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"Wohnung in idyllischer Lage zu vermieten, im Herzen Augsburgs, etwa 60 Quadratmeter groß mit Garten. Die Mietkosten: 88 Cent im Jahr und täglich ein Vater Unser, ein Ave Marie und das Credo für Jakob Fugger und seine Nachkommen". So könnte heute eine Wohnungs-Anzeige aussehen für die älteste Sozialsiedlung der Welt - die Fuggerei. Jakob Fugger genannt "Der Reiche" gründete sie 1521. Damals mussten die Mieter einen rheinischen Gulden pro Jahr bezahlen, heute wären das 88 Cent - und das ist die Summe, die tatsächlich auch heute noch als Jahreskaltmiete verlangt wird. Von Dorit Kreissl (BR 2014)
Credits
Autorin & Regie: Doris Kreissl
Es sprachen: Herbert Schaefer, Johannes Hitzelberger, Beate Himmelstoß, Franziska Ball
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Sabine Darius, Brigitte Hahn
Ein besonderer Linktipp der Redaktion:
hr (2024): KRIEG IM SCHATTEN. Warum starb Nikola Milicevic?
In der Nacht auf den 13. Januar 1980 kehrt der kroatischstämmige Emigrant Nikola Milićević nach einem Kneipenabend zu seiner Wohnung im Frankfurter Ostend zurück. Als er gegen 3 Uhr seinen Wagen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnblock abstellt und aussteigt, treffen ihn sechs Kugeln. Erst am nächsten Morgen finden Nachbarn seine Leiche. Der 42-Jährige hinterlässt Frau und fünf Kinder. Es ist eine Abrechnung, so viel steht fest. Doch Nikola Milićević - mit dem Spitznamen Beban ist kein Kleinkrimineller. Auch persönliche Motive liegen nicht vor. Die verwendete Munition und die Art des Mordes lassen bei den Ermittlern stattdessen ganz andere Alarmglocken klingeln: Alles deutet auf den Jugoslawischen Geheimdienst hin. ZUM PODCAST
Linktipps:
Planet Wissen (2024): Die Fuggerei – Sozialbausiedlung seit 500 Jahren
Guten Wohnraum für sozial Schwache schaffen, das wollte vor 500 Jahren Jakob Fugger, damals einer der einflussreichsten Unternehmer Europas. Er stiftete die Fuggerei in Augsburg. In der ältesten Sozialbausiedlung der Welt leben noch heute 150 Menschen. ZUM BEITRAG
3sat (2024): Die Fugger im Silberreich
Die Fugger gelten als eine der wichtigsten deutschen Handelsdynastien des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Vor allem der Abbau von Silber in Schwaz trug zu ihrem Aufschwung bei. Doch es gibt auch Schattenseiten: Der Silberabbau in Tirol verlangt seine Opfer, das Leben der Bergleute ist hart und es gibt immer wieder Unfälle unter Tage. JETZT ANSEHEN
BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 16. Jahrhundert: Augsburg
Augsburg zu Beginn des 16. Jahrhunderts: Eine Stadt der Gegensätze. In ihr leben Großkaufleute, die sich alles leisten können. Deshalb kommen die Wagen bepackt mit unvorstellbar kostbaren Gütern von überall her. Augsburg ist aber auch eine Stadt mit unsäglicher Armut. In ihren Mauern leben Menschen, die ihre Arbeit nicht ernährt, weil alles immer teurer wird. Zum Film geht es HIER.
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 04:12 – Der Reiche
TC 08:51 – Moderne Fuggerei
TC 11:05 – Die Würdigkeit der Armen
TC 13:59 – Wer hier wohnte
TC 17:45 – Fünf Minuten Glocken Bimmeln
TC 21:48 - Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro
MUSIK
ZITATOR: Barfuß…
„Nicht ganz im Klaren darüber, was arm sei, fragte ich zu Hause am Abend meine Tante. Meine Großmutter, die das auch hörte, rief gleich: »Wir sind arm. Der Graf ist reich.« – »Sind wir wirklich arm?«, fragte ich meine Tante nochmal. Ich dachte an unsere saubere Dreizimmerwohnung, an den Flur, der mit einem Läufer ausgelegt war, an das gute Wohnzimmer, das wir an gewöhnlichen Wochentagen zu betreten
nicht nötig hatten. »Wenn wir auch nicht reich sind, zu den ganz Armen gehören wir nicht«, sagte meine Tante. Das überzeugte mich“.
