Alles Geschichte - Der History-Podcast

ARD
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Apr 29, 2024 • 30min

KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Folge 2: Mattie

Gertraud fügt sich ihrem Schicksal. Auf dem Hof ihrer Eltern übernimmt sie immer mehr Verantwortung. An einem Sommertag 1958 trocknet draußen das Heu, als ein Gewitter aufzieht. Gertraud muss schnell sein, damit die ganze Arbeit nicht umsonst war - und bringt sich in Lebensgefahr. Mehr als 100 Jahre früher: Die zwölfjährige Margaret "Mattie" Knight arbeitet in einer Baumwollfabrik, wo sie 1850 Zeugin eines Unfalls wird. Das bringt sie auf eine Idee. Was verbindet die beiden Mädchen? Und warum endet die Geschichte der Kinderarbeit nicht mit Mattie, und auch nicht mit Gertraud? Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab. Credits Autorin: Paula Lochte Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha, Kathrin von Steinburg Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram Ein besonderer Linktipp der Redaktion: ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945 Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM. Literaturtipps: Sven Beckert (2019): King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus Vor mehr als 250 Jahren wurde das Reich errichtet, in dem King Cotton herrscht. Krieg, Sklaverei und Ausbeutung standen an seiner Wiege. Während fremde Kulturen rücksichtslos zerschlagen wurden, häuften Händler im Zusammenspiel mit der Staatsgewalt enorme Vermögen an. Ein neues ökonomisches Prinzip begann seinen Siegeszug. Sven Beckert schildert die Geschichte des Kapitalismus im Spiegel eines Produktes, das heute jeder von uns am Leibe trägt - der Baumwolle. Hier geht’s zum BUCH. Alexisde Tocqueville (1835): Notizen von einer Reise nach England Ein Bericht über die Zustände im englischen Manchester – die Wiege der Industrialisierung. Autumn Stanley (1995): Mothers and Daughters of Invention – Notes for a Revised History of Technology Über Margaret „Mattie“ Knight und andere vergessene Erfinderinnen. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 04:12 – Geboren in die Wiege der IndustrialisierungTC 08:52 – Ein Tag mit 16 StundenTC 14:30 – „Wer nicht hören will, muss fühlen“?TC 16:18 – WeberhustenTC 19:57 – Ein Tag, der Leben veränderteTC 23:35 – Der UnfallTC 29:10 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro Autorin  Ein Sommertag 1958 im Dorf Motzenhofen in der Nähe von Augsburg. Gertraud und ihre Geschwister sind erschöpft. Stundenlang haben sie Gras gemäht. Das liegt jetzt auf dem Feld und trocknet. Da zieht ein Gewitter auf. Jetzt heißt es schnell sein, sonst war die ganze Arbeit umsonst: Wenn das Heu in den Pfützen liegen bleibt, fault es. Die Eltern sind nicht da, deshalb sind die Kinder auf sich allein gestellt. Also schickt ihre große Schwester Gertraud auf den Scheunenboden, um die „Hoanzn“ zu holen – das sind Holzgestelle, auf denen man das Gras zum Trocknen aufhängen kann. Gertraud ist mittlerweile 14 Jahre alt. Und sie hat das schon zigmal gemacht. Hoch auf den Scheunenboden geht es am schnellsten, wenn sie nicht bis zur Leiter am anderen Ende des Stalls läuft, sondern einfach an der Bretterwand gleich neben dem Eingang hochklettert. Also hangelt sie sich Brett für Brett rauf. Unten wartet ihre Schwester, um die Gestelle entgegenzunehmen. Gertraud ist fast oben, da gibt das oberste Brett nach und sie stürzt mehrere Meter nach unten: ihr Kopf schlägt auf dem Betonboden auf. MUSIK Autorin  Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“. ZSP 01 Collage Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich – Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Ines Kämpfer: Wir müssen einen Weg finden, dass die Kinder wirklich zur Schule gehen können und nicht die ganze Familie die ganze Zeit arbeiten muss Ausschnitt  Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), Gewerkschafter, schon overvoiced: Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen Gertraud Seidl: Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt. Arne Bartram: Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt. Gertraud Seidl: Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen. Ines Kämpfer: Es ist wirklich ein Teufelskreis. Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen. Autorin  Das ist Folge 2: Mattie und der Webstuhl MUSIK Autorin  Die Geschichte von Mattie erinnert an die von Gertraud. Auch sie arbeitet schon als Kind. Auch sie träumt davon, zur Schule zu gehen und zu studieren, vergeblich. Und auch sie erlebt einen Unfall – nur über 100 Jahre früher als Gertraud. In der Zeit, die den meisten von uns sofort in den Kopf kommt, wenn wir das Wort „Kinderarbeit“ hören: die Zeit der Industrialisierung. Kinderarbeit gab es zwar auch schon vorher. In Familien, für Feudalherren oder Sklavenhalter. Aber mit der industriellen Revolution ab Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt die Kinderarbeit neue Ausmaße an. Warum müssen damals Millionen Kinder in Fabriken schuften, durch enge Kohleschächte kriechen und Ziegel schleppen? Wie gefährlich ist das? Und wann wird es unterbunden? Um diese Fragen geht es in dieser Folge. Und ich möchte auch erzählen, warum das