

Alles Geschichte - Der History-Podcast
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Jun 5, 2024 • 23min
D-DAY - Und die Frauen, Kämpferinnen an allen Fronten
Sie spionierten im besetzten Frankreich, dechiffrierten deutschen Funkverkehr und nieteten Bomber zusammen. Sie schweißten in Schiffswerften, standen "ihre Frau" an der "Homefront", und: sie leisteten einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung Europas von der Naziherrschaft: Frauen im Einsatz für Militär und Kriegswirtschaft der Aliierten. Von Michael Zametzer (BR 2024)
Credits Autor: Michael Zametzer Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Christian Baumann, Caroline Ebner, Florian Schwarz Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Michaela Hampf, Corinna von List Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD History (2024): 24 h D-Day Der D-Day markiert den Startschuss zur Befreiung Westeuropas aus dem Griff der Naziherrschaft. Am 6. Juni 1944 greifen alliierte Soldaten deutsche Stellungen an gleich fünf Strandabschnitten in der Normandie an. Der Angriff erfolgt von See aus und gilt als das größte amphibische Ladungsunternehmen der Geschichte . Dieses Ereignis jährt sich nun zum 80. Mal. Doch so nah, so authentisch wurde diese Schlacht noch nie gezeigt. Amerikanische und britische Kameraleute sind in Landungsbooten, bei Beschuss am Strand und bei der Rettung Verletzter dabei. Ihr Originalmaterial, gedreht in schwarz-weiß, wurde für diese Dokumentation aufwendig bearbeitet und koloriert. Die historisch einzigartigen Aufnahmen erscheinen in Spielfilmqualität. Der Krieg bekommt Farbe. Und damit eine andere Wirkung. Wir schauen direkt in die Gesichter derer, Amerikaner, Kanadier, Briten und Deutsche, die meisten nicht viel älter als 20 Jahre. In „ 24 h D-Day“ erzählen sie ihren D-Day, den Tag den sie nie vergessen konnten. JETZT ANSEHEN Linktipp:
arte (2023): Normandie – Die vergessenen Opfer des D-Day Aus der ganzen Welt strömen Menschen in die Normandie, um der Opferbereitschaft der hier gefallenen britischen, amerikanischen und kanadischen Soldaten zu gedenken. Die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 ging als „D-Day“ in die Geschichte ein; und die einstigen Landungsstrände wurden zum Symbol des Freiheitskampfes. Die zivilen Opfer fanden hingegen lange Zeit keine Erwähnung, sie blieben Märtyrer ohne Medaillen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO/MUSIK Flugzeug innen, surren, darüber
ZITATORIN (Cormeau):Wir hoben bei einem wundervollen Sonnenuntergang in England ab, und der Flug dauerte viel länger, als er heute dauern würde. Aber dann bekam ich einen warmen Drink von meinem Flugbegleiter, und dann sah ich, wie er die Luke öffnete und mir sagte, ich solle mich bereit machen…
SPRECHER:Am 22. August 1943 sitzt die 34jährige Yvonne Cormeau in einer britischen Militärmaschine. Ihr Ziel: Die Gironde, im Südwesten Frankreichs. Im von den Deutschen besetzten Frankreich.
ZITATORIN (Cormeau): Dann sah ich das Rote Licht an meiner Seite leuchten, und wusste, wenn es grün würde, müsste ich durch die Luke springen. Das ging sehr gut, der Sog der Flugzeugpropeller trug mich fort, als säße ich in einem Lehnstuhl, es war sehr angenehm…SPRECHER:Was sich so angenehm anhört, ist ein hochriskantes, lebensgefährliches Unternehmen für die junge Frau. Denn als britische Agentin soll Yvonne Cormeau die Widerstandsgruppen der Résistance untersützen, Waffen schmuggeln, Landeplätze auskundschaften und codierte Funksprüche nach England absetzen.
ZITATORIN (Cormeau):Mein Fallschirm war weiß, schmutzigweiß, ich habe immer noch ein Stück von ihm.
ATMO weg
SPRECHER: Yvonne Cormeau ermöglichte mit ihren Funksprüchen über 140 Waffenlieferungen ins besetzte Frankreich, die von britischen Flugzeugen an vereinbarten Stellen abgeworfen wurden. Sie war eine von 600 britischen Agentinnen, die auch die größte amphibische Militäroperation der Weltgeschichte unterstützten: Die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944. D-Day!
1 ZSP BBC LondonDum dum dum dummm…
SPRECHER:Die Herausforderung für die Aliierten könnte nicht größer sein. Um erfolgreich zehntausende Soldaten, Fahrzeuge, Material an der Küste der Normandie anlanden zu können, müssen nicht nur Britische, Kanadische, Französische und US-Truppenteile perfekt zusammenarbeiten. Auch die Koordination der Teilstreitkräfte, die Verarbeitung der Geheimdienstinformationen, die Planung von Täuschungsmanövern erfordert ungeheuer viel Planung schon Jahre vor dem eigentlichen Tag der Landung.
MUSIK
SPRECHER:Zwar ist die deutsche Wehrmacht 1944, nach fast fünf Jahren Krieg, ausgebrannt und an allen Fronten auf dem Rückzug. Die Amerikaner sind in Sizilien gelandet und kämpfen sich nun durch Italien. An der Ostfront dringt die Rote Armee immer weiter Richtung Reichsgrenze vor – unter enormen Verlusten. Die westlichen Alliierten aber haben aber ein gravierendes Problem: mit jedem Kriegstag, mit jedem Mann an den Fronten in Europa und im Pazifik steigt der Bedarf an Arbeitskräften für die „Homefront“.
2 ZSP Michaela Hampf:… und vor allem auch der Bedarf an administrativen Kräften und an Menschen, die mit Logistik usw befasst waren, im Gegensatz zur tatsächlich kämpfenden Truppe…
SPRECHER: Michaela Hampf ist Professorin für nordamerikanische Geschichte an der Universität Hamburg.
3 ZSP Michaela Hampf:…und in diesem Moment wurden eben Frauen sowohl in der Zivilwirtschaft als auch in den Streitkräften enorm wichtig und man legte da besonderen Wert darauf, jetzt auch Frauen zu rekrutieren für die Armee, auch die anderen Teilstreitkräfte und die zivile Rüstungswirtschaft.
SPRECHER: Dass Frauen an der Seite von Männern mit der Waffe in der Hand kämpfen, wie es zum Beispiel in der russischen Roten Armee der Fall ist, das ist in Washington und London unvorstellbar. Allerdings hat es schon im ersten Weltkrieg Frauenverbände zur Unterstützung der kämpfenden Truppen gegeben. Diese „auxiliaries“ sollen nun auch im Zweiten Weltkrieg aufgebaut werden. Ein Spagat, sagt Michaela Hampf:
4 ZSP Michaela HampfDieser Spagat einerseits des Arbeitskräftebedarfs vor allem an Unterstützenden und Bürotätigkeiten und andererseits eben der Geschlechterrollen, die man jetzt auch im Krieg, wo alles über den Haufen geworfen wurde, möglichst bewahren wollte.
SPRECHER:Wie stark die Vorbehalte gegen Frauen im Militärdienst noch 1944, wenige Monate vor der Landung in der Normandie, sind, zeigt ein Werbefilm der US-Regierung zur Rekrutierung von Soldatinnen im „Womens Army Corps“, kurz „WACs“:
5 ZSP Archiv: WAC Werbespot 1944Hey, there goes one of those Petticoat-Soldiers. My sister wants to join the WACs – what do you think of that? – She’s crazy! What the devil a woman whants to be a soldier for? Waste of time! This is a mans war!
ZITATOR OV: Hey, da ist einer von diesen Petticoat-Soldaten. Meine Schwester möchte den WACs beitreten – was hältst Du davon? – Sie ist verrückt! Wofür zum Teufel soll eine Frau Soldatin werden? Zeitverschwendung! Das ist ein Männerkrieg!
SPRECHER: 1942, kurz nach dem Kriegseintritt der USA gegen Japan, hat der US-Kongress ein Gesetz zur Schaffung weiblicher Unterstützungsverbände für die US-Army verabschiedet. Die Frauen, die dafür rekrutiert wurden, hatten aber keinen militärischen Status. Das änderte sich schon ein Jahr später: Weil sich weit mehr Frauen zum Dienst meldeten als erwartet, wurden sie offiziell Teil der Armee: das „Women’s Army Corps“.
6 ZSP Archiv: WAC Werbespot 1944This is a mans war! What sort of Jobs may they do? – What sort of Jobs can we do? Take a look, mister! X-Ray-technicians, inspectors of army meat, teachers schooling ous soldiers…
SPRECHER: Diese sogenannten „WACs“ arbeiten in hunderten unterschiedlicher Jobs: In Lazaretten und Sanitätseinheiten, in Verwaltung, Logistik und Stabsbüros des Militärs, aber auch als Kraftfahrerinnen und Mechanikerinnen, für balistische Berechnungen von Artilleriegeschossen, Wetterbeobachtung oder die Auswertung von Luftbildern.
7 ZSP Michaela Hampf:Und man dachte sogar, dass Frauen dafür qualifizierter seien als Männer. Aber natürlich ging es um das Prinzip: „Free a man for Fight“ oder „Free man for the Fleet“, dass man eben Männer freisetzen konnte für Kampfverwendungen.
SPRECHER: Angelehnt an die „WACs“ bauen auch andere Truppenteile Frauenverbände auf: Die US-Navy, das Marine-Corps und die Küstenwache rekrutieren Frauen für ehemals männliche Aufgabenbereiche. Als Pilotinnen der Air Force fliegen sie auch Militärmaschinen unterschiedlichen Typs kreuz und quer durch das Land oder testen reparierte Maschinen. Das bedeutet für diese etwa 350.000 Frauen: Kasernierung, Ausbildung, Uniformierung. Die Infrastruktur dafür müssen aber erst noch geschaffen werden.
8 ZSP Michaela Hampf: Man musste sozusagen ein ganz neues Kontingent neu aufbauen, angefangen vom Design der Uniformknöpfe bis hin zu denen, also jeden einzelnen Bereich neu planen. Die Frauen waren getrennt, sie wurden von Männern Kommandiert. Es gab aber umgekehrt natürlich keine Kommandeurinnen von männlichen Einheiten und schwarze und weiße Frauen waren ebenso wie schwarze und weiße Soldaten vollkommen voneinander getrennt. SPRECHER: Ab 1943 werden die WACs auch auf dem Europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt, zur Vorbereitung der alliierten Landung: Sie übersetzen Funksprüche der französischen Résistance, werten Luftbilder aus, fahren Jeeps und Lastwagen im Motorpool. Die Britischen Inseln gleichen in dieser Zeit einem riesigen Heerlager – zur Vorbereitung auf die Landung.
9 ZSP Archiv: First WACs arrive in England 1943And here ist the first Contigent to arrive in England, the largest unit of women ever to be sent overseas, here they will staff training centres, man Airports and controll stations, and – like all women – their first job is to make themselves a home…!
ZITATOR OV: „Und hier ist das erste Kontingent, das in England ankommt, die größte Gruppe von Frauen, die jemals ins Ausland geschickt wurde. Hier werden sie Schulungszentren betreuen, Flughäfen und Kontrollstationen bemannen, und – wie alle Frauen – besteht ihre erste Aufgabe darin, sich ein Zuhause zu schaffen!“
MUSIK
SPRECHER:Aber auch in der Kriegsindustrie der USA fehlen Arbeitskräfte. 1941, nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA, hat die Regierung in Washington Frauen im ganzen Land dazu aufgerufen, in die Fabriken zu gehen – um die Stellen der Männer zu besetzen, die an die Front gezogen sind. Ein Propagandafilm der US-Regierung sieht ein riesiges Arbeitskräftereservoir unter den Frauen Amerikas. 10 ZSP Archiv: Werbefilm US-Frauen in der Industrie 1943In Towns all over the united states, women are called to leave their homes and take jobs. Among our young, unmarried women, and among older women, who’s children are grown, we have a large reserve. They discover that factory work is usualy not more complicated than housework. How do you like it? I love it! ZITATOR OV: In Städten überall in den Vereinigten Staaten werden Frauen dazu aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen und eine Arbeit anzunehmen. Bei unseren jungen ledigen Frauen und bei älteren Frauen mit erwachsenen Kindern haben wir eine große Reserve. Sie entdecken, dass Fabrikarbeit normalerweise nicht komplizierter ist als Hausarbeit. Wie gefällt es Ihnen? ZITATORIN: Ich liebe es!
MUSIK, darüberSPRECHER:Für diese Arbeiterinnen in der US-Rüstungsindustrie steht bis heute ein Name: „Rosie the Riveter“ – „Rosie, die Nieterin“. Eine Kunstfigur, berühmt geworden durch einen Schlager und ein Plakat.
MUSIK - kurz hoch11 ZSP Michaela HampfBei Rosie the Riveter denkt man wahrscheinlich eher noch an dieses ikonische Bild „We can do it“...SPRECHER: „We can do it!“ steht in der Sprechblase, die aus Rosies Mund kommt. Ein rotes, weiß gepunktetes Kopftuch hält die Haare zusammen, die Ärmel der blauen Arbeiterbluse sind hochgekrempelt, den Betrachtern streckt Sie ihren kräftigen Bizeps entgegen. Das Bild stammt von einer Werbekampagne des Westinghouse-Konzerns und wird vor allem nach dem Krieg als Motiv der Frauenbewegung der 1970er Jahre weltbekannt werden. Michaela Hampf:
12 ZSP Michaela HampfEs gibt aber ein etwas älteres von Norman Rockwell aus dem Jahr 43, und da sieht man eben eine gar nicht so feminine Rosie, die mit einer Nietpistole Mittagspause macht, mit einer Brotdose und ihre Füße auf einer Ausgabe von „Mein Kampf“. Norman Rockwell hat eigentlich die realistischere Darstellung gewählt. Und ich glaube, so ging es vielen Frauen, dass sie durchaus die Erweiterung dieser Handlungsspielräume, die die Rüstungsindustrien boten, zu schätzen wussten.
SPRECHER:Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wächst die Zahl der Frauen in US-Rüstungsbetrieben auf über 19 Millionen an. In den Flugzeugwerken von Boing, Lockheed und Douglas schweißen, nieten und dengeln sie an jenen Bombern und Jagdmaschinen, die für den europäischen Kriegsschauplatz bestimmt sind – und damit auch zur Vorbereitung der Landung in der Normandie. Aber auch auf Schiffswerften arbeiten Frauen, wie in der Higgins-Werft in New Orleans, Seite an Seite mit den Männern: ZITATORIN (Velma Plaisance):Du bist vorsichtig bei der Arbeit, du weißt, dass du verletzt werden kannst. Du kannst anderen Schweißern nicht beim schweißen zusehen, ohne Helm, weil du sonst geblendet wirst. Ich war einmal geblendet und hatte Gurkenscheiben auf den Augen zum Kühlen. 13 ZSP Michaela HampfUnd natürlich gehen die Geschlechterrollen nicht einfach weg, weil man sich im Krieg befindet. Und wenn man jetzt Arbeitsklamotten tragen musste oder Uniform, dann hieß es so was wie femininity suspended for the duration. Also man musste nur für die Dauer des Krieges jetzt diesen anderen Dresscode beachten.
SPRECHER:Noch in späten 1930er Jahren waren Frauen in der Industrie vielen Unternehmern ein Graus: Einer Frau das Schweißen beizubringen, schien eine völlig abwegige Vorstellung. Man fürchtete zusätzliche Investitionen. Hinzu kam die Befürchtung, dass die Amerikanische Öffentlichkeit eine derartige Abweichung vom traditionellen Rollenbild der amerikanischen Frau nicht tolerieren würde. Michaela Hampf:
14 ZSP Michaela Hampf:Dazu kommt: Die Konstruktion der männlichen Soldaten basiert natürlich sehr stark auf dem Gegensatz oder auf der Konstruktion von Frauen als Zivilistinnen. „The girl back home“, die man beschützt und zu der man zurückkehrt. Und wenn jetzt dieses Rollenbild sich so stark geändert hätte, wäre das in der Tat zum Problem geworden. Und dann wurde die Homefront als erweiterter Haushalt sozusagen konstruiert..
MUSIK
SPRECHER: Was im US-Militär die WACs sind, das entspricht beim britischen Militär den „WRENS“ des „Womens Royal Navy Service“, den Frauenverbänden der Königlichen Britischen Marine.
MUSIK
SPRECHER:Im unscheinbaren, streng geheimen Anwesen von Bletchley Park nahe London arbeiten Ende 1944 7.500 dieser „Wrens“ als Kryptographinnen, Codeknackerinnen und Analytikerinnen. Berühmtheit erlangt Bletchley Park durch die Entschlüsselungstechniken von Mathematikern wie Alan Turing. Seine Maschinen, die sogenannte „Turing-Bombe“ und der raumgroße Colossus-Computer, werden hauptsächlich von Frauen bedient – in der „Hut 6“, einem kargen Decodierraum mit funzeligem Licht, wo die Frauen unter großem Stress stundenlang Nachrichten entschlüsseln.
ZITATORIN (Eleonore Ireland):Es war eine riesige Maschine. An einem Ende befand sich dieser große Schalterblock, das meiste davon, und dahinter ein weiteres großes Metallgitter, gefüllt mit Ventilen und Drähten. Und man musste den Code auf der Rückseite eingeben.
SPRECHER:Eleonore Ireland, Jahrgang 1926, arbeitet als Codebrecherin in Bletchley Park, entschlüsselt die Funksprüche der Deutschen in den Monaten vor der Landung. Von den Erfolgen ihrer Arbeit bekomt sie allerdings nichts mit. Überhaupt: Die Arbeit in Bletchley Park bleibt auch nach dem Krieg offiziell streng geheim -bis 1974. ZITATORIN (Eleonore Ireland):Es hätte uns ein wenig Auftrieb gegeben, wenn wir gewusst hätten, was wir erreicht haben. Und natürlich war es am D-Day, als wir nach Frankreich fuhren, von entscheidender Bedeutung. Was wir getan haben, war absolut lebenswichtig.
SPRECHER:Unter den Frauen von Bletchley Park sind auch einige „höhere Töchter“ aus der aristokratischen Oberschicht, deren Familien das Projekt finanziell unterstützen: Sie sind gut ausgebildet, sprechen oft mehrere Fremdsprachen und – sie gelten als „respektabel“.
15 ZSP Michaela HampfUnd da war zumindest in Großbritannien bei diesen ganz enorm kriegswichtigen Bereich auch ein Augenmerk darauf, dass man da jetzt nicht ins Gerede kam, sondern, ähm, respektable Frauen, wie es zeitgenössisch hieß, beschäftigte.
MUSIK
SPRECHER: Respektabel, Gut ausgebildet, feminin, und – selbstbewusst. So sollen auch die Frauen sein, die nicht nur in Amts- und Schreibstuben, an Werkbänken und Decodiermaschinen gegen die Nazis kämpfen, sondern im Feindgebiet selbst, hinter den Linien. Als Agentinnen des britischen Geheimdienstes.
16 ZSP Corinna von ListAlso da gibt es sicherlich dann zwei Jobs, die besonders wichtig werden.
SPRECHER: Corinna von List ist Historikerin und hat die Biographien von Agentinnen und Widerstandskämpferinnen im besetzten Frankreich erforscht…
17 ZSP Corinna von ListDas ist einmal der Einsatz als Funkerin und dann auch die Frauen, die im Kurierdienst eingesetzt werden. Man setzt Kuriere ein, die eben dann diese Nachricht zwischen der Person, die etwas ausspioniert hat, die bringt die Nachricht so zur Funkerin und die Funkgerät sendet dann in der Regel auch codiert, dann rüber nach England.
SPRECHER: Zum Einsatz kommen zum Einen Französinnen, die in den unterschiedlichsten Wiederstandsnetzwerken der Résistance kämpfen. Es gibt aber auch Frauen, die von England aus ins Land geschleust werden – als Mitglieder des Special Operations Executive, kurz SOE.Diese Organisation soll die „Ungentlemanly warfare“ auf das europäische Festland tragen – also Kriegführung mit allen, auch subversiven, Mitteln: Sabotage, Spionage, Attentate im besetzten Frankreich.
18 ZSP Corinna von List:Man sucht da Leute für bestimmte Einsätze im Ausland und dann war bei Frauen sicherlich ein ganz starkes Kriterium waren die Sprachkenntnisse. Und viele dieser Agentinnen haben auch, sage ich mal, Elternteile aus zwei Ländern. Also britisch- französisch oder belgisch-britisch. Und dann auch noch die Fähigkeit zum Beispiel: Ich meine, man muss ja mit einer falschen Identität leben können, das muss man ja auch lernen. Ein Großteil , ob sie dann Funker sind oder Agentinnen, die als Kuriere arbeiten, werden auch per Fallschirm bei Nacht abgesetzt. Und auch das muss trainiert werden.
SPRECHER: Im Fall einer Verhaftung sind die Frauen auf sich allein gestellt. Zwar haben sie in ihrer Ausbildung gelernt, einem Verhör eine gewisse Zeit zu widerstehen, um anderen Résistance-Kämpfern Zeit verschaffen. Die Realität sieht aber oft anders aus, sagt die Historikerin Corinna von List.
19 ZSP Corinna von List: Ich meine, allein schon der Schreck, überhaupt verhaftet zu werden, wenn man nie irgendwas mit der Polizei zu tun hatte, ist glaube ich schon psychologisch nicht unerheblich. Und dann ging es ja nicht nur um die Polizei, denn sowohl die deutsche Abwehr als auch die Gestapo haben, wenn sie Informationen haben wollten, auch gefoltert. Und auch gegenüber Frauen.
SPRECHER:Im Zweifel bleibe Frauen bei der Gefangennahme oft die Möglichkeit, das eigene Rollenklischee zu bedienen, sagt Corinna von List…20 ZSP Corinna von List:Frauen hatten zwar einen gewissen Schutz und konnten sich ein bisschen schützen, wenn sie auf sehr weiblich machten, oder: Ich verstehe ja von Politik gar nichts und ich weiß das nicht so genau. Das konnte gelingen.
SPRECHER:Ist die Agentin aber einmal enttarnt, kann sich ihr feminines Rollenbild schnell gegen sie selbst richten:
21 ZSP Corinna von List: Das galt immer irgendwie als nicht weiblich und als Verrat. Und nur andere sagte ich auch. Man kann natürlich schlecht behaupten, man weiß von nichts und ist politisch inaktiv und tut nix. Wenn sich dann plötzlich der geladene Revolver in der Küchenschublade findet.
SPRECHER:Von den 600 Frauen, die für die SOE rekrutiert werden, sind 39 für den Einsatz im besetzten Frankreich vorgesehen. 13 von Ihnen kommen dabei ums Leben: Von der Gestapo verhaftet, gefoltert, erschossen, oder in ein Konzentrationslager deportiert und ermordet.
22 ZSP Archiv: D-DayDeutsche Rundfunkmeldung
SPRECHER: Mit der erfolgreichen Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 gelangen Soldatinnen, WACs und Wrens auch auf das französische Festland, zur unterstützung der Kampfverbände in der Schlacht um Frankreich.
23 ZSP Archiv: De Gaulle zu Befreiung von ParisParis! Paris outragé! Paris brisé! Paris martyrisé! Mais Paris libéré! Liberé par loui-meme… darüber
SPRECHER:Am 25. August 1944 wird Paris befreit. Charles de Gaulle, den Anführer der freien französischen Kräfte, reklamiert in seiner Befreiungsrede den Sieg über die Besatzer für die französischen Truppen und den Zivilen Widerstand. Der Grundstein für den „Résistance-Mythos“, wie die Historikerin Corinna von List veststellt. Ein Mythos, in dem die Frauen lange Zeit kaum Platz finden…
24 ZSP Corinna von List: Die haben insofern einen relativ schlechten Platz eingenommen, weil sie ja an der unmittelbaren militärischen Befreiung dann nicht mehr beteiligt waren. Und es bleiben dann eigentlich nur so zwei, drei Frauen übrig, die dann als Märtyrerin gefeiert werden, weil sie eben in der Regel auf sehr tragische Weise zu Tode kommen.
MUSIK
SPRECHER:Nach dem Ende des Kriegs 1945 kommt auch für die USA und Großbritannien die Demobilisierung, und die langsame Rückkehr zur normalen Zivilwirtschaft. Und - die Frauen in Uniform oder im Blaumann?
25 ZSP Michaela Hampf:Die Frauen im Militär wurden früher demobilisiert als die Männer in der Vorstellung, dass sie nach Hause zuerst zu Hause sein würden und das wieder alles vorbereiten für die Heimkunft der Männer. Und genauso erwartete man natürlich auch, dass sie die Jobs, die zivilen Jobs dann wieder räumen.
SPRECHER:Und in der öffentlichen Meinung ist die Vorstellung verbreitet, dass man nun wieder zur Vorkriegsgesellschaft zurückkehren könne, und den Rollenbildern, dennoch, sagt die Historikerin Michaela Hampf…
26 ZSP Michaela Hampf..hat die Beschäftigung von Frauen in der Rüstungsindustrie eine enorme Bewegung in die Gesellschaft gebracht und auch auf dem Arbeitsmarkt durchaus nachhaltig etwas verändert.

Jun 5, 2024 • 23min
D-DAY - Operation Overlord, Landung in der Normandie
Der D-Day, der Decision Day wurde als Tag der Entscheidung von den Alliierten genauso wie von Nazi-Deutschland erwartet. Über zwei Jahre hatten sich vor allem Briten und Amerikaner auf eine der größten Militäroperationen der Geschichte vorbereitet. Als die Alliierten dann am 6.Juni 1944 in der Normandie tatsächlich an Land gingen, geschah dies unter hohen Verlusten. Heute gilt die Invasion nicht mehr als die Entscheidungsschlacht, als die sie die Zeitgenossen sehen wollten, aber als Tag von hoher symbolischer Bedeutung, wenn es um die Nachkriegsordnung in West-Europa ging. Von Steffi Illinger (BR 2024)
Credits Autorin: Steffi Illinger Regie: Silke Wolfrum Es sprachen: Christoph Jablonka, Christian Baumann Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Dr. Peter Lieb Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD History (2024): 24 h D-Day Der D-Day markiert den Startschuss zur Befreiung Westeuropas aus dem Griff der Naziherrschaft. Am 6. Juni 1944 greifen alliierte Soldaten deutsche Stellungen an gleich fünf Strandabschnitten in der Normandie an. Der Angriff erfolgt von See aus und gilt als das größte amphibische Ladungsunternehmen der Geschichte . Dieses Ereignis jährt sich nun zum 80. Mal. Doch so nah, so authentisch wurde diese Schlacht noch nie gezeigt. Amerikanische und britische Kameraleute sind in Landungsbooten, bei Beschuss am Strand und bei der Rettung Verletzter dabei. Ihr Originalmaterial, gedreht in schwarz-weiß, wurde für diese Dokumentation aufwendig bearbeitet und koloriert. Die historisch einzigartigen Aufnahmen erscheinen in Spielfilmqualität. Der Krieg bekommt Farbe. Und damit eine andere Wirkung. Wir schauen direkt in die Gesichter derer, Amerikaner, Kanadier, Briten und Deutsche, die meisten nicht viel älter als 20 Jahre. In „ 24 h D-Day“ erzählen sie ihren D-Day, den Tag den sie nie vergessen konnten. JETZT ANSEHEN Linktipp: Deutschlandfunk Kultur (2024): D-Day vor 80 Jahren – Das große Sterben für die Freiheit In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 begann im Zweiten Weltkrieg die Landung der Alliierten in der Normandie, um den sogenannten Atlantikwall des Deutschen Reiches zu erstürmen. Keine 24 Stunden hielt das Bollwerk dem Angriff stand. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:SPRECHEREs ist eine der wichtigsten Wettervorhersagen der Geschichte:drei Wetterdienste arbeiten an den Prognosen, um eine ideale Wetterkonstellation über dem Nordatlantik und dem Ärmelkanal zu ermitteln: Sonnenaufgang bei Ebbe, der Himmel möglichst nicht wolkenverhangen und nicht zu viel auflandiger Wind. Denn Fallschirmspringer und Bombenflieger brauchen gute Sicht, die Böden müssen trocken sein, damit schweres Kriegsgerät nicht im Matsch versinkt, für die Landungstruppen soll die See ruhig sein und der Wasserstand niedrig, damit die vom Gegner errichteten Strandhindernisse zu sehen sind.
GERÄUSCH – WIND-WELLEN-WASSER, STÜRMISCH unter Sprache blendenSPRECHERDoch Anfang Juni 1944 herrscht über dem Nordatlantik ein Tiefdruckgebiet, es ist ungewöhnlich kalt und stürmisch für die Jahreszeit. Ungünstig – denn die Strategen wünschen sich optimale meteorologische Bedingungen für eine der größten Militäraktionen der Menschheitsgeschichte: der Invasion und Befreiung Westeuropas von der Naziherrschaft. An der südenglischen Küste haben die Alliierten ein gigantisches Truppenaufgebot zusammengezogen – sie warteten auf den D-Day – den Decision-Day, den Tag der Entscheidung:
GERÄUSCH – WIND – WELLEN -WASSER-STÜRMISCH - hochziehen
SPRECHERDer Militärhistoriker Dr. Peter Lieb beschäftigt sich mit der Invasion seit seiner Studienzeit, als er während eines Auslandsemesters den berüchtigten Omaha Beach mit seinen endlosen Reihen von Kriegsgräbern besucht hat.
O-Ton 1: Dr. Peter Lieb 0´45“1/ [00:02:51] Der Name D-Day bedeutet Decision-Day, also Entscheidungstag. Und in der Tat ist für die damaligen Beteiligten, sowohl auf alliierter als auch auf deutscher Seite - dieser Tag wird als der Entscheidungstag des Krieges gesehen, ist ein Tag für die Alliierten, der mit großen, sehr, sehr großen militärischen Risiken behaftet zu sein scheint. Und sie glauben, wenn sie jetzt die Landung nicht schaffen sollten, würde es Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis sie wieder erneut versuchen könnten, in Westeuropa zu landen…((Auf der anderen Seite haben die Deutschen, da insbesondere die nationalsozialistischen Machthaber und auch die NS Propaganda, haben diesen D-Day oder diese alliierte Landung in Westeuropa zu einer Entscheidungsschlacht des Krieges hochstilisiert.))