ERZÄHLER:
Reiner Schmidt wuchs in den 1930er-Jahren in der Fuggerei auf. Seine Kindheits-Erinnerungen hat er in dem Erzählband „Barfuß durch die Finstere Gass“ aufgeschrieben.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER:
Betritt man heute die älteste Sozialsiedlung der Welt, ist nichts von Armut zu sehen, im Gegenteil: Sie liegt mitten im Zentrum Augsburgs - eine kleine Stadt in der Stadt mit acht Gassen, drei Toren, zwei Museen, einer Kirche und einem Brunnen - eine stille, idyllisch anmutende Welt, abends immer noch erhellt von Gaslaternen. Schnurgerade reihen sich die 67 ockerfarbenen, einstöckigen Häuschen mit grünen Fensterläden und russischen Giebeln links und rechts der Gassen aneinander. Sie beherbergen 150 Mieter. Auf meinem Rundgang durch die Siedlung begleitet mich Sabine Darius, langjährige Mitarbeiterin der Fuggerschen Stiftungs-Administration:
ATMO Sägen
O-Ton 1 Rundgang 1. Herrengasse –
Das ist hier die Herrengasse. Wir sehen hier, wenn wir durchgehen, dass es in der Regel Türenpaare sind, Da geht immer eine Türe in die untere Wohnung und eine Türe in die obere Wohnung. […] Es hatte damals schon wie heute jeder seinen eigenen Eingang. Man teilt sich also keinen Hausgang mit seinem Mitbewohner. Das muss man sich mal vorstellen: bedürftige Leute, schon in der damaligen Zeit, jeder hat seinen eigenen Eingang, kommt deswegen schon mal nicht zum Streit.
ERZÄHLER:
Es war eine außergewöhnliche Siedlung, die Jakob Fugger 1521 gegründet hat. Die damals 52 Häuschen mit 106 Wohneinheiten gingen weit über den üblichen Standard der Armenhäuser hinaus, nicht nur was die separaten Eingänge betraf. Sabine Darius:
O-Ton 2 Darius
Wenn Sie sich denken, die Wohnungen sind rund 60 Quadratmeter groß. Eine Familie hat also Wohnraum gehabt von drei Zimmern und einer Küche. Er hätte ja den Wohnraum nicht so groß machen müssen. So groß hat ja draußen kaum jemand gewohnt. Er hätte auch ein Zimmer pro Familie zur Verfügung stellen können, dann wäre den Leuten auch geholfen gewesen. Aber er hat Wohnungen in einer Größe bauen lassen, wie wir sie ja heute noch sehen… Das ist modern, wie vor 500 Jahren.
