der sich auch Erich Ludendorff bekannte, der Weltkriegsheld vieler Deutscher – Hitlers Trumpf-As, der große Name, den er unbedingt brauchte für seinen Plan vom Sturm auf das sündhafte Berlin und die verhasste Demokratie. Denn Hitler beherrschte die rechte Szene noch nicht alleine. TC 02:22 – Die Stenotypistin Paula Schlier  Atmo Schreibmaschine Erzähler: Paula Schlier war 24, als sie sich als Stenotypistin beim Völkischen Beobachter einschlich. Sie, die normalerweise für den Nürnberger Anzeiger Artikel gegen die Nazis verfasste. Die junge Frau aus Neuburg an der Donau wollte wissen, wie der Gegner denkt. Ihre Erlebnisse beim Parteiorgan der Nazis veröffentlichte sie 1926 als Buch. Es heißt "Petras Aufzeichnungen", heute einsehbar im Nachlass der Paula Schlier, den die Universität Innsbruck verwaltet. Hitlers Adjutanten Hermann Esser beschrieb die junge Frau als jähzornigen, unwissenden, naiven Knaben. Er ist erst 23, ein Jahr jünger noch als Paula Schlier. Sie nennt ihn E.  Zitatorin: Hinter dem schreienden und heftig gestikulierenden E. taucht plötzlich ein Mann im gelben Gummimantel auf. Es ist Hitler selbst. „Dieses dreimal, als Plakat, als erste Seite für den Anschlag und in die Zeitung! Darüber meine Fotografie  und mein Name dick darunter!“ brüllt er, lauter noch als E., aber mit tiefer Stimme und mit Gebärden, als wolle er den ganzen Raum durchfegen. Blitzartig, wie er gekommen, war er wieder verschwunden. Unten hupte das Auto, ein neuer Benz-Wagen, und staute sich das Volk. Atmo Schreibmaschine Erzähler: Dieser Vorfall ereignete sich Anfang Oktober 1923. Zu dieser Zeit versuchte Hitler noch, jene Männer zu einem Putsch zu überreden, die er vier Wochen später im Bürgerbräukeller dazu zwingen würde. Darunter General Otto von Lossow, den Befehlshaber der Reichswehr in Bayern: Zitator: Die bekannte hinreißende und suggestive Beredsamkeit Hitlers hat auf mich anfangs einen großen Eindruck gemacht. Je öfter ich aber Hitler hörte, desto mehr schwächte sich der erste Eindruck ab. Ich merkte, daß die langen Reden doch fast immer das Gleiche enthielten, und daß Hitler der Wirklichkeitssinn abgeht. Im Allgemeinen führt Hitler bei derartigen Gesprächen allein das Wort. Einwendungen sind schwer zu machen, sie sind auch vergeblich. Hitler hielt sich für den deutschen Mussolini, und seine Gefolgschaft bezeichnete ihn als den deutschen Messias. Er war der Berufene, und die damalige Misere verstärkte natürlich diesen Glauben.  TC 04:48 – Das Krisenjahr 1923  MUSIK: Z8003086 106 (00‘50‘‘) Erzähler: Die damalige Misere – 1923 war in vieler Hinsicht ein Krisenjahr. Als Spätfolge des Ersten Weltkriegs besetzten die Franzosen zu Jahresbeginn das Ruhrgebiet – den Alliierten ging es um die dortige Kohle als Zahlungsmittel für überfällige Reparationszahlungen. Die Franzosen wollten das Herz der deutschen Industrieproduktion unter ihre Kontrolle bekommen. Monatelang herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Regierung in Berlin rief zu Generalstreik und passivem Widerstand auf. Was sie in große Schwierigkeiten brachte: Denn nun musste der Staat zwei Millionen streikenden Arbeitern die Löhne zahlen. Berlin druckte deshalb Geld. Es folgte eine Inflation, die immer atemberaubender Tempo aufnahm. Paula Schlier beschreibt die Lage so: MUSIK ENDE Atmo Schreibmaschine Zitatorin: 20. Oktober 1923: Es ist wahr, das Verhängnis, dass ein ganzes Volk vor dem Verhungern steht, schreit nach einer erlösenden Tat. Heute gingen die Leute mit leeren Händen aus den Bäckerläden heim, weil sie eine Milliarde Mark für ein Pfund Brot nicht zahlen konnten (Atmo Schreibmaschine). Niemand in München schien mehr einen Gedanken fassen, ein Wort aussprechen zu können, ohne die Erwägung, wie er das Vaterland retten könne. Kein Vater war so stolz wie der, dessen Sprössling gar schon singen konnte: „Sieg-reich woll’n m’r Frank-reich schla-gen, sterben als ein tapf-rer Held!“ Atmo Schreibmaschine MUSIK: Z8003765 110 (00‘42‘‘) TC 06:21 – Der Aufstieg Hitlers Erzähler: Das war die Stimmung im Herbst 1923. Zwischen den Machthabern in München und Berlin knirschte es gewaltig. Der vom Reich als Generalstaatskommissar eingesetzte Kahr war nicht der richtige Mann, antidemokratische Tendenzen einzudämmen. Dies trug sicher zum rasanten Aufstieg Adolf Hitlers bei. Zunächst war er bloß einer in der Masse der Kriegsrückkehrer in München. Er blieb in der Reichswehr, ließ sich dort zum Propagandaredner gegen die Revolution von 1919 ausbilden. Und nicht nur das, sagt Andreas Heusler, Leiter der Abteilung Zeitgeschichte im Münchner Stadtarchiv: MUSIK ENDE O-Ton Andreas Heusler: Ja, also soweit ich das beurteilen kann und die Vita von Hitler kenne, wurde er auch gezielt eingesetzt, um vor Ort als informeller Mitarbeiter Erkenntnisse über politische Entwicklungen zu sammeln und die dann an seine vorgesetzten Dienststellen weiterzugeben. Also er war so was wie ein Spion, ein Agent im Dienste der Militärs. Erzähler: Klar ist: Der V-Mann Hitler entschied sich für eine Seite. Er schloss sich der grade gegründeten deutschen Arbeiterpartei DAP an, der Urzelle der Nationalsozialisten. Dies ist ein Schlüsselmoment für Thomas Weber. Der Historiker von der renommierten US-Universität Harvard sucht nach Erklärungen für Hitlers plötzlich enorm aufgeblähtes Selbstbewusstsein: O-Ton Thomas Weber: Auch im Reichswehrgruppenkommando 4 scheint es so gewesen zu sein, dass nach einiger Zeit Hitler einfach in ein Einzelzimmer verlegt wird, weil er den anderen ein bisschen auf die Nerven geht. Auch wenn sie ihn vielleicht jetzt politisch nicht blöd finden oder grundsätzlich, aber die wollen nicht mit ihm auf einem Zimmer sein. Und jetzt taucht er auf einmal, dieser suchende Mensch, im Herbst 1919 bei der DAP auf. Und merkt auf einmal, hier sind Leute, wenn ich den Mund aufmache, lachen die nicht, sondern die finden das gut. Bei Hitler war es ja durchaus schon so, auch während des Ersten Weltkrieges und so, dass er immer vor sich her geredet hat, auch durchaus mal politisch geredet hat, aber sich eigentlich niemand dafür interessiert hat, so: Lasst