SPRECHEREigentlich haben die Deutschen bereits im Mai 44 mit einem Angriff auf die von ihnen besetzte nordfranzösische Küste gerechnet, und auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wurde von den Alliierten die Invasion für Mai angesetzt und wieder verschoben – man war mit den militärischen Vorbereitungen noch nicht weit genug. Zudem widersprechen sich die Wetterprognosen der amerikanischen und britischen Dienste, die gewünschte Fünftage-Vorhersage grenzt im Hinblick auf die damaligen Möglichkeiten an Kaffeesatzleserei.
O-Ton 2: Dr. Peter Lieb2 / [00:10:35] …das Wetter spielt in der Tat eine ganz wichtige Rolle an diesem D-Day. Und zwar, weil die Deutschen andere Informationen haben als die Alliierten. Die Alliierten wissen, das sich am 6. Juni so ein kleines Wetterloch auftut. Vorher und nachher ist eine Schlechtwetterfront vorhergesagt und für den 6. Juni gibt es ein kleines Fenster …. Die Deutschen hingegen, ihre Wettervorhersage sagt, 6.Juni schlechtes Wetter. Da werden die Alliierten nicht angreifen, da können sie ihre Luftwaffe nicht einsetzen. Da ist hoher Seegang, da können sie ihre Landungsboote nur mit Schwierigkeiten einsetzen.SPRECHEREin fataler Irrtum.Die Planung und Durchführung der Operation Overlord, also der Landung, liegt bei General Dwight D. Eisenhower, dem Oberbefehlshaber über die alliierten Truppen, über Streitkräfte aus Großbritannien, Amerika, Kanada, und weiteren Staaten sowie von Exil-Armeen aus Frankreich und Polen. Nach einer zweiten durchwachten Nacht und Unmengen von Kaffee und Nikotin ringt sich General Eisenhower schließlich zu einer Entscheidung durch, er befiehlt die Invasion:
Archiv 1:„Soldiers, Sailors, and Airmen of the Allied Expeditionary Force! You are about to embark upon the Great Crusade, toward which we have striven these many months. The eyes of the world are upon you. …The tide has turned! The free men of the world are marching together to Victory!
I have full confidence in your courage, devotion to duty and skill in battle. We will accept nothing less than full Victory!“
OVERVOICE-SPRECHER:Soldaten auf See wie in der Luft, ihr seid dabei, euch für einen großen Kreuzzug einzuschiffen. Die Augen der Welt sind auf euch gerichtet. …Das Blatt hat sich gewendet! Freie Männer von überall auf der Welt marschieren gemeinsam dem Sieg entgegen. Ich habe volles Vertrauen in Euren Mut, euer Pflichtgefühl und eure Kampfesfähigkeit.Wir akzeptieren nur einen vollständigen Sieg.
SPRECHER mit Militärmusik unterlegenIm Morgengrauen des 6.Juni überquert eine gewaltige Armada den Ärmelkanal: 1213 Kriegsschiffe und 4124 Landungsboote stechen in See.mit Militärmusik ausblendenDer „längste“ Tag der Geschichte hat begonnen.
O-Ton 3: Dr. Peter Lieb1/ [00:01:30] …Also der D-Day hat eine herausgehobene politische Bedeutung, …Was er weniger hat, ist, …dass lange Zeit behauptet wurde, der D-Day hätte, wäre eine Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges gewesen oder wäre ein Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges gewesen. Das kann man also nicht mehr sagen. Das zu diesem Zeitpunkt war eigentlich jetzt in der Rückschau gesehen, der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich bereits verloren. Für die Zeitgenossen hat sich das durchaus anders dargestellt. Da war nicht so ganz klar, ob die Deutschen vielleicht noch Chancen haben, den Krieg zu gewinnen. Das haben die Deutschen geglaubt, das haben die Alliierten geglaubt. … (02:18)
SPRECHER…und im Vorfeld lange um die richtige Strategie bei der Befreiung Europas gerungen: Bereits Ende 1941 war die Entscheidung zwischen Briten und Amerikanern gefallen – Germany first! Zuerst sollte das nationalsozialistische Deutschland besiegt werden, bevor sich die Amerikaner den weiteren weltweiten Kriegsschauplätzen zuwenden wollten.Fast zweieinhalb Jahre haben die Vorbereitungen für eine amphibische Landung ungeheuren Ausmaßes gedauert, also einer Landung der Marinetruppen an einer feindlich besetzten Küste, nur von der Seeseite aus und ohne schützende Häfen, von denen sich aus Truppenbewegungen und Kriegsmaterial organisieren lassen. Eine militärische Großoperation, bei der sich die westlichen Verbündeten immer wieder zusammenraufen müssen: auf zahlreichen Konferenzen ringen Briten und Amerikaner um die richtige Strategie: die Amerikaner möchten schnell in Westeuropa einmarschieren – doch eine erste Operation, um den Hafen von Dieppe zu besetzen, scheitert 1942 kläglich.Die Briten fühlen sich bestätigt:
O-Ton 4: Dr. Peter Lieb1 / 06:12 … die Briten sagen Nein, … Die deutsche Wehrmacht ist viel zu stark. Die Deutschen haben noch nach wie vor eine starke Luftwaffe und wir müssen erst mal Zeit gewinnen und versuchen, die Deutschen an der Peripherie zu treffen. Und das wäre das Mittelmeer. Da haben die Briten natürlich auch eigene politische und wirtschaftliche Interessen, Sicherung der Seewege nach Indien. …Und zunächst setzen sich auch die Briten durch, in dieser Diskussion, führen den Amerikanern vor Augen, dass eine Landung 1942 in Europa nicht möglich ist. Und so kommt es zur ersten großen amphibischen Landung des Krieges durch die Alliierten im November 1942 in Nordafrika, in Marokko und in Algerien. Als Folge davon mussten sich die Deutschen dann einige Monate später aus Nordafrika zurückziehen und die Alliierten landen in Süditalien im Juli 1943. …
SPRECHER Auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wird der Angriff der Alliierten an der französischen Westküste erwartet: Hitler hat bereits im Herbst 1943 eine Weisung herausgegeben, dass sich von nun an alle Verteidigungsbemühungen verstärkt auf den Westen fokussieren sollen.
ZITAT / Overvoice-Sprecher:Die Gefahr im Osten ist geblieben, aber eine größere im Westen zeichnet sich ab: die angelsächsische Landung!O-Ton 5: Dr. Peter Lieb((Ein erster symbolischer Akt ist, dass der bekannteste deutsche Militär des Zweiten Weltkriegs, der Generalfeldmarschall Rommel, …dass dieser populärste deutsche General im Herbst 1943 in den Westen geschickt wird, um dort die Maßnahmen zu treffen für die Verteidigung. Und damit zeigt das NS-Regime der deutschen Bevölkerung und auch den eigenen Soldaten, schaut her, unser bester Mann ist jetzt im Westen und wird dafür sorgen, dass wir dort erfolgreich die Alliierten abwehren können.)) Jetzt gibt es allerdings ein Problem: Die Deutschen haben bereits seit Ende 1941 begonnen, Befestigungsanlagen entlang der Küste zu errichten, den sogenannten Atlantikwall. Aber dort ist in den ganzen Jahren nicht viel geschehen. Das sind nur vorbereitete Stellungen, aber nur vereinzelte Bunkeranlagen. Und als jetzt Rommel nach Frankreich kommt und oder in den Westen, auch in den Niederlanden und in Belgien, beginnt er massiv diesen Atlantikwall zu verstärken.
SPRECHER Doch das beste Bunkersystem nützt nichts, wenn es an Nachschub fehlt. Die deutsche Armee ist durch den mehrjährigen Mehrfrontenkrieg aufgebraucht. Nun sollen mangelhaft ausgebildete Soldaten die Küste im Westen verteidigen, Jugendliche in Uniform und zwangsrekrutierte Osteuropäer aus den annektierten Gebieten. Auch fehlt es an Munition – und zahlreiche sich überlagernde Hierarchieebenen in Wehrmacht und Waffen-SS verhindern schnelle Einsätze.Und im entscheidenden Moment schätzen die Deutschen nicht nur die Wetterlage falsch ein:
Archiv 2„03:24…Der Angriff gegen die Küsten Europas, seit langem der Gegenstand von gespanntesten Hoffnungen und Erwartungen der Völker hat Gestalt begonnen. Die Briten und Amerikaner haben es an Versuchen, auf anderem Wege zu diesem Ziel zu kommen, nicht fehlen lassen…12:27 bisher hat der Feind die Tiefe der Befestigungen an keiner Stelle zu durchstoßen vermocht…13:01…das, was der Gegner zum gegenwärtigen Zeitpunkt braucht, sind geschützte Landeplätze für weitere Anlandungen, deshalb zielt er ja auf die Flussmündungen…“
SPRECHERSo ein militärpolitischer Kommentar vom 30.Mai 1944. Tatsächlich erwartet die deutsche Seite die Invasion viel weiter nördlich, an der engsten Stelle des Ärmelkanals, bei Calais oder der Flussmündung der Seine. Selbst als das Inferno dann wirklich losbricht, glaubt die deutsche Wehrmacht anfangs noch an ein Täuschungsmanöver. GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEG
SPRECHERDabei hatte Operation Overlord schon lange vor dem eigentlichen Tag der Invasion begonnen:
O-Ton 6: Dr. Peter Lieb1/ 12:40 Die Voraussetzung für das Gelingen einer jeden amphibischen Landung ist die Luftherrschaft und die Alliierten…führen den Luftkrieg in zwei Dimensionen. Erstens den Luftkrieg über dem Deutschen Reich, wo es ihnen gelingt, zur Jahreswende 43/ 44 die Luftherrschaft zu gewinnen und die deutsche Jagdwaffe praktisch auszuschalten.GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEGSPRECHERAber auch Nordfrankreich überziehen die Alliierten mit einem massiven Bombardement – zerstören Seine-Brücken und Eisenbahnknotenpunkte, um die Nachschubwege für die deutsche Wehrmacht auszuschalten.
O-Ton 7: Dr. Peter Lieb1/ 13:28... Und das Ganze führt zu großen Verlusten unter der französischen Zivilbevölkerung. Und es gibt große Diskussionen auf der alliierten Seite. Inwieweit ist das Ganze militärisch gerechtfertigt, diese Bombardierungen? Man will ja schließlich die Franzosen befreien und gleichzeitig bombardiert man sie. …Man muss sich immer vor Augen halten, dass Frankreich nach Deutschland dasjenige Land im Zweiten Weltkrieg ist,… wo das am meisten bombardiert worden ist. Es sterben 60.000 Franzosen …und die gerade im Frühjahr 1944, als dieser Luftkrieg über Frankreich intensiviert wird, …droht die Stimmung in der französischen Bevölkerung zu kippen, … (16:56 Und noch dazu kommt dann der General de Gaulle, der die französische Gegenregierung in London gebildet hat und die auch sagt Leute, hört auf zu bombardieren. Die meine französischen Landsleute stellen sich sonst gegen euch. Und das Ganze wird dann auch im kurz vor dem D-Day ja auch diese Bombardierungen etwas zurückgefahren, so ab April, Mai aber im Zuge des D-Day selbst in den kommenden Wochen in der Normandie selbst erreichen die ja noch mal eine neue Intensität diese Bombardierungen.)
GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEGSPRECHERAuch der eigentliche D-Day beginnt nicht auf offener See oder an der Küste. 0 Uhr 18, nördlich von Caen: Bereits um kurz nach Mitternacht landen die ersten alliierte Fallschirmspringer im Hinterland, nahe der normannischen Dörfer und Städte.Ihre Mission: Wichtige strategische Punkte unter ihre Kontrolle bringen, Brücken besetzen, die Zugänge zu den Landungsstränden sichern.In mehreren Wellen regnen 18.000 Soldaten vom Himmel herab, doch vielfach misslingen Punkt-Landungen: über Quadratkilometer verstreut irren die Soldaten durchs Gelände. Auch Bombardements misslingen, die tiefliegende Wolkendecke verhindert die Sicht – teils kehren die Bomber voll beladen nach England zurück oder verfehlen ihr Ziel.Wieder trifft es die Zivilbevölkerung. Über den Rundfunk wendet sich General Eisenhower auch an die Franzosen:Archiv 3“People of Western Europe! The landing was made this morning on the coast of France by troops of the allied expeditionary force. This landing is part of the concerted united nations plan for the liberation of Europe,… To members of resistance movements, whether led by nationals or by outside leaders, I say: Follow the instructions you have received. To patriots who are not members of organized resistance groups, I say: Continue your passive resistance, but do not needlessly endanger your lives. Wait until I give you the signal to rise and strike the enemy.“
OVERVOICE-SPRECHER:Die Landung durch die alliierten Expeditionsstreitkräfte an der französischen Küste ist erfolgt. Diese Landung ist Teil eines konzertierten Plans der Vereinten Nationen zur Befreiung Europas. Mitgliedern der Resistance, ob angeführt von Führern in und außerhalb Frankreichs, sage ich: Folgt den Instruktionen, die ihr erhaltet. Patrioten, die nicht Mitglieder organisierter Widerstandsgruppen sind, sage ich, setzen Sie Ihren passiven Widerstand fort, aber gefährden Sie nicht Ihr Leben. Warten Sie, bis ich Ihnen das Signal gebe, sich zu erheben und den Feind anzugreifen.
SPRECHERAb dem Morgengrauen, um 5 Uhr 30, nehmen 28 Schlachtschiffe der Alliierten fünf normannische Strände unter Beschuss:Der am härtesten umkämpfte Landeabschnitt ist der Omaha Beach. Ein schmaler, langegezogener Strandstreifen, dahinter eine 30 Meter hohe Steilküste – und auf dieser sitzen etwa 500 Wehrmachtssoldaten, verschanzt in ihren Bunkeranlagen. Am Strand haben sie Hindernisse aufgebaut, die sogenannten Tschechenigel, Panzersperren aus vernieteten Stahlpfosten.Hier sollen die amerikanischen GIs an Land gehen – und von Anfang an ist klar: Viele werden diesen Moment nicht überleben.
O-Ton 8: Dr. Peter Lieb2 / [00:05:52] …also dass dann die Landungsklappen runter gehen von den Booten und dann schießt ein deutsches MG rein und praktisch die ganze Besatzung kann da sofort innerhalb von wenigen Sekunden getötet werden. …Dies, das passiert auch besonders am Omaha Beach, also an einem der fünf alliierten Landungsabschnitten …auch selbst an den anderen Landungsabschnitten, wo es vergleichsweise ruhig rund läuft für die Alliierten. Beispielsweise am Juno Beach, wo die Kanadier landen. Selbst dort, in der ersten Welle, haben die Verluste von über 50 %.
SPRECHERAuch den alliierten Militärstrategen ist bewusst, dass sie die Soldaten der ersten Welle auf eine Höllenfahrt schicken: sie rechnen mit bis zu 10.000 Toten an diesem Tag.Der Militärhistoriker Dr. Peter Lieb:
O-Ton 9: Dr. Peter Lieb 2 / [00:09:09]…. Aber, und das muss man auch sagen, das zeigt dann doch auch dabei die Alliierten sind Demokratien, wo das Menschenleben doch deutlich mehr zählt als in einer Diktatur. Die Soldaten sollten die bestmögliche Ausbildung kriegen…, für dieses schwierige Unternehmen. …monatelang üben die Alliierten immer wieder diese Landungsabläufe an der südenglischen Küste. Es ist alles ganz minutiös geplant, mit Artilleriebeschuss aus der Luft, von der See her und auch mit Luft Bombardements, …das es aber da zu hohen Verlustraten kommen würde, das war jedem militärischen Planer bewusst, aber anders wäre die Landung da gar nicht möglich gewesen in Westeuropa und damit die Befreiung.
Ev. GERÄUSCH – von Militärflugzeugen und Bombardierungen
SPRECHERIn einem der Landungsboote, die auf den Omaha-Beach zusteuern, sitzt der Kriegsfotograf Robert Capa, um ihn herum sich übergebende Soldaten – sie sind seekrank von der stürmischen Überfahrt. Und haben vermutlich Todesangst. Seine insgesamt 11 erhalten Fotos von der Landung sind ikonisch, sie haben das Bild von der Invasion bis heute geprägt: Ev. GERÄUSCH – FOTOKLICKEN, MEHRMALS, kombiniert mit Geräuschen von Militärflugzeugen und Bombardierungen Unscharf - ein Soldat, schwimmend in den Fluten des Atlantiks, die Augen weit aufgerissenFOTOKLICKENSoldaten watend durchs knietiefe Wasser, vorbei an zerstörten Panzern… Auch der Fotograf Robert Capa watet mit. In seinen Erinnerungen schreibt er: ZITAT 1/ Overvoice-Sprecher: Robert CapaDas Wasser war kalt und der Strand noch mehr als hundert Meter entfernt. Die Kugeln rissen Löcher in das Wasser um mich herum und ich machte mich auf den Weg zum nächsten Stahlhindernis. Zur gleichen Zeit traf dort ein Soldat ein, und für ein paar Minuten teilten wir uns die Deckung.FOTOKLICKENBlickrichtung Strand: aufsteigender Rauch von Gewehrsalven, zwischen umherirrenden Soldaten unscharf liegende Körper, tot, verwundet …
ZITAT 2/ Overvoice-Sprecher: Robert CapaErschöpft vom Wasser und von der Angst lagen wir flach auf einem kleinen Streifen nassen Sandes zwischen Meer und Stacheldraht. Solange wir flach dalagen, bot uns die Neigung des Strandes einen gewissen Schutz vor den Maschinengewehrkugeln, aber die Flut drängte uns gegen den Stacheldraht und die Gewehrsalven.
SPRECHERAls Robert Capa selbst an Land geht, zittern seine Hände so stark, dass er zunächst kaum den Film in seine Kamera einlegen kann.
ZITAT 3/ Overvoice-Sprecher: Robert CapaIch hielt einen Moment inne … und dann wurde mir schlecht.Die leere Kamera zitterte in meinen Händen. Es war eine neue Art von Angst, die meinen Körper von den Zehen bis zu den Haaren erschütterte und mein Gesicht verzerrte.
GERÄUSCHAKZENT ausblenden
SPRECHERRobert Capa überlebt das Gemetzel, weil er sich zu Sanitätern auf ein Boot flüchten kann. Doch die Amerikaner müssen befürchten, dass der Einsatz am Omaha-Beach für sie in einem Debakel endet, sie erwägen sogar einen Abbruch – erst um 15 Uhr 30 haben sie alle deutschen Widerstandsnester erobert. Die Gegenwehr ist gebrochen, Omaha-Beach und die vier weiteren Strände sind unter alliierter Kontrolle – für den Preis von geschätzt 4000 Toten und Verwundeten. MUSIKAKZENTAm Ende dieses längsten Tages können Amerikaner, Briten, Kanadier rund 154.000 Soldaten an Land bringen, sie haben Brückenköpfe gebildet, bereits einen Tag später legen sie die sogenannten Mullberrys an, zwei künstlich auf hoher See errichtete Häfen, mittels denen der Nachschub gelingt.Doch die Landung ist erst ein Anfang: Es folgen langwieriger Kämpfe, die Wehrmacht leistet verbissen Widerstand. Besonders das unübersichtliche Gelände bereitet den Alliierten Schwierigkeiten – die Bocage, Weideland durchzogen von Hecken und typisch für die Normandie.Eine Zäsur setzt erst die Befreiung von Paris Ende August 1944.MUSIK – getragen, neutral SPRECHERHeute ist die Invasion in der Normandie allgegenwärtig – auf zahlreichen Soldatenfriedhöfen hinter den Landungsstränden genauso wie in rund 30 Museen. Früher waren es vor allem die Veteranen, die zur Traumabewältigung hierher zurückkamen, heute ist der Gedenktourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Normandie. Zu den Gedenkfeierlichkeiten an runden Jahrestagen reisen führende Politiker aus der aller Welt an, 2004 war mit Gerhard Schröder erstmals auch ein deutscher Kanzler dabei:
O-Ton 9: Dr. Peter Lieb3 / [00:08:08] …Der D-Day ist der Fixpunkt für das alliierte Gedenken,… besonders auch im Kalten Krieg, um einen Gegenpunkt zu setzen gegen die Sowjetunion, die den Großen Vaterländischen Krieg feiert, … und sich die Sowjetunion zum alleinigen Sieger sozusagen über Nazideutschland, über Hitlerdeutschland stilisiert. Und dem wollen die Alliierten etwas entgegensetzen. Zu Recht. Also …Nazideutschland ist nicht allein von der Sowjetunion besiegt worden, die von einer alliierten Koalition besiegt worden aus Sowjetunion, Amerikanern, Briten und vielen anderen Ländern. Und so zu sagen ist …das Gedenken an die Day auch ein Gegenpunkt zur der sowjetischen Gedenkkultur und hat auch wegen in der heutigen Zeit, Ukrainekrieg usw. natürlich wieder eine neue Dimension.
SPRECHEREin symbolisch aufgeladener Tag – damals wie heute.Von den Zeitgenossen erwartet als Tag der Entscheidung – heute Gedenktag für das Ringen der freiheitlich-demokratischen Welt gegen eine mörderische Diktatur.

May 23, 2024 • 24min
DAS GRUNDGESETZ - … und seine vier Mütter
"Männer und Frauen sind gleichberechtigt" heißt es im Artikel 3 des Grundgesetzes. Heute eine Selbstverständlichkeit. Und doch - so selbstverständlich ist der Artikel nicht. Vier Frauen mussten dafür kämpfen, damit er heute so im Grundgesetz stehen kann. Von Gerda Kuhn (BR 2007)
Credits Autorin: Gerda Kuhn Regie: Susanne Weichselbaumer Es sprachen: Armin Berger, Sabine Kastius, Christiane Blumhoff, Heiko Rupprecht Redaktion: Brigitte Reimer Besondere Linktipps der Redaktion:ABBA – unvergessen und heute noch Kult. Es ist die weltweit erfolgreichste Band der späten 70er Jahre. In diesem Frühjahr jährt sich ihr legendärer Auftritt und Sieg beim Grand Prix d‘ Eurovision zum 50. Mal – damals Startschuss für ihre großartige internationale Karriere. Entlang ihrer Welthits von 1976 bis 1980 beschreibt der Film Aufstieg und Ruhm der Kultband und erzählt die unvergleichliche Geschichte einer der größten Bands der Musikgeschichte. Er folgt ihren Höhen und Tiefen: Von ihrem legendären Eurovisionssieg mit "Waterloo" 1974 bis hin zu ihren vielen Mega-Chart-Hits nimmt der Film das Publikum mit auf eine Achterbahnfahrt der Liebe, des Kampfes, des Ruhmes und natürlich ihrer Songs, die die Zeit überdauert haben. JETZT ANSEHEN ARD (2024): Archivradio – Geschichte im Original Das Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte, von der Grundgesetzunterzeichnung, Vereidigung des ersten Bundespräsidenten oder den Abstimmungen im Parlamentarischen Rat. JETZT ANHÖREN Linktipps: SWR (2022): Männer und Frauen sind gleichberechtigt!? – Das Grundgesetz Lange Zeit sind Frauen beim Bundesverfassungsgericht in der Minderheit. Auch im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz Ende der 1940er Jahre berät und verabschiedet, sitzen nur vier Frauen. Eine von ihnen ist die SPD-Politikerin Elisabeth Selbert, die für die volle Gleichberechtigung der Frauen streitet und gegen den Widerstand ihrer männlichen Kollegen eine Neuregelung des Familienrechts durchsetzt. Auch siebzig Jahre später beschäftigt die Gleichberechtigung die Gerichte. So klagt die Schreinermeisterin Edeltraud Walla, weil ein männlicher Kollege für die gleiche Tätigkeit deutlich mehr verdient als sie. Doch das Bundesverfassungsgericht weist ihre Klage ab. JETZT ANSEHEN
3sat (2024): 75 Jahre Grundgesetz: Artikel 3 – Gleichheit Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes betrachten wir drei Artikel neu - historisch, aber auch mit Blick in die Zukunft. Teil 1: Artikel 3 - alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:33 – Die Politikerin Elisabeth SelbertTC 06:06 – Die Arbeit an einer demokratischen VerfassungTC 10:07 – ÜberzeugungsarbeitTC 13:59 – Ein Sturm zieht aufTC 17:28 – Die Sternenstunde ihres LebensTC 19:55 – Politisch zu profiliertTC 22:45 - Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro
ZUSPIELUNG Trümmerfrau 0’25„Wir arbeiten acht Stunden, haben in der Zwischenzeit eine Viertelstunde Frühstück und eine halbe Stunde Mittag, und sonst ist die Arbeit sehr, sehr schwer, wir haben sehr tief zu schippen, wir sind in den Kellerschachtungen, wir haben zwei Meter 20, und wenn wir diese Arbeit vollendet haben, dann sind wir sozusagen auch fertig.“
MUSIK
ERZÄHLERIN:Eine sogenannte Trümmerfrau aus dem zerstörten Nachkriegs-Berlin. Zu Zehntausenden gab es sie nach 1945 in Deutschland, entschlossen zupackend, ausdauernd, uneitel. Die harten Kriegsjahre, als fast alle Männer im Feld waren, hatten den Frauen das Äußerste an Überlebenswillen und Organisationstalent abverlangt. Sie wussten längst aus eigener Erfahrung, dass es viele unangenehme Aufgaben gab, die sie nicht delegieren konnten. Und sie hatten millionenfach bewiesen, dass sie keineswegs davor zurückschreckten, Verantwortung zu übernehmen – in der Familie genauso wie in Beruf und Gesellschaft.
ERZÄHLER:Die mutigen Trümmerfrauen haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Deutschen. Sie gelten als Paradebeispiel für Tatkraft und Pragmatismus, als Synonym für den ungebrochenen Willen der Nation zu Neubeginn und Wiederaufbau. Vielfach vergessen sind dagegen jene Frauen, die sich nach Kriegsende an das Wegräumen ganz anderer Hindernisse machten – beispielsweise von ideologischen und rechtlichen Hürden. Elisabeth Selbert war eine dieser Frauen. Der kämpferischen Juristin verdanken wir einen ganz bestimmten Satz in unserem Grundgesetz. Er lautet:
ZITATORIN: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt".
ERZÄHLERIN:Eine Formulierung, die heute nichts Spektakuläres mehr an sich hat. Doch als sie entstand, war sie geradezu revolutionär. Sie findet sich im Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 2. Die Sozialdemokratin Selbert hat sie zusammen mit drei weiteren couragierten Frauen durchgesetzt: Ihrer Parteifreundin Frieda Nadig, der CDU-Politikerin Helene Weber und Helene Wessel von der katholischen Zentrums-Partei. Auch wenn es in den wenigsten Schulbüchern erwähnt wird: Das Grundgesetz hatte keineswegs nur Väter, sondern auch engagierte Mütter.TC 02:33 – Die Politikerin Elisabeth Selbert
ERZÄHLER:Vier erfahrene Politikerinnen, die schon vor dem Krieg aktiv waren. Doch die treibende Kraft im Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Frauen war die Sozialdemokratin Selbert. Sie nahm nicht nur die mühsame Arbeit auf sich, die überwiegend männlichen Mitglieder ihrer eigenen Partei auf ihre Seite zu ziehen, sondern setzte auch über Parteigrenzen hinweg auf die Zusammenarbeit mit anderen Politikerinnen.
ERZÄHLERIN:Alle vier „Mütter des Grundgesetzes“ hatten berufliche Erfahrungen aufzuweisen, damals keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Denn noch galt das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900, das davon ausging, der „eigentliche Platz“ einer Frau sei zuhause bei Küche und Kindern. Der ersten deutschen Frauenbewegung, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts gebildet hatte, waren nur Teil-Erfolge gelungen: So durften Frauen seit 1908 in Parteien eintreten. Auch ein Universitätsstudium stand ihnen nun offen. Mit der Gründung der Weimarer Republik erhielten Frauen zudem das aktive und das passive Wahlrecht.
MUSIK
ERZÄHLER:Doch am patriarchalen Familienrecht hatte auch die Weimarer Reichsverfassung nichts geändert. Frauen konnten beispielsweise nicht über das Vermögen entscheiden, das sie in die Ehe miteingebracht hatten. Ohne schriftliche Zustimmung ihres Mannes durften sie nicht einmal ein Bankkonto einrichten. Die Pflicht der Ehefrau, den Haushalt zu führen, war im Gesetz festgeschrieben; über die Erziehung und Ausbildung der Kinder entschied letztendlich der Mann. Politikerinnen wie Elisabeth Selbert hielten eine Reform des bürgerlichen Rechts für überfällig.
ERZÄHLERIN:Die gebürtige Hessin stammte aus eher beengten Verhältnissen; eine Ausbildung als Lehrerin konnten ihr die Eltern aus finanziellen Gründen nicht ermöglichen. 1918, mit 22 Jahren, trat sie in die SPD ein und engagierte sich mit Leidenschaft in der Kommunal- und Landespolitik. Als Mutter von zwei Kindern holte sie später extern das Abitur nach und begann im Anschluss daran ein Jurastudium. 1930 promovierte sie über das Thema „Ehezerüttung als Scheidungsgrund“. Später, als Anwältin war Elisabeth Selbert immer wieder mit den Härten des geltenden Scheidungsrechtes konfrontiert:
ZUSPIELUNG Selbert 0’52 Wie groß war immer das Erschrecken„Wie groß war immer das Erschrecken dieser Frauen, die vielleicht ein ganzes Leben lang hinter dem Ladentisch gestanden, als sogenannte „Seele des Geschäftes“ oder des landwirtschaftlichen Anwesens oder der Familie den Wohlstand miterarbeitet, in Kriegsjahren allein erarbeitet hatte, wenn sie dann hörten, dass sie bei einer Scheidung mit leeren Händen aus dem Hause gingen, weil sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet waren, im Geschäft oder im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten, ohne allerdings an dem Gewinn oder dem Vermögen, das sie miterarbeitet hatte, beteiligt zu sein.“
ERZÄHLER:Mit Nachdruck setzte sich die Juristin dafür ein, das Schuldprinzip im Scheidungsrecht abzuschaffen. Mit dieser Forderung war sie allerdings ihrer Zeit weit voraus: Erst 1977 trat unter der damaligen sozialliberalen Bundesregierung ein neues Ehe- und Familienrecht in Kraft, das das Zerrüttungsprinzip einführte. TC 06:06 – Die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung
MUSIK
ERZÄHLERIN:Die Nazi-Propaganda reduzierte die Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau. Weitergehende Ambitionen waren nicht im Interesse des Staates. Der weibliche Anteil an der Studentenschaft sollte nicht höher sein als zehn Prozent, zur Habilitation waren Frauen nicht zugelassen. Die Berufstätigkeit von Ehefrauen war unerwünscht – dieses Ziel wurde in der Regel durch das Verbot des Doppelverdienertums erreicht.
