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Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Eigentlich sollte das "GG" nur ein Provisorium sein, nur ein Übergang, nicht wie eine "Verfassung" einen endgültigen Charakter haben. Trotzdem wurde es schließlich zur gesamtdeutschen Verfassung - und zum Vorbild für viele neue Demokratien. Von Katharina Kühn (BR 2022)
Credits
Autorin: Katharina Kühn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Martin Vogt
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dietmar Preißler, Marion Detjen
Ein besonderer Linktipp der Redaktion:
BR (2024): I Will Survive – Der Kampf gegen die AIDS-Krise
München, 80er, Disco-Ära: Die queere Szene blüht und Weltstars wie Freddie Mercury machen hier Party. Aber plötzlich ist Schluss. Ein mysteriöses Virus erreicht die Stadt. In "I Will Survive" sprechen wir mit den Menschen, die als Erste und vielleicht am härtesten von der AIDS-Krise getroffen wurden. Der Podcast erzählt von ihrer Angst, ihren Verlusten und ihrem Widerstand in einer Zeit, als Bayern als einziges Bundesland auf Ausgrenzung statt auf Aufklärung setzt. Und es geht um die Frage: Welches Vermächtnis haben die Menschen von damals der queeren Community heute hinterlassen? ZUM PODCAST
Linktipps:
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Moderatorin Sandra Maischberger und ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam checken das deutsche Grundgesetz. Meinungen frei zu äußern, queer zu lieben, eine Pandemie zu überstehen – wo hilft das Grundgesetz, wo ist noch Luft nach oben? Sind im Alltag der Deutschen wirklich alle Menschen vor dem Gesetz gleich? Waren die Grundrechte in der Covid-Pandemie zu stark eingeschränkt? Schützt das Grundgesetz die Bürger:innen vor einem Rückfall in dunkelste Zeiten? Die Doku sammelt Geschichten, liefert Background und zieht ein Fazit. Als Prominente sind Schauspieler Jan Josef Liefers und die Politiker Joachim Gauck und Gerhart Baum dabei. JETZT ANSEHEN
ARD (2024): Archivradio – Geschichte im Original
Das Radio: seit einem Jahrhundert Wegbegleiter der deutschen Geschichte. Historische Tondokumente vermitteln ein Gefühl für wichtige Ereignisse und Stimmungen vergangener Jahrzehnte, von der Grundgesetzunterzeichnung, Vereidigung des ersten Bundespräsidenten oder den Abstimmungen im Parlamentarischen Rat. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 02:09 – Grundgesetz oder Verfassung?
TC 04:25 - Streitpunkte
TC 11:59 – Darüber war man sich einig
TC 13:54 – Die Geburtsstunde der Bundesrepublik
TC 17:24 – Liebe auf den zweiten Blick
TC 22:36 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Wie sollte aus dieser Diktatur eine Demokratie werden? Die alliierten Mächte, Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich hatten zwar die Gefechte gemeinsam gewonnen, NS-Deutschland geschlagen, aber wie das besetzte Land nun wiederaufgebaut werden sollte, darauf konnten sie sich nicht einigen.
ERZÄHLER:
Spätestens als die Außenminister in London Ende 1947 ihre Konferenz abbrachen, war klar, dass es keine gemeinsame Strategie geben würde. Also trafen sich die westlichen Alliierten, USA, Großbritannien, Frankreich und die drei Benelux-Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg, um über die Zukunft Westdeutschlands zu beraten. Die „Londoner Empfehlungen“ sollten den Weg für einen eigenen westdeutschen Staat ebnen.
ERZÄHLERIN:
Die neun deutschen Ministerpräsidenten der westlichen Bundesländer und die Bürgermeister der Stadtstaaten Hamburg und Bremen sollten dabei helfen – sie waren zu dem Zeitpunkt immerhin die obersten politischen Repräsentanten im Nachkriegsdeutschland. Sie wurden nach Frankfurt am Main bestellt, in das Hauptquartier der Amerikaner, ursprünglich das Verwaltungsgebäude eines Chemiekonzerns. Die Militärgouverneure lasen auf Englisch und Französisch ihre Pläne vor, die sogenannten Frankfurter Dokumente. Hier war der Fahrplan zu einem neuen Staat umrissen: Ab spätestens September 1948 sollte eine Versammlung eine Verfassung ausarbeiten. Diese würde erst den Militärgouverneuren vorgelegt und dann vom Volk abgestimmt.