den Adolf mal reden. Ich glaube, von daher ist die DAP für ihn auch erst mal ein neues Zuhause, was über das Politische hinaus eine Bedeutung hat. MUSIK: Z8003086 107 (00‘31‘‘) TC 08:39 – Die Unterstützer des Putschs Erzähler: Viele frühe Nationalsozialisten stammen aus kleinen Verhältnissen. Doch Hitler gelingt es, die Münchner Oberschicht zu gewinnen. Mit viel Pathos schließt sich im Bürgerbräukeller Erich Ludendorff dem Putsch an - also jener trotz der Kriegsniederlage verehrte General, der sich sogar mit Exzellenz anreden lässt. Für Historiker Andreas Heusler ist das bis heute eins der großen Rätsel in der Geschichte des Hitlerputsches: MUSIK ENDE O-Ton Andreas Heusler: Das ist schwer zu deuten, wie diese Weltkriegsikone, die Ludendorff ja war, also jetzt plötzlich diesem Gefreiten nachläuft, der – ja – ihm nicht auf Augenhöhe begegnen kann. Ludendorff ist ja nicht der Einzige. Es gibt ja unglaublich viele sehr arrivierte, großbürgerliche Persönlichkeiten, die diesen Emporkömmling plötzlich zum Mittelpunkt ihres bürgerlichen Lebens machen, denken sie an den Herrn Hanfstaengl, die Bruckmanns, die Bechsteins, und so weiter, also das ist sehr rätselhaft. Und ich denke, es ist ein ähnliches Phänomen wie bei Ludendorff auch. Erzähler: Die Verlegerfamilien Hanfstaengl und Bruckmann, die Klavierbauer Bechstein - Hitler war in den Villen der Münchner Reichen ein gern gesehener Gast, viele unterstützten ihn finanziell. Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, der jüngere Bruder des renommierten Verlegers von Kunst, stürmte am Abend des 8. November an Hitlers Seite in den Bürgerbräukeller.  Atmo Druckerpresse Erzähler: Sofort ließen die Putschisten Plakate drucken. Sie erklärten die sogenannte Regierung der Novemberverbrecher in Berlin für abgesetzt und Ludendorff, Hitler, den Militärkommandanten Lossow und den Polizeichef von Seißer zur provisorischen Reichsregierung. Was die siegessicheren Nationalsozialisten nicht ahnten: Im Hintergrund entwickelte sich die Sache ganz anders, als sie dachten.  TC 10:37 – Die Landtagsabgeordnete Ellen Ammann Atmo Telefon MUSIK: Z8003086 110 (01‘02‘‘) Erzähler: Als Hitler im Bürgerbräukeller losschlug, bekam die Landtagsabgeordnete der Bayerischen Volkspartei Ellen Ammann einen warnenden Anruf. Sie reagierte sofort. Schon im Frühjahr hatte die Sozialpolitikerin vergeblich versucht, den Österreicher Hitler aus Bayern ausweisen zu lassen. Jetzt trommelte sie ihre Parteifreunde und Regierungsmitglieder zusammen. Um den stellvertretenden Ministerpräsidenten Franz Matt zu warnen, schickte Ellen Ammann einen ihrer Söhne mit dem Fahrrad los. Ellen Ammann versammelte die Politiker in der karitativen Frauenschule, die sie gegründet hatte. Gemeinsam formulierte man eine Resolution, die den Putsch als verbrecherisch verurteilte. Die Reichswehr in Berlin wurde verständigt – vielleicht der entscheidende Schachzug. Ellen Ammann besorgte ein Auto, um die Regierung nach Regensburg und somit aus der Schusslinie zu bringen. Franz Matt würde später urteilen: MUSIK ENDE Zitator: Ellen Ammann hatte damals mehr Mut bewiesen als manche Herren. MUSIK: Z8003086 110 (00‘19‘‘) TC 11:47 – Der Marsch auf die Feldherrnhalle  Erzähler: Gleichzeitig zeigte sich, dass Hitler seine Mit-Putschisten nicht im Griff hatte. So entließ er Kahr, Lossow und Seißer, von denen er eben noch die Zusage erpresst hatte, sich an seiner Regierung zu beteiligen, aus dem Bürgerbräukeller (MUSIK ENDE). Doch anstatt den Putsch durchzuziehen, entschlossen die sich nun, ihn niederzuschlagen. Sie tauchten ab, besetzten Kasernen und waren nicht mehr zu sprechen für die selbsterklärten neuen Machthaber. Einem Boten Ludendorffs sagte Militärkommandant Lossow, Hitler habe sein Wort gebrochen, nicht zu putschen. Weitere Verständigung - ausgeschlossen. Aber schon rückten rechtsradikale Kampfverbände vor. Polizeimajor Sigmund Freiherr von Imhoff wollte gerade in den Feierabend aufbrechen, als ein schockierter Kollege die Nachricht vom Putsch in die Polizeidirektion brachte. Imhoff wartete keine Befehle von oben ab: Zitator: Das erste, was ich tat, war, daß ich die Landespolizei alarmierte, um weitere Kräfte bereitzustellen. Außerdem beauftragte ich den Führer der Stationsverstärkung in der alten Schwere-Reiter-Kaserne mit Einleitung der Erkundung. Außerdem veranlasste ich auf eigene Verantwortung die Besetzung von Hauptpost und Telegrafenamt, um die Fernleitungen in der Hand zu haben. Erzähler: Kahr, Lossow und Seißer erklärten am Morgen des Putsches öffentlich auf Plakaten, sie hätten sich im Bürgerbräukeller nur zum Schein Hitler angeschlossen. Den Putschisten wurde langsam klar, dass sie voreilig triumphiert hatten. Es muss eine seltsame Stimmung geherrscht haben in dieser Stadt, deren Bürger sich noch allzu gut an die blutige Revolution von 1919 erinnerten. Carl Christian Bry, 31, Korrespondent des Argentinischen Tag- und Wochenblatts, schrieb: Zitator: Auf meiner Bank wird das Ereignis ruhig und nüchtern aufgenommen, obwohl bekannt ist, dass Hitler wirtschafts- und währungspolitische Mitarbeiter mit finsteren Plänen hat. Man glaubt, dass wenn irgendetwas Ernstes an der Sache wäre, Hitler jetzt nicht im Münchner Bürgerbräu, sondern in der Berliner Wilhelmstraße sein müßte. Prachtvoll benehmen sich die Straßenbahnen. Nur auf ganz kurze Zeit ist streckenweise der Verkehr unterbrochen.  MUSIK: Z8003765 (00‘36‘‘) Erzähler: Fassungslos beschrieb Carl Christian Bry jedoch die Enttäuschung vieler Münchner. Sie empfanden es als Verrat, dass sich Kahr, Lossow und Seißer doch noch gegen Hitler stellten. Der marschierte am Mittag an der Spitze seiner etwa 2.000 Mann starken Kampftruppen auf den Odeonsplatz. Vor der Feldherrnhalle trafen sie auf die Landespolizei. Oberleutnant Michael von Godin, 26, berichtete hinterher im bayerischen Kurier: MUSIK ENDE Zitator: Ich hatte sofort den Eindruck: Hier liegt die Entscheidung des Tages und trat mit meinen Leuten zum Gegenstoß gegen den gelungenen Durchbruch der Hitlertruppen an. Beim Einbruch in den Gegner wurden wir mit gefälltem Bajonett, entsichertem Gewehr und vorgehaltenen Revolvern empfangen. Plötzlich gab ein Hitlermann einen Pistolenschuss auf meinen Kopf ab. Der Schuss ging an meinem Gesicht vorbei und tötete den hinter mir stehenden Unterwachtmeister Hollweg. Noch bevor es mir möglich gewesen wäre, einen Befehl zu geben, gaben meine Leute Feuer, was die Wirkung einer Salve hatte. Zu gleicher Zeit feuerten die Hitlertruppen und es entspann sich ein regelrechter Feuerkampf, der ungefähr 25 Sekunden dauerte.  