ERZÄHLER:Elisabeth Selbert erhielt ihre Zulassung als Rechtsanwältin 1934 – wenige Monate, bevor die Nazis den Zugang von Frauen zu diesem Beruf völlig blockierten. Doch was die Berufstätigkeit von Frauen betraf, war das NS-Regime nicht konsequent: Als die Rüstungsindustrie auf Hochtouren lief und männliche Arbeitskräfte vielfach fehlten, wurden auch die Frauen zum Arbeitsdienst verpflichtet. Während die Männer an der Front kämpften, war Frauenarbeit ganz generell gefragt. Ein Schlager des Operettenkomponisten Emmerich Kálmán, der die dieses Thema aufgreift, war während der Kriegsjahre sehr beliebt:
MUSIK
ERZÄHLERIN:Nach dem Krieg aber wünschte sich so mancher die alten Verhältnisse zurück. Doch die Frauen, die während der Kriegsjahre die Lücken in den Büros und Fabriken geschlossen hatten, wollten sich nicht so einfach wieder in die zweite Reihe zurückdrängen lassen. Insgesamt gab es bei Kriegsende sieben Millionen mehr Frauen als Männer, fast vier Millionen waren allein stehend. Angesichts einer mehrheitlich weiblichen Wählerschaft, so konnte man vermuten, würde auch das künftige Grundgesetz die neue Lebenswirklichkeit der Frauen widerspiegeln.
ERZÄHLER:Mit der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung wurden von der amerikanischen Militärregierung die Abgeordneten aus den wieder erstandenen Parteien beauftragt. Elisabeth Selbert musste sich ihre Mitarbeit erst erkämpfen, aber sie setzte sich durch. Am 1. September 1948 kamen die Mitglieder des sogenannten Parlamentarischen Rates - 65 Frauen und Männer - erstmals zusammen. Im zoologischen Museum Koenig in Bonn, wo in der großen Halle hinter hohen Vorhängen ausgestopfte Tiere standen, wurde über den politischen Neubeginn in Deutschland beraten.
ERZÄHLERIN:Schnell verteilten sich die Abgeordneten je nach fachlichem Hintergrund und persönlicher Interessenslage auf die einzelnen Ausschüsse. Über die Grundrechte – zu denen nach Ansicht von Elisabeth Selbert die Gleichberechtigung von Mann und Frau zählen sollte – wurde im Grundsatzausschuss diskutiert. Die Juristin war dort nur als Stellvertreterin präsent, hielt dies aber nicht für problematisch, da sie davon ausging, eine Verankerung der Gleichberechtigung im Grundgesetz sei eine Selbstverständlichkeit. ERZÄHLER:Doch der Ausschuss sah das anders: Der schlichte, aber eindeutige Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ fand keine Mehrheit. Er war als Vorschlag der SPD-Fraktion eingebracht worden – nachdem Elisabeth Selbert dafür in der eigenen Partei hartnäckig gekämpft hatte. Die Ausschussmitglieder einigten sich schließlich auf den Satz: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Im Klartext: Frauen sollten - wie schon in der Weimarer Republik – das Wahlrecht erhalten, mehr aber auch nicht. Eine Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im Familienrecht war nicht vorgesehen.
ERZÄHLERIN:Die Vorlage wanderte wenig später in den Hauptausschuss. Bei der ersten Lesung Anfang Dezember 1948 warb Elisabeth Selbert noch einmal für ihren Vorschlag und warnte zugleich:
ZITATORIN:„Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgebenden Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist“.
ERZÄHLER:Doch auch im Hauptausschuss fiel der Satz durch - für Elisabeth Selbert ein Schock. Nach ihrer Einschätzung waren die Abgeordneten auf dem besten Weg, eine historische Chance zu verspielen. TC 10:07 – Überzeugungsarbeit
ERZÄHLERIN:Obwohl alle vier Frauen im Parlamentarischen Rat am Ende gemeinsam kämpften, musste Elisabeth Selbert zunächst auch bei ihren Geschlechtsgenossinnen Überzeugungsarbeit leisten, sogar bei der Parteifreundin Frieda Nadig. Diese befürchtete anfänglich ein rechtliches Chaos, wenn im Grundgesetz die rechtliche Gleichstellung der Frau festgeschrieben würde, ohne dass gleichzeitig die entsprechenden Passagen im geltenden Familienrecht geändert würden.
ERZÄHLER:Ähnliche Bedenken hatte auch die CDU-Abgeordnete Helene Weber. Sie verteidigte ihre Haltung mit dem Hinweis, man habe alle Argumente sorgfältig abgewogen. Weber war Mitbegründerin des „Katholischen Deutschen Frauenbundes“ und eine enge Vertraute von Konrad Adenauer. Der Weimarer Nationalversammlung hatte sie von 1919 bis 1920 als Abgeordnete der Zentrumspartei angehört und an der Weimarer Verfassung mitgearbeitet.
ERZÄHLERIN:Die dritte potentielle Verbündete war die Zentrumspolitikerin Helene Wessel. Die Tochter eines Lokomotivführers hatte ihre politische Karriere ebenfalls bereits in der Weimarer Republik gestartet. Von 1928 bis 1933 hatte sie einen Sitz im Preußischen Landtag inne. Wessel arbeitete als Fürsorgerin für die katholische Kirche. Auch mit ihr diskutierte Elisabeth Selbert über ihre Pläne. Schließlich erklärte Wessel gegenüber Journalisten:
ZITATORIN„Ich bin grundsätzlich dafür, aber die Auswirkungen müssen gut überlegt sein.“
MUSIK
ERZÄHLER:Helene Wessel war 1945 zur stellvertretenden Vorsitzenden der Zentrums-Partei gewählt worden. Vier Jahre später wurde sie Parteichefin und war damit die erste weibliche Vorsitzende einer politischen Partei in Deutschland.
ERZÄHLERIN:Die Sozialdemokratin Selbert musste auf vielen Ebenen gleichzeitig Überzeugungsarbeit leisten. Zum einen wollten auch die Männer ihrer eigenen Partei nicht so ohne weiteres auf ihre bisherigen Vorrechte verzichten - sei es das Entscheidungsrecht über den ehelichen Wohnort, über die Erwerbstätigkeit ihrer Ehefrauen oder über die Kindererziehung. Andrerseits fehlte es auch nicht an generellen Mahnungen aus konservativen Bevölkerungskreisen, man möge es doch bei der „gottgewollten“ Vorherrschaft des Mannes im Verhältnis der Geschlechter belassen. Und schließlich gab es auch noch die Stimmen jener Frauen, die ihre Geschlechtsgenossinnen davor warnten, nicht um eines abstrakten Rechtsprinzips willen auf ihre „natürlichen Privilegien“ und die „Macht weiblichen Charmes“ zu verzichten.
MUSIK
ERZÄHLER:Die anfängliche Zurückhaltung der drei anderen weiblichen Mitglieder im Parlamentarischen Rat hielt Selbert nicht davon ab, in erster Linie auf die Solidarität von Frauen zu setzen. Sie hoffte insbesondere auf die Unterstützung überparteilicher Frauenvereinigungen. Da dort auch Kommunistinnen mitarbeiteten, riskierte Selbert damit einen Konflikt mit SPD-Chef Kurt Schumacher, der jegliches Zusammenwirken mit kommunistischen Kräften ablehnte. Selbert berichtete später von zum Teil sehr scharfen Kontroversen mit Schumacher. Doch sie ließ sich nicht entmutigen.
ERZÄHLERIN:Ohnehin hatte sie von männlicher Seite nicht allzu viel Unterstützung zu erwarten – und wenn es diese nach langen Diskussionen irgendwann doch gab, schmeckte sie oft bitter. So schrieb Selbert im Oktober 1948 – nachdem sie die Genossen in der Fraktion endlich hatte überzeugen können - an ihre Parteifreundin Herta Gotthelf:
ZITATORIN:„Ich bin noch ganz glücklich über den Erfolg in der Fraktion, wenn mich auch die Art, wie einige Genossen das Thema behandelt haben, deprimiert hat. Man sieht zwar, dass man an dieser Sache dieses Mal nicht vorbei kommt, aber mit Ironie und Sarkasmus, um nicht zu sagen Hohn, tat man die Frage kurz ab“.TC 13:59 – Ein Sturm zieht auf
ERZÄHLERIN:Selbert begann schließlich, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Sie hielt zahlreiche Vorträge - in Hamburg, Frankfurt, München und anderen Städten. Die SPD-Politikerin wandte sich sogar an die Ehefrauen von CDU-Mitgliedern, um auf privater Ebene Druck auf die Abgeordneten auszuüben.
ERZÄHLER:Sie löste einen regelrechten Sturm an Beschwerden aus und erreichte sogar eine punktuelle Zusammenarbeit zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung. Zahlreiche Gewerkschaftsfrauen, unter ihnen allein 40 000 Metallerinnen, wandten sich mit Eingaben an den Parlamentarischen Rat. Auch ganze Betriebsbelegschaften – so beispielsweise die Mitarbeiterinnen des Arbeitsamtes Frankfurt am Main – stellten sich hinter Selberts Initiative. Darüber hinaus unterzeichneten nahezu alle weiblichen Landtagsabgeordneten der Westzone eine entsprechende Petition – lediglich die bayerischen Abgeordneten zogen nicht mit. Das überwältigende Echo gab Elisabeth Selbert Recht, auch wenn Politiker wie der Liberale Theodor Heuss herablassend von einem „Quasi-Stürmlein“ sprachen. Selbert erinnerte sich später:
ZITATORIN:„Es war geradezu begeisternd und erschütternd, wie die Proteste aus dem ganzen Bundesgebiet, und zwar Einzelproteste und Verbandsproteste in großen Bergen, in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineingeschüttet wurden. Körbeweise! Und ich wusste, in diesem Augenblick hätte kein Abgeordneter mehr gewagt, gegen diese Fülle von Protesten anzugehen und bei seinem Nein zu bleiben.“
ERZÄHLERIN:Auch die übrigen Frauen im Parlamentarischen Rat waren inzwischen auf Elisabeth Selberts Linie eingeschwenkt. Die Sozialdemokratin Frieda Nadig übte bei einer Anhörung deutliche Kritik an den patriarchalen Strukturen im Eherecht:
ZUSPIELUNG Nadig 0’17 Mann ist Familienoberhaupt „Im deutschen Familienrecht ist der Mann das Oberhaupt der Familie. Ihm steht das Entscheidungsrecht in allen das gemeinschaftliche Eheleben betreffenden Angelegenheiten zu. Die Frau hat sich seinen Entscheidungen zu fügen.“
ERZÄHLERIN:Nadig forderte insbesondere eine Neuordnung der vermögensrechtlichen Bestimmungen:
ZUSPIELUNG Nadig Eheliches Güterrecht 0’35„Am reformbedürftigsten ist zweifellos das gesetzliche Güterrecht. Der gesetzliche Güterstand des Bürgerlichen Gesetzbuchs weist der Frau die Rolle eines bevormundeten Kindes zu. Die Verwaltung und Nutznießung des Vermögens der Frau steht dem Manne zu, er ist berechtigt, das Vermögen der Frau in Besitz zu nehmen, er ist auch berechtigt, mit diesem Vermögen zu arbeiten, ohne seiner Frau Auskunft geben zu brauchen.“
ERZÄHLER:Elisabeth Selbert nahm die Einwände ihrer Kolleginnen ernst. Um das befürchtete rechtliche Chaos zu vermeiden, schlug sie einen Kompromiss vor: Alle Bestimmungen des bürgerlichen Rechts, die nicht im Einklang mit dem Gleichberechtigungs-Grundsatz im Grundgesetz waren, sollten noch solange in Kraft bleiben, bis der Bundestag zum Stichtag 1. April 1953 auch ein neues Familienrecht schaffen würde. Das hieß im Umkehrschluss: Alle der Gleichberechtigung entgegenstehenden Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch waren innerhalb einer bestimmten Frist aufzuheben. Genau diese Festschreibung war es, die eigentlich revolutionär war, da sie die Lebensrealität künftiger Frauengenerationen entscheidend verändern sollte.TC 17:28 – Die Sternenstunde ihres Lebens
MUSIK
ERZÄHLERIN:Bei der zweiten Lesung im Hauptausschuss – am 18. Januar 1949 - warb Elisabeth Selbert noch einmal mit Nachdruck um Zustimmung. Und sie erlebte schließlich die Sternstunde ihres Lebens – wie sie es später nannte. Die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde einstimmig angenommen. Damit waren die Weichen gestellt: Der Satz, für den Elisabeth Selbert und ihre Mitstreiterinnen so lange gekämpft hatten, konnte Teil des Grundgesetzes werden. Einen Tag später wandte sich Elisabeth Selbert in einer Rundfunkansprache an die Öffentlichkeit:
ZUSPIELUNG Selbert 0’26 Geschichtlicher Tag„Meine verehrten Hörerinnen und Hörer. Der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn dank der Initiative der Sozialdemokraten die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist – dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Weg der deutschen Frauen der Westzonen.“
ERZÄHLER:Am 8. Mai 1949 - vier Jahre nach Unterzeichnung der Kapitulationserklärung - verabschiedete der Parlamentarische Rat das Verfassungswerk. Die drei Militärgouverneure genehmigten die Vorlage. Zwei Wochen später trat das Grundgesetz nach der Annahme durch die Länderparlamente für die westlichen Besatzungszonen in Kraft - nur Bayern verweigerte die Zustimmung.
ERZÄHLERIN:Es sollten allerdings noch etliche Jahre vergehen, bis sich der Gesetzgeber auch zu einer Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches durchringen konnte. Erst ab 1. Juli 1958 – also fünf Jahre später, als Elisabeth Selbert vorgeschlagen hatte - galt das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Damit konnten Frauen nun immerhin über den ehelichen Wohnsitz mitentscheiden, ihren Mädchennamen als Namenszusatz führen und den Haushalt in eigener Verantwortung führen. Die Ehefrau hatte jetzt auch das Recht, einen Beruf auszuüben – allerdings nur – wie es im Gesetz so schön hieß…
ZITATOR:„…soweit das mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“.
ERZÄHLERIN:Und wenn der Ehemann es genehmigte. Beide Ehegatten wurden zudem gegenseitig zum Unterhalt verpflichtet. TC 19:55 – Politisch zu profiliert
ERZÄHLER:Insgesamt 37 Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden in den Bundestag gewählt – unter ihnen Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel. Elisabeth Selbert jedoch gehörte nicht dazu. Es blieb nicht die einzige Enttäuschung für die engagierte Juristin und Sozialdemokratin: Anfang der 50er Jahre hatte sie die Möglichkeit, Richterin am Bundesverfassungsgericht zu werden. Doch sie scheiterte letztendlich am Widerstand der eigenen Parteifreunde. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass Selberts entschlossene Alleingänge in manchen juristischen Fragen bei einigen Genossen in unguter Erinnerung waren. Der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt sprach aus, was viele seiner Parteigenossen nicht offen zu sagen wagten:
ZITATOR:„Du warst vielen unserer Leute und auch anderen Leuten politisch zu profiliert“.
ERZÄHLERIN:Der Satz hat Elisabeth Selbert sicherlich geschmerzt, öffentlich beklagt hat sie sich nie. Sie blieb zunächst hessische Landtagsabgeordnete, kandidierte aber 1958 nicht mehr. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch das Große Bundesverdienstkreuz erhalten, dann wurde es allmählich still um sie. Erst die neue Frauenbewegung begann sie wieder zu entdecken. Dass der Artikel 3, Absatz 2 Grundgesetz später noch einmal ergänzt wurde, hat sie nicht mehr miterlebt – sie starb im Juni 1986. 1994 wurde im Zuge der Verfassungsreform der Gleichberechtigungs-Grundsatz durch die Formulierung erweitert: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
ERZÄHLER:Die „Mütter des Grundgesetzes“ haben in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland bleibende Spuren hinterlassen. Daran erinnerte 2006 auch Jutta Limbach, ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, bei einer Festveranstaltung zu Ehren von Elisabeth Selbert:
ZITATORIN:„Es hat nach Elisabeth Selberts Sternstunde noch eines halben Jahrhunderts bedurft, um das deutsche Recht egalitär zu formulieren. Doch die Rechtswirklichkeit hinkt trotz einiger sichtbarer Erfolge – immerhin haben wir eine Bundeskanzlerin! – noch immer hinter der formalen Rechtsgleichheit her. Es bleibt darum nach wie vor viel zu tun…. Gleichwohl oder gerade deswegen ist und bleibt dieser kleine Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ das Fanal und die Verheißung, die beide Geschlechter verpflichtet und für die alle nachfolgenden Generationen von Frauen Elisabeth Selbert Dank schulden.“TC 22:45 - Outro

May 23, 2024 • 25min
DAS GRUNDGESETZ – Geschichte eines Exportschlagers
Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Eigentlich sollte das "GG" nur ein Provisorium sein, nur ein Übergang, nicht wie eine "Verfassung" einen endgültigen Charakter haben. Trotzdem wurde es schließlich zur gesamtdeutschen Verfassung - und zum Vorbild für viele neue Demokratien. Von Katharina Kühn (BR 2022)
Credits Autorin: Katharina Kühn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Martin Vogt Technik: Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dietmar Preißler, Marion Detjen Ein besonderer Linktipp der Redaktion: BR (2024): I Will Survive – Der Kampf gegen die AIDS-Krise München, 80er, Disco-Ära: Die queere Szene blüht und Weltstars wie Freddie Mercury machen hier Party. Aber plötzlich ist Schluss. Ein mysteriöses Virus erreicht die Stadt. In "I Will Survive" sprechen wir mit den Menschen, die als Erste und vielleicht am härtesten von der AIDS-Krise getroffen wurden. Der Podcast erzählt von ihrer Angst, ihren Verlusten und ihrem Widerstand in einer Zeit, als Bayern als einziges Bundesland auf Ausgrenzung statt auf Aufklärung setzt. Und es geht um die Frage: Welches Vermächtnis haben die Menschen von damals der queeren Community heute hinterlassen? ZUM PODCAST
Linktipps: ARD (2024): Wie gut ist unser Grundgesetz? Moderatorin Sandra Maischberger und ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam checken das deutsche Grundgesetz. Meinungen frei zu äußern, queer zu lieben, eine Pandemie zu überstehen – wo hilft das Grundgesetz, wo ist noch Luft nach oben? Sind im Alltag der Deutschen wirklich alle Menschen vor dem Gesetz gleich? Waren die Grundrechte in der Covid-Pandemie zu stark eingeschränkt? Schützt das Grundgesetz die Bürger:innen vor einem Rückfall in dunkelste Zeiten? Die Doku sammelt Geschichten, liefert Background und zieht ein Fazit. Als Prominente sind Schauspieler Jan Josef Liefers und die Politiker Joachim Gauck und Gerhart Baum dabei. JETZT ANSEHEN
ARD (2024): Archivradio – Geschichte im Original Das Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte, von der Grundgesetzunterzeichnung, Vereidigung des ersten Bundespräsidenten oder den Abstimmungen im Parlamentarischen Rat. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:09 – Grundgesetz oder Verfassung?TC 04:25 - StreitpunkteTC 11:59 – Darüber war man sich einigTC 13:54 – Die Geburtsstunde der BundesrepublikTC 17:24 – Liebe auf den zweiten BlickTC 22:36 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro
MUSIK
ERZÄHLERIN:Wie sollte aus dieser Diktatur eine Demokratie werden? Die alliierten Mächte, Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich hatten zwar die Gefechte gemeinsam gewonnen, NS-Deutschland geschlagen, aber wie das besetzte Land nun wiederaufgebaut werden sollte, darauf konnten sie sich nicht einigen.
ERZÄHLER:Spätestens als die Außenminister in London Ende 1947 ihre Konferenz abbrachen, war klar, dass es keine gemeinsame Strategie geben würde. Also trafen sich die westlichen Alliierten, USA, Großbritannien, Frankreich und die drei Benelux-Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg, um über die Zukunft Westdeutschlands zu beraten. Die „Londoner Empfehlungen“ sollten den Weg für einen eigenen westdeutschen Staat ebnen.
ERZÄHLERIN:Die neun deutschen Ministerpräsidenten der westlichen Bundesländer und die Bürgermeister der Stadtstaaten Hamburg und Bremen sollten dabei helfen – sie waren zu dem Zeitpunkt immerhin die obersten politischen Repräsentanten im Nachkriegsdeutschland. Sie wurden nach Frankfurt am Main bestellt, in das Hauptquartier der Amerikaner, ursprünglich das Verwaltungsgebäude eines Chemiekonzerns. Die Militärgouverneure lasen auf Englisch und Französisch ihre Pläne vor, die sogenannten Frankfurter Dokumente. Hier war der Fahrplan zu einem neuen Staat umrissen: Ab spätestens September 1948 sollte eine Versammlung eine Verfassung ausarbeiten. Diese würde erst den Militärgouverneuren vorgelegt und dann vom Volk abgestimmt. Außerdem skizzierten die Westalliierten in den Dokumenten, wie der Besatzungsstatus für Deutschland aussehen sollte und kündigten an, dass die Grenzen der Bundesländer überprüft und möglicherweise verändert würden.TC 02:09 – Grundgesetz oder Verfassung?
ERZÄHLER:Eigentlich könnte man nun meinen, dass die Ministerpräsidenten lieber schneller als später einen westdeutschen und vor allem souveränen Staat schaffen wollten. So war es aber nicht, erzählt Dietmar Preißler, ehemaliger Sammlungsdirekter im Haus der Geschichte in Bonn:
O-Ton 01_ Preißler [00:21]Sie waren, vorsichtig gesagt, sehr zurückhaltend, denn sie befürchteten, durch eine Vollverfassung für die Westzonen könnte eine Wiedervereinigung verhindert werden. Sie schlugen dann vor, dass man ein Grundgesetz schaffen soll statt einer Verfassung und dass ein Parlamentarischer Rat tagen sollte und nicht eine verfassungsgebende Versammlung.
ERZÄHLERIN:Andere Begriffe, die eigentlich dasselbe meinen?
ERZÄHLER:Nicht ganz. Über das Grundgesetz sollte nicht das Volk abstimmen, sondern die Länderparlamente. So, hofften die Ministerpräsidenten, wäre deutlich, dass es sich hier nicht um etwas Unwiderrufliches, sondern nur um ein Provisorium handelte und die Wiedervereinigung mit Ost-Deutschland immer noch möglich sei.
ERZÄHLERIN:Die Westmächte stimmten nach langer Diskussion zu, beharrten aber darauf, dass ein neuer Staat gegründet würde. Im August bereitete ein Expertengremium aus Politikern, Verfassungsexperten und Verwaltungsfachleuten im Schloss Herrenchiemsee erste Richtlinien vor. Zwei Wochen hatten sie Zeit.
O-Ton 02_ Preißler [00:37]In dieser Kürze der Zeit haben die es wirklich fertiggebracht, einen kompletten Entwurf eines Grundgesetzes auf den Weg zu bringen. 95 Seiten mit 149 Artikeln. Wir wissen ja, später das Grundgesetz hatte 146. Es war ein Kompendium, in dem Verfassungsartikel auch alternativ vorgestellt wurden, zum Beispiel: Föderalismus. Da wurde vorgeschlagen, sowohl eine Bundesratslösung als auch eine Senatslösung, die sich an amerikanischen Verfassungsvorbildern orientierte, und es waren eben auch Kommentierungen dabei, was man mit den einzelnen Paragraphen und den Regelungen darin erreichen wollte.
ERZÄHLER:Die Experten hatten also erste Vorschläge und Richtlinien erarbeitet, erste Fragen aufgeworfen, Alternativen formuliert. Nun sollten Politiker entscheiden. Der Parlamentarische Rat kam zum ersten Mal am 1. September 1948 in Bonn zusammen TC 04:25 - Streitpunkte
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ERZÄHLER:Im Lichthof des Naturkundlichen Museums König wurden sonst Tiere ausgestellt. Für diesen Tag waren sie an die Seiten des imposanten Hofs geschoben und hinter Vorhängen versteckt worden
ERZÄHLERIN:Später erzählten Gäste, dass übrigens eine Giraffe über den Vorhang lugte und die Zeremonie verfolgte. Es ist eine schöne Anekdote, aber erfunden.
MUSIK
ERZÄHLER:Lange dauerte diese Zeremonie nicht, nach eineinhalb Stunden wechselten die Abgeordneten des neuen Parlamentarischen Rats in die Aula der Pädagogischen Akademie. 61 Männer und vier Frauen waren aus den Länderparlamenten in den Rat berufen worden, dazu kamen fünf Vertreter aus Berlin, allerdings nur mit beratender Funktion ohne Stimmrecht. Ratspräsident wurde Konrad Adenauer:
Zuspielung Adenauer Der parlamentarische Rat beginnt seine Tätigkeit – wir haben es heute morgen bei der Feier im Museum König gehört und wir wissen es ja alle – in einer völlig ungewissen Zeit, in einer Zeit der Ungewissheit über Deutschlands Zukunft, ja, auch die Zukunft Europas und der Welt ist dunkel und unsicher. […] Und Deutschland selbst ist politisch ohnmächtig.
ERZÄHLERIN:Die Abgeordneten wussten wohl auch, dass nun die Zeit der politischen Auseinandersetzungen, der mühsamen Diskussionen und der Kompromisssuche losging. Das zeigte sich gleich, als der kommunistische Abgeordnete Max Reimann einwarf, dieser Rat habe keine Existenzberechtigung, es liege kein gesamtdeutsches Mandat vor. Dietmar Preißler:
O-Ton 03_ Preißler [00:20]Also der kommunistische Abgeordnete Reimann stellte den Antrag, die Arbeit des Parlamentarischen Rats einzustellen und das führte zu einer hitzigen Debatte, gleich am ersten Tag, in der Reimann auch nach vorne stürmte, das Mikrofon griff, in das Mikrofon hineinrief, er fühle sich nicht richtig behandelt. Er nutzte sogar das Wort: Ich fühle mich vergewaltigt.
ERZÄHLER:Der Antrag wurde – wenig überraschend – abgelehnt. Streitpunkte gab es genug: Gehört etwa Gott ins Grundgesetz? Die Union wollte einen Gottesbezug in die Präambel setzen, die SPD sträubte sich. Die FDP vermittelte. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, ist der Kompromiss, der bis heute das Grundgesetz einleitet.
ERZÄHLERIN:Die Präambel war von besonderer Bedeutung, nicht nur, weil sie den ersten Ton setzt, sondern auch, weil hier die Ostdeutschen angesprochen wurden:
ZITATOR:Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
ERZÄHLERIN:Dieses Grundgesetz sei nur provisorisch, das sollte im Vorwort deutlich werden. Gleichzeitig warnte FDP-Politiker Theodor Heuss davor, das Wort „provisorisch“ zu oft in der Präambel zu verwenden. Es sollte von einer „Magie des Wortes“ getragen sein.
ERZÄHLER:Die Diskussionen über die einzelnen Artikel waren nicht einfacher. Wie sollte etwa die Gleichberechtigung festgehalten werden? Die meisten Abgeordneten wollten am Text festhalten, wie er in der Weimarer Verfassung stand. Zitat: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Das würde allerdings bedeuten, dass das Ehe- und Familienrecht etwa davon nicht tangiert würde. Eine der vier Frauen im Rat lehnte sich dagegen auf: Elisabeth Selbert von der SPD schlug die Formulierung vor: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ So einfach. Ohne Ausnahme. Die meisten Abgeordneten waren dagegen. Zu viele Gesetze würden sofort verfassungswidrig, ungültig werden, ein „Rechtschaos“ könne folgen. Elisabeth Selbert tobte – ihre Gegner auch. Sie drohte sogar mit Wahlen, schließlich kämen, so kurz nach dem Krieg „auf 100 männliche Wähler 170 weibliche Wähler“. Die Drohung schien nicht zu wirken. Also suchte Selbert nach Unterstützung. Frauenverbände schrieben Briefe, kündigten ihren Protest an, sollte im Grundgesetz nicht die uneingeschränkte Gleichberechtigung verankert werden. Die SPD schlug eine Übergangslösung vor, damit die entsprechenden Gesetze in den nächsten Jahren geändert werden konnten. Und der Protest zeigte Wirkung: Eineinhalb Monate nachdem Selberts Formulierung noch abgelehnt worden war, stimmten die Abgeordneten ihr zu. Artikel 3, Absatz 2 im Grundgesetz ist ein Meilenstein der Emanzipation in Deutschland: Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
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ERZÄHLERIN:Ein weiterer Streitpunkt betraf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Klar war, dass ein föderales System entstehen, der Staat also aus Bundesländern zusammengesetzt sein sollte. Aber wieviel Macht sollten diese Länder haben? Die Freundschaft hört bekanntlich beim Geld auf. Die erste Frage war: Wer zieht die Steuern ein und verteilt das Geld – der Bund oder die Länder? Besonders die CSU beharrte darauf, dass die Steuern Angelegenheit der Landesverwaltungen seien. SPD und FDP wollten hingegen, dass der Bund die Steuern einzieht und dass es einen Finanzausgleich zwischen den Ländern gibt. Obwohl auch die Westalliierten befürchteten, eine große Bundesverwaltung für Steuern könnte zu viel Einfluss an einem Punkt konzentrieren, entschieden sich die Delegierten zum Schluss für ein System, das den Vorstellungen von SPD und FDP näher kam. Bund und Länder sind beide für die Steuern zuständig, es gibt einen Finanzausgleich und einen Bundeszuschuss. Auch wie die Länder bei der Gesetzgebung vertreten sein würden, war strittig. Sollte eine Zweite Kammer – also neben dem Bundestag – zusammengesetzt werden nach einem Senats- oder nach einem Bundesratsprinzip; das heißt mit Mitgliedern der Länderparlamente oder der Landesregierungen? Die Konservativen setzten den Bundesrat durch, also mit Vertretern der Landesregierungen. Die SPD dagegen erwirkte eine Machtbeschränkung, nämlich, dass der Bundesrat in der Gesetzgebung ein Vetorecht nur bei Gesetzen mit Länderbezug hat.