ERZÄHLER:
In die Siedlung wurde nicht jeder aufgenommen. Würdige Arme wünschte sich der Stifter. Arbeitsame, in Not geratene Bürger sollten vorübergehend ein Heim finden, bis sie wieder auf eigenen Füssen stehen konnten: Fugger wollte keine Almosenempfänger, er bot Hilfe zur Selbsthilfe an, indem er bezahlbaren und angemessenen Wohnraum schuf, für:
ZITATOR Fugger:
„frome arme Taglöner und Handtwercker und Bürger und Inwoner dieser Stadt Augsburg, welche nicht betteln wollen“
O-Ton 3 Darius
Viele sind dann hier in der Fuggerei auch ihren Handwerken nachgegangen. Es waren Weber in der Fuggerei, es waren Tagelöhner da, es waren Sackträger – Hucker wie man sie genannt hat – oder Doggenmacher, also Puppenmacher oder Vogelhäuslebauer. Solche Berufe haben die Bewohner gehabt, in der damaligen Zeit
TC 04:12 – Der Reiche
MUSIK
ERZÄHLER:
Um das Jahr 1500 lebten etwa 25.000 Menschen in Augsburg. Die freie Reichsstadt war der “wichtigste Finanzplatz der Christenheit und das bedeutendste Handelszentrum Mitteleuropas“, schreibt Bernd Roeck in seiner „Geschichte Augsburgs“. Allerdings…
ZITATOR Roeck
"…war es allein eine Handvoll Superreicher, höchstens 200, 300 Leute, von denen das Bild des „Goldenden Augsburgs“ geprägt wurde. Sie waren es, die das finanzielle Fundament legten. Schon Papst Pius II. war die Augusta als reichste Stadt der Welt erschienen.“
ERZÄHLER:
Auf der anderen Seite gab es große Armut, und immer mehr karitative Stiftungen entstanden. Ihre Träger waren Kirche, Stadt und wohlhabende private Stifter. Zu den Reichsten der Reichen zählten die Gossembrot, die Rehlingers, die Welser und natürlich auch die Fugger. In dieser Familie stach einer heraus: Jakob Fugger, später auch der Reiche genannt:
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Jakob Fugger machte Geschäfte mit Gott und der Welt, er schuf einen Weltkonzern. Die Fugger verdienten unter anderem am Textilhandel, Bergbau, Metallhandel mit Kupfer, Gold und Silber und natürlich an Bankgeschäften mit Filialen in ganz Europa. Der Bankier finanzierte Kriege und Könige. Mittels Bestechung hob Jakob Fugger 1519 sogar einen Kaiser auf den Thron: Karl V. Dieser revanchierte sich, indem er die Rechte am Tiroler Erzhandel verlängerte und die Firma vor einer Anklage wegen Monopol-Vergehens rettete. Auch mit der Kirche machten die Familie Geschäfte, betrieb zeitweise sogar Inkassobüros zum Eintreiben von Ablassgeldern. Selbst Jakob Fugger soll ein Ablass-Zertifikat besessen haben. Der nüchterne Geschäftsmann war auch ein wohltätiger, sozial denkender Mensch und ein sehr gläubiger Katholik, für den Fegefeuer und Hölle nichts Irreales waren. Und so glaubte Jakob der Reiche, dass er sich mit dem Bau der Fuggerei sein Plätzchen im Himmel sichern könnte:
O-Ton 4: Darius
Das war die Denkweise des damaligen ausgehenden Mittelalters, dass man, wenn man sehr erfolgreich ist und gute Geschäfte macht, einfach auch die Armen nicht vergessen darf. Das ist das Eine. Das Andere war es auch wichtig, dass jemand nicht in Vergessenheit gerät und dass für ihn und seine Familie gebetet wird.
ERZÄHLER:
Jakob Fugger der Reiche sorgte dafür, dass er nicht in Vergessenheit geriet. Er dachte sich einen besonderen Mietzins aus, der bis heute gültig ist:
ZITATORIN: alle Gebete ineinander verweben
"Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen"
ZITATOR: Ave Maria
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade.
Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
ZITATORIN: Glaubensbekenntnis
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen,
den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus,gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel;
Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.