Erzähler: Wer vor der Feldherrnhalle zuerst schoss, das sollte später für Spekulationen sorgen. Die Putschisten behaupteten nämlich, die Polizei habe das Feuer eröffnet. Die Bilanz des Putsches an der Feldherrnhalle: 20 Tote. Ein unbeteiligter Passant, vier Polizisten, 15 Rechtsradikale. Ludendorff wurde festgenommen, Hitler floh. Er versteckte sich in der Villa seines Gönners Hanfstaengl in Uffing am Staffelsee. Am 11. November wurde er festgenommen, NSDAP und Völkischer Beobachter verboten.  Atmo Marschieren MUSIK: Z8003765 (00‘36‘‘) TC 15:47 – Ein Putsch mit Nachspiel  Erzähler: Ist dies das Ende des Hitlerputsches? Nein. Es folgte ein Nachspiel, das auf lange Sicht das Ende der Demokratie einleiten sollte. MUSIK ENDE Erzähler: Am 18. November 1923 schrieb Paula Schlier: Zitatorin: Da in der Redaktion zu arbeiten polizeilich verboten ist, werden im Geheimen Flugblätter herausgegeben. Die Freunde der Bewegung stellen dafür gerne Privatsalons im vornehmsten Stadtviertel, nahe dem Englischen Garten, zur Verfügung.  Atmo Schreibmaschine Erzähler: Was das verbotene Naziblatt berichtete, begeisterte seine Anhänger: Hitler werde in der Untersuchungshaft überschüttet mit Geschenken und sei der Alte geblieben. Unterdessen geriet Generalstaatskommissar Kahr immer stärker unter Druck. Die Schmähungen, Kahr sei ein Verräter, nahmen kein Ende, und so trat er am 24. Februar 1924 zurück. Zwei Tage später begann vor dem sogenannten Volksgericht in München der Prozess gegen die Putschisten – ein Justizskandal, denn allein schon die Existenz dieses Sondergerichts war ein Bruch der Weimarer Verfassung. Andreas Heusler vom Stadtarchiv München: O-Ton Andreas Heusler: Vom Delikt her, es war ein Hochverratsverfahren, hätte das beim Reichsgericht in Leipzig stattfinden müssen. Die Münchner haben dieses Verfahren an sich gezogen und hatten dadurch natürlich Einfluss auf die Prozessgestaltung. In diesen völkisch-reaktionären Kreisen, zu denen auch der Richter Neithart zu rechnen ist, galt Hitlers Hochverrats-Handeln als respektables Handeln. Es war ja auch kein Geheimnis, wie dieser Prozess geführt wird. Er wurde in den Tageszeitungen unglaublich breit und intensiv dargestellt. Es wurde berichtet. Ich denke auch, die Prozessführung hat gewusst und hat sehenden Auges akzeptiert, dass dieses Prozessgeschehen politisch instrumentalisiert wird. O-Ton Adolf Hitler: Der scheinbare Fehlschlag ist trotzdem zur Geburt der großen nationalsozialistischen Freiheitsbewegung geworden. Denn in der Folge dieses Fehlschlags kam der berühmte Prozess, der es uns ermöglichte, zum ersten Mal vor aller Öffentlichkeit große Massen unseres Volkes mit unserem Gedankengut vertraut zu machen.  Erzähler: Hitler als Rädelsführer wurde nur zu einer Minimalstrafe verurteilt, von der er grade einmal ein halbes Jahr verbüßte. Sein Adjutant Fritz Wiedemann berichtete später: Zitator: Bezeichnend war, dass Hitler sich wiederholt über die bayerische Regierung lustig machte, die ihn für einige Zeit auf die Festung Landsberg schickte und dann wieder freiließ, anstatt ihn zu liquidieren. Er selbst ließ keine Zweifel daran, dass er im umgekehrten Falle restlos durchgegriffen hätte. Erzähler: 1933 würden die herrschenden Eliten auch deshalb die Regierungsgewalt an Hitler übergeben, weil sie ihn als Person unterschätzten, sich aber vor der schieren Masse seiner Anhänger fürchteten. Hitler nutzte diese Konstellation, um ganz legal an sein Ziel zu kommen. Für Historiker Thomas Weber ist der Putsch eine wichtige Lektion: O-Ton Thomas Weber: Hitler lernt 1923, dass er es halt doch nicht richtig kann, und vor allen Dingen, dass er vieles dilettantisch angegangen ist und taktisch nicht richtig angegangen ist. Und ich glaub, man muss wirklich die Jahre danach als Versuch sehen, aus den Fehlern zu lernen.  O-Ton Adolf Hitler: Das Schicksal selber hat es dann gut gemeint mit uns. Es hat eine Aktion nicht gelingen lassen, die wenn sie gelungen wäre, am Ende an der inneren Unreife der Bewegung und ihrer ganzen organisatorischen und geistigen Grundlagen hätte scheitern müssen. Das wissen wir heute ganz genau. Atmo „Helden“gedenken: Am Siegestor tritt die Spitze des Zuges an…  Erzähler: Das jährliche Spektakel vor der Feldherrnhalle zur Erinnerung an den Putsch wurde während des Dritten Reiches live im Radio übertragen. Historiker Andreas Heusler: O-Ton Andreas Heusler: Für das Selbstverständnis des Nationalsozialismus oder der NS-Bewegung spielt das Ereignis November 1923 und auch der Prozess selber, vor allem aber das Ereignis eine Schlüsselrolle in der Inszenierung. So dass man die Menschen quasi – ja – einer Gehirnwäsche unterzogen hat. Das ist etwas, was man vielleicht auch nochmal verfolgen müsste, wie geht diese Bewegung mit diesem Schlüsseldatum um, um den Menschen irgendetwas vorzugaukeln, über die Größe, über die Bedeutung der Bewegung Atmo „Helden“gedenken: …dass ich für meine Heimat tapfer kämpfen und lieber sterben werde MUSIK: Z8003086 (00‘29‘‘) Erzähler: Der Putsch und seine Folgen werfen zentrale Fragen im Umgang mit dem Nationalsozialismus auf: Hätte man damals nicht schon erkennen können, welch tödliche Brutalität später kommen würde? In seinem Zeitungsartikel über die Stimmung in München am Tag des Putsches schreibt Carl Christian Bry: MUSIK ENDE Zitator: Ein junger jüdischer Gehilfe, also einer der von Hitler unmittelbar Bedrohten, treibt den Scherz soweit, für den Nachmittag um Urlaub zu bitten: Er müsse sich doch noch Kochgeschirr und Proviant für das Konzentrationslager kaufen, das Hitler und seine Leute seit langem allen „jüdischen Blutsaugern“ verheißen haben. MUSIK: Z8003086 (00‘53‘‘ Erzähler: Allerdings glaubte der junge Journalist Bry, dass Hitler nach dem Putsch erledigt sei. Eine fatale Fehleinschätzung. Noch einmal Andreas Heusler vom Stadtarchiv München: O-Ton Andreas Heusler: Der Prozess stellt sicher im negativen Sinne ne Zäsur dar in der Geschichte der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn dieser Prozess anders gelaufen wäre, wenn man diesem Hauptangeklagten Hitler nicht so viel Raum gegeben hätte, dann hätte die deutsche, die europäische und die Weltgeschichte sicher einen anderen Verlauf genommen. Erzähler: Der Putsch vor der Feldherrnhalle war also der Anfang vom Ende der Demokratie.  TC 22:13 - Outro