ERZÄHLER:Nicht nur die inhaltlichen Diskrepanzen erschwerten die Diskussionen, auch die ständige Beobachtung durch die Besatzungsoffiziere zerrte an den Nerven. In bestimmten Punkten, gerade bei der föderalistischen Struktur, wollten sie unbedingt, dass der Parlamentarische Rat nach ihren Vorgaben entscheidet, so Dietmar Preißler:
O-Ton 04_ Preißler [00:45]Da wurden ja sogar Geheimdossiers angelegt. Wir wissen aus englischen Archiven, dass über jedes Mitglied des Parlamentarischen Rates ein Dossier existierte. Da sind dann politische Positionen der Damen und Herren dargestellt worden, bis hin aber auch zu Charakterzügen, über Konrad Adenauer wird darin berichtet, dass er eben kühl im Umgang mit seinem Stab auch sei. Bis hin zu Dingen, was haben die Damen und Herren getrunken.TC 11:59 – Darüber war man sich einig
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ERZÄHLERIN:Aber es gab auch Punkte, in denen sich die Delegierten schnell einig waren: Zunächst einmal war da das Ziel eines demokratischen Staats in einem geeinten Europa. Das neue Parlament sollte mächtig sein, direkt vom Volk gewählt werden und hauptsächlich die Gesetze bestimmen. Sogar die Regierung sollte vom Parlament abhängig sein. Die Abschaffung der Todesstrafe war Konsens. Und: Es sollte fast keine Volksabstimmungen geben.
ERZÄHLER:Die Erfahrungen der Zeit unter dem Nationalsozialismus prägten die Entscheidungen. Der Machtmissbrauch, die Gestapo, der Holocaust. Das durfte nie wieder passieren. Der Bundespräsident wurde fast komplett entmachtet. Das konstruktive Misstrauensvotum sollte für stabilere politische Verhältnisse sorgen und ein Chaos wie in der Weimarer Republik verhindern: Deshalb kann der Bundestag den amtierenden Kanzler oder die Kanzlerin nur dann stürzen, wenn er gleichzeitig einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählt. Die Gewaltenteilung wurde klar organisiert, es gibt eine unabhängige Justiz. Jedes Gesetz muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, wenn nicht, kann das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als verfassungswidrig erklären, dann muss es geändert werden.
ERZÄHLERIN:Den Artikeln im Grundgesetz vorangestellt sind die Grundrechte, Artikel 1 bis Artikel 19. Zwar hatten die Grundrechte schon in der Weimarer Verfassung gestanden. Aber nicht an so prominenter Stelle.
ERZÄHLER:Die Menschenwürde.
ERZÄHLERIN:Die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Religionsfreiheit, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
ERZÄHLER:Das Briefgeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung. Diese Rechte sollten von nun an unantastbar und unveränderlich sein. TC 13:54 – Die Geburtsstunde der Bundesrepublik
MUSIK
ERZÄHLERIN:Bis tief in den Mai des nächsten Jahres gingen die Diskussionen. Drei Monate waren ursprünglich für die Debatten geplant, keiner hatte damit gerechnet, dass sie fast neun Monate dauern würden. Aber am 8. Mai standen dann endlich 146 Artikel zur Abstimmung, genau vier Jahre nach der Kapitulation. Es war schon kurz vor Mitternacht, als Konrad Adenauer das Ergebnis verkündete:
Zuspielung Adenauer [Klingel] Meine Damen und Herren. Das Grundgesetz ist mit 53 Ja- gegen 12 Nein-Stimmen angenommen worden.
ERZÄHLER:Die Delegierten standen auf. Eigentlich würden sie in einem solchen Moment die Nationalhymne singen, aber es gab noch keine. Also sangen sie ein patriotisches Studentenlied: „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand, dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland“.
ERZÄHLERIN:Trotz der eindeutigen Annahme: 12 Ausreißer gab es, auch nach neun Monaten Kompromisssuche: Delegierte der Deutschen Partei, des Zentrums, der Kommunisten – und der CSU. Bevor sich nun aber die Landtage mit dem Werk auseinandersetzen konnten, ging es an die Westalliierten. Die genehmigten den Text, dann folgten zehn von elf Landtagen. Die letzte Abstimmung fand in Bayern statt. Der Bayerische Ministerpräsident Hans Ehard machte gleich als erster Redner klar, wo der unverrückbare Standpunkt seiner Regierung lag: Es sei in Bonn nicht gelungen, das Verfassungswerk so unter Dach und Fach zu bringen, dass es vom Standpunkt Bayerns aus als befriedigend angesehen werden kann. Zu wenig föderalistisch, zu wenig Zugeständnisse an die Länder, die Eigenständigkeit Bayerns sei sogar bedroht. 14 Stunden debattierten die Abgeordneten. Zum Schluss lehnte der Bayerische Landtag das Grundgesetz mit deutlicher Mehrheit ab.
ERZÄHLER:Allerdings ohne den Lauf der westdeutschen Geschichte zu ändern. Zwei Drittel Zustimmung der Landtage reichten aus, um das Grundgesetz durchzubringen, die Stimme der Bayern konnte daran schon nichts mehr ändern.
MUSIK
ERZÄHLER:Am 23. Mai 1949 kam der Tag der Verkündung: Vor dem Präsidium, auf einem Tisch war das Grundgesetz aufgeschlagen. Füllfederhalter lagen in Reihe bereit, ein Tintenfass des Kölner Ratssilbers. Ein bisschen Inszenierung gehörte zu diesem feierlichen Anlass auch dazu, erzählt Dietmar Preißler:
O-Ton 05_ Preißler [00:29]Konrad Adenauer trat als erster an den Tisch und ein Journalist berichtete auch, dass er dann den Füllfederhalter nahm und er bewegte den Stift Richtung Tintenfass und setzte dann seine Unterschrift unter das Grundgesetz. Im Tintenfass des Kölner Ratssilbers war allerdings ja gar keine Tinte drin. Stellen Sie sich mal vor, da wäre wirklich Tinte drin gewesen. Das hätte ja bedeutet, dass das Grundgesetz bei der Unterschriftenaktion sicherlich völlig vertropft gewesen wäre.
ERZÄHLER:Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Knapp drei Monate später, am 14. August, wählten die Westdeutschen zum ersten Mal den Bundestag.
TC 17:24 – Liebe auf den zweiten Blick
ERZÄHLERIN:Liebe auf dem ersten Blick zwar es nicht, zwischen den Deutschen und dem Grundgesetz, sagt Marion Detjen, Historikerin am Bard College Berlin und Mitautorin des Buches „Die Deutschen und das Grundgesetz“:
O-Ton 06_ Detjen [00:39]Gefeiert wurde schon einmal auf gar keinen Fall, weil ja in der Bevölkerung erstens schon das Gefühl vorhanden war, nicht in Freiheit und Selbstbestimmung sich jetzt da neu zu finden oder neu aufzustellen, sondern sozusagen aus der totalen Niederlage im Krieg und nach der Zeit des Nationalsozialismus sich überhaupt erst wieder irgendwie aufzustellen und eben unter Besatzungsherrschaft zu sein. […] Und es hat eine Weile gedauert bis das Ganze grundrechtlichen Potenzial und das freiheitliche Potenzial dieser Verfassung für die Bevölkerung spürbar wurde.
ERZÄHLERIN:Mit den Jahren sollten die Deutschen jedoch das Grundgesetz zu würdigen wissen, ja, sogar einen gewissen Stolz darauf entwickeln.
ERZÄHLER:Das fehlende Referendum schien fast vergessen, bis die Frage nach einer Volksabstimmung durch die Wiedervereinigung wiederaufgeworfen wurde.Zwei Optionen waren möglich: Die fünf ostdeutschen Bundesländer konnten nach Artikel 23 der Bundesrepublik beitreten – damit würde das Bundesgebiet einfach größer werden.
ZITATOR:Artikel 23: Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.
ERZÄHLER:Oder man hätte sich auf Artikel 146 beziehen können.
ZITATOR:Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
O-Ton 07_ Detjen [00:54]Vor der Wiedervereinigung, also in der Zeit der Friedlichen Revolution, gab es heftige Verfassungsdiskussionen, dass gerade die Revolutionäre einen eigenen Weg gehen wollten, eigene Verfassungsexperimente machen wollten, diese Chance der Revolution nutzen wollten für mehr Demokratie, für ein reformiertes Verfassungsverständnis auch. Und diese Versuche dann eben gerade von der bundesdeutschen Regierung, aber auch von vielen Verfassungsspezialisten hier abgeblockt wurden und da auch viel verhindert wurde, gerade was die Möglichkeiten von direkter Demokratie angeht und die Möglichkeiten angeht, die Ostdeutschen an einem eigenen Verfassungsprozess überhaupt erst einmal zu beteiligen.
ERZÄHLERIN:Denn neben den Revolutionären, die eine neue Demokratie schaffen wollten, wollten besonders in der BRD viele lieber kein Risiko eingehen. Außerdem drängte die Zeit. Nicht einmal ein Referendum sollte es geben, um das Grundgesetz – nun Stabilitätsanker statt Provisorium – auch vom Volk zur Verfassung für das geeinte Deutschland erheben zu lassen. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR Westdeutschland nach Artikel 23 bei.
ERZÄHLER:Auch international wurde das Grundgesetz wahrgenommen. Der Slogan „Exportschlager“ entstand – auch wenn natürlich nicht das ganze Werk übernommen wurde. Neue Demokratien, die ebenfalls Diktaturen hinter sich lassen gelassen hatten, schauten auf das deutsche Beispiel, so etwa Spanien, Portugal, Griechenland; nach dem Fall der Sowjetunion viele osteuropäische Länder. Spanien führte das konstruktive Misstrauensvotum ein, später auch Ungarn, Polen und Slowenien. In Südafrika wurde das föderalistische System in die Verfassung aufgenommen, Brasilien, Peru und Argentinien etablierten ähnliche Verfassungsgerichte.
ERZÄHLERIN:Dabei ist das Grundgesetz auch in Deutschland kein absolut unveränderlicher Text. Die Bedeutung des Grundgesetzes zeigte sich auch immer wieder an den heftigen Debatten über Änderungen an diesem: Die Einführung der Bundeswehr und der Wehrpflicht, die Notstandsgesetze, aber auch die Finanzbeziehungen und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen.
O-Ton 08_Detjen [00:20]Also eine Verfassung ist ein toter Text und gleichzeitig eine lebendige Norm, die wir ständig neu interpretieren und weiterentwickeln und mit der man ganz viel anstellen kann. Also es hat eben nicht jeder die Verfassung so, wie er sie gerne hätte unbedingt, aber gleichzeitig eben auch eine Chance für ständige Verhandlungen und Weiterentwicklung.
ERZÄHLERIN:Immer wieder kommen neue Herausforderungen und veränderte Situationen, auf die eine Gesellschaft reagieren muss: Ein zusammenwachsendes Europa, die Globalisierung, der demographische Wandel, der Zeitgeist. Immer wieder wird das Grundgesetz dem angepasst werden.
TC 22:36 – Outro

May 17, 2024 • 23min
STADTLEBEN FRÜHER – Rebellion und Mitsprache
Die mittelalterliche Stadt hat zwei Gesichter: Sie bringt die Landesentwicklung voran, stärkt Handel und Gewerbe und schafft ganz neue Formen von Öffentlichkeit. Doch zugleich ist sie ein Brandbeschleuniger sozialer und politischer Konflikte. Zunftmitglieder und unterprivilegierte Schichten in der Stadt erzeugen im Lauf der Zeit rebellische Teilöffentlichkeiten. Immer selbstbewusster drängen sie auf Mitsprache. Das führt häufig zu schweren Erschütterungen, Unruhen und gewaltsamen Aufständen. Von Simon Demmelhuber und Volker Eklkofer (BR 2020)
Credits Autoren: Simon Demmelhuber, Volker Eklkofer Regie: Axel Wostry Es sprachen: Julia Fischer, Stefan Wilkening Technik: Helge Schwarz Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Beatrix Schönewald, Dr. Marco Veronesi Ein besonderer Linktipp der Redaktion: hr (2024): KRIEG IM SCHATTEN. Warum starb Nikola Milicevic? In der Nacht auf den 13. Januar 1980 kehrt der kroatischstämmige Emigrant Nikola Milićević nach einem Kneipenabend zu seiner Wohnung im Frankfurter Ostend zurück. Als er gegen 3 Uhr seinen Wagen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnblock abstellt und aussteigt, treffen ihn sechs Kugeln. Erst am nächsten Morgen finden Nachbarn seine Leiche. Der 42-Jährige hinterlässt Frau und fünf Kinder. Es ist eine Abrechnung, so viel steht fest. Doch Nikola Milićević - mit dem Spitznamen Beban ist kein Kleinkrimineller. Auch persönliche Motive liegen nicht vor. Die verwendete Munition und die Art des Mordes lassen bei den Ermittlern stattdessen ganz andere Alarmglocken klingeln: Alles deutet auf den Jugoslawischen Geheimdienst hin. ZUM PODCAST Linktipps: BR (2018): Urbanes Leben als Motor der Gesellschaft Die Städte des Mittelalters waren faszinierende Gebilde. Ganz im Gegensatz zum starren Ständesystem des Mittelalters war das soziale System einer Stadt sehr durchlässig. So konnte sich hier eine ganze eigene Dynamik entfalten. Doch wie wurde man zum Bürger einer Stadt? Und welche Rechte und Pflichten brachte das mit sich? Wer wohnte in einer mittelalterlichen Stadt und wer hatte dort das Sagen? JETZT ANHÖREN
SWR (2023): Mauern, Brunnen, Galgenstricke – Die Stadt im späten Mittelalter Der Film gibt eine Vorstellung von den Zusammenhängen zwischen Recht, Ordnung und Pflicht, in die der Bürger einer mittelalterlichen Stadt eingebunden war. Herausgearbeitet werden diese Begriffe anhand der konkreten und symbolischen Bedeutung einzelner städtischer Anlagen: der Stadtmauer als sichtbarer Grenze des städtischen Wehr- und Rechtsbereichs, der Wasserversorgung als wichtiger Voraussetzung für das Städtewachstum und des Galgens als Zeichen der auf Abschreckung beruhenden mittelalterlichen Gerichtsbarkeit. Mit der Ausweitung des Stadtrechts erhalten die Städte eine eigene Gerichtsbarkeit, an deren Spitze der Stadtrat mit dem Bürgermeister steht. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Im September 1155 wird Pfalzgraf Otto von Wittelsbach zum Kriegshelden. Als Barbarossas Heer in einer Schlucht bei Verona in einen Hinterhalt gerät, erklimmt er mit seinen Männern die steilen Flanken, fällt dem Feind in den Rücken und rettet die Schlacht. 1180 streicht er den Lohn für sein Wagstück ein: Der Kaiser belehnt Otto mit dem Herzogtum Bayern, die Herrschaft der Wittelsbacher beginnt.
SPRECHERIN
Rang und Würde haben sie, aber nun müssen die Wittelsbacher ihren Machtanspruch gegen trotzige Grafen und Bischöfe auch durchsetzen. Dazu brauchen sie Geld und strategisch gut gelegene befestigte Plätze.
SPRECHER
Um ihre Herrschaft auszubauen, setzen die bayerischen Herzöge auf einen Trend, der Ende des 12. Jahrhunderts massiv anschiebt: Die Bevölkerung wächst, die Landwirtschaftserträge steigen, das Handwerk braucht Spezialisten. Wer kann, lässt sich im Umfeld von Burgen und alten Handelsflecken nieder. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entwickeln sich gut 80 dieser rasch wachsenden Siedlungskerne dank herzoglicher Privilegien zu Märkten und Städten.
Den Wittelsbachern kommt diese Urbanisierungswelle äußerst gelegen: Städte verheißen nicht nur Steuern, sie sind auch militärische Machtzentren.
Zsp 1 Veronesi
In den altbayerischen Städten ist es so, dass sich am Fuß der herrschaftlichen Burgen immer mehr Handwerker niederlassen, auch Kaufleute. Diese Siedlungen werden immer größer und so ungefähr darf man sich die Gründung einer Stadt vorstellen. Diese Siedlungen wurden dann geordnet, wurden befestigt, oft noch mit einem Palisadenwall, erst später mit einer Mauer.
SPRECHER
…erklärt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Marco Veronesi vom Haus der Bayerischen Geschichte.
SPRECHERIN
Mauern! Türme! Tore! Die Stadt des hohen und späten Mittelalters riegelt sich ab. Niemand betritt, niemand verlässt sie ungesehen.
SPRECHER
Mauern wehren nicht nur ab. Der Raum, den sie umfassen, ist ein besonderer Rechtsbezirk: Die Stadt setzt sich die Regeln des Zusammenlebens selbst, sie hat Gerichtsgewalt, ist als Bürgergemeinde siegel- und rechtsfähig.
SPRECHERIN
Vor allem aber schafft die Mauer einen klar umgrenzten Friedensrahmen. Wer hier lebt, verzichtet darauf, Konflikte gewaltsam auszutragen. Waffen sind gar nicht oder nur eingeschränkt gestattet.
Sogar die Länge mitgeführter Messer ist vorgeschrieben. Zudem bewahrt die Stadt ihre Bewohner und Gäste vor auswärtigen Zugriffen oder Forderungen und gewährt sicheres Geleit.
Musik 02 (Fight and chase – 0´21 min)
SPRECHER
Außerhalb der Mauern regiert Gewalt. Dort herrscht die Fehde, eine Art legaler bewaffneter Selbstjustiz adliger Herren, die Rechtshändel direkt untereinander klären. Die Bauern tragen die Hauptlast der Kriegszüge. Ihre Felder werden verwüstet, ihre Ställe geplündert, ihre Dörfer und Hüten niedergebrannt, um den Gegner zu schwächen und seine Lebensgrundlage zu vernichten. König, Kirche und Herzöge versuchen die ausufernden Feindseligkeiten einzudämmen. Auf dem Land richten sie dabei wenig aus. Nur die Stadt mit ihrem strikten Fehdeverbot schafft Inseln der Sicherheit. Warum gerade das die Stadt so modern und attraktiv macht, erläutert Beatrix Schönewald, die Leiterin des Stadtmuseums und Stadtarchivs Ingolstadt.
Zsp 2 Schönewald
Frieden ist die essenzielle Voraussetzung für Handel und Gewerbe, für Verkehrssicherheit, für das Miteinander. Die Stadt mit ihrer Friedenspflicht, mit ihrer Friedensverpflichtung, steht am Anfang einer Entwicklung, die bis heute hinaufreicht, ohne Frieden kein Fortschritt.
SPRECHERIN
Die Stadt bedeutet auch Rechtssicherheit. Vom Rat erlassene Gesetze regeln den Alltag. Dass Erb- und Kaufgänge klar geordnet sind, dass Besitz und Schuldverschreibungen besonderen Rechtsschutz genießen, entpuppt sich als entscheidender städtischer Entwicklungsimpuls.
SPRECHER
Ordnung, die auf Recht und Sicherheit gründet, die Chance, durch Handwerk, Handel oder Dienstleistung ein Auskommen zu finden, das ist etwas Neues, etwas, das in die Zukunft weist. Diese Modernität mit ihrem Erneuerungspotenzial spricht Menschen unterschiedlichster Herkunft und gesellschaftlicher Stellung an. Von Gleichheit und schrankenloser Freiheit für alle kann jedoch keine Rede sein.
Zuspielung 3 Schönewald
Wir haben als Bewohner in der Stadt die Bürger mit den vollen Bürgerrechten, die den Rat der Stadt wählen, wir haben in der Stadt Bürger, die arm oder reich sind mit ihren Rechten, wir haben Minderbürger, die zwar einige Rechte haben, aber keine Pflichten, wir haben Inwohner, die keine Rechte und keine Pflichten haben, das sind die Tagelöhner, die Knechte, Mägde, alles, was zum Betrieb eines Hauses gehört. Dann haben wir Sonderrechte, wie zum Beispiel die Juden, dann die Kleriker, Frauen haben auch eine besondere Rechtsstellung.
SPRECHERIN
Die Stadt ist vielschichtig und vielstimmig. Das Sagen hat indes nur eine dünne Oberschicht. Sie erlässt Gesetze und Verordnungen, lenkt das soziale, politische und religiöse Leben. Wie sich diese Elite herausbildet, ist unter Historikern umstritten. Gewiss ist nur eins: Besitz, Ehrbarkeit und lange Ansässigkeit sind eine wesentliche Grundvoraussetzung. Klar ist auch: Die gezielte Herstellung von Öffentlichkeit ist eines der wichtigsten Steuerungs- und Herrschaftsinstrumente des Stadtregiments.
SPRECHER
Öffentlichkeit ist allerdings kein Dauerzustand der mittelalterlichen Stadt.
Sie wird bewusst von oben geschaffen, um Herrschaftsansprüche durchzusetzen und das Gemeinwohl zu organisieren. Das geschieht durch Aushänge und Ausrufer, aber auch durch Rituale und Zeichenhandlungen auf Straßen und Plätzen, auf dem Markt und in der Kirche.
Atmo: Glockengeläut
SPRECHER
Glocken sind das mächtigste Mittel, um die Stadtgemeinde zu versammeln. Glocken rufen zum Gebet, zur Verteidigung, zum Löschen bei Bränden, zur Ratssitzung, zur Bekanntgabe neuer Verordnungen, zur Vollstreckung von Urteilen. Wann immer eine Glocke läutet, passiert etwas Wichtiges. Etwas, das alle betrifft.
Atmo: Feierliches Glockengeläut
SPRECHERIN
Ein besonderes Ereignis steht an: Der Rat wird gewählt. Kein öffentlicher Anlass ist wichtiger, keiner bringt mehr Menschen auf die Beine.
SPRECHER
Der Tag beginnt früh. Am Morgen ziehen die festlich gekleideten Ratsherrn in die Hauptpfarrkirche. Nach der Messe schreiten die Herren durch eine dicht gedrängte Menschenmasse zur Wahl im Rathaus. Die Allgemeinheit hat dabei keinen Zutritt, das machen die ratsfähigen Bürger unter sich aus.
SPRECHERIN
Ein Standardverfahren gibt es dabei nicht. Wann und wie sich der Rat erneuert, ob komplett oder teilweise, ob per Losentscheid, per Abstimmung oder Berufung, unterscheidet sich von Stadt zu Stadt.
Das häufigste Verfahren ist die Kooptation, also die Ergänzungs- oder Zuwahl.
( Musikbeginn) Dabei bestimmen die scheidenden Mitglieder selbst, wer sie ersetzt und wer nachrückt.
Musik 03 (Pavane a 8 von Hans Hake; Musica Fiata, Roland Wilson –
0´50 min)
SPRECHER
Der Rat ist gewählt. Die Herren ziehen zum Dankgottesdienst erneut in die Kirche. Stadtknechte oder Jungbürger halten die Menge auf Distanz. Trommler, Pfeifer, Fahnen oder Fackeln begleiten den Zug, einflussreiche Bürger schließen sich an, die Menge zur Linken und Rechten des Ehrenspaliers johlt.
SPRECHERIN
Spannend ist das alles nicht, das Verfahren lässt keine Überraschungen zu, die Wenigsten haben ein Mitspracherecht. Aber ein Spektakel, eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei ist der prächtige Auftritt allemal. Die Ratswahl ist ein Massenevent, das wie noch heute der Oktoberfesteinzug oder der Besuch gekrönter Häupter Schaulustige in rauen Mengen anlockt.
SPRECHER
Ganz gleich, ob die Herren ihren Eid auf die Gesetze der Stadt noch in der Ratsstube, vor dem Rathaus, auf den Kirchenstufen oder vor dem Altar abgelegt haben, nun ist es Zeit für den Schlussakt eines langen Wahltags. Die Honorablen ziehen in feierlicher Prozession zum gemeinsamen Mahl zurück ins Rathaus. In den folgenden Tagen stehen weitere Umzüge an, mit denen sich der Rat präsentiert, seinen Herrschaftsbereich abschreitet und den Einwohnern das Erlebnis einer tiefen Zusammengehörigkeit vermittelt – wir alle sind Stadt!
SPRECHERIN
Schöne Bilder. Bunt, laut, mittelalterlich. Aber leider nur eine Rekonstruktion, montiert aus zeitlich und räumlich verstreuten Belegen für die spätmittelalterliche Ratswahl.
SPRECHER
Trotzdem: Nichts könnte den Aufbau der Gesellschaft, das Machtgefüge und die Funktion von Öffentlichkeit in der Stadt des Spätmittelalters besser veranschaulichen. Denn die Rituale der Ratserneuerung verknüpfen wichtige Räume, Gruppen und Schichten der Stadt miteinander. Sie sind eine bewusste Inszenierung, eine vielschichtige politische Choreografie, die zentrale Fragen des Zusammenlebens klärt: Wie ist Herrschaft begründet, wie wird sie weitergetragen? Wer schafft an? Wer handelt, wer schaut zu?
SPRECHERIN
Obwohl in der Stadt nur eine kleine Elite regiert, braucht sie die Bestätigung der Stadtgemeinde. Erst die Öffentlichkeit beglaubigt den rechtmäßigen Machtwechsel und damit den Fortbestand der Ratsherrschaft. Blieben die Stadtbewohner dem Umzug fern, sprächen sie ein stummes, aber deutliches Misstrauensvotum aus. Ohne den Rückhalt der Öffentlichkeit hätte der Magistrat ein handfestes Legitimationsproblem.
Atmo: Handglocke , Marktgeräusche
SPRECHER
Die Marktglocke! Sobald sie morgens erklingt, darf so lange gekauft und verkauft werden, bis sie am Abend das Ende der Marktzeit verkündet.
Zsp 4 Veronesi
Der Markt ist der öffentliche Raum per se, der Markt ist ja schließlich auch Urgrund, Entstehungsgrund der Stadt als solcher. Dort, wo eine Stadt entstand, befand sich eben meistens schon ein Markt.
SPRECHERIN
Der Markt ist die Lebensgrundlage der Stadt, ihr wirtschaftlicher Kern, ein Umschlagplatz für Güter und Informationen. Hier stellen Handwerker ihre Waren aus, Bauern verkaufen Getreide, Vieh, Gemüse und Milch, Fernhändler bieten Luxusgüter wie Spezereien, Pelze oder kostbare Tuche feil, Tagelöhner ihre Dienste an, Klatsch, Tratsch und Neuigkeiten machen die Runde.
Zsp 5 Veronesi
Natürlich war der Markt ein öffentlicher Raum, aber ein streng, ein hoch regulierter öffentlicher Raum. Reguliert wurde zunächst einmal, wer überhaupt Zugang hatte zum Markt. Das waren zunächst einmal die Bürger, nicht gesagt war, dass Ortsfremde, so genannte Gäste, überhaupt Zutritt hatten und ihre Waren dort verkaufen durften. Wir hatten die Lebensmittelpolizei in modernen Begriffen, die vor allem den Wein kontrolliert hat, aber auch andere Sachen.
SPRECHER
Die umfassende Kontrolle ist eine Notwendigkeit. (Musikbeginn) Indem die Stadt gewährleistet, dass Nahrung nicht nur erhältlich, sondern erschwinglich und einwandfrei ist, dass Maße, Gewichte, Qualität und Preise stimmen, beugt sie Unruhen vor.
Musik 04 (Saltarello 01 – 0´38)
SPRECHERIN
Die Stadt kontrolliert freilich nicht nur den Markt. Sie greift auf alle Lebensbereiche durch, entfaltet einen Kontrollfuror, der sich nahezu überall und in alles einmischt.
Zsp 6 Schönewald
Reglementieren ist ein Synonym für Stadt: Alles, was das enge Zusammenleben fördert, wird reglementiert. Das betrifft die Kleiderordnungen, das betrifft Vorgaben fürs Tanzhaus, Vorgaben für das nächtliche Schwärmen, Vorgaben, dass man bei Taufen, Hochzeiten, Begräbnissen nicht zu viel Gäste einlädt, da gibt es dann die Festlegung, wie viel -, immer unter dem Aspekt, sich nicht zu verschulden.
SPRECHERIN
Die Bürger sollen nicht protzen, der Schmuck darf nicht zu kostbar sein, die Kleidung nicht zu aufwendig, die Feste nicht zu üppig. Die Abwehr ruinöser Verschwendung ist jedoch nur ein Auslöser der Vorschriftenflut. Im Kern geht es ums große Ganze, um soziale Differenzierung und Disziplinierung.
SPRECHER
Handwerker, die sich wie reiche Kaufleute und Bürger, die sich wie Adlige kleiden? Ein absolutes No Go!
SPRECHERIN
Kleidung ist immer ein sozialer Indikator, ein sichtbares Zeichen, das auf Anhieb zeigt, welcher Schicht der Träger angehört und wo oben und unten ist. Gott hat die Menschen in ihren Stand gesetzt - und dabei soll es auch bleiben! Jeder auf seinem Platz, zum Besten der Allgemeinheit.
SPRECHER
Der Bannstrahl des rigiden Kleiderregiments trifft auffällige Haartrachten, Kopftücher und Hutverzierungen genauso wie eng geschnürte Mieder, tiefe Ausschnitte, nackte Schultern, aber auch Schnabelschuhe, allzu kurze, kniefreie Männerröcke oder üppiges Schminken. Sogar der Rosenkranz ist betroffen: Er darf nicht zu teuer sein und „uber den ars sol man ihn niht tragen, man sol in vorn an der seiten tragn als man von alter her getan hat".
SPRECHERIN
Was heute Schmunzeln oder Kopfschütteln auslöst, hat in der mittelalterlichen Stadt eine ernste, Ordnung stiftende und stabilisierende Bedeutung. Das wird umso wichtiger, je mehr der wirtschaftliche und politische Aufstieg neuer Gruppierungen die Standesgrenzen verwischt. Zur Sorge um den Bestand der weltlichen Ordnung kommt die Furcht vor dem Strafgericht Gottes. Denn hinter Kleiderprunk und Putzsucht lauern Stolz, Hochmut, Eitelkeit. Hochmut aber ist die Ursünde der Menschheit, die Wurzel alles Bösen, eine Kränkung des Schöpfers, der die Lästerung durch Erdbeben, Krankheiten, Missernten, Krieg und Plagen vergilt. Das muss eine verantwortungsvolle Obrigkeit verhindern, zum Wohle aller.
SPRECHER
Herrje, wie mittelalterlich! Doch ganz so weit ist es mit unserer modernen Aufgeklärtheit nun auch nicht her. Dass wir Gesinnungen und Menschen nach der Kleidung taxieren, hat sich seit 1000 Jahren nicht wirklich geändert. Und noch heute können Textilien ausgesprochen starke Reaktionen entfachen.
SPRECHERIN
Als Mitte der 1960er Jahre der Minirock aufkommt, läuft das Establishment Sturm. Der Mini provoziert. Ist er respektlos? Oder ein Statement eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins? Der kniefreie Affront ruft die Hüter von Moral und Tradition auf die Barrikaden. Das Abendland, die Menschheit, die Ordnung, die Moral scheinen in Gefahr.