ERZÄHLER:
Seit 1521 muss jeder Fuggereibewohner täglich drei Gebete sprechen für den Stifter und seine Nachkommen: Das Vater Unser, das Ave Maria und das Glaubens-bekenntnis sind Teil der Miete bis heute. Ein Porträt des von Albrecht Dürer gemalten Jakob Fugger, erinnert in jeder Wohnung daran. Das sind unendlich viele Gebete über die Jahrhunderte. Der reale Mietzins dagegen ist denkbar gering: 1521 betrug die Jahreskaltmiete einen rheinischen Gulden - das war damals der Wochenlohn eines Handwerkers. Heute zahlen die Mieter im Jahr 88 Cent; Hinzu kommen monatliche Nebenkosten von etwa 85 Euro. Diese Einnahmen decken den jährlichen Unterhalt der Siedlung von etwa einer halben Million Euro nicht annähernd. Sabine Darius über die Finanzierung:
O-Ton 5 Darius: schneiden
Die Fuggerschen Stiftungen – es ist ja eine gemeinnützige Stiftung seit 1521 – finanziert sich durch Waldwirtschaft. Die Stiftungen sind ausgestattet mit 3.200 Hektar Wald, wo eben Holz verkauft wird. Das macht ungefähr etwa 70 Prozent der Einnahmen aus. Ca. 20 Prozent der Einnahmen kommen seit 2006 aus den Eintrittsgeldern der Fuggerei und ca. 10 Prozent aus Immobilienbesitz außerhalb der Fuggerei.
MUSIK
ZITATOR Finstere Gass. S. 33
Zu gewöhnlichen Zeiten, wenn es keine Baustelle gab, spielten wir natürlich in den Gassen, was streng genommen verboten war, weil es dabei immer laut zuging, in der Fuggerei aber Ruhe herrschen musste. Am liebsten spielten wir Verstecken.
TC 08:51 – Moderne Fuggerei
O-Ton 6 RUNDGANG 2 Darius
Der Fuggereibrunnen ist das Herz der Fuggerei. Hier ist die Mittlere Gasse, die Ochsengasse, die Herrengasse, die laufen hier in der Mitte zusammen. Die Bezeichnungen der Gassen sind nach wie vor mittelalterlich. Hier vorne können wir sehen, das ist die Saugasse zum Beispiel, weil vor den dortigen Toren war der Saumarkt - die Herrengase, die Breite Gasse, wo wir im Hintergrund das Senioratsgebäude sehen und auch die Kirche. Wir gehen jetzt in die Ochsengasse rein und besuchen eine Bewohnerin … (Schritte)
ERZÄHLER:
Brigitte Hahn wohnt hier in der Ochsengasse. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung mit großer Küche und großem Bad ist ein kleines Schmuckstück. Die Rentnerin lebt seit 2007 in der Fuggerei.
O-Ton 7 Hahn
Ja, ich hab zwar 45 Jahre voll gearbeitet und auch einbezahlt, aber es langt halt nicht für draußen, für die hohen Mieten und zum Lebensunterhalt. Dann hab ich mich in der Fuggerei beworben, musste allerdings fünfeinhalb Jahre warten und dann hat es geklappt. (lacht) Wir waren sieben Kinder, am Anfang nur in der Fabrik. Dann hab ich aber selber durch die Hochschule Sekretärin gemacht und einen halben Bankkaufmann – war sieben Jahre in der Deutschen Bank und hab eigentlich immer ganz gute Jobs gehabt, aber es langt trotzdem net.
ERZÄHLER:
Die Reaktionen auf ihre neue Bleibe fielen sehr unterschiedlich aus:
O-Ton 8 Hahn
Also in meinem Verwandtenkreis und Bekanntenkreis, die haben es nicht richtig verstanden, weil ich ja die ganze Zeit auch gearbeitet hab, dass das so weit kommt. Andere, selbst in der Familie, schauen a bissle auf mich runter. Die sagen, also in der Fuggerei kann man nicht leben, die verstehen nichts vom Leben. Und andere sagen: „Das ist aber toll, da musst Du froh sein“ – das ist also ganz unterschiedlich…
ERZÄHLER:
Die Fuggerei-Wohnungen sind begehrt. Die Warteliste ist lang. Wer sich bewirbt, muss Augsburger Bürger, bedürftig, und katholisch sein. Diese Kriterien galten schon vor 500 Jahren.