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Nov 3, 2023 • 24min

TUTANCHAMUN - Der Kindpharao als Weltstar

Kaum ein archäologischer Fund hat die Welt je wieder so berührt, wie der des Grabes von Tutanchamun. Am 4. November 1922 entdeckte der britische Archäologe Howard Carter im Tal der Könige eine unter antikem Schutt verborgene Felstreppe: Der Eingang zum Grab des ägyptischen Königs. Eine perfekte Sensation. Bis heute ist an jedem 4. November Tutanchamun-Tag" oder einfach - King Tut Day. Autorin: Silvia Rabehl (BR 2022) Credits Autor/in dieser Folge: Silvia Rabehl Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Peter Weiß Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion: Boudicca. Die KeltenkriegerinEine wahre Geschichte: Die Königin der keltischen Icener führt um 60 n. Chr. in Britannien den legendären "Boudicca-Aufstand" gegen die römische Besatzung an, um Rache für erlittenes Unrecht zu nehmen und wieder frei, unabhängig und selbstbestimmt leben zu können. Heute gilt sie als Ikone des britischen Feminismus.ZUM PODCAST ARDalpha hat einen spannenden Artikel mit Bildern, Audios und Videos zu Tutanchamun: TUTANCHAMUN - Die Geheimnisse um den jungen PharaoZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: 00:14 – Intro 01:20 –Der bislang unbekannte König Tutanchamun02:50 – Die ausgelöschten Herrscher06:58 - Die Entdeckung einer Weltsensation07:45 – Auf den Spuren Tutanchamuns10:53 – Ein Kind auf dem Thron12:31 – Ordnung in das Chaos bringen14:06 – Die schwierige Familie des Tutanchamun 15:53 – Eine ganz neue Ästhetik17:45 – Tutanchamun heute 19:31 – Zwischen Vergessenheit und Hype 23:02 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC: 00:14 – Intro SPRECHERIN 18. Oktober 1922: Der britische Archäologe Howard Carter trifft in Luxor ein. Er weiß, dies ist vielleicht seine letzte Chance, sich den Traum von der Entdeckung eines noch unberührten Pharaonengrabs im Tal der Könige zu erfüllen. Seinen Förderer und Inhaber der Grabungskonzession für das „Tal“, Lord Carnarvon (Betonung a.d. zweiten Silbe), hat er nur mit Mühe davon überzeugen können, dem Vorhaben noch einen letzten Winter zu widmen.  SPRECHER Carters Notizen und Tagebucheinträge, heute im Griffith Institute in Oxford archiviert und online für jeden zugänglich, zeugen von seinem hartnäckigen Optimismus:  ZITATOR „Außerdem war noch immer die Stelle mit den Arbeiterhütten und den Feuersteinen am Fuß des Grabes Ramses VI. näher zu untersuchen, und ich hatte stets eine Art abergläubischen Gefühls, daß gerade in dieser Ecke des „Tals“ einer der fehlenden Könige, möglicherweise Tut-anch-Amun, gefunden werden könne.“ TC 01:20 –Der bislang unbekannte König Tutanchamun SPRECHERIN Dabei wird der Name Tutanchamun in den offiziell aus der Antike überlieferten Listen ägyptischer Könige gar nicht erwähnt. Doch es existierten durchaus Hinweise darauf, dass ein König dieses Namens im „Tal“ bestattet sein könne. Bevor nämlich Lord Carnarvon im Jahr 1915 die Grabungskonzession für das berühmte „Valley of the Kings“ erhielt, lag diese lange Jahre bei Theodore M. Davis, einem wohlhabenden amerikanischen Geschäftsmann. Davis war sehr erfolgreich im Tal der Könige unterwegs gewesen: Mit Unterstützung verschiedener Grabungsleiter, darunter für kurze Zeit auch Howard Carter, war ihm die Entdeckung mehrerer – wenn auch bereits geplünderter – Königsgräber gelungen.  SPRECHER: So fand Davis im Jahr 1906 einen Fayencebecher mit der Kartusche des Thronnamens von Tutanchamun, Neb-Cheperu-Ra. Und sein Grabungsteam entdeckte in unmittelbarer Nähe eine kleine Grube, eine Cachette, die verschiedene Gegenstände enthielt: Ganz offensichtlich handelte es sich um Reste einer Bestattungszeremonie – möglicherweise der von Tutanchamun, da Leinenbinden und Lehmsiegel seine Namenskartusche trugen. Davis maß dem Fund - im Gegensatz zu Howard Carter - keinerlei Bedeutung bei. Sicher, die Form seines Thronnamens und die Lage des Fundes wiesen Tutanchamun als einen möglichen König der sogenannten Amarnazeit gegen Ende der 18. Dynastie aus.  Musik: C1588530103 Belly dance in Egypt 1‘03 TC 02:50 – Die ausgelöschten Herrscher SPRECHERIN Eine Epoche, die durch König Echnaton und seine radikale Abkehr von den alten Göttern geprägt und begründet worden war; und die ihre moderne Bezeichnung von jenem mittelägyptischen Ort erhalten sollte, an dem die Ruinen von Echnatons einst aus dem Sand gestampfter Reichshauptstadt Achet Aton liegen – Tell el-Amarna! Mit Echnatons Tod fielen nicht nur seine religiösen Neuerungen, sondern auch seine Familienangehörigen einer radikalen Auslöschungspolitik zum Opfer. Ihre Namen wurden bewusst aus dem kulturellen Gedächtnis der Ägypter getilgt, und auch Tutanchamun findet keine Erwähnung in den altägyptischen Königsannalen. Erst Ausgrabungen in Tell el-Amarna zu Beginn der 1920er Jahre führten schließlich zu mehr Erkenntnissen über diese rätselhafte, ausgelöschte Zeit und ihre Herrscher. Kein Wunder also, dass Davis mit diesem Fund keine großen Erwartungen verbunden hatte.  Gleichzeitig erkannte Herbert Winlock, der spätere Direktor des New Yorker Metropolitan Museums, zu Beginn der 1920er Jahre die wahre Bedeutung des Fundes, der sich in seiner Obhut befand: Diese Reste einer Bestattungszeremonie ließen kaum Zweifel daran, dass ein König Tutanchamun im Tal der Könige bestattet sein musste.  