Außerdem skizzierten die Westalliierten in den Dokumenten, wie der Besatzungsstatus für Deutschland aussehen sollte und kündigten an, dass die Grenzen der Bundesländer überprüft und möglicherweise verändert würden.
TC 02:09 – Grundgesetz oder Verfassung?
ERZÄHLER:
Eigentlich könnte man nun meinen, dass die Ministerpräsidenten lieber schneller als später einen westdeutschen und vor allem souveränen Staat schaffen wollten. So war es aber nicht, erzählt Dietmar Preißler, ehemaliger Sammlungsdirekter im Haus der Geschichte in Bonn:
O-Ton 01_ Preißler [00:21]
Sie waren, vorsichtig gesagt, sehr zurückhaltend, denn sie befürchteten, durch eine Vollverfassung für die Westzonen könnte eine Wiedervereinigung verhindert werden. Sie schlugen dann vor, dass man ein Grundgesetz schaffen soll statt einer Verfassung und dass ein Parlamentarischer Rat tagen sollte und nicht eine verfassungsgebende Versammlung.
ERZÄHLERIN:
Andere Begriffe, die eigentlich dasselbe meinen?
ERZÄHLER:
Nicht ganz. Über das Grundgesetz sollte nicht das Volk abstimmen, sondern die Länderparlamente. So, hofften die Ministerpräsidenten, wäre deutlich, dass es sich hier nicht um etwas Unwiderrufliches, sondern nur um ein Provisorium handelte und die Wiedervereinigung mit Ost-Deutschland immer noch möglich sei.
ERZÄHLERIN:
Die Westmächte stimmten nach langer Diskussion zu, beharrten aber darauf, dass ein neuer Staat gegründet würde. Im August bereitete ein Expertengremium aus Politikern, Verfassungsexperten und Verwaltungsfachleuten im Schloss Herrenchiemsee erste Richtlinien vor. Zwei Wochen hatten sie Zeit.
O-Ton 02_ Preißler [00:37]
In dieser Kürze der Zeit haben die es wirklich fertiggebracht, einen kompletten Entwurf eines Grundgesetzes auf den Weg zu bringen. 95 Seiten mit 149 Artikeln. Wir wissen ja, später das Grundgesetz hatte 146. Es war ein Kompendium, in dem Verfassungsartikel auch alternativ vorgestellt wurden, zum Beispiel: Föderalismus. Da wurde vorgeschlagen, sowohl eine Bundesratslösung als auch eine Senatslösung, die sich an amerikanischen Verfassungsvorbildern orientierte, und es waren eben auch Kommentierungen dabei, was man mit den einzelnen Paragraphen und den Regelungen darin erreichen wollte.
ERZÄHLER:
Die Experten hatten also erste Vorschläge und Richtlinien erarbeitet, erste Fragen aufgeworfen, Alternativen formuliert. Nun sollten Politiker entscheiden. Der Parlamentarische Rat kam zum ersten Mal am 1. September 1948 in Bonn zusammen
TC 04:25 - Streitpunkte
MUSIK
ERZÄHLER:
Im Lichthof des Naturkundlichen Museums König wurden sonst Tiere ausgestellt. Für diesen Tag waren sie an die Seiten des imposanten Hofs geschoben und hinter Vorhängen versteckt worden
ERZÄHLERIN:
Später erzählten Gäste, dass übrigens eine Giraffe über den Vorhang lugte und die Zeremonie verfolgte. Es ist eine schöne Anekdote, aber erfunden.
MUSIK
ERZÄHLER:
Lange dauerte diese Zeremonie nicht, nach eineinhalb Stunden wechselten die Abgeordneten des neuen Parlamentarischen Rats in die Aula der Pädagogischen Akademie. 61 Männer und vier Frauen waren aus den Länderparlamenten in den Rat berufen worden, dazu kamen fünf Vertreter aus Berlin, allerdings nur mit beratender Funktion ohne Stimmrecht. Ratspräsident wurde Konrad Adenauer:
Zuspielung Adenauer
Der parlamentarische Rat beginnt seine Tätigkeit – wir haben es heute morgen bei der Feier im Museum König gehört und wir wissen es ja alle – in einer völlig ungewissen Zeit, in einer Zeit der Ungewissheit über Deutschlands Zukunft, ja, auch die Zukunft Europas und der Welt ist dunkel und unsicher. […] Und Deutschland selbst ist politisch ohnmächtig.