TC 11:05 – Die Würdigkeit der Armen
MUSIK
ERZÄHLER:
Im 19. Jahrhundert wurde die unverschuldete Not und die Würdigkeit der Armen ganz streng geprüft: der sogenannte Armenabhörbogen umfasste 31 Positionen. Fiel die erste Beurteilung durch einen Augsburger Armenpfleger positiv aus, ging die Akte an den Administrator der Fuggerschen Stiftung. Der gab seine Beurteilung ab und leitete das Gesuch an den Familienseniorat weiter, dem Aufsichtsrat der Stiftung. Dieses Gremium hatte das letzte Wort und das ist heute noch so.
MUSIK kurz hoch
Im 19. Jahrhundert waren Krankheit, Tod eines Familienmitglieds sowie das Alter die Hauptursachen für den Abstieg in die Armut. Anke Sczesny dokumentiert in ihrem Band „Der lange Weg in die Fuggerei – Augsburger Armenbriefe des 19. Jahrhunderts“ die Biographien von Bedürftigen. Für viele war der Gang zum Armenpflegschaftsrat bitter, denn er machte die Armut öffentlich. Unter ihnen waren Handwerksmeister, Polizisten, Schreiber, Amtsboten, Kanzlisten, Musiker, Händler und Arbeiter. Viele konnten von einem Beruf nicht leben:
ZITATORIN:
„Joseph Neubold verdingte sich gleichzeitig als Taglöhner und als Fabrikarbeiter und der Schneidermeister Matthias Reichhardt, der „seit Jahren auf seiner Profession keinen Erwerb hat, nähret sich mit Einsammeln für Leichenkassen und Austragen für Redactionen von Zeitungsblättern“. Auch der 39-jährige Joseph Herzog, ehemaliger Bataillonstambour, bat dringend um eine Wohnung, da er seine sechsköpfige Familie als Webermeister und Laternenanzünder nicht mehr versorgen könne, obwohl seine beiden älteren Töchter zum Lebensunterhalt durch ihre Fabrikarbeit beitrügen“.
ERZÄHLER:
Mit 70 bis 80 Prozent traf die Armut am stärksten die Frauen. Sie verdienten weniger, denn meist waren sie beruflich unterqualifiziert. In der Fuggerei mussten sich alleinstehende Frauen oder Witwen die Wohnung teilen, da sie nur Anrecht auf eine halbe Wohnung hatten; für Männer galt diese Regel nicht. Manchmal war die Not so groß, dass sogar Kinder weggegeben wurden. Die 38-jährige Zimmermanns-Witwe Franziska Schweighoferin, schreibt im Mai 1839 in ihrem Gesuch:
ZITATORIN:
„Sie habe ihren schwerkranken Mann ein halbes Jahr gepflegt und während dieses
langwierigen Krankenlagers habe aller Verdienst aufgehört, die Ausgaben aber sich immer mehrten, dass sie […]nicht mehr alle gedeckt werden konnten. Ferner habe sie acht Kinder, und obwohl nun diese Tage etwas gemildert werden konnten, daß vier meiner Kinder theils in das Waisenhaus, theils anderswo aufgenommen wurden, so bleibt doch mein Elend noch groß“
TC 13:59 – Wer hier wohnte
MUSIK
ATMO Schritte - Klingelton Schauwohnung
ERZÄHLER:
Wir ziehen an der Mittleren Gasse Nummer 13 an einem historischen Klingelzug, wie er noch an vielen Häusern funktioniert. Hier liegt die alte Schauwohnung, die inzwischen allerdings im neu gestalteten Museum überarbeitet wurde. Wie haben hier also die Menschen im frühen 19. Jahrhundert gelebt? Wir treten in den niedrigen Flur. Gleich im Eingangsbereich ist eine große Klappe eingelassen, unter der sich ein etwa ein Meter tiefer Stauraum verbirgt, in dem Vorräte gelagert wurden. Das war der Kühlschrank der damaligen Zeit, erzählt Stiftungsmitarbeiterin Sabine Darius:
O-Ton 9 Rundgang 3 Historische Wohnung
Wir sind jetzt hier in der Küche in der historischen Wohnung. Da ist eine offene Kochstelle mit einem Abzug oben. Das sind hölzerne Balken drüber zu sehen… und das Gewölbe diente einfach der besseren Wärmeverteilung im Raum. Was auch ganz modern ist: Man konnte von hier aus den Ofen heizen, der nebenan in der Stube steht. Man hat also nichts schmutzig gemacht in der Stube.