1 O-TON: PROF. HOFFMANN (Hoffmann 1 / 00:04 – 00:59) „Also, was historische Quellen zu Tutanchamun anbelangt: Historische Quellen in der Ägyptologie, das ist ein weiter Begriff. Man kann natürlich im weitesten Sinne alles als eine historische Quelle betrachten, aus der man irgendeine Information in unserem Sinne herausbekommt. Also etwas zur Ereignisgeschichte. Dazu gehören zum Beispiel die Weinkrugaufschriften von den Krügen, die im Grab von Tutanchamun gefunden worden sind. Da weiß man, bis zu dem und dem Jahr hat er noch Wein bekommen – und danach eben nicht mehr! Also hat er nur so und so viel Jahre regiert. SPRECHER … erklärt Professor Friedhelm Hoffmann, Leiter des Münchner Instituts für Ägyptologie an der Ludwig-Maximilians-Universität, die Bedeutung solcher Funde. Musik: Z8037642105 Anxious 0‘45 TC 05:01 – „Ich sehe wunderbare Dinge“ SPRECHERIN Howard Carter konzentriert sich in diesem November 1922 also zunächst auf die Arbeiterhütten aus der Zeit der 19. Dynastie. Sie werden dokumentiert und danach abgeräumt, um Preis zu geben, was vielleicht unter ihnen liegt. Am Morgen des 4. November dann die Entdeckung: Der Arbeitertrupp stößt auf in den Felsen gehauene Stufen – der erste Hinweis auf ein Grab. Die Spannung Carters und seines Teams, als am Ende der Stufen eine versiegelte Tür zum Vorschein kommt, mag man sich kaum ausmalen. Was mochte sich wohl dahinter verbergen – und waren Grabräuber, wie so oft im Tal, bereits vor ihnen da gewesen? ZITATOR „Etwas gab mir zu denken, und das war die Kleinheit der Öffnung im Vergleich zu den anderen Talgräbern. Die Anlage war sicher die der 18. Dynastie. Konnte es das Grab eines Vornehmen sein, der hier mit Erlaubnis des Königs bestattet war? Oder war es wirklich das Grab des Königs, auf das zu finden ich so viele Jahre verwandt hatte?“ Musik: CD538040009 Lebanon 1‘03 SPRECHER Der 26. November 1922 soll das Rätsel lösen: Am Nachmittag erreicht das Grabungsteam endlich die zweite, nun freigeräumte und ebenfalls versiegelte Tür. Im Beisein von Lord Carnarvon und seiner Tochter Evelyn sowie dem Ägyptologen Arthur Callender bohrt Carter ein kleines Loch in die linke obere Ecke der Tür. Mit einer Kerze verschafft er sich vorsichtig Einblick in das unbekannte Dunkel auf der anderen Seite – und bleibt sprachlos. Ungeduldig bricht Lord Carnarvon endlich das Schweigen, „ob er denn etwas sähe?“. Carters legendäre Antwort „Ja, wunderbare Dinge“ ist in der Ägyptologie längst zum geflügelten Wort geworden. TC 06:58 - Die Entdeckung einer Weltsensation SPRECHERIN Was waren das nun für „wunderbare Dinge“, die Howard Carter zunächst die Sprache verschlugen? Die Ägyptologin Professorin Regine Schulz vom Hildesheimer Pelizaeus-Museum: 2 O-TON SCHULZ (Schulz 1 /00:26 – 01:23) „Generell muss man sagen, die Entdeckung des Grabes war schon einmal eine ganz aufregende Geschichte, nicht nur, weil es ein Grab war, das bisher einmal unbekannt, und zweitens dann eben nicht wirklich in großem Maße zerstört war.  Das ging durch die Presse weltweit. Das ging über viele Monate, Jahre eigentlich hinweg, dass man neue Stücke angeguckt hat, über diese Stücke geredet hat. Also Tutanchamun wurde Teil, eigentlich muss man sagen, der kulturellen Weltcommunity.“ TC 07:45 – Auf den Spuren Tutanchamuns SPRECHER Über den Besitzer von Grab Kings Valley - kurz  KV - Nr. 62, König Tutanchamun selber, wusste man damals allerdings wenig. Sein Name wurde in den überlieferten Königslisten nicht erwähnt. Grablage und Architektur, sowie die Grabbeigaben und Beschriftungen, alles deutete jedoch darauf hin, dass er den Königen der Armarnazeit zuzurechnen war, also jenen Königen, deren Gedenken und Namen bewusst - auch physisch - ausgelöscht worden waren, indem man beispielsweise ihre Namenskartuschen und Abbildungen aushackte oder überschrieb.  Dazu Prof. Hoffmann: 3 O-TON HOFFMANN (Hoffmann 6 / 00:14 – 00:35) „Tutanchamun gehörte für die Ägypter des Neuen Reiches und dann später, zu den Amarnakönigen. Also zu Echnaton, Semenchkare, Tutanchamun – und Eje gehört auch dazu. Und die sind in der nachfolgenden Überlieferung einfach totgeschwiegen worden. Die gibt es in der offiziellen Überlieferung nicht mehr: Damnatio memoriae.“ SPRECHERIN Die Auslöschung der Erinnerung. 4 O-Ton Prof. Hoffmann: (Hoffmann 6 / 00:36 – 00:44) „Wenn die Ägypter dann, zum Beispiel in der Ramessidenzeit, eine Königsliste aufgeschrieben haben, dann werden die Amarnakönige einfach ausgelassen.“ SPRECHER Ein weiterer Hinweis, der Tutanchamun direkt mit Amarna verbindet, findet sich auf einem in Hermopolis in Mittelägypten entdeckten Steinblock, der ursprünglich aus dem nahen Tell El-Amarna stammt: 5 O-TON HOFFMANN (Hoffmann 2 / 00:07  - 00:44) „Ja, dann ist auch noch interessant, was es so an Inschriften gibt, unter anderem auch noch ein Block, aus dem sich der ältere Name von Tutanchamun ergibt: Der hieß nämlich, weil er ja noch im wahrsten Sinne des Wortes ein Kind der Amarna-Zeit ist, hieß er Tut-Anch-Itn. Und als er dann, als König, Amarna verließ und dann nach Memphis ging zu seiner neuen Hauptstadt – oder der neuen Hauptstadt Ägyptens, dann hat er sich umbenannt zu Tutanchamun. Musik: Z8032965114 Parts of breath (reduced)0‘45 SPRECHERIN Die ägyptische Hieroglyphenschrift schreibt, ähnlich den semitischen Schriftsystemen, keine Vokale. Daher ist die eigentliche Aussprache der Worte nicht bekannt, und in der Ägyptologie wird dann gelesen, was dasteht, und Vokale werden nur angedeutet oder gänzlich weggelassen. Die Aussprache von Personen- oder Götternamen lässt sich jedoch zum Teil über Korrespondenz, die in anderen Schrift- und Sprachsystemen geführt wurde, herleiten, wie etwa die in Amarna gefundenen keilschriftlichen Briefe. Doch die tatsächliche Aussprache bleibt wohl für immer eine Grauzone, da Altägyptisch eben eine „tote“ Sprache ist. 6 O-TON HOFFMANN (Hoffmann 3 / 00:07 – 00:39) „Ja, und der Name Tutanchamun - und natürlich auch der ältere Name Tutanchaton – Tutanchamun heißt nicht, wie meistens vertreten wird „Lebendes Bild des Amun“. Das geht aus grammatikalischen Gründen nicht. Da müsste er dann nämlich Tut-Anch-n-Imn heißen. Mit einem sogenannten „indirekten Genitiv“. Der Name kann also nur bedeuten sowas wie „Der, der ähnlich ist dem Leben des Amun“ meinetwegen.