SPRECHER
Vieles vermeintlich Mittelalterliche hat überdauert, anderes hat sich grundlegend geändert: Während wir den Justizvollzug hinter Mauern verbannen, rückt ihn das Mittelalter in die Mitte der Gesellschaft.
Atmo: Totenglocke
SPRECHERIN
Die Armesünderglocke. Ein zum Tode Verurteilter tritt den letzten Gang an. Sein Schicksal vollendet sich am hellen Tag, sichtbar für alle, ein abschreckendes Exempel, das Öffentlichkeit sucht und braucht.
Zsp 8 Schönewald
Justiz, vor allem der Strafvollzug war öffentlich, weil es zum einen ein politisches Statement abgegeben hat, ein Delinquent, der gegen die Stadtordnung, gegen die Landesordnung verstoßen hat, wurde öffentlich gerichtet. Und es war zweitens auch ein Statement für eine Frühform der Erziehung: Wenn ich Böses tue, dann werde ich öffentlich hingerichtet. Und das war neben dem Vollzug der Todesstrafe natürlich auch ein soziales Element in Form der Demütigung, die es auch im zivilen Recht gab, sprich an den Pranger stellen.
Musik 05 (Glorificemus filium – 0´20)
SPRECHER
In der Rückschau erscheint die Stadt des Spätmittelalters als wohlgeordneter Kosmos mit festen Regeln, klaren Hierarchien und statischer Ruhe. Aber der Schein trügt. Gerade hier gerät das politische und soziale Gefüge zuerst ins Wanken. Mit steigendem Wohlstand drängen neue Schichten nach oben und fordern Einfluss auf Finanzkontrolle und Gesetzgebung.
SPRECHERIN
Nach mehr Macht streben vor allem die Handwerker, die sich in größeren Orten in Zünften zusammenschließen. In den Versammlungshäusern, den Trinkstuben und Handwerkerquartieren rumort es. Selbstbewusste Zunftvertreter stellen Ratsbeschlüsse und die Allmacht der Obrigkeit auf die Probe. Im 14. Jahrhundert verlangen manche der mächtig gewordenen Lobbyverbände Sitz und Stimme im Rat. ( Musikbeginn) Dabei kommen sie nicht nur mit dem Stadtregiment, sondern oft auch mit dem Landesherrn in Konflikt.
Musik 06 (Fight and chase – 0´33 min)
SPRECHERIN
1335 brechen Unruhen in Straubing aus, 1348/49 tobt der Nürnberger Handwerkeraufstand, 1397 reißen die Zünfte in München die Herrschaft an sich. Auch in Landshut kommt es Anfang des 15. Jahrhunderts zur Machtprobe. (Musikende) Während ein erbitterter Bruderzwist die Wittelsbacher lähmt, schafft sich die wohlhabende Handels- und Gewerbestadt neue Freiräume. Die Zünfte sichern sich Mitspracherechte, reiche Ratsherren wollen die Abgaben an die Herzöge schmälern.
SPRECHER
Die Lage spitzt sich zu, als Herzog Heinrich 1404 die Macht in Niederbayern übernimmt. Der neue Herrscher ist habgierig, gewalttätig und jederzeit bereit, das Recht zu beugen. (Musikbeginn) Das Autonomiestreben der Städte ist ihm ein Dorn im Auge. Er lässt sich Ratsbeschlüsse zur Genehmigung vorlegen, ernennt Ratsmitglieder selbst und verbietet Handwerkszünfte.
Musik 07 ( Akkordmarsch 4 – 0´23 min)
SPRECHERIN
Der Streit schwelt vier Jahre. Dann lädt Heinrich am 24. August 1408 die Stadträte auf die Feste Trausnitz. Er lässt ein Mahl servieren - und die Gäste verhaften. Prozesse folgen. Einige Landshuter müssen den Rat verlassen, andere werden verbannt, ihr Vermögen saniert Heinrichs Staatskasse.
SPRECHER
Nach zwei Jahren trügerischer Ruhe kocht das Zerwürfnis erneut hoch. Handwerker und Gewerbetreibende rotten sich zusammen. Einer der Widerständler, Dietrich Röckl, stellt sein Haus als Treffpunkt zur Verfügung. Ob es sich tatsächlich um gewaltbereite Rebellen handelt oder ob nur ein paar Wutbürger randalieren, wissen wir nicht.
Der Herzog jedenfalls fackelt nicht lange und lässt das vermeintliche Verschwörernest am Karfreitag 1410 ausheben. Noch in der Nacht werden mehrere Personen ermordet, Todesurteile folgen. Landshut muss sich Herzog Heinrich unterwerfen, die Selbstverwaltung ist passé.
Nicht nur in Landshut, auch in München, Ingolstadt und außerhalb Bayerns flackern Unruhen auf. Hier wie dort begehren Teile der Bevölkerung gegen ihre Ausbeutung und Stummschaltung auf. Vor allem aber wird Öffentlichkeit nun nicht mehr ausschließlich von oben hergestellt, sie formiert sich jetzt auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft.
Musik 08 ( Under der Linden – 0´40 min)
SPRECHERIN
Die Stadt ist weit mehr als nur ein Ort wirtschaftlicher und sozialer Erneuerungen. Sie ist ein vibrierender Umschlagplatz für neue Ideen mit hoher Sprengkraft. Wo die Gassen eng, die Wege kurz sind, wo man sich auf Plätzen und in Kneipen zwanglos austauscht und innovative Medien wie Buchdruck oder Flugblatt entstehen, wächst die geistige Unruhe. In diesen Druckkesseln zweifeln am Beginn der Neuzeit erst wenige, dann rasch immer mehr reformwillige Köpfe die religiöse und politische Ordnung an. Es sind Städte wie Basel, Mainz, Straßburg und Wittenberg, in denen die reformatorische Kritik an den Verhältnissen in Kirche und Staat zuerst aufflammt und Fuß fasst. Es sind die Städte, die Gärbottiche und Experimentierstuben der kulturellen Erneuerung, die das Mittelalter hinter sich lassen und die Zeitenwende der Reformation einläuten.

May 17, 2024 • 23min
STADTLEBEN FRÜHER - Die Fuggerei in Augsburg
"Wohnung in idyllischer Lage zu vermieten, im Herzen Augsburgs, etwa 60 Quadratmeter groß mit Garten. Die Mietkosten: 88 Cent im Jahr und täglich ein Vater Unser, ein Ave Marie und das Credo für Jakob Fugger und seine Nachkommen". So könnte heute eine Wohnungs-Anzeige aussehen für die älteste Sozialsiedlung der Welt - die Fuggerei. Jakob Fugger genannt "Der Reiche" gründete sie 1521. Damals mussten die Mieter einen rheinischen Gulden pro Jahr bezahlen, heute wären das 88 Cent - und das ist die Summe, die tatsächlich auch heute noch als Jahreskaltmiete verlangt wird. Von Dorit Kreissl (BR 2014)
Credits Autorin & Regie: Doris Kreissl Es sprachen: Herbert Schaefer, Johannes Hitzelberger, Beate Himmelstoß, Franziska Ball Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Sabine Darius, Brigitte Hahn Ein besonderer Linktipp der Redaktion: hr (2024): KRIEG IM SCHATTEN. Warum starb Nikola Milicevic? In der Nacht auf den 13. Januar 1980 kehrt der kroatischstämmige Emigrant Nikola Milićević nach einem Kneipenabend zu seiner Wohnung im Frankfurter Ostend zurück. Als er gegen 3 Uhr seinen Wagen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnblock abstellt und aussteigt, treffen ihn sechs Kugeln. Erst am nächsten Morgen finden Nachbarn seine Leiche. Der 42-Jährige hinterlässt Frau und fünf Kinder. Es ist eine Abrechnung, so viel steht fest. Doch Nikola Milićević - mit dem Spitznamen Beban ist kein Kleinkrimineller. Auch persönliche Motive liegen nicht vor. Die verwendete Munition und die Art des Mordes lassen bei den Ermittlern stattdessen ganz andere Alarmglocken klingeln: Alles deutet auf den Jugoslawischen Geheimdienst hin. ZUM PODCAST Linktipps: Planet Wissen (2024): Die Fuggerei – Sozialbausiedlung seit 500 Jahren Guten Wohnraum für sozial Schwache schaffen, das wollte vor 500 Jahren Jakob Fugger, damals einer der einflussreichsten Unternehmer Europas. Er stiftete die Fuggerei in Augsburg. In der ältesten Sozialbausiedlung der Welt leben noch heute 150 Menschen. ZUM BEITRAG 3sat (2024): Die Fugger im Silberreich Die Fugger gelten als eine der wichtigsten deutschen Handelsdynastien des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Vor allem der Abbau von Silber in Schwaz trug zu ihrem Aufschwung bei. Doch es gibt auch Schattenseiten: Der Silberabbau in Tirol verlangt seine Opfer, das Leben der Bergleute ist hart und es gibt immer wieder Unfälle unter Tage. JETZT ANSEHEN
BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 16. Jahrhundert: Augsburg Augsburg zu Beginn des 16. Jahrhunderts: Eine Stadt der Gegensätze. In ihr leben Großkaufleute, die sich alles leisten können. Deshalb kommen die Wagen bepackt mit unvorstellbar kostbaren Gütern von überall her. Augsburg ist aber auch eine Stadt mit unsäglicher Armut. In ihren Mauern leben Menschen, die ihre Arbeit nicht ernährt, weil alles immer teurer wird. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 04:12 – Der Reiche TC 08:51 – Moderne Fuggerei TC 11:05 – Die Würdigkeit der Armen TC 13:59 – Wer hier wohnte TC 17:45 – Fünf Minuten Glocken Bimmeln TC 21:48 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro
MUSIK
ZITATOR: Barfuß… „Nicht ganz im Klaren darüber, was arm sei, fragte ich zu Hause am Abend meine Tante. Meine Großmutter, die das auch hörte, rief gleich: »Wir sind arm. Der Graf ist reich.« – »Sind wir wirklich arm?«, fragte ich meine Tante nochmal. Ich dachte an unsere saubere Dreizimmerwohnung, an den Flur, der mit einem Läufer ausgelegt war, an das gute Wohnzimmer, das wir an gewöhnlichen Wochentagen zu betreten nicht nötig hatten. »Wenn wir auch nicht reich sind, zu den ganz Armen gehören wir nicht«, sagte meine Tante. Das überzeugte mich“.
ERZÄHLER: Reiner Schmidt wuchs in den 1930er-Jahren in der Fuggerei auf. Seine Kindheits-Erinnerungen hat er in dem Erzählband „Barfuß durch die Finstere Gass“ aufgeschrieben.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER: Betritt man heute die älteste Sozialsiedlung der Welt, ist nichts von Armut zu sehen, im Gegenteil: Sie liegt mitten im Zentrum Augsburgs - eine kleine Stadt in der Stadt mit acht Gassen, drei Toren, zwei Museen, einer Kirche und einem Brunnen - eine stille, idyllisch anmutende Welt, abends immer noch erhellt von Gaslaternen. Schnurgerade reihen sich die 67 ockerfarbenen, einstöckigen Häuschen mit grünen Fensterläden und russischen Giebeln links und rechts der Gassen aneinander. Sie beherbergen 150 Mieter. Auf meinem Rundgang durch die Siedlung begleitet mich Sabine Darius, langjährige Mitarbeiterin der Fuggerschen Stiftungs-Administration:
ATMO Sägen
O-Ton 1 Rundgang 1. Herrengasse – Das ist hier die Herrengasse. Wir sehen hier, wenn wir durchgehen, dass es in der Regel Türenpaare sind, Da geht immer eine Türe in die untere Wohnung und eine Türe in die obere Wohnung. […] Es hatte damals schon wie heute jeder seinen eigenen Eingang. Man teilt sich also keinen Hausgang mit seinem Mitbewohner. Das muss man sich mal vorstellen: bedürftige Leute, schon in der damaligen Zeit, jeder hat seinen eigenen Eingang, kommt deswegen schon mal nicht zum Streit.
ERZÄHLER: Es war eine außergewöhnliche Siedlung, die Jakob Fugger 1521 gegründet hat. Die damals 52 Häuschen mit 106 Wohneinheiten gingen weit über den üblichen Standard der Armenhäuser hinaus, nicht nur was die separaten Eingänge betraf. Sabine Darius:
O-Ton 2 Darius Wenn Sie sich denken, die Wohnungen sind rund 60 Quadratmeter groß. Eine Familie hat also Wohnraum gehabt von drei Zimmern und einer Küche. Er hätte ja den Wohnraum nicht so groß machen müssen. So groß hat ja draußen kaum jemand gewohnt. Er hätte auch ein Zimmer pro Familie zur Verfügung stellen können, dann wäre den Leuten auch geholfen gewesen. Aber er hat Wohnungen in einer Größe bauen lassen, wie wir sie ja heute noch sehen… Das ist modern, wie vor 500 Jahren.
ERZÄHLER: In die Siedlung wurde nicht jeder aufgenommen. Würdige Arme wünschte sich der Stifter. Arbeitsame, in Not geratene Bürger sollten vorübergehend ein Heim finden, bis sie wieder auf eigenen Füssen stehen konnten: Fugger wollte keine Almosenempfänger, er bot Hilfe zur Selbsthilfe an, indem er bezahlbaren und angemessenen Wohnraum schuf, für:
ZITATOR Fugger: „frome arme Taglöner und Handtwercker und Bürger und Inwoner dieser Stadt Augsburg, welche nicht betteln wollen“ O-Ton 3 Darius Viele sind dann hier in der Fuggerei auch ihren Handwerken nachgegangen. Es waren Weber in der Fuggerei, es waren Tagelöhner da, es waren Sackträger – Hucker wie man sie genannt hat – oder Doggenmacher, also Puppenmacher oder Vogelhäuslebauer. Solche Berufe haben die Bewohner gehabt, in der damaligen Zeit
TC 04:12 – Der Reiche
MUSIK
ERZÄHLER: Um das Jahr 1500 lebten etwa 25.000 Menschen in Augsburg. Die freie Reichsstadt war der “wichtigste Finanzplatz der Christenheit und das bedeutendste Handelszentrum Mitteleuropas“, schreibt Bernd Roeck in seiner „Geschichte Augsburgs“. Allerdings…
ZITATOR Roeck "…war es allein eine Handvoll Superreicher, höchstens 200, 300 Leute, von denen das Bild des „Goldenden Augsburgs“ geprägt wurde. Sie waren es, die das finanzielle Fundament legten. Schon Papst Pius II. war die Augusta als reichste Stadt der Welt erschienen.“
ERZÄHLER: Auf der anderen Seite gab es große Armut, und immer mehr karitative Stiftungen entstanden. Ihre Träger waren Kirche, Stadt und wohlhabende private Stifter. Zu den Reichsten der Reichen zählten die Gossembrot, die Rehlingers, die Welser und natürlich auch die Fugger. In dieser Familie stach einer heraus: Jakob Fugger, später auch der Reiche genannt:
MUSIK
ERZÄHLERIN: Jakob Fugger machte Geschäfte mit Gott und der Welt, er schuf einen Weltkonzern. Die Fugger verdienten unter anderem am Textilhandel, Bergbau, Metallhandel mit Kupfer, Gold und Silber und natürlich an Bankgeschäften mit Filialen in ganz Europa. Der Bankier finanzierte Kriege und Könige. Mittels Bestechung hob Jakob Fugger 1519 sogar einen Kaiser auf den Thron: Karl V. Dieser revanchierte sich, indem er die Rechte am Tiroler Erzhandel verlängerte und die Firma vor einer Anklage wegen Monopol-Vergehens rettete. Auch mit der Kirche machten die Familie Geschäfte, betrieb zeitweise sogar Inkassobüros zum Eintreiben von Ablassgeldern. Selbst Jakob Fugger soll ein Ablass-Zertifikat besessen haben. Der nüchterne Geschäftsmann war auch ein wohltätiger, sozial denkender Mensch und ein sehr gläubiger Katholik, für den Fegefeuer und Hölle nichts Irreales waren. Und so glaubte Jakob der Reiche, dass er sich mit dem Bau der Fuggerei sein Plätzchen im Himmel sichern könnte:
O-Ton 4: Darius Das war die Denkweise des damaligen ausgehenden Mittelalters, dass man, wenn man sehr erfolgreich ist und gute Geschäfte macht, einfach auch die Armen nicht vergessen darf. Das ist das Eine. Das Andere war es auch wichtig, dass jemand nicht in Vergessenheit gerät und dass für ihn und seine Familie gebetet wird.
ERZÄHLER: Jakob Fugger der Reiche sorgte dafür, dass er nicht in Vergessenheit geriet. Er dachte sich einen besonderen Mietzins aus, der bis heute gültig ist: ZITATORIN: alle Gebete ineinander verweben "Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen" ZITATOR: Ave Maria Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen. ZITATORIN: Glaubensbekenntnis Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus,gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. ERZÄHLER: Seit 1521 muss jeder Fuggereibewohner täglich drei Gebete sprechen für den Stifter und seine Nachkommen: Das Vater Unser, das Ave Maria und das Glaubens-bekenntnis sind Teil der Miete bis heute. Ein Porträt des von Albrecht Dürer gemalten Jakob Fugger, erinnert in jeder Wohnung daran. Das sind unendlich viele Gebete über die Jahrhunderte. Der reale Mietzins dagegen ist denkbar gering: 1521 betrug die Jahreskaltmiete einen rheinischen Gulden - das war damals der Wochenlohn eines Handwerkers. Heute zahlen die Mieter im Jahr 88 Cent; Hinzu kommen monatliche Nebenkosten von etwa 85 Euro. Diese Einnahmen decken den jährlichen Unterhalt der Siedlung von etwa einer halben Million Euro nicht annähernd. Sabine Darius über die Finanzierung:
O-Ton 5 Darius: schneiden Die Fuggerschen Stiftungen – es ist ja eine gemeinnützige Stiftung seit 1521 – finanziert sich durch Waldwirtschaft. Die Stiftungen sind ausgestattet mit 3.200 Hektar Wald, wo eben Holz verkauft wird. Das macht ungefähr etwa 70 Prozent der Einnahmen aus. Ca. 20 Prozent der Einnahmen kommen seit 2006 aus den Eintrittsgeldern der Fuggerei und ca. 10 Prozent aus Immobilienbesitz außerhalb der Fuggerei.
MUSIK
ZITATOR Finstere Gass. S. 33 Zu gewöhnlichen Zeiten, wenn es keine Baustelle gab, spielten wir natürlich in den Gassen, was streng genommen verboten war, weil es dabei immer laut zuging, in der Fuggerei aber Ruhe herrschen musste. Am liebsten spielten wir Verstecken.
TC 08:51 – Moderne Fuggerei
O-Ton 6 RUNDGANG 2 Darius Der Fuggereibrunnen ist das Herz der Fuggerei. Hier ist die Mittlere Gasse, die Ochsengasse, die Herrengasse, die laufen hier in der Mitte zusammen. Die Bezeichnungen der Gassen sind nach wie vor mittelalterlich. Hier vorne können wir sehen, das ist die Saugasse zum Beispiel, weil vor den dortigen Toren war der Saumarkt - die Herrengase, die Breite Gasse, wo wir im Hintergrund das Senioratsgebäude sehen und auch die Kirche. Wir gehen jetzt in die Ochsengasse rein und besuchen eine Bewohnerin … (Schritte)
ERZÄHLER: Brigitte Hahn wohnt hier in der Ochsengasse. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung mit großer Küche und großem Bad ist ein kleines Schmuckstück. Die Rentnerin lebt seit 2007 in der Fuggerei.
O-Ton 7 Hahn Ja, ich hab zwar 45 Jahre voll gearbeitet und auch einbezahlt, aber es langt halt nicht für draußen, für die hohen Mieten und zum Lebensunterhalt. Dann hab ich mich in der Fuggerei beworben, musste allerdings fünfeinhalb Jahre warten und dann hat es geklappt. (lacht) Wir waren sieben Kinder, am Anfang nur in der Fabrik. Dann hab ich aber selber durch die Hochschule Sekretärin gemacht und einen halben Bankkaufmann – war sieben Jahre in der Deutschen Bank und hab eigentlich immer ganz gute Jobs gehabt, aber es langt trotzdem net.
ERZÄHLER: Die Reaktionen auf ihre neue Bleibe fielen sehr unterschiedlich aus:
O-Ton 8 Hahn Also in meinem Verwandtenkreis und Bekanntenkreis, die haben es nicht richtig verstanden, weil ich ja die ganze Zeit auch gearbeitet hab, dass das so weit kommt. Andere, selbst in der Familie, schauen a bissle auf mich runter. Die sagen, also in der Fuggerei kann man nicht leben, die verstehen nichts vom Leben. Und andere sagen: „Das ist aber toll, da musst Du froh sein“ – das ist also ganz unterschiedlich…
ERZÄHLER: Die Fuggerei-Wohnungen sind begehrt. Die Warteliste ist lang. Wer sich bewirbt, muss Augsburger Bürger, bedürftig, und katholisch sein. Diese Kriterien galten schon vor 500 Jahren.
TC 11:05 – Die Würdigkeit der Armen
MUSIK
ERZÄHLER: Im 19. Jahrhundert wurde die unverschuldete Not und die Würdigkeit der Armen ganz streng geprüft: der sogenannte Armenabhörbogen umfasste 31 Positionen. Fiel die erste Beurteilung durch einen Augsburger Armenpfleger positiv aus, ging die Akte an den Administrator der Fuggerschen Stiftung. Der gab seine Beurteilung ab und leitete das Gesuch an den Familienseniorat weiter, dem Aufsichtsrat der Stiftung. Dieses Gremium hatte das letzte Wort und das ist heute noch so.
MUSIK kurz hoch
Im 19. Jahrhundert waren Krankheit, Tod eines Familienmitglieds sowie das Alter die Hauptursachen für den Abstieg in die Armut. Anke Sczesny dokumentiert in ihrem Band „Der lange Weg in die Fuggerei – Augsburger Armenbriefe des 19. Jahrhunderts“ die Biographien von Bedürftigen. Für viele war der Gang zum Armenpflegschaftsrat bitter, denn er machte die Armut öffentlich. Unter ihnen waren Handwerksmeister, Polizisten, Schreiber, Amtsboten, Kanzlisten, Musiker, Händler und Arbeiter. Viele konnten von einem Beruf nicht leben:
ZITATORIN: „Joseph Neubold verdingte sich gleichzeitig als Taglöhner und als Fabrikarbeiter und der Schneidermeister Matthias Reichhardt, der „seit Jahren auf seiner Profession keinen Erwerb hat, nähret sich mit Einsammeln für Leichenkassen und Austragen für Redactionen von Zeitungsblättern“. Auch der 39-jährige Joseph Herzog, ehemaliger Bataillonstambour, bat dringend um eine Wohnung, da er seine sechsköpfige Familie als Webermeister und Laternenanzünder nicht mehr versorgen könne, obwohl seine beiden älteren Töchter zum Lebensunterhalt durch ihre Fabrikarbeit beitrügen“.
ERZÄHLER: Mit 70 bis 80 Prozent traf die Armut am stärksten die Frauen. Sie verdienten weniger, denn meist waren sie beruflich unterqualifiziert. In der Fuggerei mussten sich alleinstehende Frauen oder Witwen die Wohnung teilen, da sie nur Anrecht auf eine halbe Wohnung hatten; für Männer galt diese Regel nicht. Manchmal war die Not so groß, dass sogar Kinder weggegeben wurden. Die 38-jährige Zimmermanns-Witwe Franziska Schweighoferin, schreibt im Mai 1839 in ihrem Gesuch:
ZITATORIN: „Sie habe ihren schwerkranken Mann ein halbes Jahr gepflegt und während dieses langwierigen Krankenlagers habe aller Verdienst aufgehört, die Ausgaben aber sich immer mehrten, dass sie […]nicht mehr alle gedeckt werden konnten. Ferner habe sie acht Kinder, und obwohl nun diese Tage etwas gemildert werden konnten, daß vier meiner Kinder theils in das Waisenhaus, theils anderswo aufgenommen wurden, so bleibt doch mein Elend noch groß“
TC 13:59 – Wer hier wohnte
MUSIK
ATMO Schritte - Klingelton Schauwohnung
ERZÄHLER: Wir ziehen an der Mittleren Gasse Nummer 13 an einem historischen Klingelzug, wie er noch an vielen Häusern funktioniert. Hier liegt die alte Schauwohnung, die inzwischen allerdings im neu gestalteten Museum überarbeitet wurde. Wie haben hier also die Menschen im frühen 19. Jahrhundert gelebt? Wir treten in den niedrigen Flur. Gleich im Eingangsbereich ist eine große Klappe eingelassen, unter der sich ein etwa ein Meter tiefer Stauraum verbirgt, in dem Vorräte gelagert wurden. Das war der Kühlschrank der damaligen Zeit, erzählt Stiftungsmitarbeiterin Sabine Darius:
O-Ton 9 Rundgang 3 Historische Wohnung Wir sind jetzt hier in der Küche in der historischen Wohnung. Da ist eine offene Kochstelle mit einem Abzug oben. Das sind hölzerne Balken drüber zu sehen… und das Gewölbe diente einfach der besseren Wärmeverteilung im Raum. Was auch ganz modern ist: Man konnte von hier aus den Ofen heizen, der nebenan in der Stube steht. Man hat also nichts schmutzig gemacht in der Stube.
ATMO Schritte
O-Ton 10 Rundgang 4 Jeder, der größer ist als 1 Meter 70 muss den Kopf einziehen. Wir sind hier in der Schlafstube. Wir sehen hier ein Himmelbett sozusagen mit einem Holzhimmel. Das Bett ist relativ schmal und es ist auch relativ kurz. Die Leute haben damals mehr oder weniger im Sitzen geschlafen. Wir sehen auch hier vorne, da ist so eine Bettschere: Also wenn mehrere Personen im Bett gelegen sind, dass keiner vorne rausfällt. In früheren Zeiten konnte man diesen Raum natürlich auch nicht heizen, das war schon sehr, sehr kalt hier. Bevor man ins Bett gegangen ist, hat man hier, wie man unter dem Bett liegen sieht, eine Bettpfanne, da hat man glühende Kohlen reingegeben, und damit das Bett vorgeheizt.
MUSIK ERZÄHLER: Früher lebten in der Fuggerei viel mehr Kinder. Im Jahr 1624 wurden 93 Familien mit 173 Kindern gezählt, für die eigens eine Schule gebaut wurde. Heute leben meist Alleinstehende oder Paare hier. Das liegt vor allem daran, dass die Zwei-Zimmer-Wohnungen für Familien etwas klein sind. Sabine Darius über die Bewohnerstruktur.
O-Ton 11 Darius Es sind Leute, die schon in Rente sind, die vielleicht in Frührente sind, die vielleicht krank sind. Es gibt auch wenige Leute, die Hartz IV beziehen. Es gibt auch wieder Leute, die einer Arbeit nachgehen. …Da sieht man, wie aktuell die Fuggerei ist. Denn, es gibt heute sehr viele Menschen, die nicht so viel verdienen, dass sie draußen ein würdiges Leben führen können. Auch dafür ist die Fuggerei heute wieder da.
ERZÄHLER: Brigitte Hahn genießt ihr Leben in der Fuggerei:
O-Ton 12 Hahn Also am besten gefällt mir in der Fuggerei, dass es so eine kleine Stadt in der Stadt ist. Man hat sehr nette Nachbarn und ist eigentlich so toll integriert. Man ist nicht alleine. Wenn man eben mal a bissle a Rätschle machen will oder was, dann geht ma nebe hie und ansonsten ist man wirklich ganz toll aufgehoben.
ERZÄHLER: A Rätschle machen kann Brigitte Hahn nicht nur mit den Nachbarn sondern auch mit den Touristen. Die fragen die Bewohner gerne aus, vor allem im Sommer, wenn diese in ihren kleinen Gärtchen sitzen, die zur Wohnung gehören. In Spitzenzeiten laufen 1.500 Besucher am Tag durch die Gassen; da ist es natürlich schon laut.
O-Ton 13 Hahn Und Türen darf man auch keine auflassen, dann sind die sofort herin. Sehr neugierig (lacht). Nein, die stören mich nicht, im Gegenteil: das ist recht interessant, wenn‘s so durchgehen und wir werden auch viel gefragt zwischendurch und geben natürlich auch freudig Auskunft.
TC 17:45 – Fünf Minuten Glocken Bimmeln
ERZÄHLER: In derselben Gasse wie Brigitte Hahn lebte einst im Haus Nr. 52 Dorothea Braun. Die Pflegerin in der Krankenstube der Fuggerei war das erste Opfer des Hexenwahns in Augsburg. Eine tragische Geschichte, denn ausgerechnet ihre elfjährige Tochter bezichtigte sie der Hexerei. Unter schwerer Folter gestand die Mutter. Am 25. September 1625 wurde Dorothea Braun enthauptet und verbrannt.
MUSIK
ZITATOR Finstere Gass „War ein Fuggereibewohner gestorben, bimmelte fünf Minuten lang die kleine Glocke von St. Markus. Das konnte mitten am Tag, in einem Spiel oder einem aufregenden Streich sein. Wir Kinder wurden dann meist etwas verlegen, besonders wenn Erwachsene in der Nähe waren, die sich augenblicklich bekreuzigten. Eine Stunde später ging der Verwalter dann mit einer Liste von Tür zu Tür und sammelte für einen Kranz. Meine Großmutter war gehalten, zehn Pfennige zu geben, und auch mein Großvater gab diesen Betrag, wenn er selbst einmal zu dieser Zeit zu Hause war“.
ERZÄHLER: schildert Reiner Schmidt in seinen Kindheitserinnerungen „Barfuß in der Finsteren Gass“. Das war in den 30er- und 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der erste Seelsorger der Fuggerei war Petrus Canisius, geboren im Gründungsjahr 1521. Später wurde er Domprediger in Augsburg und 1925 sogar heiliggesprochen. Die Reihenhaus-Siedlung hat auch heute noch ihren eigenen Priester, der Andachten und Messen in St. Markus hält. Die Kirche wurde 1581/82 erbaut, viele Male umgestaltet und 1950 neu erbaut nachdem sie durch Luftangriffe im zweiten Weltkrieg zerstört worden war.
MUSIK
O-Ton 15 Rundgang 5 Darius Hier sind wir in einer der Grünanlagen der Fuggerei, können hier ganz schön die alte Fuggerei-Mauer sehen. Hier war die ursprüngliche Begrenzung, hier unter diesen grünen Hügel ist der Bunker, der Weltkriegsbunker. Heute haben wir unten eine Dauerausstellung zur Zerstörung der Stadt Augsburg im Zweiten Weltkrieg und zum Wiederaufbau.