ATMO Schritte
O-Ton 10 Rundgang 4
Jeder, der größer ist als 1 Meter 70 muss den Kopf einziehen. Wir sind hier in der Schlafstube. Wir sehen hier ein Himmelbett sozusagen mit einem Holzhimmel. Das Bett ist relativ schmal und es ist auch relativ kurz. Die Leute haben damals mehr oder weniger im Sitzen geschlafen. Wir sehen auch hier vorne, da ist so eine Bettschere: Also wenn mehrere Personen im Bett gelegen sind, dass keiner vorne rausfällt. In früheren Zeiten konnte man diesen Raum natürlich auch nicht heizen, das war schon sehr, sehr kalt hier. Bevor man ins Bett gegangen ist, hat man hier, wie man unter dem Bett liegen sieht, eine Bettpfanne, da hat man glühende Kohlen reingegeben, und damit das Bett vorgeheizt.
MUSIK
ERZÄHLER:
Früher lebten in der Fuggerei viel mehr Kinder. Im Jahr 1624 wurden 93 Familien mit 173 Kindern gezählt, für die eigens eine Schule gebaut wurde. Heute leben meist Alleinstehende oder Paare hier. Das liegt vor allem daran, dass die Zwei-Zimmer-Wohnungen für Familien etwas klein sind. Sabine Darius über die Bewohnerstruktur.
O-Ton 11 Darius
Es sind Leute, die schon in Rente sind, die vielleicht in Frührente sind, die vielleicht krank sind. Es gibt auch wenige Leute, die Hartz IV beziehen. Es gibt auch wieder Leute, die einer Arbeit nachgehen. …Da sieht man, wie aktuell die Fuggerei ist. Denn, es gibt heute sehr viele Menschen, die nicht so viel verdienen, dass sie draußen ein würdiges Leben führen können. Auch dafür ist die Fuggerei heute wieder da.
ERZÄHLER:
Brigitte Hahn genießt ihr Leben in der Fuggerei:
O-Ton 12 Hahn
Also am besten gefällt mir in der Fuggerei, dass es so eine kleine Stadt in der Stadt ist. Man hat sehr nette Nachbarn und ist eigentlich so toll integriert. Man ist nicht alleine. Wenn man eben mal a bissle a Rätschle machen will oder was, dann geht ma nebe hie und ansonsten ist man wirklich ganz toll aufgehoben.
ERZÄHLER:
A Rätschle machen kann Brigitte Hahn nicht nur mit den Nachbarn sondern auch mit den Touristen. Die fragen die Bewohner gerne aus, vor allem im Sommer, wenn diese in ihren kleinen Gärtchen sitzen, die zur Wohnung gehören. In Spitzenzeiten laufen 1.500 Besucher am Tag durch die Gassen; da ist es natürlich schon laut.
O-Ton 13 Hahn
Und Türen darf man auch keine auflassen, dann sind die sofort herin. Sehr neugierig
(lacht). Nein, die stören mich nicht, im Gegenteil: das ist recht interessant, wenn‘s so durchgehen und wir werden auch viel gefragt zwischendurch und geben natürlich auch freudig Auskunft.
TC 17:45 – Fünf Minuten Glocken Bimmeln
ERZÄHLER:
In derselben Gasse wie Brigitte Hahn lebte einst im Haus Nr. 52 Dorothea Braun. Die Pflegerin in der Krankenstube der Fuggerei war das erste Opfer des Hexenwahns in Augsburg. Eine tragische Geschichte, denn ausgerechnet ihre elfjährige Tochter bezichtigte sie der Hexerei. Unter schwerer Folter gestand die Mutter. Am 25. September 1625 wurde Dorothea Braun enthauptet und verbrannt.