ERZÄHLERIN:
Die Abgeordneten wussten wohl auch, dass nun die Zeit der politischen Auseinandersetzungen, der mühsamen Diskussionen und der Kompromisssuche losging. Das zeigte sich gleich, als der kommunistische Abgeordnete Max Reimann einwarf, dieser Rat habe keine Existenzberechtigung, es liege kein gesamtdeutsches Mandat vor. Dietmar Preißler:
O-Ton 03_ Preißler [00:20]
Also der kommunistische Abgeordnete Reimann stellte den Antrag, die Arbeit des Parlamentarischen Rats einzustellen und das führte zu einer hitzigen Debatte, gleich am ersten Tag, in der Reimann auch nach vorne stürmte, das Mikrofon griff, in das Mikrofon hineinrief, er fühle sich nicht richtig behandelt. Er nutzte sogar das Wort: Ich fühle mich vergewaltigt.
ERZÄHLER:
Der Antrag wurde – wenig überraschend – abgelehnt.
Streitpunkte gab es genug: Gehört etwa Gott ins Grundgesetz? Die Union wollte einen Gottesbezug in die Präambel setzen, die SPD sträubte sich. Die FDP vermittelte. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, ist der Kompromiss, der bis heute das Grundgesetz einleitet.
ERZÄHLERIN:
Die Präambel war von besonderer Bedeutung, nicht nur, weil sie den ersten Ton setzt, sondern auch, weil hier die Ostdeutschen angesprochen wurden:
ZITATOR:
Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
ERZÄHLERIN:
Dieses Grundgesetz sei nur provisorisch, das sollte im Vorwort deutlich werden. Gleichzeitig warnte FDP-Politiker Theodor Heuss davor, das Wort „provisorisch“ zu oft in der Präambel zu verwenden. Es sollte von einer „Magie des Wortes“ getragen sein.
ERZÄHLER:
Die Diskussionen über die einzelnen Artikel waren nicht einfacher. Wie sollte etwa die Gleichberechtigung festgehalten werden? Die meisten Abgeordneten wollten am Text festhalten, wie er in der Weimarer Verfassung stand. Zitat: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Das würde allerdings bedeuten, dass das Ehe- und Familienrecht etwa davon nicht tangiert würde. Eine der vier Frauen im Rat lehnte sich dagegen auf: Elisabeth Selbert von der SPD schlug die Formulierung vor: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ So einfach. Ohne Ausnahme. Die meisten Abgeordneten waren dagegen. Zu viele Gesetze würden sofort verfassungswidrig, ungültig werden, ein „Rechtschaos“ könne folgen. Elisabeth Selbert tobte – ihre Gegner auch. Sie drohte sogar mit Wahlen, schließlich kämen, so kurz nach dem Krieg „auf 100 männliche Wähler 170 weibliche Wähler“. Die Drohung schien nicht zu wirken. Also suchte Selbert nach Unterstützung. Frauenverbände schrieben Briefe, kündigten ihren Protest an, sollte im Grundgesetz nicht die uneingeschränkte Gleichberechtigung verankert werden. Die SPD schlug eine Übergangslösung vor, damit die entsprechenden Gesetze in den nächsten Jahren geändert werden konnten. Und der Protest zeigte Wirkung: Eineinhalb Monate nachdem Selberts Formulierung noch abgelehnt worden war, stimmten die Abgeordneten ihr zu. Artikel 3, Absatz 2 im Grundgesetz ist ein Meilenstein der Emanzipation in Deutschland: Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Ein weiterer Streitpunkt betraf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Klar war, dass ein föderales System entstehen, der Staat also aus Bundesländern zusammengesetzt sein sollte. Aber wieviel Macht sollten diese Länder haben? Die Freundschaft hört bekanntlich beim Geld auf. Die erste Frage war: Wer zieht die Steuern ein und verteilt das Geld – der Bund oder die Länder? Besonders die CSU beharrte darauf, dass die Steuern Angelegenheit der Landesverwaltungen seien. SPD und FDP wollten hingegen, dass der Bund die Steuern