“ Musik: Z8027679103 Middle east borders 1‘02 TC 10:53 – Ein Kind auf dem Thron SPRECHER Die frühen Könige der 18. Dynastie hatten das ägyptische Neue Reich begründet und ein ägyptisches Großreich erschaffen, wie es bisher noch nie da gewesen war. Insbesondere Thutmosis III. (sprich: Thutmoses der Dritte), der mit seiner Armee weite Territorien in Kleinasien und dem heutigen Sudan eroberte, hatte dem Land sowie den Tempeln ungeheure Macht und Reichtümer gebracht. Bereits unter König Amenophis III. (sprich: Amenophis dem Dritten) und seiner Frau Teje, den Großeltern Tutanchamuns, war jedoch eine Abgrenzung gegenüber der zu mächtig gewordenen Priesterschaft des Amun in Theben zu beobachten. Amenophis‘ Sohn Echnaton, Amenophis IV., brach dann endgültig mit den alten Traditionen: Er schuf sich weit weg vom oberägyptischen Theben mit seiner mächtigen Priesterschaft ein neues Wirkungszentrum im mittelägyptischen Tell El-Amarna. Und er machte den Gott Aton in Gestalt der omnipräsenten Sonnenscheibe zum Gott über alle Götter Ägyptens, mit der Königsfamilie als Mittler zwischen Volk und Aton. Als Echnaton etwa 1336 vor unserer Zeitrechnung starb, gingen aus der Ehe mit seiner Frau Nofretete keine männlichen Nachkommen hervor. Die genaue Abfolge der „Amarnakönige und -königinnen“ nach ihm ist bis heute umstritten. Etwa drei Jahre nach Echnatons Tod, wurde das Kind Tutanchamun, unter der Vormundschaft eines Mannes namens Eje, zum König ausgerufen. 10 Jahre sollte der kränkliche junge König auf dem Thron bleiben, bevor er viel zu früh und ohne Nachkommen starb. Musik: Z8027679103 Middle east borders 0‘35 TC 12:31 – Ordnung in das Chaos bringen ZITATOR „Es erschien aber seine Majestät als König auf dem Thron, als der Tempel der Götter und Göttinnen von Elephantine bis zu den Marschen des Deltas im Verfall und ihre Rituale in Auflösung begriffen waren, als ihre Heiligtümer verkommen und zu pflanzenbewachsenen Hügeln geworden waren, und ihre Allerheiligsten waren, als seien sie nie gewesen, und ihre Gebäude ein Fußweg.“ SPRECHERIN So lautet ein Auszug aus der sogenannten Restaurationsstele, einer Gedenktafel, deren Bruchstücke zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Tempelbezirk von Karnak gefunden wurden. Sie dokumentiert die wichtigste Aufgabe eines jeden ägyptischen Königs, in diesem Fall die des Tutanchamun, nämlich, die „Ordnung“, altägyptisch MAAT, im Land wiederherzustellen – insbesondere nach der anarchischen Zeit des Echnaton!  7 O-TON HOFFMANN (Hoffmann 1 /02:21 – 03:01) „Tutanchamun, der quasi beschreibt oder jedenfalls die Aussage macht, das Land war völlig durcheinandergeraten, die Gottesopfer, die Gottesverehrung, all das hat nicht mehr funktioniert. Und er ist jetzt der König, der das wiederherstellt. Diese Stele ist natürlich nicht von Tutanchamun selbst verfasst. Das ist auch logisch. Der war noch ein Kind. Sondern das haben natürlich seine Berater und die maßgeblichen Leute gemacht. Aber natürlich, im ägyptischen Geschichtsbild ist es der König, der solche Sachen macht. Also steht Tutanchamuns Name drauf.“  Musik: Z8027679109 Oriental conspiracy 0‘30 TC 14:06 – Die schwierige Familie des Tutanchamun  SPRECHER Erst Haremhab, der zunächst unter Tutanchamun ein steile militärische Karriere machte und dann, nach Eje, den Thron selber bestieg, wird wieder in den offiziellen Königslisten genannt, in direkter Nachfolge von Amenophis III. Offenbar war es ihm gelungen, die Spuren der Amarnaherrscher zu eliminieren, ihre Denkmäler in seinem Namen zu usurpieren – und den Kult für die alten Götter wiederherzustellen. 8 O-TON HOFFMANN (Hoffmann 6 / 01:02 – 01:26) „Möglicherweise hat Haremhab, der dann die Amarna-Zeit wirklich beendet hat, auch politisch, sich diese Regierungsjahre dann einfach in seine eigene Zählung miteingeschlossen. Darum kommt Haremhab auf relativ viele Regierungsjahre, aber nur dadurch, dass er die Vorgängerkönige aus der Amarna-Zeit seinen eigenen Jahren dazuschlägt.“ SPRECHERIN Der Ägyptologe Zahi Hawass (Hauwás -Betonung a.d. letzten Silbe) veranlasste 2010 eine DNA-Untersuchung unter anderem an denjenigen königlichen Mumien, die eindeutig dem Ende der 18. Dynastie zuordenbar sind. In der Folge wurde der Inhaber von Grab Tal der Könige KV 55 als Tutanchamuns Vater identifiziert. Ausgerechnet dieses Grab, noch unter dem Amerikaner Theodore Davis entdeckt, wurde äußerst unsachgemäß ausgegraben und dokumentiert! Die Mumie befand sich in einem denkbar schlechten Erhaltungszustand, und ihr Sarg war ursprünglich für eine andere Bestattung gedacht gewesen. Ob es sich hier tatsächlich um Echnaton handelt, wie oft vorgeschlagen, oder um einen jüngeren Angehörigen, bleibt bis heute umstritten, auch weil sich die Forscher nicht auf das genaue Alter der Mumie festlegen können. Musik: Z8027679117 Threatened arabic tradition 0‘42 TC 15:53 – Eine ganz neue Ästhetik SPRECHER  Echnaton, der „Einzige des Aton“ und möglicherweise auch Vater des Tutanchamun, hatte für seinen Gott den künstlerischen Ausdruck in Architektur, Malerei und Rundplastik gänzlich neu erschaffen, und zwar bewusst im Widerspruch zum Schönheitsideal seines Vaters und Vorgängers Amenophis III. Im Namen Tutanchamuns mussten seine Berater nun alles dafür tun, dass das Wissen um Echnaton und sein Wirken in Vergessenheit geriet. Professorin Schulz sieht genau darin einen Grund für die Faszination, welche das Grab und seine Ausstattung noch heute auf Menschen haben. 9 O-TON SCHULZ (Schulz 2 / 06:11 – 06:43) „Die Ästhetik der Zeit des Tutanchamun beruht natürlich auch ein bisschen darauf, dass wir eine Gegenreaktion haben! Wir haben eine sehr hohe Ästhetik unter Amenophis III. Aber dann haben wir Amarna, und in Amarna wollte man bewusst etwas ganz Anderes. Wenn ich mir einfach einmal ein Gesicht, eine Plastik von Amenophis III. anschaue, von Echnaton und von Tutanchamun, dann liegen Welten dazwischen… 9 O-TON SCHULZ (Schulz 2 / 07:05 – 07:29) Generell muss man natürlich überlegen, wenn ich mir die Amarna-Phase anschaue, da gibt es höchste Ästhetik. Aber es gibt natürlich auch verstörende, schwierige Darstellungen eines Gesichtes eines Amenophis IV., Echnaton, das einen ein bisschen nervös macht. Und warum ist dieses Gesicht so außerhalb der Proportionen?  