MUSIK
ZITATOR Finstere Gass
„War ein Fuggereibewohner gestorben, bimmelte fünf Minuten lang die kleine Glocke
von St. Markus. Das konnte mitten am Tag, in einem Spiel oder einem aufregenden Streich sein. Wir Kinder wurden dann meist etwas verlegen, besonders wenn Erwachsene in der Nähe waren, die sich augenblicklich bekreuzigten.
Eine Stunde später ging der Verwalter dann mit einer Liste von Tür zu Tür und sammelte für einen Kranz. Meine Großmutter war gehalten, zehn Pfennige zu geben, und auch mein Großvater gab diesen Betrag, wenn er selbst einmal zu dieser Zeit zu Hause war“.
ERZÄHLER:
schildert Reiner Schmidt in seinen Kindheitserinnerungen „Barfuß in der Finsteren Gass“. Das war in den 30er- und 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der erste Seelsorger der Fuggerei war Petrus Canisius, geboren im Gründungsjahr 1521. Später wurde er Domprediger in Augsburg und 1925 sogar heiliggesprochen.
Die Reihenhaus-Siedlung hat auch heute noch ihren eigenen Priester, der Andachten und Messen in St. Markus hält. Die Kirche wurde 1581/82 erbaut, viele Male umgestaltet und 1950 neu erbaut nachdem sie durch Luftangriffe im zweiten Weltkrieg zerstört worden war.
MUSIK
O-Ton 15 Rundgang 5 Darius
Hier sind wir in einer der Grünanlagen der Fuggerei, können hier ganz schön die alte Fuggerei-Mauer sehen. Hier war die ursprüngliche Begrenzung, hier unter diesen grünen Hügel ist der Bunker, der Weltkriegsbunker. Heute haben wir unten eine Dauerausstellung zur Zerstörung der Stadt Augsburg im Zweiten Weltkrieg und zum Wiederaufbau.
ERZÄHLER:
In diesem Bunker überlebten 200 Fuggerei-Bewohner die Bombenangriffe in der Nacht vom 24. auf dem 25. Januar 1944:
ZITATOR: Finstere Gass
Unzählige Pfeiftöne jagten einander, dauerten im Anschwellen unverschämt lange, wurden immer lauter, dröhnten kaum ertragbar … Der erste Einschlag! Es hob uns vom Stuhl, Kalk rieselte, das Licht ging aus. Die nächste Mine, die nächste Kugel.
Die Dächer haben sich geschüttelt und ihre Platten auf die Gassen geworfen.
ERZÄHLER:
Die Siedlung wurde bei den Luftangriffen fast völlig zerstört – zum zweiten Mal in ihrer Geschichte; die erste Zerstörung erfolgte 1642 während des Dreißigjährigen Krieges. Aber die Mitglieder des Familienseniorats beschlossen auch dieses Mal, sie schnell wieder aufzubauen. Bereits in den 50er-Jahren war der Wiederaufbau abgeschlossen, danach wurde die Fuggerei sogar um ein Drittel erweitert.
O-Ton 16 Rundgang 5 weiter
Diese Häuserzeile, die gegenüber von dem Bunkereingang ist, die ist historisierend aufgebaut worden, das kam hier als Trümmergrundstück dazu. Wir sehen hier auch das Stifterdenkmal von Jakob Fugger und dahinter sehen wir das breite Dach: Das ist heute die Schreinerei und war in früheren Jahren der Pferdestall.
MUSIK
ERZÄHLER:
Was Jakob Fugger 1521 begonnen hat, funktioniert 500 Jahre später immer noch. Seinen Nachfahren ist es gelungen, die Stiftung in seinem Sinn fortzuführen und im Familienbesitz zu erhalten. Viele Generationen erhielten durch die Fuggerei die Chance für einen neuen Anfang, fanden hier ein neues Zuhause, oft bis an ihr Lebensende. Und das ist bis heute so.
TC 21:48 - Outro