einzieht und dass es einen Finanzausgleich zwischen den Ländern gibt. Obwohl auch die Westalliierten befürchteten, eine große Bundesverwaltung für Steuern könnte zu viel Einfluss an einem Punkt konzentrieren, entschieden sich die Delegierten zum Schluss für ein System, das den Vorstellungen von SPD und FDP näher kam. Bund und Länder sind beide für die Steuern zuständig, es gibt einen Finanzausgleich und einen Bundeszuschuss. Auch wie die Länder bei der Gesetzgebung vertreten sein würden, war strittig. Sollte eine Zweite Kammer – also neben dem Bundestag – zusammengesetzt werden nach einem Senats- oder nach einem Bundesratsprinzip; das heißt mit Mitgliedern der Länderparlamente oder der Landesregierungen? Die Konservativen setzten den Bundesrat durch, also mit Vertretern der Landesregierungen. Die SPD dagegen erwirkte eine Machtbeschränkung, nämlich, dass der Bundesrat in der Gesetzgebung ein Vetorecht nur bei Gesetzen mit Länderbezug hat.
ERZÄHLER:
Nicht nur die inhaltlichen Diskrepanzen erschwerten die Diskussionen, auch die ständige Beobachtung durch die Besatzungsoffiziere zerrte an den Nerven. In bestimmten Punkten, gerade bei der föderalistischen Struktur, wollten sie unbedingt, dass der Parlamentarische Rat nach ihren Vorgaben entscheidet, so Dietmar Preißler:
O-Ton 04_ Preißler [00:45]
Da wurden ja sogar Geheimdossiers angelegt. Wir wissen aus englischen Archiven, dass über jedes Mitglied des Parlamentarischen Rates ein Dossier existierte. Da sind dann politische Positionen der Damen und Herren dargestellt worden, bis hin aber auch zu Charakterzügen, über Konrad Adenauer wird darin berichtet, dass er eben kühl im Umgang mit seinem Stab auch sei. Bis hin zu Dingen, was haben die Damen und Herren getrunken.
TC 11:59 – Darüber war man sich einig
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Aber es gab auch Punkte, in denen sich die Delegierten schnell einig waren: Zunächst einmal war da das Ziel eines demokratischen Staats in einem geeinten Europa. Das neue Parlament sollte mächtig sein, direkt vom Volk gewählt werden und hauptsächlich die Gesetze bestimmen. Sogar die Regierung sollte vom Parlament abhängig sein. Die Abschaffung der Todesstrafe war Konsens. Und: Es sollte fast keine Volksabstimmungen geben.
ERZÄHLER:
Die Erfahrungen der Zeit unter dem Nationalsozialismus prägten die Entscheidungen. Der Machtmissbrauch, die Gestapo, der Holocaust. Das durfte nie wieder passieren. Der Bundespräsident wurde fast komplett entmachtet. Das konstruktive Misstrauensvotum sollte für stabilere politische Verhältnisse sorgen und ein Chaos wie in der Weimarer Republik verhindern: Deshalb kann der Bundestag den amtierenden Kanzler oder die Kanzlerin nur dann stürzen, wenn er gleichzeitig einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählt. Die Gewaltenteilung wurde klar organisiert, es gibt eine unabhängige Justiz. Jedes Gesetz muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, wenn nicht, kann das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als verfassungswidrig erklären, dann muss es geändert werden.
ERZÄHLERIN:
Den Artikeln im Grundgesetz vorangestellt sind die Grundrechte, Artikel 1 bis Artikel 19. Zwar hatten die Grundrechte schon in der Weimarer Verfassung gestanden. Aber nicht an so prominenter Stelle.
ERZÄHLER:
Die Menschenwürde.
ERZÄHLERIN:
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Religionsfreiheit, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
ERZÄHLER:
Das Briefgeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung. Diese Rechte sollten von nun an unantastbar und unveränderlich sein.