SPRECHERIN: … Groteske, fratzenhaft in die Länge gedehnte Gesichtszüge … 10 O-TON SCHULZ (Schulz 2 / 07:30 – 07:48) Und wir haben diese höchste Ästhetik unter Amenophis III. Das wird bewusst von Echnaton völlig verändert – und Tutanchamun möchte zurück. Er möchte zurück zu diesen hochentwickelten ästhetischen Wurzeln, und das ist das Spannende. MUSIK: Z8027679132 Arabic suffering 0‘20 TC 17:45 – Tutanchamun heute  SPRECHERIN Das Tal der Könige mit dem Grab von Tutanchamun gehört heute zum Aufgabenbereich von Dr. Fathi Yassin, General Director of Antiquities of Upper Egypt für den Bezirk Luxor. 11 O-TON DR. FATHI YASSIN (Yassin – langes i) (Yassin 1 / 00:12 – 00:43) OVERVOICE Tutanchamun begeistert noch immer viele Menschen, sowohl in Ägypten als auch weltweit: Es ist nämlich so, dass jeder, der nach Luxor kommt, sich hauptsächlich für zwei Dinge interessiert – den Karnak-Tempel und Tutanchamun. Aus diesem Grund ist Tutanchamun für uns, sagen wir, zu einer Art Ikone geworden, die gleichzeitig das Kernstück des Valley of the Kings ist. SPRECHER Als Howard Carter das Grab des Tutanchamun entdeckte, kannte er das Tal der Könige bereits gut. Eine Zeit lang war er dort sogar in der Position eines Chief Inspector of Antiquities of Upper Egypt für den Ägyptischen Antikendienst tätig.  12 O-TON DR. FATHI YASSIN (Yassin 1 / 02:15 – 02:58) OVERVOICE „Carter, würde ich sagen, war ein Mensch, der sehr viel Glück hatte – einerseits. Andererseits war er ein unglaublich hartnäckiger Mensch – warum? Lange Jahre hat er mit wenig Erfolg im Tal der Könige gegraben, in der Hoffnung, doch noch die ganz große Entdeckung zu machen. Und dann war er kurz davor, die finanzielle Unterstützung durch seinen Geldgeber endgültig zu verlieren, er musste ihn um etwas mehr Zeit förmlich bedrängen … und in diesen zwei oder drei Wochen, die ihm dann blieben, entdeckte er tatsächlich das Grab des Tutanchamun! (Yassin 1 / 03:06 – 03:13) Ehrlich, ich glaube, er hat mehr erreicht, als er sich in seinen kühnsten Träumen je vorgestellt hat.“ MUSIK: Z8027679126 Suspicious bazaar 1‘10  TC 19:31 – Zwischen Vergessenheit und Hype  SPRECHERIN Die Arbeiten am Grab des Tutanchamun kamen nach achtjähriger Tätigkeit 1930 zum Abschluss: Alles war sorgfältig dokumentiert, verpackt und nach Kairo gebracht worden. Nur Tutanchamun selbst „ruht“ bis heute in seinem Grab im Tal der Könige. Lord Carnarvon, Carters finanzkräftiger Förderer und Mitausgräber, konnte die Früchte seiner großartigen Entdeckung nicht wirklich auskosten: Er verstarb bereits im Frühjahr 1923 in Kairo. Schuld war keinesfalls der vielzitierte „Fluch des Pharao“, sondern eine Blutvergiftung, verursacht durch einen ganz banalen Mückenstich.  SPRECHER Mit dem Zweiten Weltkrieg und danach flaute das Interesse an Tutanchamun und seinem Grab langsam ab. Die Welt hatte andere Sorgen. Fast schien der geheimnisvolle junge Pharao schon in Vergessenheit geraten, doch dann kamen die siebziger Jahre! Prof. Schulz erinnert sich: 13 O-TON PROF. SCHULZ (Schulz 1 / 01:36 – 01:44) „Und dann begann ein riesen zweiter Hype durch die großen Ausstellungen! Tutanchamun begann zu reisen (Schulz 1 / 01:52– 02:05) Es wurden die ersten Tutanchamun-Ausstellungen zusammengestellt. Und ich weiß noch, als kleine Studentin in Berlin – ich fand das so aufregend! Ich durfte ein bisschen Führungen machen, ich durfte ein bisschen mitmachen – das war atemberaubend! SPRECHERIN Da war er wieder, der jugendliche Pharao mit seinem goldenen Antlitz und dem geheimnisvollen Lächeln, dem die Welt zu Füßen lag! 14 O-TON PROF. SCHULZ (Schulz 2 / 03:07 – 03:28) „Die Frage, die sich stellt: Was hat eigentlich die Leute damals so begeistert? Und was begeistert uns heute so? Eigentlich kennt doch jeder die Goldmaske. Warum gucken wir immer wieder drauf und sind immer wieder fasziniert. Das ist wie mit der Mona Lisa – es ist ein Meisterwerk! Und je genauer man draufguckt, man entdeckt immer wieder ein bisschen was Neues.“ SPRECHER Jahr für Jahr zieht das „Land der Pharaonen“ riesige Besucherströme magisch an – und ein Ende ist nicht in Sicht!  15 O-TON PROF. SCHULZ (Schulz 3 / 01:24 – 02:03) „Und die Begeisterung, die viele Menschen für Ägypten haben, beruht natürlich auch auf der hohen Ästhetik der ägyptischen Kunst. Und Tutanchamun spielt da natürlich eine ganz wichtige Rolle: Auf der einen Seite kunsthistorisch, auf der anderen Seite natürlich aber auch Tourismus- und Marketing technisch. Und das ist nicht verwerflich, sondern das ist etwas Positives. Und wenn wir die Menschen dafür begeistern können, und wenn sie nach Ägypten kommen, oder wenn sie sich generell für das ägyptische Kulturerbe begeistern, und uns gelingt das mit Hilfe von Tutanchamun, dann ist das mit Sicherheit eine ganz tolle Sache.“ MUSIK: Z8027679131 Children of war 0‘53 SPRECHERIN Entspannt können Besucher heute den Grabschatz von unvorstellbarem Wert im neuen Grand Egyptian Museum bestaunen, ohne dabei die Mühe und den Schweiß eines Howard Carter auf sich nehmen zu müssen! Und doch kann man sich beim Anblick all der golden und farbig funkelnden Gegenstände, die über Jahrtausende, tief verborgen in einem kleinen Grab im Tal der Könige, den jungen Pharao umgaben, einer tiefen Ergriffenheit nicht erwehren - Es bleibt die Bewunderung für jene altägyptischen Künstler, die all das für die Ewigkeit geschaffen haben – eben „wunderbare Dinge“! TC 23:02 - Outro
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Nov 2, 2023 • 2min

Trailer: Paula sucht Paula

Das Tagebuch der jungen Undercover-Journalistin Paula Schlier gibt uns heute, 100 Jahre später, einen seltenen Einblick in die Anfänge des Nationalsozialismus in München. Aber wer war diese Frau, was hat sie motiviert, war sie überhaupt eine Heldin? Die BR-Reporterin Paula Lochte begibt sich auf Spurensuche.