ERZÄHLER: In diesem Bunker überlebten 200 Fuggerei-Bewohner die Bombenangriffe in der Nacht vom 24. auf dem 25. Januar 1944:
ZITATOR: Finstere Gass Unzählige Pfeiftöne jagten einander, dauerten im Anschwellen unverschämt lange, wurden immer lauter, dröhnten kaum ertragbar … Der erste Einschlag! Es hob uns vom Stuhl, Kalk rieselte, das Licht ging aus. Die nächste Mine, die nächste Kugel. Die Dächer haben sich geschüttelt und ihre Platten auf die Gassen geworfen.
ERZÄHLER: Die Siedlung wurde bei den Luftangriffen fast völlig zerstört – zum zweiten Mal in ihrer Geschichte; die erste Zerstörung erfolgte 1642 während des Dreißigjährigen Krieges. Aber die Mitglieder des Familienseniorats beschlossen auch dieses Mal, sie schnell wieder aufzubauen. Bereits in den 50er-Jahren war der Wiederaufbau abgeschlossen, danach wurde die Fuggerei sogar um ein Drittel erweitert.
O-Ton 16 Rundgang 5 weiter Diese Häuserzeile, die gegenüber von dem Bunkereingang ist, die ist historisierend aufgebaut worden, das kam hier als Trümmergrundstück dazu. Wir sehen hier auch das Stifterdenkmal von Jakob Fugger und dahinter sehen wir das breite Dach: Das ist heute die Schreinerei und war in früheren Jahren der Pferdestall.
MUSIK
ERZÄHLER: Was Jakob Fugger 1521 begonnen hat, funktioniert 500 Jahre später immer noch. Seinen Nachfahren ist es gelungen, die Stiftung in seinem Sinn fortzuführen und im Familienbesitz zu erhalten. Viele Generationen erhielten durch die Fuggerei die Chance für einen neuen Anfang, fanden hier ein neues Zuhause, oft bis an ihr Lebensende. Und das ist bis heute so.
TC 21:48 - Outro

May 17, 2024 • 22min
STADTLEBEN FRÜHER - Nürnberg im Mittelalter
Im 15. Jahrhundert ist Nürnberg Weltstadt! Fernreisende kommen an Nürnberg kaum vorbei. Die Routen Prag - Paris, Venedig - Hamburg, Krakau - Augsburg führen alle über Nürnberg. Exportschlager von der Pegnitz sind Nadeln, Schüsseln, Kannen, Becher, Leuchter, aber auch Plattenharnische und Kanonenrohre mit gezogenen Läufen. Alles Produkte des gerühmten Nürnberger Einfallsreichtums. Von Michael Zametzer (BR 2020) Credits Autor: Michael Zametzer Regie: Martin Trauner Es sprachen: Thomas Birnstiel Technik: Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Ester Guckenberger, Peter Fleischmann Linktipps: BR (2023): 1806 – Die Nürnberg Saga In drei Folgen erzählt "1806 - Die Nürnberg Saga", wie es dazu kam, dass Nürnberg bayerisch wurde: Vom Niedergang und Ende der Freien Reichsstadt bis zum atemberaubenden Wiederaufstieg Nürnbergs zum industriellen Zentrum Bayerns. JETZT ANSEHEN
BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 15. Jahrhundert: Nürnberg Im 15. Jahrhundert erhält Nürnberg die Reichskleinodien, den Kronschatz des Heiligen Römischen Reiches. Zugleich wird die Stadt ein Zentrum des Handwerks, der Wissenschaften und des Humanismus. Das neue Weltbild der Renaissance hält Einzug. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:20 – Der Anfang einer großen StadtTC 05:02 – Probleme mit dem BurggrafenTC 07:02 – Der Nürnberger WitzTC 10:17 – Grausame jüdische GeschichteTC 13:40 – Heilig, heilig, heiligTC 17:21 – Kunst & KulturTC 19:02 – Vorbei mit Glanz und GloriaTC 21:40 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
ATMO Touristen
1 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinKommen Sie doch ein Stück näher an die Mauer. Dann zeige ich Ihnen von oben einmal die Abgrenzung der ehemaligen Megacity des Mittelalters…
MUSIK
Sprecher:Der Blick über die Altstadt ist beeindruckend, hier oben, von der Burg aus gesehen. Eingerahmt von der mächtigen, sechs Kilometer langen Stadtmauer mit den charakteristischen, runden Wehrtürmen…
2 ZUSP Esther Guckenberger, Stadtführerin…ja, jetzt sehen sie hier vorne bei uns die Sebalduskirche und etwas weiter hinten fast wie ein Zwilling die Lorenzkirche.
ATMO Kirchenglocken
Sprecher: …die beiden Hauptkirchen, die den Altstadtvierteln ihre Namen gegeben haben, getrennt durch die Pegnitz, die durch die Altstadt fließt. Hinten, fast am Horizont, der Reichswald. Heute Naherholungsgebiet, früher Brenn- und Baustofflieferant.
3 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinJa also, ich muss sagen, das ist mein liebster Blick über meine Heimatstadt. Ich glaube, man kann es hören. Ich bin aus Nürnberg.
Sprecher: In zwei Stunden führt Esther Guckenberger vom Verein „Geschichte für alle“ ihre Besucher durch die schönsten Ecken der Nürnberger Altstadt. Heute mit über 500.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Bayerns. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert aber war Nürnberg eine Metropole von europäischem Rang.
4 ZUSP Esther GuckenbergerAlso, Köln war zu der Zeit die größte Stadt im Heiligen Römischen Reich. Und Nürnberg und Augsburg waren immer die zweitgrößten und drittgrößten Städte. Wir wissen nicht genau, wie viele Einwohner es hatte. Aber wir rechnen so mit ungefähr 40.000.
MUSIK
Sprecher: Nürnberg im Mittelalter: das ist eine Handelsmacht, ein Zentrum der Metallverarbeitung. Ort der Innovation und Kunstfertigkeit, von Handel, Gewerbe, Wissenschaft und Kunst.
MUSIK
Sprecher:Nürnberg im Mittelalter: das ist auch große Politik: Hier halten 32 Kaiser ihre Reichstage ab, hier werden im 15. Jahrhundert die Insignien des Reichs aufbewahrt. „Das Schatzkästlein des Reiches“ – so wird die Stadt an der Pegnitz genannt.TC 02:20 – Der Anfang einer großen Stadt
Sprecher:Dabei sind die Anfänge dieser Reichsstadt um das Jahr 1000 herum alles andere als verheißungsvoll. Die Standortfaktoren sind dürftig: Kaum fruchtbarer Boden, keine Bodenschätze. Nur ein bisschen Wald und – Felsen.
5 ZUSP Peter FleischmannIch denke das ganze Pegnitzbecken, das war völlig versteppte Landschaft.
Sprecher: Peter Fleischmann ist Nürnberger und Historiker an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
6 ZUSP Peter FleischmannSie haben kaum Spuren von Zivilisation oder Siedlung gesehen, und wenn man sich diesen abgeaperten Burgfelsen genähert hat, hat man vielleicht aus der Ferne oben ein paar Holzbauten erkannt und auf der Südseite, am Südhang von diesem Burgfelsen einige Häuser, strohgedeckte Hütten, vielleicht ein Palisadenzaun drumrum, in der Mitte spitzt ein kleiner Kirchturm empor. Das dürfte Nürnberg im elften Jahrhundert gewesen sein. q
Sprecher: Ins Licht der Geschichte tritt Nürnberg als „Nourenberc“ im Jahr 1050: Der Anlass – ein Freudiger. Der Salierkaiser Heinrich III. bestätigt auf einem Nürnberger Hoftag die Freilassung einer Leibeigenen mit Namen Sigena. Diese „Sigena-Urkunde“ ist der erste Nachweis für die Existenz Nürnbergs. Bescheidene Anfänge. Aber immerhin kamen schon Könige vorbei, hielten Gericht. Zur aufstrebenden Stadt wird Nürnberg aber erst unter der Herrschaft der Staufer.
7 ZUSP Peter FleischmannMan muss sich zunächst die Frage stellen: Wovon lebt der König? Das Land des Reiches ist aufgeteilt als Lehenherrschaften. Das sind die großen Fürstentümer. Wo wird aber in der Tat etwas erwirtschaftet? Nur in den Städten, dort, wo Handwerk, wo etwas produziert wird, nicht bloß Ackerbau gemacht wird. Und dort haben die Staufer früh gesehen, dass sich das Kapital sammelt, das hier Waren geschaffen werden, die verkauft werden können. Und hier bekommt der König eine Reichssteuer, die er von den anderen Lehensherren nicht bekommt.
MUSIK
Sprecher: Um Nürnberg auch gegen Begehrlichkeiten des nahen Bistums Bamberg zu schützen, stellt Friedrich II. die Nürnberger 1219 mit dem „großen Freiheitsbrief“ unter königlichen Schutz. Kaufleute von der Pegnitz bekommen weitreichende Zollprivilegien, dürfen nicht von fremden Gerichten verurteilt werden. Diese Freiheiten sind erste Schritte auf dem Weg Nürnbergs zur freien Reichsstadt – und damit zur eigenen Verwaltung durch einen Stadtrat. Dreh- und Angelpunkt der Macht an der Pegnitz ist aber immer noch die Burg, die sich im Norden auf dem markanten Sandsteinfelsen erhebt. Genau genommen sind es sogar zwei Burgen.TC 05:02 – Probleme mit dem Burggrafen
ATMO Burg
Sprecher:Esther Guckenberger lenkt die Aufmerksamkeit auf eine seltsam leere Stelle zwischen der Kaiserburg im Osten und dem großen Getreidespeicher im Westen des Burgbergs.
9 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinDort stand eine Burggrafenburg und sie sagen jetzt: wieso ein Burggraf? Nürnberg hat sich doch als Reichsstadt bezeichnet? Ja, und es war genau das Problem.
Sprecher: Die Burggrafen sind die höchsten Vertreter des Königs in Nürnberg. Sie entstammen dem Hochadel und werden vom König belehnt. 1190 übernimmt ein bis dato eher unbedeutendes, schwäbisches Adelsgeschlecht das Burggrafenamt. Ein Geschlecht, das in der deutschen Geschichte aber noch eine entscheidende Rolle spielen sollte.
10 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinEs gab einen Burggrafen aus der Familie der Zollern oder Hohenzollern, wie sie sich später genannt haben. Und der war den Nürnberger natürlich ein Dorn im Auge, dieser Burggraf, der hier, mitten auf der Burg, auch ein Gebäude hatte, und was mitbestimmen wollte in dieser Stadt.
Sprecher: Der Konflikt zwischen Burggrafen und der immer selbstbewusster auftretenden Nürnberger Stadt zieht sich über Jahrhunderte und führt immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die schließlich 1420 im Burggrafenkrieg münden – und der Zerstörung der Burggrafenburg. In der Folge ziehen sich die Hohenzollern aus Nürnberg zurück, um in der Fläche, in Ansbach und Bayreuth eine gewaltige Landesherrschaft aufzubauen. Nun sind die Nürnberger Herren über den Burgberg.
MUSIK
Sprecher: Nach dem Prinzip „Reichstreu, aber frei“ bekennt sich Nürnberg stets zum Kaiser und zahlt auch enorme Summen an Reichssteuern. Im Gegenzug winkt eine Fülle an Privilegien. Und - den Nürnbergern gelingt es 1427, das Amt des Reichsschultheißen, der als Statthalter des Kaisers die Stadt verwaltet hat, zu kaufen. Fortan ist dieser Reichsschultheiß städtischer Beamter. Und Nürnberg wird von einem Rat aus einer Reihe privilegierter Patrizierfamilien regiert. TC 07:02 – Der Nürnberger Witz
11 ZUSP Peter FleischmannMan darf das überhaupt nicht demokratisch sehen, sondern das waren die alten Geschlechter. Das wichtigste Gremium werden die sieben älteren Herren, die sieben grauen Eminenzen. Und das war die eigentliche Stadtregierung.
Sprecher: Dass diese sogenannte „Republik“ Nürnberg alles andere als demokratisch ist, zeigt auch die Tatsache, dass die eigentlichen Stützen von Wohlstand und Handelsmacht gar nicht vertreten sind: Die Handwerker.
12 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinAlso wir haben die Rotschmiedgasse und die Kupferschmiedgasse und die Beckschlagergasse und so weiter, also die ganzen Gassen hier heißen auch immer noch so wie die Handwerker, die hier angesiedelt waren, und eine besonders schöne Straße, die wir hier haben, ist die Weißgerbergasse.
Sprecher: Lederwaren und hochwertig verarbeitete Textilien sind im Hoch- und Spätmittelalter einer der wichtigsten Exportartikel der Reichsstadt Nürnberg. Aber längst nicht der einzige. Die besondere Spezialität der Nürnberger Handerker sind Metallwaren.
MUSIK
Sprecher:Aus dem Erz der Opferpfalz und dem Brennstoff der nahen Reichswälder entstehen Töpfe, Pfannen, Schüsseln, aber auch kunstvoll geschmiedete Plattenharnische und neuartige Kanonen mit gezogenem Lauf, mathematische Präzisionsinstrumente und Uhren. Der sprichwörtliche „Nürnberger Witz“ lobt nicht etwa den Humor, sondern die Gewitztheit der Nürnberger, sagt der Historiker Peter Fleischmann.
13 ZUSP Peter FleischmannDas ist Innovationsfreude, das ist Ideenreichtum, Erfindergeist, und das macht eigentlich, das ist die Wurzel, der spin-off, das macht Nürnberg groß, weil man dann hier ein fantastisches Wissen und Erfahrung entfaltet hat, gerade mit der Metallbearbeitung in allen Varianten. Sie haben im Deutschen Reich keinen Ort, der ein so vielfältiges Handwerk kennt.
Sprecher:Eine Spezialität der Nürnberger ist die Herstellung von gezogenem Draht - die Grundlage für allerlei kleine Metallprodukte wie Ösen, Nägel, Haken. Massenfertigung made in Nürnberg, nur echt mit dem Nürnberger Wappen - ein Exportschlager! „Nürnberger Tand geht durch alle Land“.
14 ZUSP Peter FleischmannDas sind Gegenstände des Alltags, die Masse, und das war das Besondere. Hohe Arbeitsteilung, hoher Output und, ganz wichtig, mit einem Qualitätssiegel: Das ist durch die "Schau" – Qualitätskontrolle - gegangen. Da kann ich mich darauf vertrauen, dass das keine Billigware ist.
Sprecher: Und für den gewinnbringenden Export des „Nürnberger Tands“ sorgen die günstige Lage an einer reihe wichtiger Fernstraßen, weitreichende Privilegien als Reichsstadt und geschäftstüchtige Handelsfamilien.
15 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinIch zeig hier mal eine Grafik. Da, wo mein Finger ist, ist Nürnberg. Wir sagen oft: Nürnberg sitzt hier wie eine Spinne im Netz. Nach Venedig kamen die Schiffe aus dem Orient, und dann wurden die Gewürze über den Landweg nach Nürnberg transportiert. Ja, und da wurde zum Beispiel eben mit den Städten hier an der Küste Tuch gehandelt, den jetzigen Niederlanden. Dann kam aus Frankreich und Spanien kam Wein, aus Russland kamen Pelze, aus Ungarn kamen die Ochsen - die sind selber gelaufen.TC 10:17 – Grausame jüdische Geschichte
ATMO Hauptmarkt
Sprecher: Esther Guckenberger ist mit ihrer Führung mittlerweile auf dem Hauptmarkt angekommen. Die „gute Stube“ Nürnbergs. Er ist der zentrale Platz der Altstadt, am nördlichen Pegnitzufer gelegen. Hier lockt der Christkindlesmarkt jährlich Hunderttausende Besucher zu Glühwein und Lebkuchen – auch so ein Nürnberger Exportschlager übrigens. Und hier steht auch der „Schöne Brunnen“, in Form einer gotischen Kirchturmspitze - ein dreistöckiges Universallexikon des Mittelalters.
16 ZUSP Peter FleischmannUnd ich zieh ganz gern den Vergleich: Der schönen Brunnen mit seinem ganz reichhaltigen, Figurenschmuck, den wir heute nicht mehr verstehen, den aber die Zeitgenossen alle lesen konnten, das ist Bibel, Brockhaus und Grundgesetz in einem.
MUSIK
Sprecher: Der Hauptmarkt war aber nicht immer ein Marktplatz. Ursprünglich lebten hierungefähr zwölfhundert Juden. Sie standen auch unter dem Schutz des Kaisers und mussten dafür die Judensteuer zahlen. Allerdings weckte die zentrale Lage des jüdischen Ghettos im 15. Jahrhundert Begehrlichkeiten bei den Nürnberger Patriziern.
17 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführererinDas war die Zeit, in der große Unsicherheit herrschte, da es viele Unwetter gab und Pestwellen. Und so wurden die Juden als Sündenbock aus den Städten getrieben.
Sprecher: Mehrmals hat es im mittelalterlichen Nürnberg grausame Pogrome an der jüdischen Bevölkerung gegeben. In den Jahren 1348 und 1349 aber erlebt Nürnberg seine wohl größte Krise in der Zeit als Reichsstadt: Nach einem erbitterten Streit um die Nachfolge Kaiser Ludwig des Bayern geht Karl IV. siegreich hervor und reist nach Nürnberg, um sich seine Herrschaft auch vom Rat der Stadt anerkennen zu lassen. Allerdings kommt es darüber in der Stadtregierung zum Streit – der schließlich in die Absetzung des Rates und eine Revolte mündet. Um künftige Aufstände niederzuschlagen, erhält der Stadtrat von Karl IV. einen Freibrief, Aufrührer eigenmächtig zu bestrafen. Zugleich erlaubt diese Urkunde auch Gewalttaten gegen die Nürnberger Juden. Die Folge: ein blutiger Pogrom am 5. Dezember 1349.
18 ZUSP Peter FleischmannAn diesem Samstag, am Sabbat, bricht in Nürnberg ein Aufruhr los. Da stürmt ein aufgehetzter Pöbel das Ghetto, stürmt Judenhäuser und zerrt die Leute raus, schlägt sie tot. Oder sie werden auf dem heute noch so genannten Judenbühl im Norden Nürnbergs verbrannt.
Sprecher:562 Juden werden Opfer der Mordaktion, die vor allem kalt kalkulierte wirtschaftliche Motive hatte. Die Überlebenden der jüdischen Gemeinde fliehen aus der Stadt. Dort, wo die jüdischen Häuser standen, sichern sich einige Patrizier lukrative Grundstücke. Die Synagoge wird niedergerissen und an ihrer Stelle die Frauenkirche gebaut. Ihre Reichsarchitektur bestimmt bis heute das Bild des Hauptmarktes.
19 ZUSP Peter FleischmannAnstelle der Synagoge baut man eine Marienkirche - ein Muster, das sich auch in Rothenburg oder in Würzburg oder in Regensburg wiederholt. Das ist nichts spezifisch Nürnbergisches. Aber die gewaltsame Vertreibung der Juden, daran sollte man denken, wenn man über den Hauptmarkt geht.
MUSIK TC 13:40 – Heilig, heilig, heilig
Sprecher: Mit dem Bau der „Goldene Straße“ nach Böhmen festigt Kaiser Karl IV. die Handelsverbindungen in Richtung Osten. Insgesamt 52mal weilt der Kaiser auf der Burg über der Pegnitz, hält Hoftage und lobt Nürnberg als „vornehmste und bestgelegene Stadt des Reiches“. Und die „Goldene Bulle“ von 1356, das erste „Grundgesetz“ des Reiches, legt nicht nur die Wahl des Königs durch die sieben Kurfürsten in Frankfurt fest, sondern auch dessen Krönung in Aachen, und – den Ort des ersten Reichstages: Nürnberg.
20 ZUSP Peter FleischmannEs war die Repräsentation des Reiches, und der König hat Hof gehalten. Das war manchmal nur ein paar Tage, Wochen, es konnte sich aber auch außergewöhnlich über längere Wochen hinziehen – hat aber dann zu Schwierigkeiten bei der Versorgung geführt. Denn nach einer gewissen Zeit waren halt die Weinkeller ausgetrunken, die Getreidespeicher leer gefressen, und dann musste man weiter ziehen.
Sprecher:Und der Reichstag ist nicht das einzige Großereignis im Nürnberger Kalender:
21 ZUSP Esther Guckenberger: Dazu möchte ich einen Blick auf das jetzt profanste Gebäude am Platze lenken, also wo das goldene “M” zu sehen ist…
Sprecher: …Stadtführerin Esther Guckenberger deutet auf die Filiale eines bekannten Hamburgerrestaurants…
22 ZUSP Esther Guckenberger:…da stand einst ein richtig schönes Patrizierhaus der Familie der Schopper. Und vor dem Schopperschen Haus wurden zwischen den Jahren 1425 und 1524 die Heiltümer gewiesen.
Sprecher: Die Heiltümer, das sind die Reichskleinodien, Insignien kaiserlicher Macht, wie Zepter, Reichsapfel, Schwert. Und eine Reihe von Reliquien. Kaiser Sigismund hat diesen Reichsschatz aus Sicherheitsgründen 1423 nach Nürnberg bringen lassen.
23 ZUSP Esther GuckenbergerUnd Sie glauben nicht, was unsere Kaiser als Reichschatz alles hatten: einen Zahn von Johannes dem Täufer und einen Span von der Krippe und die heilige Lanze – und in der heiligen Lanze, mit der Jesus angeblich in die Seite gestochen wurde, als er am Kreuz hing, war ein Nagel vom Kreuz eingearbeitet…
24 ZUSP Peter FleischmannDas ist eine besondere Form der Volksgläubigkeit. Und das war wirklich beseelend. Wir haben zum Teil Verkehrszählungen aus dem 15. Jahrhundert, da sind Zigtausende nach Nürnberg gekommen, waren glücklich, daran, teilnehmen zu dürfen. Das gesehen haben zu können. Und der König war ja weg. Aber in diesen Gegenständen Krone, Reichsapfel, Schwert, Dalmatica - das war eine Verkörperung des Reichs. Da zeigte sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.
MUSIK
Sprecher: Am Tag der Heiltumsweisung herrscht in Nürnberg Ausnahmezustand: Die Stadt ist zum bersten voll mit Besuchern von weither. Vor einem hölzernen Podest herab weist, also präsentiert, der Heiltumsschreier dem Volk die einzelnen Heiltümer. Und in der Menge halten einige Spiegel in die Richtung der kostbaren Stücke. So soll die wundertätige Kraft, die ihnen nachgesagt wird, eingefangen werden. Für zuhause. Für die kranke Großmutter zum Beispiel, die nicht dabei sein kann. Reichstage, Heiltumsweisungen, Handelsmessen – im 15. und frühen 16. Jahrhundert steht Nürnberg in voller Blüte und entwickelt eine enorme Anziehungskraft. TC 17:21 – Kunst & Kultur
25 ZUSP Esther GuckenbergerDas Haus, das wir hier haben, ist die ehemalige Wohn- und Arbeitsstätte unseres wohl bekanntesten Stadtbürgers: von Albrecht Dürer.
Sprecher: Dürer, der Meister. Das Universalgenie. Und – ein Beispiel für den Erfolg gelungener Integration: Denn Albrecht Dürer hatte Migrationshintergrund. Sein Vater, der ebenfalls Albrecht hieß, stammte aus Ungarn und kam als Goldschmied nach Nürnberg. Albrecht Junior lässt sich in Nürnberg zum Maler ausbilden. Und mehr noch: Er entwickelt ein Verkaufsgenie – und gilt als Erfinder des Labels. Das berühmte Monogram AD kennzeichnet jedes Bild, das seine Werkstatt verlässt.
26 ZUSP Peter FleischmannNürnberg war der Hotspot. Es heißt ja schon bei Martin Luther, Nürnberg ist das Auge und Ohr Deutschlands. Nürnberg lebt von der Zuwanderung. Auch die Zeitgenossen, Veit Stoß, Adam Kraft, die kommen von auswärts. Nürnberger haben natürlich auch eigene Leute rekrutiert. Aber Nürnberg war ein richtiger Magnet. Und weil hier ein Kunstmarkt war, weil hier auch Auftraggeber herkamen, die wussten: Da gibts bedeutende Malerwerkstätten. Da kann ich für eine Kirche einen Hochaltar in Auftrag geben. Oder ich kann wertvolle Goldschmiedearbeiten, Pokale, machen, das machen die Nürnberger am besten.
MUSIK
Sprecher:So entstehen in Nürnberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Nürnberg Ei von Peter Henlein – die erste Taschenuhr, oder auch der berühmte Erdapfel, der Globus des Martin Behaim. Auf diese Blüte – die Stadt hat zeitweise etwa 50.000 Einwohner – folgt die Katastrophe.TC 19:02 – Vorbei mit Glanz und Gloria
Sprecher: In der Reformationszeit bekennt sich Nürnberg sehr früh zum neuen, protestantischen Glauben. Mit gravierenden Folgen.
27 ZUSP Peter Fleischmann: Nürnberg war Kaiser- und Reichstreu, und das bricht der Stadt letztlich auch das Genick. Im 16. Jahrhundert hat der Kaiser als Schützer der Christenheit das Problem, dass die Stadt des Reiches Nürnberg sich der Reformation zuwendet und sich damit auch vom Kaiser abwendet und damit unterkühlt das Verhältnis zum Kaiser.
Sprecher:Von den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, bleibt die Stadt zwar militärisch verschont, die nahe Schlacht bei Zirndorf 1632 aber fordert auch innerhalb der Stadtmauer ihren Tribut.
28 ZUSP Peter FleischmannIn Nürnberg herrscht Chaos. Adlige, Bauern, alles flüchtet sich in die sichere Stadt. Es bleiben viele Verwundete, sieche Soldaten übrig. In Nürnberg grassiert die Hungersnot, und das ist der beste Nährboden, um alle rote Ruhr, Flecktyphus, um diese Seuchen hervorzurufen. Und es ist in der Tat so, dass jeder zweite Nürnberger in den folgenden Jahren 1632 bis 34 stirbt.
MUSIK
Sprecher: Und von diesem dramatischen demographischen Verlust erholt sich die Stadt nicht mehr, bis sie 1806 Teil des neuen Königreichs Bayern wird. Mit nur 25.000 Einwohnern sackt die einstige Reichsstadt in die politische Bedeutungslosigkeit ab. Was bleibt, ist die bürgerliche Kultur und die Kunstfertigkeit des Handwerks. Ein Herr Goethe kommt nach Nürnberg, weil er die besten Hersteller von mechanischen Instrumenten dort findet. Im 19. Jahrhundert wird Nürnberg zur Industriemetropole Bayerns. Der alte Glanz der Reichsstadt aber ist endgültig weg.
MUSIK
Sprecher:Und was alle Belagerungen und Plünderungen in über 500 Jahren nicht vermocht haben, das schaffen schließlich Fanatismus und Faschismus: Am 2. Januar 1945 wird das mittelalterliche Nürnberg, von Adolf Hitler zur „Stadt der Reichsparteitage“ zweifelhaft geadelt, von alliierten Bombern zu fast 90 Prozent zerstört.
29 ZUSP Esther Guckenberger, StadtführerinDas Problem ist ja für Nürnberg: Das ist keine mittelalterliche Stadt mehr, sondern es ist eine wiederaufgebaute mittelalterliche Stadt. Und man hat dann direkt nach dem Krieg gesagt: Allmächt, was machen wir jetzt mit unserer Stadt? Es gab verschiedene Szenarien, und eine davon war: wir lassen sie liegen und vergehen und bauen daneben eine moderne Planstadt hin - Bin ich froh, dass es nicht so geworden ist!TC 21:40 - Outro

May 10, 2024 • 24min
HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT - Die Staatsgründung Israels
Am 14.05.1948 endet das britische Mandat über Palästina. Noch am gleichen Nachmittag ruft David Ben Gurion den unabhängigen Staat Israel aus. Damit geht der Wunsch vieler Jüdinnen und Juden in Erfüllung, nach den letzten Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung zurückkehren zu können nach Zion, dem "Land der Väter". Der Weg von der Idee Theodor Herzls, in Palästina eine "Heimstätte" für das jüdische Volk zu schaffen, bis zum Staat Israel war lang. Von Beginn an war er von Konflikten und Interessenskollisionen bestimmt. Von Ulrike Beck (BR 2018)
Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Johannes Hitzelberger Technik: Miriam Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Gudrun Krämer, Peter Lintl
Ein besonderer Linktipp der Redaktion: BR24: Lost in Nahost – Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Der Konflikt im Nahen Osten ist kompliziert. Es ist schwer den Überblick zu behalten. Was werfen die gegnerischen Seiten einander vor? Warum wird so hart gekämpft? In diesem Podcast haben die Korrespondent:innen der ARD aus dem Studio Tel Aviv und Expert:innen aktuelle Fragen beantwortet, erklärt und eingeordnet. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:02 – Der Vater des ZionismusTC 06:43 – Eine Geschichte jüdischer ZuwanderungTC 10:07 – Zwischen den StühlenTC 12:49 – Ein Ende der ZurückhaltungTC 15:13 – Die UN und das „Palästinaproblem“TC 19:36 – (K)eine Lösung?TC 23:14 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
1.O-Ton ( David Ben Gurion - unter dem Text weiterlaufen lassen)Nicht übersetzt: Proklamation Ben Gurion
ErzählerIsraels erster Ministerpräsident David Ben Gurion ruft am 14. Mai 1948 den unabhängigen Staat Israel aus.
O-Ton ausNur wenige Stunden nach dem Ende des britischen Mandats über Palästina. Damit geht für viele Juden der Wunsch in Erfüllung, nach den Jahrzehnten der Verfolgung und Ermordung nun nach Zion, in das „Land der Väter“ zurückkehren zu können.
MUSIK
ErzählerinDie Sehnsucht nach einer Rückkehr ins „verheißene Land“ ist nicht neu. Sie ist so alt wie das fast zweitausendjährige Exil nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. und der Vertreibung der Juden aus Palästina. Die Idee, in Eretz Israel, dem "Land Israel" einen israelischen Staat zu gründen, ist allerdings noch jung.