TC 13:54 – Die Geburtsstunde der Bundesrepublik
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Bis tief in den Mai des nächsten Jahres gingen die Diskussionen. Drei Monate waren ursprünglich für die Debatten geplant, keiner hatte damit gerechnet, dass sie fast neun Monate dauern würden. Aber am 8. Mai standen dann endlich 146 Artikel zur Abstimmung, genau vier Jahre nach der Kapitulation. Es war schon kurz vor Mitternacht, als Konrad Adenauer das Ergebnis verkündete:
Zuspielung Adenauer
[Klingel] Meine Damen und Herren. Das Grundgesetz ist mit 53 Ja- gegen 12 Nein-Stimmen angenommen worden.
ERZÄHLER:
Die Delegierten standen auf. Eigentlich würden sie in einem solchen Moment die Nationalhymne singen, aber es gab noch keine. Also sangen sie ein patriotisches Studentenlied: „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand, dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland“.
ERZÄHLERIN:
Trotz der eindeutigen Annahme: 12 Ausreißer gab es, auch nach neun Monaten Kompromisssuche: Delegierte der Deutschen Partei, des Zentrums, der Kommunisten – und der CSU. Bevor sich nun aber die Landtage mit dem Werk auseinandersetzen konnten, ging es an die Westalliierten. Die genehmigten den Text, dann folgten zehn von elf Landtagen. Die letzte Abstimmung fand in Bayern statt. Der Bayerische Ministerpräsident Hans Ehard machte gleich als erster Redner klar, wo der unverrückbare Standpunkt seiner Regierung lag: Es sei in Bonn nicht gelungen, das Verfassungswerk so unter Dach und Fach zu bringen, dass es vom Standpunkt Bayerns aus als befriedigend angesehen werden kann. Zu wenig föderalistisch, zu wenig Zugeständnisse an die Länder, die Eigenständigkeit Bayerns sei sogar bedroht. 14 Stunden debattierten die Abgeordneten. Zum Schluss lehnte der Bayerische Landtag das Grundgesetz mit deutlicher Mehrheit ab.
ERZÄHLER:
Allerdings ohne den Lauf der westdeutschen Geschichte zu ändern. Zwei Drittel Zustimmung der Landtage reichten aus, um das Grundgesetz durchzubringen, die Stimme der Bayern konnte daran schon nichts mehr ändern.
MUSIK
ERZÄHLER:
Am 23. Mai 1949 kam der Tag der Verkündung: Vor dem Präsidium, auf einem Tisch war das Grundgesetz aufgeschlagen. Füllfederhalter lagen in Reihe bereit, ein Tintenfass des Kölner Ratssilbers. Ein bisschen Inszenierung gehörte zu diesem feierlichen Anlass auch dazu, erzählt Dietmar Preißler:
O-Ton 05_ Preißler [00:29]
Konrad Adenauer trat als erster an den Tisch und ein Journalist berichtete auch, dass er dann den Füllfederhalter nahm und er bewegte den Stift Richtung Tintenfass und setzte dann seine Unterschrift unter das Grundgesetz. Im Tintenfass des Kölner Ratssilbers war allerdings ja gar keine Tinte drin. Stellen Sie sich mal vor, da wäre wirklich Tinte drin gewesen. Das hätte ja bedeutet, dass das Grundgesetz bei der Unterschriftenaktion sicherlich völlig vertropft gewesen wäre.
ERZÄHLER:
Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Knapp drei Monate später, am 14. August, wählten die Westdeutschen zum ersten Mal den Bundestag.
TC 17:24 – Liebe auf den zweiten Blick
ERZÄHLERIN:
Liebe auf dem ersten Blick zwar es nicht, zwischen den Deutschen und dem Grundgesetz, sagt Marion Detjen, Historikerin am Bard College Berlin und Mitautorin des Buches „Die Deutschen und das Grundgesetz“:
O-Ton 06_ Detjen [00:39]
Gefeiert wurde schon einmal auf gar keinen Fall, weil ja in der Bevölkerung erstens schon das Gefühl vorhanden war, nicht in Freiheit und Selbstbestimmung sich jetzt da neu zu finden oder neu aufzustellen, sondern sozusagen aus der totalen Niederlage im Krieg und nach der Zeit des Nationalsozialismus sich überhaupt erst wieder irgendwie aufzustellen und eben unter Besatzungsherrschaft zu sein. […] Und es hat eine Weile gedauert bis das Ganze grundrechtlichen Potenzial und das freiheitliche Potenzial dieser Verfassung für die Bevölkerung spürbar wurde.