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Oct 23, 2023 • 22min

DAS FRÜHE RADIO - Die Anfänge in Deutschland

1923 ging in Deutschland die erste Radiosendung über den Äther. Ein neues Zeitalter hatte begonnen: das Radio als Massenmedium. Die ersten Empfangsgeräte waren recht einfach. Überall gab es Hobbybastler, unter anderem in den Arbeiterradioverbänden. Am Ende der Weimarer Republik wurde aus dem "Kulturfaktor" Radio immer mehr ein Instrument der nationalistischen Kräfte. Autor: Michael Marek (BR 2020) Credits Autor/in dieser Folge: Michael Marek Regie: Martin Trauner Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Christopher Mann Technik: Peter Preuß Redaktion: Nicole Ruchlak Linktipps: BR 100 Jahre Radio Radio lebt, seit 100 Jahren. Denn am 29. Oktober 1923 startete in Deutschland das erste Rundfunkprogramm. Unter dem Motto "100 Jahre Radio - Hört. Nie. Auf." feiert der Bayerische Rundfunk den 100. Geburtstag des Hörfunks. Mit einer bunten Auswahl an Archivschätzen aus der Rundfunkgeschichte des BR. JETZT ANHÖREN 19.10.2023 ∙ Abendschau ∙ BR Fernsehen 100 Jahre Radio Am 29. Oktober 1923 war die Geburtsstunde einer technischen und medialen Revolution. Es wurde die allererste Radiosendung in Deutschland ausgestrahlt, in Berlin. Kurz danach war es auch in Bayern soweit. Rückblick auf 100 Jahre Radiogeschichte ... / verfügbar bis 18.10.2025 JETZT ANSEHEN ARD History ∙ Das Erste 100 Jahre Radio – Deutschland On Air "Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin!" – mit diesen Worten bricht in Deutschland am 29. Oktober 1923 das Zeitalter der elektronischen Massenmedien an! Das Radio geht "on air". Schnell werden die Radio-Macher gute "Bekannte", die sich im Leben einnisten, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen... in Weimarer Republik, Diktatur und dem Neubeginn 1945 / verfügbar bis 23.10.2024 JETZT ANSEHEN Podcast-Tipp: ARD AudiothekBrüder - Französische Revolution als Hörspiel-SerieDer Hörspiel-Podcast nach dem Roman von Hilary Mantel nimmt uns mit in eine Zeit, die unsere Welt veränderte: Drei junge Männer in den Wirren der Französischen Revolution. Maximilien Robespierre, gewissenhaft und furchtsam. Georges Danton, ehrgeizig und hoch verschuldet. Und Camille Desmoulins, das wankelmütige Rhetorikgenie. Die drei geraten in den berauschenden Sog der Macht und müssen erkennen, dass ihre Ideale auch eine dunkle Seite haben. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Oct 23, 2023 • 23min

DAS FRÜHE RADIO - Werbung, Propaganda, Aufklärung

In den 1920er Jahren wird ein neues Medium geboren: Das Radio. Die menschliche Stimme im Äther überwindet Grenzen, ergießt sich über Kontinente. Das Radio erreicht bald Millionen - und wird zum ersten wahren Massenmedium der Moderne. Durch das Radio wird der sowjetische Mensch erschaffen. In den USA entwickelt sich das neue Medium zur kommerziellen Unternehmung, die verarmte Bürger mitten in der großen Depression am American Dream teilhaben lässt. Radio ist Zauber, Verheißung, Verführung. Autor: Jerzy Sobotta (BR 2022) Credits Autor/in dieser Folge: Jerzy Sobotta Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Peter Weiß Technik: Michael Krogmann Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: BR100 Jahre RadioRadio lebt, seit 100 Jahren. Denn am 29. Oktober 1923 startete in Deutschland das erste Rundfunkprogramm. Unter dem Motto "100 Jahre Radio - Hört. Nie. Auf." feiert der Bayerische Rundfunk den 100. Geburtstag des Hörfunks. Mit einer bunten Auswahl an Archivschätzen aus der Rundfunkgeschichte des BR.JETZT ANHÖREN 19.10.2023 ∙ Abendschau ∙ BR Fernsehen100 Jahre RadioAm 29. Oktober 1923 war die Geburtsstunde einer technischen und medialen Revolution. Es wurde die allererste Radiosendung in Deutschland ausgestrahlt, in Berlin. Kurz danach war es auch in Bayern soweit. Rückblick auf 100 Jahre Radiogeschichte ... / verfügbar bis 18.10.2025JETZT ANSEHEN ARD History ∙ Das Erste100 Jahre Radio – Deutschland On Air"Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin!" – mit diesen Worten bricht in Deutschland am 29. Oktober 1923 das Zeitalter der elektronischen Massenmedien an! Das Radio geht "on air". Schnell werden die Radio-Macher gute "Bekannte", die sich im Leben einnisten, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen... in Weimarer Republik, Diktatur und dem Neubeginn 1945 / verfügbar bis 23.10.2024JETZT ANSEHEN Podcast-Tipp: ARD AudiothekRadio macht GeschichteAm 29. Oktober 1923 wurde aus dem Berliner Vox-Haus die erste Radiosendung in Deutschland ausgestrahlt. Wie hat das damals revolutionäre Medium den Gang der Geschichte beeinflusst? Wann gab es die erste Live-Reportage eines Fußball-Länderspiels? Inwieweit hat Radio dem Jazz und der Popmusik zum Durchbruch verholfen? Was brachte der Rundfunk neues für die Kultur? Und welche Revolutionen hat das Radio erst möglich gemacht? - Der 15-teilige Podcast "Radio macht Geschichte" liefert einen Streifzug durch 100 Jahre Radio mit vielen spannenden Momenten und einmaligen O-Tönen. RBB Kultur, SWR Wissen und MDR Kultur haben sich für diese außergewöhnliche Produktion zum 100. Geburtstag des Radios zusammengetan.ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
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Oct 17, 2023 • 39min

WIE WAR DAS DAMALS...? Als das Radio in die Welt kam?

Am 29. Oktober 1923 ging die allererste Sendung des "Unterhaltungsrundfunks" in den Äther. Seither ist die Erfolgsgeschichte nicht mehr aufzuhalten. Das Radio hat das 20. Jahrhundert geprägt, abgebildet und auch mitgestaltet. Heute, nach 100 Jahren und in Zeiten von Podcasts und Streaming-Plattformen, ist das Radio immer noch nicht aus dem Alltag wegzudenken. Von Michael Zametzer und Christian SchaafCreditsAutor/in dieser Folge: Michael Zametzer, Christian SchaafRedaktion: Eva Kötting, Heike Simon Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKEN

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