ErzählerSie entsteht Ende des 19.Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Zionismus. Was darunter zu verstehen ist, erklärt die Historikerin und Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer:
MUSIK aus
2.O-Ton: (Krämer ab 0:01)Im weitesten Sinne die Sehnsucht nach Zion. Ein Alternativbegriff zu Jerusalem. Das kann religiös und kulturell sein. Es kann sich aber auch politisch zuspitzen. Ist dann eine Ausprägung des Nationalismus, wie er sich im 19.Jahrhundert in ganz vielen Formen herausbildete. Und beschreibt im konkreten Fall den jüdischen Nationalismus, der davon ausgeht, dass die Juden nicht nur eine religiöse Gemeinschaft sind, sondern auch eine politische und als solche auch den Anspruch besitzen, den andere Völker haben: die Bildung eines eigenen Staates.TC 02:02 – Der Vater des Zionismus
MUSIK
ErzählerinAls Vater des politischen Zionismus gilt Theodor Herzl. Ein jüdischer Intellektueller aus Wien, der ab 1891 als Korrespondent für die Zeitung „Neue Freie Presse“ in Paris arbeitet. Unter dem Eindruck der Affäre um Alfred Dreyfus, der als Hauptmann jüdischer Herkunft wegen angeblicher Militärspionage verbannt wird und zwei Jahre später trotz erwiesener Unschuld verurteilt bleibt, besteht für Herzl Handlungsbedarf.
ErzählerAls Antwort auf den wachsenden Antisemitismus schreibt Herzl sein Buch „Der Judenstaat“, das zum Manifest für die Selbstbestimmung in einer eigenen Nation werden soll. Darin heißt es:
MUSIK aus
Zitator: (Herzl S. 4)„Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale, noch für eine religiöse. Sie ist eine nationale Frage und um sie zu lösen, müssen wir sie zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird.“
MUSIK ErzählerinDie von Herzl angesprochene „Judenfrage“ ist spätestens seit 1881 - nach dem Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. - von existentieller Wichtigkeit. Obwohl die Täter der extremistischen Organisation „Narodnaja Wolja“, übersetzt „Volkswille“, angehören, wird die Schuld zunächst „den“ Juden angelastet. In der Folge kommt es bereits ab 1881 zu einer ersten Welle von Pogromen in Russland und in Polen. Wie mit dieser Situation umgehen? Der Politikwissenschaftler Peter Lintl:
MUSIK aus
3.O-Ton (Lintl ab 1:03)Für die Genese des Zionismus (…) ganz zentral ist sicherlich der europäische Antisemitismus und die Frage - was in Europa als die sogenannte „jüdische Frage“ bezeichnet wird. Nämlich: Was soll man mit den Juden in Europa machen? Darauf gab es im Judentum auch unterschiedliche Antworten. Zum einen in West- und Zentraleuropa den Versuch, sich zu integrieren und zu akkulturieren, manchmal auch zu assimilieren, d.h. durch größtmögliche Anpassung die Judenfeindschaft zurückzudrängen. In Osteuropa war es eher das Anhängen an der Tradition. (…) da herrschte auch die Hoffnung vor, dass einfach durch Gottvertrauen der Antisemitismus als Phänomen in der Geschichte vorbei gehen würde. Der Zionismus hingegen sagt: Nein, die jüdische Frage kann nicht in Europa gelöst werden, sondern wir müssen unser Schicksal in unsere eigenen Hände nehmen und wir müssen unseren eigenen Staat gründen.
Erzähler„Der Judenstaat“ erscheint am 14.Februar 1896 in Wien und wird in 18 Sprachen übersetzt. Darin entwirft Theodor Herzl ein Programm, wie es gelingen kann, einen Staat für das jüdische Volk zu schaffen. Als künftige Landessprache erscheint ihm Deutsch geeigneter, als das alttestamentarische Hebräisch. Als passenden Ort favorisiert er neben Palästina auch Argentinien. Gudrun Krämer:
4.O-Ton: (Krämer ab 0:56)Theodor Herzl war ein bürgerlicher Aktivist. Ein Journalist, der in ganz rechtlichen Bahnen dachte und als Voraussetzung für den Erfolg annahm, dass die (…) führenden europäischen Länder, bzw. Staaten plus die USA diese Idee eines jüdischen Staates unterstützen müssten. So dass hier nicht quasi wild Kolonien und Siedlungen errichtet würden, sondern dass von vornherein eine internationale Gemeinschaft hinter diesem Plan stünde und darauf dringen könnte, in Eretz Israel, also Palästina, oder auch an anderem Orte, einen wohlgeordneten jüdischen Staat entstehen zu lassen.
ErzählerinAm 3.September 1897 gründet sich auf Initiative Herzls die Zionistische Weltorganisation. Auf ihrem ersten Kongress in Basel verabschiedet die ZWO ihr Grundsatzprogramm. Mit dem zentralen Ziel der „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“. Jetzt war also klar - es sollte um Palästina gehen.
ErzählerDoch um dieses Ziel zu erreichen, braucht Theodor Herzl als Präsident der Zionistischen Weltorganisation Unterstützung. Was angesichts des wachsenden Antisemitismus in Europa ein Problem ist. Gudrun Krämer:
5.O-Ton: Er hatte nicht die Unterstützung der Regierungen, wie viele Teile auch der jüdischen Bevölkerung dieser Idee sehr skeptisch gegenüber standen, nicht so recht sehen konnten, wohin die Reise gehen würde. Er hatte Zuspruch unter jüdischen Gemeinschaften in Osteuropa, obwohl er selber ausgesprochen westeuropäischer Jude war und sich auch in erster Linie an die westeuropäischen jüdischen und nichtjüdischen Eliten richtete. Aber der Druck auf Juden war in Osteuropa stärker als in Westeuropa und daher auch die Zustimmung in jener Zeit der noch recht unspezifischen Idee eines jüdischen Staates. TC 06:43 – Eine Geschichte jüdischer Zuwanderung
MUSIK
ErzählerinDie ersten jüdischen Zuwanderer kommen bereits 1882 nach Palästina. Es sind rund 30.000 osteuropäische Juden, die vor allem wegen der antisemitischen Übergriffe in Russland und Polen auswandern. Sie kommen in ein Land, das damals Teil des Osmanischen Reiches ist:
MUSIK aus
Palästina.
MUSIK
ErzählerDas Land ist keineswegs unbewohnt. 350.000 Menschen leben hier. Die überwiegende Mehrheit sind Araber sunnitisch-muslimischen Glaubens. Neben ihnen gibt es auch eine große christliche Gemeinschaft und gläubige Juden.
AKZENT Glockengeläut Muezzin
ErzählerinDie Bewohner Palästinas sind Ende des 19.Jahrhunderts vor allem im Süden des Landes sesshaft. Die meisten von ihnen sind Bauern.
ErzählerIn den Städten leben Handwerker, Kaufleute, Unternehmer und die lokale Oberschicht, Notabeln genannt. Außer der Hauptstadt Jerusalem sind vor allem die Hafenstädte Haifa und Jaffa bedeutend, ebenso wie die Bergstadt Nablus.
MUSIK
ErzählerinFür die Bewohner Palästinas ändert sich mit den neuen Zuwanderern viel. Denn mit der sogenannten zweiten Alija, der zweiten Einwanderungswelle kommen ab 1903 rund 40.000 weitere jüdische Einwanderer, die vor den erneuten Pogromen in Russland und Polen fliehen. Und sich daran machen, auf dem Land Boden zu kaufen, um dort nach sozialistischem Vorbild in Produktionsgemeinschaften Landwirtschaft zu betreiben. Peter Lintl:
6.O-Ton: Insbesondere die zweite und die dritte Alija war sozialistisch geprägt. Das sieht man nicht nur an den Kibbuzim und Mosharim, also basisdemokratischen Kollektiven, die quasi ohne individuelles Eigentum oder mit sehr wenig individuellem Eigentum auskamen, aber vielmehr sieht man das auch noch in den Idealen, die die zionistische Bewegung der Zeit prägten. Also da war das Ideal des unabhängigen, heroischen Pioniers, des Haluts, des neuen Hebräers, der sein Land - Eretz Israel - bearbeitet und sich damit auch zu eigen macht. Das drückt sich z.B. sehr deutlich in der Formel „Erlösung des Landes durch die Eroberung des Bodens“ aus. Dazu kommt auch das Prinzip der hebräischen Arbeit. Man wollte unabhängig sein von arabischen Arbeitern und wollte alles selbst erarbeiten.
ErzählerDie jüdischen Zuwanderer verwenden moderne Technologien, um den Boden zu bearbeiten und zu bewässern. Sie bauen Zitrusfrüchte an, die für den Export bestimmt sind. Die meisten von ihnen leben allerdings nicht auf dem Land, sondern lassen sich in den Städten nieder. Sie brauchen Platz. 1909 entsteht neben der alten Hafenstadt Jaffa die heutige Millionenmetropole Tel Aviv.
ErzählerinSchon bald beginnen die jüdischen Bewohner Palästinas sich zu organisieren. Sie gründen nicht nur Vereine, Verbände und Clubs, sondern errichten auch Bibliotheken und das Technion in Haifa - die erste Universität. Mit Gründung der Gewerkschaftsorganisation Histadrud schaffen sie sich einen eigenen Arbeitsmarkt. Und organisieren zum Schutz ihrer Siedlungen Wächter, die Schomreen.
ErzählerZwischen der arabischen Bevölkerung und den jüdischen Zuwanderern bilden sich in dem kleinen Land Parallelgesellschaften heraus.
MUSIK
TC 10:07 – Zwischen den Stühlen
ErzählerinBis 1917 steht Palästina unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. Doch gegen die Osmanen formiert sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts die nationalarabische Bewegung. Ihr Ziel ist ein unabhängiges Vereinigtes Arabisches Königreich, das neben Palästina auch Syrien, den Libanon und Jordanien umfassen soll.
ErzählerEin Plan, der nicht aufgeht, denn im Ersten Weltkrieg erhöht sich der Stellenwert Palästinas für die europäischen Großmächte.
MUSIK aus
Großbritannien erobert das Land und erhält 1922 das Mandat über Palästina. Peter Lintl:
7.O-Ton Zunächst ist für Großbritannien Palästina strategisch wichtig. Der Zugang zum Suezkanal ist eine Sache. Ist ein Teil der Landbrücke nach Indien und alle Wege nach Indien sind für das britische Empire zur Zeit des Kolonialismus einfach zentral. In Palästina wird Großbritannien tatsächlich vor eine Herausforderung gestellt, weil es klar ist, dass es zwei verschiedenen Interessen gerecht werden muss. Einmal der palästinensischen Seite, die dort einen Staat errichten will. Zumindest im Laufe der Zeit kristallisiert sich der palästinensische Nationalismus immer klarer heraus. Und auf der anderen Seite dem Zionismus, der das ähnliche Ziel hat oder das nämliche. Deswegen spricht man von der doppelten Verpflichtung der Briten, der dual Obligation, die sie zu erfüllen hat.
ErzählerinSchon rund fünf Jahre zuvor, am 2.November 1917, schreibt der britische Außenminister Lord Arthur Balfour an den Vorsitzenden der Zionistischen Vereinigung in England einen Brief, der als „Balfour-Erklärung“ von zentraler Bedeutung sein wird. Darin verspricht Balfour Lord Lionel Walter Rothschild:
Zitator:"Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte."
8.O-Ton: ( Krämer ab ca. 15:15)Dieses Versprechen, das zunächst keine völkerrechtlich bindende Funktion hatte, wurde in den Mandatsvertrag übernommen, bzw. in dessen Präambel und erhielt dadurch ein ganz anderen rechtlichen Status. Hinzu kam aber eine Verpflichtung, die Großbritannien als Mandatsmacht gegenüber der lokalen Bevölkerung - mehrheitlich arabisch - sie bereit zu machen für die Übernahme politischer Verantwortung. In letzter Konsequenz für die Unabhängigkeit. Und wie sich herausstellen sollte, konnte man nicht beiden Seiten gerecht werden. TC 12:49 – Ein Ende der Zurückhaltung
MUSIK
ErzählerAb 1919 kommen mit der dritten und vierten Alija 115.000 jüdische Zuwanderer nach Palästina. Es sind so viele, dass die arabische Bevölkerung befürchtet, bald in der Minderheit zu sein. Es kommt zu ersten blutigen Ausschreitungen, die sich ab 1920 zunächst gegen die Zionisten richten, bald jedoch auch gegen die britischen Mandatsbehörden. Der Konflikt führt dazu, dass sich die jüdischen Einwanderer militarisieren. Die jüdische Armee, die „Hagana“ formiert sich. Peter Lintl:
MUSIK aus
9.O-Ton: Bis dato war eigentlich das Prinzip der Zurückhaltung - geprägt noch von einem jüdischen Quiezismus noch aus der Exilszeit zu sehen, aber danach mit der weiteren Eskalation des Konflikts kann man sehen, wie sich auch der Zionismus Stück für Stück militarisiert. Grundsätzlich ist natürlich der Konflikt: Wem gehört das Land? Und über diesen Konflikt kommt es zu mehreren Ausbrüchen von Gewalt. Ganz bekannt ist 1920/21, dann 1929 und dann zum größeren palästinensischen Aufstand 1936 bis '39, der dann von den Briten relativ blutig niedergeschlagen wird. ErzählerinUm die zunehmende Eskalation der Gewalt zwischen beiden Seiten einzudämmen, machen die britischen Mandatsträger im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der arabischen Seite Zugeständnisse. Mit dem MacDonald-Weißbuch beschränkt Großbritannien im Mai 1939 die Einwanderung von Juden auf 75.000 für die nächsten fünf Jahre. Gudrun Krämer:
10.O-Ton: Die Konsequenzen waren von vornherein abzusehen. Die Briten banden die Zahl der Zuwanderer an die Aufnahmefähigkeit des arabischen Sektors - so war die Formulierung, also zunächst einmal an die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Setzten aber noch eins drauf, indem sie auch die politische Willigkeit der arabischen Bevölkerung mit in Rechnung nahmen. Und die Konsequenz war ganz klar, dass dieses die Zuwanderungsmöglichkeit der jüdischen Zuwanderer nach Palästina begrenzte. In einer Zeit, in der durch den Antisemitismus und die Judenverfolgung in großen Teilen Europas der Druck auf die jüdischen Bewohner Europas wuchs, sich eine Alternative zu suchen, also auszuwandern. Darunter auch nach Palästina.TC 15:13 – Die UN und das „Palästinaproblem“
ErzählerBis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus versucht der britische Mandatsträger, europäische Juden daran zu hindern, in Palästina einzuwandern. Dennoch ist die Zahl der illegalen Immigranten in der Zeit der NS-Diktatur hoch. Rund 75.000 schaffen es, trotz der restriktiven Politik, nach Palästina zu kommen. MUSIK
ErzählerinAls Exempel gegen die illegale Einwanderung wird zwei Jahre nach dem Ende des Holocaust die Odyssee des Schiffes „Exodus“ weltweit bekannt. Das Schiff steuert im Juli 1947 mit über 4.000 jüdischen KZ-Überlebenden an Bord den Hafen von Haifa an. 20 Meilen vor der Küste wird die „Exodus“ von britischen Kriegsschiffen angegriffen. Die Passagiere werden im Hafen auf drei britische Gefängnisschiffe verteilt und nach Frankreich zurückgeschickt.
ErzählerDort weigern sie sich, an Land zu gehen. Die Odyssee geht weiter - über Gibraltar nach Hamburg. Wo die jüdischen Flüchtlinge mit Gewalt von Bord geholt und in Lagern untergebracht werden. Gesichert mit Wachtürmen und Stacheldraht.Unter dem Druck der weltweiten Empörung kommen die Passagiere der „Exodus“ im Oktober 1947 frei.
MUSIK aus
ErzählerinSchon Monate vor dem Drama der „Exodus“ sieht sich die Mandatsmacht Großbritannien nicht mehr in der Lage, sowohl für den jüdischen, als auch für den arabischen Teil der Bevölkerung in Palästina eine annehmbare Lösung zu finden. Daher beschließt die britische Regierung am 14. Februar 1947, das „Palästinaproblem“ an die Vereinten Nationen zu übergeben.
MUSIK
ErzählerDamit übernehmen die 1945 gegründeten Vereinten Nationen als Nachfolger des Völkerbundes die Aufgabe, eine Lösung für die politische Zukunft Palästinas zu finden. Sie setzen eine Sonderkommission ein, das „United Nations Special Committee on Palestine“, kurz: UNSCOP.
ErzählerinDas in seinem Bericht den Plan vorlegt, Palästina zu teilen. MUSIK aus
In einen jüdischen Staat, bestehend aus 56 Prozent des Territoriums. Und einen arabischen Staat, bestehen aus 43 Prozent des Territoriums. Jerusalem mit seiner zentralen Bedeutung für Juden, Christen und Muslime soll als internationales Gebiet neutral bleiben.
ErzählerAm 29.November 1947 stimmt die UN-Vollversammlung mit der Resolution 181 dafür, Palästina zu teilen und das britische Mandat aufzuheben.
11.O-Ton ( UN-Vollversammlung)
ErzählerinGegen die Resolution stimmen nicht nur Afghanistan, Ägypten, Iran, Irak, Jemen, Libanon und Pakistan, sondern auch Griechenland, Indien und Kuba
MUSIK
ErzählerFür den Fall der Verwirklichung des Teilungsplanes kündigt die 1945 gegründete Arabische Liga bereits im Vorfeld an, militärische Maßnahmen zu ergreifen und eine „Arabische Befreiungsarmee“ aufzustellen. Unmittelbar nach dem UN-Beschluss kommt es in Palästina zu erbitterten Gefechten zwischen arabischen und jüdischen Militäreinheiten. Am 1. April 1948 beginnt der Plan Dalet. Eine Offensive der Hagana, der jüdischen Armee. Gudrun Krämer:
MUSIK aus
12. O-Ton: Die Kommission der Vereinten Nationen hatte nach sorgsamer Betrachtung der Realitäten zwei Staaten vorgeschlagen, die jeweils aus nur lose miteinander verknüpften kleinen Territorien bestehen würde. Und hatte dabei der jüdischen Seite dabei mehr Land zugesprochen, als zu dieser Zeit von Juden rechtlich besessen war. Also erworben, gekauft worden war. (…) Das war natürlich konfliktträchtig. Und der Plan Dalet, Plan D., lief nun darauf hinaus, das Land, das die Vereinten Nationen den Juden zugesprochen hatte, auch tatsächlich militärisch zu kontrollieren. Also gewissermaßen im Vorgriff auf die Ausrufung des jüdischen Staates bereits Realitäten zu schaffen. Und dieses war nur möglich durch Anwendung von Gewalt. TC 19:36 – (K)eine Lösung?
MUSIK
ErzählerinIm Laufe der Militäroffensive kommt es am 9. April 1948 zum Massaker im arabischen Dorf Deir Yassin, bei dem 250 Menschen ermordet werden. Die meisten davon sind Frauen und Kinder. Verantwortlich für das Massaker sind die extremistischen Untergrundorganisationen Lehy und Irgun, die damit die arabische Bevölkerung einschüchtern und vertreiben wollen. Peter Lintl:
MUSIK aus
13.O-Ton: Das Massaker von Deir Yassin wurde verübt von zwei Organisationen und die hatten ganz offensichtlich das Ziel, das Dorf zu säubern. Die Hagana selbst, also die Hauptverteidigungsarmee der Zionisten, hatte damit nichts zu tun und hat dieses Massaker auch verurteilt. Gleichwohl auch die Hagana hat dann in Flugblättern, die dann über Haifa abgeworfen worden sind, Andeutungen gemacht, dass es dieses Massaker gegeben hätte und hat das dann ein Stück weit instrumentalisiert. Sie wollten nicht sagen, dass sie das auch verüben, aber damit Furcht geschürt. Umgekehrt hat der jüdische Bürgermeister von Haifa die Araber, die daraufhin geflohen sind, aufgerufen, hier zu bleiben.
MUSIK
ErzählerDie radikalen Kampforganisationen „Irgun“ und „Lehi“ verüben auch Attentate gegen britische Verwaltungseinrichtungen und Politiker. Am 22. Juli 1946 sprengt ein Kommando der Gruppe „Irgun“ das „King David Hotel“ in Jerusalem in die Luft. Bei dem Sprengstoffattentat auf das Hotel, dem Sitz mehrerer Abteilungen der britischen Mandatsverwaltung, kommen 91 Menschen ums Leben.
MUSIK aus
ErzählerinAm 14. Mai 1948 verlässt der letzte britische Hochkommissar Sir Alan Cunningham Palästina. Einige Stunden nach dem Ende des britischen Mandats tritt der jüdische Volksrat im Stadtmuseum von Tel Aviv zusammen. Wo David Ben Gurion unter dem Porträt Theodor Herzls die Proklamation des Staates Israel verliest.
14.O-Ton (nochmal O-Ton Ben Gurion)
ErzählerMit der Gründung des Staates Israels wird Theodor Herzls Vision eines jüdischen Staates in Palästina Wirklichkeit. Nur wenige Stunden nach der Proklamation erkennen die USA und die Sowjetunion den neuen Staat an. Gudrun Krämer:
15.O-Ton: Aus zionistischer Sicht war das der Erfolg, den man herbeigesehnt hatte und den man mit allen Mitteln zu verteidigen gewillt war. Wenig überraschend ist auch die Reaktion auf arabischer Seite, wo selbstverständlich die Gründung dieses Staates als Desaster empfunden wurde. Zumal er sich verband nicht mit der Gründung eines palästinensisch-arabischen Staates, sondern der Vertreibung von etwa 700.000 Arabern aus dem nun jüdischen Staat. und daher das, was man im arabischen als „Nakba“ kennt, also die Katastrophe.
MUSIK
ErzählerinAm Tag nach der Staatsgründung wird Israel von den umliegenden arabischen Staaten angegriffen und muss sich gegen die Armeen Ägyptens, Transjordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak zur Wehr setzen. Was mithilfe von Waffen aus dem Ausland gelingt. Der erste Nahostkrieg endet 1949 mit dem Sieg Israels. Ein Erfolg, durch den sich der noch junge Staat etabliert.
MUSIK aus
TC 23:14 – Outro

May 10, 2024 • 26min
HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT - Palästinenser und die Nakba
Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. Von Claudia Steiner (BR 2024)
Credits Autorin: Claudia Steiner Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Amberger, Sebastian Fischer Technik: Miriam Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Sarah El Bulbeisi, Dr. Jan Busse, Prof. Eckart Woertz
Ein besonderer Linktipp der Redaktion: BR24: Lost in Nahost – Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza Der Konflikt im Nahen Osten ist kompliziert. Es ist schwer den Überblick zu behalten. Was werfen die gegnerischen Seiten einander vor? Warum wird so hart gekämpft? In diesem Podcast haben die Korrespondentinnen und Korrespondenten der ARD aus dem Studio Tel Aviv zusammen mit Fachleuten aktuelle Fragen beantwortet, erklärt und eingeordnet. ZUM PODCAST Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:26 – Wie alles begannTC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung?TC 06:55 – Tabu, Trauma & IdentitätTC 10:51 – Die Folgen der VertreibungTC 15:34 – Im GazastreifenTC 20:52 - WendepunkteTC 24:30 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)
SPRECHERIN Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beschäftigt die Welt seit Jahrzehnten. Es ist ein Konflikt, mit dem sich die Vereinten Nationen und viele Staats- und Regierungschefs befasst haben – immer wieder. Es gab verschiedene Ideen und Ansätze. Doch eine Lösung wurde bisher nicht gefunden.
ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)
SPRECHERINDer Staat Palästina wurde 1988 formal proklamiert. Bis heute ist er von 139 Staaten anerkannt. Viele arabisch-sprechende Länder, aber auch Russland, große Teile Afrikas und Südamerikas, aber auch Schweden kennen den Staat Palästina an - die USA, Frankreich oder auch Deutschland nicht. Doch wer sind die Palästinenser? Was fordern sie? Und was bedeutet dieser Konflikt mit Israel für das Leben der Menschen im Gazastreifen, im Westjordanland, in den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten oder im Exil in anderen Ländern? Die Lebenswirklichkeiten der Palästinenser unterscheiden sich – je nachdem wo sie ansässig sind - teils stark; und damit auch ihre Probleme und Ängste. Was viele eint, ist das Trauma der Nakba, also die Flucht und Vertreibung im Jahr 1948 und die Hoffnung, wieder in ihre Dörfer und Städte zurückkehren zu können.
MUSIK (z.B. Dabke-Tanz/Musik)
SPRECHERINDie historische Region Palästina bezeichnet ein Gebiet an der südöstlichen Mittelmeerküste. In der Region herrschten unter anderem Philister, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Römer, Byzantiner, verschiedene arabische Dynastien und die Osmanen. Seit dem späten 7. Jahrhundert lebten dort Juden, Christen und Muslime. Ebenso wie Israelis verweisen Palästinenser auf biblische Vorläufer, sagt der Politologe Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München.
O-TON 1 (Busse, 1.04) Also man beruft sich bei den Palästinensern ein Stück weit auf die Philister und sieht da auch eine sprachliche Nähe zu dem Begriff Palästinenser, ein Stück weit vielleicht auch zu den Kanaanitern, aber natürlich auch zu den großen arabischen Dynastien, den Umayyaden, Abbasiden, Fatimiden. (…) Aber ich glaube, entscheidend ist vielmehr diese Idee eines Nationalbewusstseins als modernes Phänomen.
TC 02:26 – Wie alles begann
MUSIK
SPRECHERINIm Jahr 1834 kam es im Osmanischen Reich zu einem Bauernaufstand, der sich gegen die Wehrpflicht und Steuerpolitik richtete. Manche Historiker betrachten diesen Aufstand als Geburtsstunde des palästinensischen Nationalismus. Andere sprechen erst gegen Ende des 19. beziehungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer nationalen Identität der Palästinenser.
O-TON 2 (Busse, 2.20) Und die Soziologie hat es sehr gut gezeigt: Identitäten bilden sich eigentlich immer in Abgrenzung zu einem Gegenüber und vor dem Hintergrund – das gilt für beide Gruppen, für Israelis und Palästinenser - spielt eben dieses Andere, dieses Gegenüber da eine ganz zentrale Rolle.
SPRECHERINIm Ersten Weltkrieg eroberten britische Truppen Palästina – das Land wurde britisches Mandatsgebiet. 1882 waren noch mehr als 96 Prozent der Bevölkerung arabisch beziehungsweise palästinensisch. Juden machten nur etwas mehr als drei Prozent aus. Seit Ende des 19. Jahrhundert nahm die jüdische Zuwanderung zu – der in Europa entstehende politische Zionismus hatte das Ziel, einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Angesichts der Verfolgung in Europa wanderten schließlich immer mehr Juden ins biblische „Heilige Land“ ein. 1931 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung bereits 16 Prozent, 1946 dann 31 Prozent. Dies führte zu blutigen Zusammenstößen und Aufständen – die Gewalt ging von beiden Seiten aus:
O-TON 3 (Busse, 7.52) Die britische Mandatsverwaltung hat selbst in den 30er-Jahren schon Teilungspläne vorgeschlagen, weil sie eben gemerkt hat, dass das eine Lösung darstellen könnte, weil es eben immer wieder zu Spannungen zwischen der damaligen arabischen und jüdischen Bevölkerung kam.
TC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung?
MUSIK
SPRECHERINUm die aufgeheizte Stimmung in den Griff zu bekommen, schränkte die britische Besatzung den Zuzug von Juden ein – zu einer Zeit, in der die Verfolgung von Juden in Deutschland unter der NSDAP immer weiter zunahm. Doch Unmut richtete sich nun nicht nur gegen die jeweils andere Bevölkerungsgruppe, sondern auch gegen die britische Besatzung. Sowohl Araber als auch Juden nahmen die Briten als Besatzungsmacht wahr, die den eigenen nationalen Bestrebungen im Weg standen. Die Briten bekamen den Konflikt nicht unter Kontrolle und wollten die Verantwortung für das Mandat abgeben, auch wegen der Kosten. Sie baten deshalb die 1945 neu gegründeten Vereinten Nationen um Hilfe. Ein UN-Sonderausschuss erarbeitete einen Lösungsvorschlag. Im November 1947 verabschiedete die UN-Generalversammlung einen Teilungsplan. In der Resolution 181 (II) hieß es. Die Generalversammlung…
ZITATOR…empfiehlt dem Vereinigten Königreich als der Mandatsmacht für Palästina und allen anderen Mitgliedern der Vereinten Nationen hinsichtlich der künftigen Regierung Palästinas die Verabschiedung und Durchführung des nachstehend dargelegten Teilungsplans mit Wirtschaftsunion…
SPRECHERIN33 Staaten stimmten für die Resolution, 13 dagegen, unter ihnen mehrere arabische Staaten. Es gab zehn Enthaltungen. Der Plan sah eine Teilung des Gebiets vor, sagt Jan Busse. Doch:
O-TON 4 (Busse, 6.02) Das Problem war allerdings, dass eben 56 Prozent dieses Staates einem jüdischen Staat zugeschlagen werden sollten und 43 Prozent einem arabischen, wohingegen das Bevölkerungsverhältnis so aussah, dass wir 70 Prozent Araber hatten und 30 Prozent Juden. Und vor dem Hintergrund lehnte die arabische Seite diesen Plan ab und war nicht zu einer Teilung bereit, was ihr teilweise bis heute vorgeworfen wird, wohingegen die Vertreter des politischen Zionismus auf jüdischer Seite diesen Plan eben zugestimmt haben.
SPRECHERINOffiziell zumindest, tatsächlich spekulierte die jüdische Seite auch auf Gebiete, die laut UN-Plan der arabischen Seite zustanden, sagt Professor Eckart Woertz. Er ist Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg.
O-TON 5 (Woertz, 7.22) Wir wissen aus Hintergrundgesprächen, Tagebuchnotizen und so weiter vom israelischen Staatsgründer Ben-Gurion, dass das Verständnis auf israelischer Seite war: Na ja, jetzt akzeptieren wir das erst mal. Danach können wir immer noch vielleicht irgendwie expandieren.
TC 06:55 – Tabu, Trauma & Identität
SPRECHERINAm 14. Mai 1948 verließen die letzten britischen Truppen Palästina. Der designierte Ministerpräsident David Ben-Gurion rief den Staat Israel aus. Schon in der darauffolgenden Nacht griffen Ägypten, Transjordanien, Syrien, der Libanon und der Irak Israel an. Das israelische Militär bestand aus Kämpfern aus Untergrundorganisationen und Freiwilligen. Dieser Krieg ging mit zwei Namen in die Geschichte ein: Für Juden ist es der Unabhängigkeitskrieg, für Araber die Nakba, die Katastrophe. Israelische Einheiten eroberten im Laufe des Kriegs etwa 40 Prozent des Gebiets, das laut UN-Teilungsplan der arabischen Bevölkerung zustand. Viele arabische Dörfer und Städte wurden zerstört. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen etwa 700.000 Palästinenser, die palästinensische Seite nennt höhere Zahlen. Die Menschen flüchteten unter anderem in den Libanon, nach Syrien, nach Jordanien, wo heute rund die Hälfte der Bevölkerung palästinensische Wurzeln hat, ins Westjordanland und in den Gazastreifen.
ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)
SPRECHERINEs folgten zahlreiche weitere militärische Konflikte: 1967 kam es zum Sechstagekrieg. Israel reagierte auf eine Bedrohungslage durch Ägypten, Jordanien und Syrien mit einem Präventivschlag gegen die Luftwaffenbasen seiner Nachbarstaaten. Israel eroberte im Zuge des Kriegs das Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem, den Gazastreifen, Teile der Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Erneut flüchteten Hunderttausende Palästinenser, zum Teil auch, weil ihr Land annektiert und ihnen damit ihre Lebensgrundlage entzogen wurde. Diejenigen, die blieben, lebten nun im Westjordanland, in Jerusalem und im Gazastreifen unter israelischer Besatzung und Militärverwaltung. Sarah El Bulbeisi vom Orient-Institut in Beirut spricht von einem kollektiven Trauma. Die Wissenschaftlerin, deren Familienangehörige im Gazastreifen leben, promovierte zum Thema Tabu, Trauma und Identität von Palästinensern in Deutschland und der Schweiz.
O-TON 6 (Bulbeisi, 3.57) Mittlerweile verstehen Palästinenserinnen unter Nakba eben nicht nur diese Massenvertreibungen von 1947, 48, sondern die Vertreibungen, die bis heute andauern, also auch die Vertreibungen zur Zeit des Kriegs (…) 1967, die Vertreibungen, die im Zuge der Besatzung erfolgten, wo wieder mehrere Hunderttausend Palästinenser vertrieben wurden. (…) Aber mittlerweile verstehen Palästinenser unter Nakba auch die Vertreibung, deren Zeugen wir heute sind, die Vertreibungen, die im Zuge des Gazakriegs, die 2023 und 2024 erfolgen.
SPRECHERINGemeint ist die jüngste Flucht der Menschen im abgeriegelten Gazastreifen vom Norden in den Süden nach dem brutalen Angriff der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Nach israelischen Angaben wurden mehr als 1.200 Menschen getötet, mehr als 2.700 verletzt. Es gab Vergewaltigungen and andere Gräueltaten. Mehr als 250 Geiseln wurden verschleppt. Auf diesen Angriff reagierte Israel mit einem Gegenangriff. Nach Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza sind bei diesen Militäraktionen mit Stand Anfang April mehr als 33.000 Menschen getötet worden, knapp 76.000 Menschen wurden verletzt, und tausende Opfer, die noch nicht geborgen werden konnten, werden unter den Trümmern vermutet. Das palästinensische Gesundheitsministerium wird von der Hamas geführt, die Vereinten Nationen erachten aber die Zahlen als weitgehend richtig.
TC 10:51 – Die Folgen der Vertreibung
SPRECHERINViele Palästinenser kennen die Geschichte der Vertreibung aus Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern. Viele jüngere Menschen mussten selbst schon fliehen oder wurden vertrieben. Die Folgen dieser Fluchterfahrungen seien verheerend, betont Sarah El Bulbeisi.
O-TON 7 (Bulbeisi, 8.49) Also Vertreibung ist eigentlich nur eine Hälfte der Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung dieser Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung der (…) systematischen Vertreibung ist eigentlich das, was mindestens so prägend ist. Und wir wissen auch aus der Traumaforschung, dass Trauma nicht einfach ein einzelnes Ereignis ist, dass Trauma immer ein Prozess ist, und es ist essenziell, wie Gesellschaft, wie die Umwelt auf Gewalterfahrung reagiert. Und im palästinensischen Kontext war es eben so, dass diese Gewalterfahrung negiert und einem aberkannt wurde und diese Tabuisierung der palästinensischen Gewalterfahrung, die hat dazu geführt, dass Menschen, ganze Biografien (…) zerbrochen sind an diesem Gefühl, eigentlich keine Menschen zu sein.
SPRECHERINDas Trauma der Vertreibung beeinflusst das Leben vieler Palästinenser, in den besetzten Gebieten, aber auch in der Diaspora. Viele hegen den Wunsch auf Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren, betont Eckart Woertz.
O-TON 9 (Woertz, 19.02) Selbst Kinder, die die Abstammungsregionen ihrer Eltern nie kennengelernt haben, sprechen dann von ihrem Heimatdorf, das da und da war und jetzt halt im heutigen israelischen Kernland ist. Also auch diese Vision, dass man da vielleicht noch einmal zurückkehren kann, das - denke ich - auch in einer Zwei-Staaten-Lösung so nicht realisierbar ist. Das ist, glaube ich, eine Pille, die die Palästinenser werden schlucken müssen, dass es ein Rückkehrrecht so nicht geben wird. Aber klar, das ist ganz klar ein Sehnsuchtsort auch für Palästinenser in der Diaspora.
MUSIK
SPRECHERINAls Folge der ersten großen Vertreibung wurde Ende 1949 das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, gegründet. Die Organisation soll palästinensischen Flüchtlingen Hilfe und Schutz gewähren. Eckart Woertz:
O-TON 10 (Woertz, 21.07) Das UNRWA, das Hilfswerk speziell für die Palästinenser (…) ist ein ganz wichtiger Dienstleistungsfaktor in den palästinensischen Gebieten, von Nahrungsmittellieferung bis zum Schulwesen und so weiter. Wird hier auch von Israel kritisiert, dass die sagen: Da wird so ein Flüchtlingsstatus,- sagen wir mal - verewigt, weil, das gilt ja normalerweise nur für Leute, die diese Fluchterfahrung noch haben. SPRECHERINBeim Palästinenserflüchtlingshilfswerk UNRWA sind 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge registriert. Sie nehmen völkerrechtlich eine Sonderstellung ein: Nur den palästinensischen Flüchtlingen der ersten Vertreibung wird der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Status wird aber auf Nachkommen vererbt. UNRWA kümmert sich um die Versorgung von registrierten Palästina-Flüchtlingen im Gazastreifen, im Westjordanland, Jordanien, Syrien und im Libanon. Weil sich mehrere Mitarbeiter des Hilfswerks am Angriff gegen Israel am 7. Oktober beteiligt haben sollen, gab es zuletzt scharfe Kritik an der UNRWA.
MUSIK SPRECHERINViele UNRWA-Flüchtlinge und Palästinenser sind staatenlos. Das heißt: Sie können nicht eingebürgert werden, nicht arbeiten, nicht reisen. In Deutschland können sie zum Beispiel auch kein Asyl beantragen. Sie werden nur geduldet. Auch die Tatsache, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation 1988 einen unabhängigen palästinensischen Staat ausrief, ändert daran nichts, denn Berlin hat zwar ein Vertretungsbüro in Ramallah, erkennt Palästina aber nicht als unabhängigen Staat an. Weltweit gibt es etwa 14,5 Millionen Palästinenser, davon etwa fünfeinhalb Millionen im Westjordanland und im Gazastreifen. Viele Palästinenser leben zudem in Golfstaaten, in Mitteleuropa, in Nordamerika oder auch in Chile. Jan Busse:
O-TON 11 (Busse, 3.16) Und dann gibt es natürlich auch noch knapp zwei Millionen arabische Israelis, also Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft und auch einen Teil in Ost-Jerusalem, was unter israelischer Kontrolle ist.
TC 15:34 – Im Gazastreifen
SPRECHERINIm Gazastreifen, dem Küstenstreifen, dessen Grenzen von Israel und Ägypten kontrolliert werden, war die Lebenssituation der Menschen schon vor dem 7. Oktober 2023 schwierig. Nach Angaben der Weltbank waren dort rund die Hälfte der Menschen arbeitslos, mehr als zwei Drittel von Hilfslieferungen abhängig: Als Folge der israelischen Angriffe auf die Hamas im Gazastreifen liegen inzwischen weite Teile des Küstenstreifens in Trümmern. Auch im Westjordanland gibt es seit langem starke Einschränkungen. Jan Busse:
O-TON 12 (Busse, 19.44) Es ist im Grunde so, dass das Leben im Westjordanland geprägt ist dadurch, dass es eben die israelische Besatzung gibt und die Präsenz von inzwischen, wenn man Ost-Jerusalem mitzählt, 700.000 Siedlerinnen und Siedlern. Das sorgt dafür, dass die Menschen dort mit einer extremen Unsicherheit konfrontiert sind, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen von militanten Siedlern, die teilweise Olivenbäume zerstören oder auch gewalttätig Personen angreifen.
SPRECHERIN Zudem ist im Westjordanland die Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv eingeschränkt, es gibt zahlreiche Kontrollpunkte. Viele Ortschaften sind abgeriegelt. 2016 bezeichnete der UN-Sicherheitsrat den Siedlungsbau als Verletzung des internationalen Rechts und forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Die Einflussmöglichkeiten der palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung sind begrenzt. Abbas, Nachfolger des einst populären ersten Palästinenser-Präsidenten Jassir Arafat, wird von vielen Palästinensern als kraftlos angesehen. Hinzu kommt, dass der Autonomiebehörde Korruption vorgeworden wird. Die Zustimmungswerte für Abbas waren 2023 Umfragen zufolge auf einem Tiefpunkt, zugleich stiegen die Zustimmungswerte für die Hamas. Die aus der Muslimbruderschaft entstandene Hamas verwaltet seit den Parlamentswahlen 2006 den Gazastreifen. 2007 kam es zum Bruch zwischen Hamas und Fatah, die Hamas riss in einer gewaltsamen Konfrontation die Macht an sich. Von der Europäischen Union und den USA wird die Hamas, die immer wieder Anschläge auf Zivilisten verübt und die Vernichtung Israels zum Ziel hat, als Terrororganisation eingestuft. Demokratisch legitimiert waren zuletzt weder die Hamas, noch die Fatah. Neuwahlen wurde zwar mehrmals angekündigt, fanden jedoch wegen Streitigkeiten zwischen beiden Seiten nicht statt.
O-TON 13 (Busse, 21.50) Und wenn man sich dann vor Augen führt, dass im Gazastreifen rund die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist, dann hat niemand von denen jemals die Hamas wählen können oder auch abwählen können. Diese Menschen konnten den Gazastreifen nie verlassen, weil es seit dieser Blockade kaum möglich ist, und haben dafür aber tatsächlich mehrere Kriege schon miterlebt seit dieser Zeit 2008, 2009, 2012, 2014, 2022 und eben auch jetzt.
SPRECHERINVertreibung, Flucht, Krieg, Gewalt – dies könnte zu einer weiteren Radikalisierung führen, befürchten Experten wie Jan Busse.
O-TON 14 (Busse, 23.19) Ich denke, dass die Tatsache, dass der aktuelle Krieg, den Israel im Gazastreifen führt, mit der massiven Zerstörung, die dort stattfindet, sicherlich perspektivisch dazu führen wird, dass es eben alles andere als ein De-Radikalisierungsprogramm ist. Es gibt unzählige, es gibt Tausende Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Es gibt zahlreiche Menschen, die Familienangehörige verloren haben, die ihr Zuhause verloren haben. Und ich befürchte, dass das sicherlich die Grundlage sein könnte, dass sich in Zukunft mehr Menschen radikalen-bewaffneten Gruppen anschließen werden.
SPRECHERINViele Palästinenser werfen dem Westen vor, dass er sich nicht kümmert. Sie fühlen sich allein gelassen und vergessen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International kritisieren die israelische Politik: Amnesty legte 2022 einen Bericht vor, in dem die Menschenrechtsorganisation Israel vorwarf, an den Palästinenserinnen und Palästinensern Apartheid zu verüben und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Die israelische Regierung wies den Bericht als – Zitat - „falsch, einseitig und antisemitisch“ zurück. Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik empfahl damals:
ZITATOR Die Bundesregierung sollte sich den Apartheid-Vorwurf vor einer sorgfältigen Prüfung durch die zuständigen Organe weder zu eigen machen noch ihn abtun. Sie sollte den AI-Bericht aber als Weckruf verstehen, gravierende Menschenrechts¬verletzungen nicht länger als eine Normalität hinzunehmen, und die andauernde Be¬satzung nicht als einen Zustand zu betrach¬ten, der losgelöst von einem „demokrati¬schen Israel“ existiert.
SPRECHERINInzwischen ist auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag involviert. Das Gericht muss entscheiden, ob der palästinensische Vorwurf zutrifft, dass Israel in den besetzten Gebieten eine Form von Apartheid praktiziere. Das Gutachten steht noch aus.
TC 20:52 - Wendepunkte
MUSIK
SPRECHERINDie Lage seit dem 7. Oktober 2023 erscheint aussichtslos – in den 1990er Jahren hatte es zeitweise berechtigte Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung und Frieden gegeben. In der Präambel des Abkommen Oslo I erkannte die PLO das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967, also nach dem Sechstagekrieg, an und Israel akzeptierte die PLO als Vertreter des palästinensischen Volkes. Für die Friedensverhandlungen erhielten PLO-Chef Jassir Arafat, Israels Außenminister Shimon Peres und Premier Jitzchak Rabin 1994 gemeinsam den Friedensnobelpreis. Doch die Gründung eines palästinensischen Staates scheiterte.
O-TON 15 (Busse, 9.45)Die Rahmenbedingungen dafür waren tatsächlich sehr, sehr schlecht. Und das lag vor allem daran, dass es eben auf beiden Seiten auch Akteure gab, die diesen Oslo-Friedensprozess abgelehnt haben. Auf palästinensischer Seite ist allen voran sicherlich die Hamas und ähnliche Akteure zu nennen, die unter anderem durch Selbstmordattentate auch versucht haben, diesen Friedensprozess zu sabotieren. Auf israelischer Seite wurde der Siedlungsbau unvermindert fortgesetzt, also zwischen 1992 und 2000, also eigentlich dieser Oslo-Phase ungefähr, hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland verdoppelt, gleichzeitig gab es auch dort radikale Kräfte. Der Oppositionspolitiker Netanjahu hat damals sehr stark gegen den Premierminister Rabin gehetzt und ein rechtsextremer, ein jüdischer Attentäter hat Itzhak Rabin dann auch ermordet.
SPRECHERINNach Oslo I und Oslo II 1995, das unter anderem den gestaffelten Rückzug israelischer Streitkräfte aus palästinensischen Regionen vorsah, gab es mehrere Anläufe, den Friedensprozess wiederzubeleben und mindestens ebenso viele Rückschläge. Die rechts-religiöse Koalition des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu legte 2022 im Regierungsprogramm ein – Zitat – „exklusives und unveräußerliches Recht des jüdischen Volkes auf das ganze Land“ fest. Die radikale Hamas fordert ein Palästina „From the river to the sea“ – also vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer - und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage. Derzeit ist keine Lösung in Sicht, allerdings gab es in der Geschichte des Nahost-Konflikts schon oft beachtliche Wendungen. Jan Busse:
O-TON 16 (Busse, 15.33) Ich glaube, es ist auch wichtig, die Hamas nicht als Blackbox zu behandeln, sondern sich auch vor Augen zu führen, dass es dort Hardliner gibt. Das sind diejenigen aus meiner Sicht, die eben hauptverantwortlich sind, auch für das Attentat vom 7. Oktober, aber eben auch potenziell Kräfte vorhanden sein könnten, die irgendwann mal einen gewissen Wandel einleiten könnten. Denn letzten Endes: Jassir Arafat ist ursprünglich als Terrorist aktiv gewesen, hat später den Friedensnobelpreis gekriegt.
MUSIK
SPRECHERINEine vergleichbare Wandlung gab es auch bei dem israelischen Politiker Menachem Begin, der von 1977 bis 1983 Ministerpräsident war.
O-TON 17 (Weiter) Der hat den Friedensnobelpreis gekriegt für den Frieden mit Ägypten und die britische Mandatsmacht hat ihn Ende der 40er-Jahre noch als Terroristen steckbrieflich gesucht. Also so schnell kann sich da auch einen Wandel im Laufe der Jahrzehnte einziehen, auch wenn das momentan sicherlich schwer vorstellbar ist.
MUSIK TC 24:30 – Outro

Apr 29, 2024 • 35min
KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Folge 3: Cinzia
Cinzia schafft es kaum noch, sich auf den Beinen zu halten. Drei Stunden Schlaf, mehr sind nicht drin. So beschreibt die Teenagerin ihre Arbeit auf dem Campingplatz. Dabei darf sie laut Gesetz noch gar nicht arbeiten - weil sie zu jung ist. Sie ist eine von ca. 336.000 Minderjährigen, die arbeiten müssen. Nicht vor langer Zeit, sondern heute. In unserem Nachbarland Italien. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab.
Credits Autorin: Paula Lochte Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Kathrin von Steinburg, Marie Jensen Technik: Roland Böhm Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram
Besondere Linktipps der Redaktion: ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945 Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM. BR24: Die Entscheidung. Politik, die uns bis heute prägt. Wir haben "1 Thema, 3 Köpfe" weiterentwickelt! Neuer Name, neuer Zuschnitt, noch mehr Tiefe: Es gibt politische Entscheidungen, die unser Leben heute massiv beeinflussen. Wir wollen die Gegenwart verstehen und kehren deshalb mit euch zu diesen Entscheidungen zurück. Was ist damals passiert? Warum? Zusammen mit Expertinnen und Experten und Leuten, die wirklich dabei waren, puzzeln wir die wichtigsten Bausteine zusammen und klären, welche Folgen das Ganze bis heute für uns hat. Jeden Monatsanfang ein aktuelles Thema, tief diskutiert über mehrere Folgen. Hier geht’s zum PODCAST.
Linktipps:
radioReportage (2023): Mangel an Arbeitskräften – Rückkehr der Kinderarbeit in den USA Zu viel Arbeit für zu wenige Menschen. In vielen Ländern fehlen Arbeitskräfte - auch in den USA. Dort gehen einige Bundesstaaten deshalb einen umstrittenen Weg: Sie setzen darauf, dass Minderjährige mehr arbeiten und haben deshalb die Regeln gelockert. Kinderschützer schlagen Alarm. Sie warnen, dass vor allem junge Migranten ausgenutzt werden. Hier geht’s zur RADIOREPORTAGE. Save the Children (2023): It’s not a game – Save the Children’s Survey on Child Labour in Italy Die englische Zusammenfassung der Erhebung der Kinderrechtsorganisation Save the Children zur Kinderarbeit in Italien. Hier geht’s zu den ERGEBNISSEN. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:37 – Arbeiten wo andere Urlaub machenTC 09:57 – Es geht bergabTC 15:08 – Moderne Sklaverei für Kartoffeln und SalatTC 24:16 – Steckt’s in unserer Kultur?TC 28:52 – Raus aus dem TeufelskreisTC 32:32 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro
Autorin Sie schafft es kaum, sich auf den Beinen zu halten. Denn sie hat nur drei Stunden geschlafen. Wie gestern. Vorgestern. Und in den Nächten davor. Sie muss die Wasserflaschen in den Minimarkt tragen. Die Regale einräumen. Geputzt hat sie auch noch nicht. Aber die 12-Jährige ist so müde! Also schleppt sie sich zu einer der Liegen auf dem Campingplatz. Behält ihre Turnschuhe vielleicht einfach an. Nur kurz mal hinlegen, dann wird es wieder gehen. Der Chef ist ohnehin noch nicht da, der kommt meistens später. Der 12-Jährigen fallen die Augen zu. Vielleicht hört sie das Meer rauschen, vielleicht träumt sie längst. Über dem Küstenstädtchen Scalea im Süden Italiens färbt sich der Himmel hell ein. Wie viel Zeit ist vergangen? Eine halbe Stunde? Cinzia schreckt hoch. Und schaut direkt in die Augen ihres Chefs.
MUSIK
Autorin Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Das alles ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“.
ZSP 01 Collage
Ausschnitt Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), News: Federal Records described teens suffering injuries from chemical burns then going to school and falling asleep in class.Ines Kämpfer: Die Zahlen haben sich in den letzten paar Jahren wieder verschlechtert, das ist eine Entwicklung, die wir ganz klar in den USA sehen können, aber auch in europäischen Ländern. Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich – Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Ines Kämpfer: Wir müssen einen Weg finden, dass die Kinder wirklich zur Schule gehen können und nicht die ganze Familie die ganze Zeit arbeiten mussAusschnitt Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), Gewerkschafter, bereits overvoiced: Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnenInes Kämpfer: Es ist wirklich ein Teufelskreis. Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen.
Autorin Das ist Folge 3: Cinzia und der CampingplatzTC 02:37 – Arbeiten wo andere Urlaub machen
ZSP 32a SPR 4 OV weiblich, jugendlich CinziaMein Name ist Cinzia. Ich bin 17 Jahre alt.
Autorin Cinzia hat richtig lange braune Locken. Die gehen ihr bis zur Hüfte.
ZSP 32b SPR 4 OV weiblich, jugendlich CinziaZum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13, auf einem Campingplatz.Autorin Einem Campingplatz in Kalabrien: ganz im Süden, am Fußrücken vom italienischen Stiefel, in der 11.000-Einwohner-Stadt Scalea. Die liegt direkt am Meer, umgeben von Bergen. Und ist genau so, wie man sich ein italienisches Küstenstädtchen ausmalt: Am Strand stehen die Liegen, die man mieten kann, dicht an dicht und es gibt eine mittelalterliche Altstadt mit sandfarbenen Häusern und kleinen Gassen, die sich einen Hügel hochschlängeln. Scalea ist ein beliebter Urlaubsort. Aber dort, wo wir unseren Urlaub verbringen, müssen Jungen und Mädchen wie Cinzia arbeiten. Nicht irgendwann mal vor hundert Jahren, sondern jetzt: ZSP 32c SPR 4 OV weiblich, jugendlich CinziaIch habe in der Strandbar Kaffee gemacht. Und auf dem Campingplatz gab es eine Art Supermarkt. Dort habe ich in den Schulferien Regale eingeräumt, die Wasserflaschen reingetragen. Ich habe geputzt... Ich war das Mädchen für alles. Die Atmosphäre war sehr angespannt. Und es war anstrengend, ich war ja erst zwölf Jahre alt und habe pro Nacht nur drei Stunden geschlafen. Autorin Drei Stunden Schlaf, bevor es wieder zurück an die Arbeit geht. Für ein Kind! Was klingt wie ein extremer Einzelfall, ist in Wahrheit nur ein Beispiel von vielen:
ZSP 33 Collage Italien
Sprecher OV ANTONIO: Ich habe mit 14 begonnen, auf dem Bau zu arbeiten.
Sprecherin OV MICHAEL: Mit 13 bin ich in die Hotellerie.
Sprecherin OV KELLNERIN: Ich habe einen Schusswechsel miterlebt, Schlägereien und Streit, weil ich nachts in einer Bar gearbeitet habe.
Sprecher, OV ANTONIO: Ich war von neun Uhr morgens bis abends um acht auf der Baustelle. Für 20 Euro am Tag.
Sprecherin, OV KELLNERIN: 14 Stunden am Stück habe ich gearbeitet. Das kam mir endlos vor. Bis auf eine kleine Essenpause stand ich die ganze Zeit hinterm Bartresen.
Sprecher, OV VALENTINO*: Mich hat mal ein Obstverkäufer angesprochen und gefragt, ob ich für ihn arbeiten will. Für sechs Stunden Arbeit auf dem Markt habe ich insgesamt 10 oder 15 Euro bekommen.
Autorin Das berichten Jugendliche in Italien, in Video-Interviews von Save the Children, der größten nichtstaatlichen Kinderrechtsorganisation weltweit. Im Jahr 2023 hat Save the Children eine Erhebung zu Kinderarbeit in Italien gemacht – und schätzt: 336.000 Kinder zwischen sieben und 15 Jahren haben Kinderarbeit erlebt. Ein Fünftel der 14- bis 15-Jährigen arbeite oder habe gearbeitet, noch vor dem gesetzlichen Mindestalter. Das liegt in Italien bei 16 Jahren. Und fast 30 Prozent dieser Jugendlichen würden unter Bedingungen arbeiten, die ihnen besonders schaden. Das heißt zum Beispiel nachts, oder wenn sie eigentlich zur Schule gehen sollten. Oder sie müssen körperlich anstrengende und gefährliche Aufgaben übernehmen:
ZSP 34a Sprecher Auf der Baustelle ist einer der anderen Jungen vom Gerüst gefallen. …
Autorin … erzählt beispielsweise ein junger Migrant aus Tunesien.
ZSP 34b SprecherIch bin weggelaufen, denn wenn hier in Italien der Krankenwagen kommt, müssen die eine ordentliche Meldung machen an die Behörden. Weil der Junge ohne Vertrag gearbeitet hat.
Autorin Genau wie er selbst. Oder wie Cinzia auf dem Campingplatz:
ZSP 35 Cinzia
- Cinzia, OV: Ich bin mit meiner Mutter arbeiten gegangen, die hat dort gearbeitet, also hat sie mich mitgenommen.-Nachfrage, OV: Sie wurde bezahlt?-Cinzia, OV: Ja, und ich bin mit, um ihr zu helfen. Also habe ich selbst keinen richtigen Lohn bekommen, halt manchmal ein bisschen was.
Autorin Die zweite Stimme, die hier zu hören ist, gehört auch einer Jugendlichen. Die führt das Interview, im Rahmen eines Videoprojekts von Save the Children. Ich hätte gern selbst mit Cinzia und anderen Betroffenen gesprochen. Aber das war nicht möglich – um sie zu schützen. Denn die NGO will generell keine Medieninterviews mit arbeitenden Kindern und Jugendlichen vermitteln, weil die Folgen verheerend sein können: Die Arbeitgeber könnten die Kinder und ihre Familien unter Druck setzen. Viele sind eingewandert und haben keinen gesicherten Aufenthaltsstatus. Und manche der Kinder und Jugendlichen haben so Schlimmes erlebt, dass sie traumatisiert sind. Save the Children hat mir aber das Videomaterial zur Verfügung gestellt, 40 Interviews, die Jugendliche in Scalea, Turin, Palermo und Rom mit Betroffenen aufgezeichnet haben. Die Interviewten sind anonymisiert: Wir erfahren nur ihre Vornamen. Manche sind auch so gefilmt, dass ihr Gesicht nicht erkennbar ist. Cinzia hingegen spricht meist direkt in die Kamera:
ZSP 36a SPR 4 weiblich, jugendlich Cinzia Ich musste Non-Stop arbeiten. Ich habe von morgens bis abends gearbeitet, drei Stunden geschlafen, dann ging es wieder los. Körperlich war ich am Ende. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.
Autorin Manchmal beginnt Cinzia schon um fünf Uhr morgens mit der Arbeit auf dem Campingplatz. Manchmal ist sie erst weit nach Mitternacht fertig. An einem Morgen ist sie so müde, dass sie denkt, sie kippt gleich um: ZSP 36b CinziaMorgens, als ich am Campingplatz angekommen bin, war ich noch todmüde. Also habe ich mir eine Standliege geschnappt und mich hingelegt. Unser Chef kam sowieso immer erst später…Autorin Das ist der Moment vom Anfang dieser Folge. An diesem Morgen kommt der Inhaber doch früher:ZSP 36c Cinzia… Und ich weiß noch, wie er mich zusammengeschissen hat, weil er mich schlafend auf der Liege erwischt hat, weil ich eine halbe Stunde ein Nickerchen gemacht habe.
Autorin Am liebsten würde ich mich vor Cinzia stellen und zurückstänkern: Er bricht hier Gesetze, er lässt ein zwölfjähriges Mädchen für sich arbeiten! Ohne Pausen oder genug Schlaf. Und dann spielt er sich auf, weil sie nicht mehr kann? MUSIKAutorin EU-weit gilt: Wer arbeitet, muss mindestens 15 Jahre alt sein. Da gibt es nur ganz wenige Ausnahmen, zum Beispiel in den Bereichen Kunst oder Sport. Beides war hier nicht der Fall. Auch in den Schulferien sind acht Stunden Arbeit pro Tag das Maximum. Cinzia musste mehr als doppelt so lang arbeiten! Und dann ja auch noch nachts. Das ist in dieser Form in EU-Ländern erst für Volljährige erlaubt. Immerhin: Nach einem Monat ist der Spuk vorbei. Cinzia geht wieder zur Schule und kehrt nie mehr auf den Campingplatz zurück. Sie wird zwar auch danach noch neben der Schule arbeiten, aber nur dort, wo man sie besser behandelt. Schwerer haben es da die vielen Kinder und Jugendlichen, die bei ihren eigenen Familien arbeiten müssen. Die können nicht einfach sagen: „Ich gehe.“ Wie zum Beispiel dieses 15-jährige Mädchen aus Rom, das anonym bleiben will:MUSIKTC 09:57 – Es geht bergab
ZSP 37a Anonymes MädchenIch habe als Kellnerin in unserem Familienlokal gearbeitet. Nicht für mich, sondern um meiner Familie zu helfen.
Autorin Das sagen viele Betroffene. Dass sie durch die Arbeit die Geldnot ihrer Eltern lindern und den Betrieb der Familie unterstützen wollen. Aber wer unterstützt die Kinder? Insbesondere Mädchen laufen Gefahr, bei der Arbeit Opfer sexueller Belästigung zu werden, gerade in Restaurants und Bars:
ZSP 37b Anonymes Mädchen
Einmal, als ich die Flaschen von den Tischen abgeräumt habe, hat mich plötzlich einer der Gäste angegrapscht. Mein Onkel hat ihm gesagt. „Nein!“. Und meinte dann zu mir, naja, das kann passieren, der hat ein bisschen zu viel getrunken. Für mich war das aber eine Grenzüberschreitung. Ich bin dankbar, dass mein Onkel da war und dem ein Ende bereitet hat. Ich habe auch gar kein Wort dafür, was da passiert ist. (Seufzt) Das war so respektlos.
MUSIK
Autorin Die meisten Kinder und Jugendlichen in Italien arbeiten, wie das eben gehörte Mädchen, in der Gastronomie, über ein Viertel. Gefolgt von der Arbeit in Geschäften, auf dem Feld oder der Baustelle. So das Ergebnis der Erhebung von Save the Children. Weil es keine offiziellen Zahlen zu Kinderarbeit in Italien gibt, hat die NGO selbst über 2.000 Kinder und Jugendliche befragt, in einer repräsentativen Stichprobe. Und ergänzend die Erfahrungen von Sozialarbeitern, Lehrerinnen und Sozialdiensten erhoben. ...