ERZÄHLERIN:
Mit den Jahren sollten die Deutschen jedoch das Grundgesetz zu würdigen wissen, ja, sogar einen gewissen Stolz darauf entwickeln.
ERZÄHLER:
Das fehlende Referendum schien fast vergessen, bis die Frage nach einer Volksabstimmung durch die Wiedervereinigung wiederaufgeworfen wurde.
Zwei Optionen waren möglich: Die fünf ostdeutschen Bundesländer konnten nach Artikel 23 der Bundesrepublik beitreten – damit würde das Bundesgebiet einfach größer werden.
ZITATOR:
Artikel 23: Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.
ERZÄHLER:
Oder man hätte sich auf Artikel 146 beziehen können.
ZITATOR:
Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
O-Ton 07_ Detjen [00:54]
Vor der Wiedervereinigung, also in der Zeit der Friedlichen Revolution, gab es heftige Verfassungsdiskussionen, dass gerade die Revolutionäre einen eigenen Weg gehen wollten, eigene Verfassungsexperimente machen wollten, diese Chance der Revolution nutzen wollten für mehr Demokratie, für ein reformiertes Verfassungsverständnis auch. Und diese Versuche dann eben gerade von der bundesdeutschen Regierung, aber auch von vielen Verfassungsspezialisten hier abgeblockt wurden und da auch viel verhindert wurde, gerade was die Möglichkeiten von direkter Demokratie angeht und die Möglichkeiten angeht, die Ostdeutschen an einem eigenen Verfassungsprozess überhaupt erst einmal zu beteiligen.
ERZÄHLERIN:
Denn neben den Revolutionären, die eine neue Demokratie schaffen wollten, wollten besonders in der BRD viele lieber kein Risiko eingehen. Außerdem drängte die Zeit. Nicht einmal ein Referendum sollte es geben, um das Grundgesetz – nun Stabilitätsanker statt Provisorium – auch vom Volk zur Verfassung für das geeinte Deutschland erheben zu lassen. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR Westdeutschland nach Artikel 23 bei.
ERZÄHLER:
Auch international wurde das Grundgesetz wahrgenommen. Der Slogan „Exportschlager“ entstand – auch wenn natürlich nicht das ganze Werk übernommen wurde. Neue Demokratien, die ebenfalls Diktaturen hinter sich lassen gelassen hatten, schauten auf das deutsche Beispiel, so etwa Spanien, Portugal, Griechenland; nach dem Fall der Sowjetunion viele osteuropäische Länder. Spanien führte das konstruktive Misstrauensvotum ein, später auch Ungarn, Polen und Slowenien. In Südafrika wurde das föderalistische System in die Verfassung aufgenommen, Brasilien, Peru und Argentinien etablierten ähnliche Verfassungsgerichte.
ERZÄHLERIN:
Dabei ist das Grundgesetz auch in Deutschland kein absolut unveränderlicher Text. Die Bedeutung des Grundgesetzes zeigte sich auch immer wieder an den heftigen Debatten über Änderungen an diesem: Die Einführung der Bundeswehr und der Wehrpflicht, die Notstandsgesetze, aber auch die Finanzbeziehungen und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen.
O-Ton 08_Detjen [00:20]
Also eine Verfassung ist ein toter Text und gleichzeitig eine lebendige Norm, die wir ständig neu interpretieren und weiterentwickeln und mit der man ganz viel anstellen kann. Also es hat eben nicht jeder die Verfassung so, wie er sie gerne hätte unbedingt, aber gleichzeitig eben auch eine Chance für ständige Verhandlungen und Weiterentwicklung.
ERZÄHLERIN:
Immer wieder kommen neue Herausforderungen und veränderte Situationen, auf die eine Gesellschaft reagieren muss: Ein zusammenwachsendes Europa, die Globalisierung, der demographische Wandel, der Zeitgeist. Immer wieder wird das Grundgesetz dem angepasst werden.
TC 22:36 – Outro