Mädchen Mattie im Alter von gerade mal zwölf Jahren eine Schlüsselrolle spielt, als es darum geht, Unfälle in Textilfabriken zu verhindern. Dafür müssen wir in der Zeit zurückreisen. Ins 19. Jahrhundert. TC 04:12 – Geboren in die Wiege der Industrialisierung ATMO Fabriken, Dampfmaschinen, Webstühle Sprecher Ein dichter schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Die Sonne scheint hindurch als strahlenlose Scheibe. (…) Tausend Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren Labyrinth, die Schritte einer geschäftigen Menge, das Knarren der Räder, die ihre gezahnten Ränder gegeneinander reiben, das Zischen des Dampfes, der dem Kessel entweicht, das gleichmäßige Hämmern des Webstuhles, das schwere Rollen der sich begegnenden Wagen. Autorin  So beschreibt der französische Publizist Alexis de Tocqueville 1835 in einem Reisebericht Manchester. Die englische Stadt gilt als Wiege der Industrialisierung. Sprecher Oben auf den Hügeln erheben sich dreißig oder vierzig Fabriken. Ihre sechs Stockwerke ragen in die Luft. (…) Um sie herum liegen wie willkürlich verstreut die kümmerlichen Behausungen der Armen; man gelangt zu ihnen auf zahlreichen gewundenen Pfaden. (…) Um dieses Asyl des Elends herum wälzt einer der Bäche langsam sein stinkendes, von den Industriearbeiten schwarz gefärbtes Wasser. Aus dieser stinkenden Kloake entspringt der stärkste Strom menschlichen Gewerbe-Fleißes, von hier aus befruchtet er die Welt. Autorin  Nachdem er Manchester besucht hat, will der amerikanische Unternehmer Samuel Blodget genau so eine Stadt auch in den USA errichten: Er spricht vom „Manchester of America“. Und dieser Traum – oder eher Alptraum – wird wahr. Im Bundesstaat New Hampshire an der Ostküste entsteht eine neue Stadt, deren Fluss genauso stinkt und wo die Schlote der Textilfabriken genauso die Luft verpesten wie in England. Diese Stadt erhält 1810 denselben Namen wie ihr Vorbild: Manchester. Und in dieser Stadt wächst Mattie auf. MUSIK Autorin  Sie hat dunkle Haare und helle Augen. „Mattie“ – das ist ihr Spitzname. Ihre Familie und Freunde nennen sie so. Geboren wird sie 1838 als Margaret Eloise Knight. Sprecherin  Alles, was ich als Kind wollte, waren ein Klappmesser, ein Handbohrer und ein paar Holzstücke. Meine Freunde waren entsetzt. Man hat mich einen Tomboy, einen Wildfang, genannt, aber das hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Manchmal seufzte ich, weil ich nicht wie die anderen Mädchen war, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht anders konnte und suchte Trost in meinen Werkzeugen. Autorin  Das hat Mattie 1872 einer Reporterin erzählt. Mattie erinnert mich total an die Bauerntochter Gertraud. Denn die war als Kind auch ein Tomboy, hat sich also nicht an Geschlechterrollen gehalten. ZSP 24 Interview Gertraud - Gertraud: Ich weiß! 14 war ich. Da habe ich zum Geburtstag Seidenstrümpfe gekriegt. Das war ja vorher nicht. Und da habe ich Seidenstrümpfe gekriegt, aber am Nachmittag bin ich dann mit den Seidenstrümpfen den Baum hochgestiegen, da waren sie kaputt. (Lacht) - Autorin: (Lacht) Also Sie waren ein Wildfang! - Gertraud: Lebendig. Autorin  Vielleicht hätte Mattie das an Gertrauds Stelle auch gemacht. Bei ihr selbst, rund 100 Jahre früher, hat das Geld vermutlich nie für teure Seidenstrümpfe gereicht. Als sie sechs ist, stirbt nämlich ihr Vater und ab da ist das Geld noch knapper als ohnehin schon. Ihr Vater war Schreiner. Und auch Mattie hat handwerkliches Talent, das wird später noch wichtig werden. Aber schon als sie klein ist, macht dieses Talent ihr Leben schöner – und das ihrer beiden älteren Brüder auch:  Sprecherin Ich habe ständig etwas für meine Brüder gebastelt; wenn sie etwas zum Spielen brauchten, haben sie immer gesagt: „Mattie macht das für uns.“ Ich war berühmt für meine Drachen, und wegen meiner Schlitten haben mich alle Jungs in der Stadt beneidet und bewundert. Autorin  Aber mit dem Tod des Vaters verändert sich das Leben der Kinder: Erst müssen die beiden älteren Brüder von der Schule abgehen und in der Textilfabrik malochen. Und dann auch Mattie. Mitte des 19. Jahrhunderts gehen in den USA nur die Hälfte der Kinder überhaupt zur Schule – bei den Mädchen nochmal weniger und bei nicht-weißen Kindern sind es sogar nur 17 Prozent. Um in den Fabriken die Maschinen zu bedienen, brauchen sie keine Ausbildung. Und eine allgemeine Schulpflicht, wie wir sie heute kennen, gibt es damals noch nicht. Die setzt sich in den USA genau wie in Deutschland erst durch, nachdem 1918 der Erste Weltkrieg endet: ZSP 25 Philipp Scheidemann (SPD) ruft die Republik aus Arbeiter und Soldaten, der unglückselige Krieg ist zuende! … Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik! ATMO Fabrik TC 08:52 – Ein Tag mit 16 Stunden Autorin  Für Mattie auf der anderen Seite des Atlantiks kommen die neuen Gesetze zu spät. Die Grundschule kann sie zwar noch beenden, aber als sie etwa zehn Jahre alt ist, 1848, muss auch sie in die Fabrik. Genau wie ihre Brüder und ihre Mutter arbeitet sie nun für die Amoskeag Manufacturing Company– das ist zwischenzeitlich die größte Textilfabrik der Welt. Und ein Ort, der vielen von uns vertrauter ist, als wir denken: Denn hier weben Ende des 19. Jahrhunderts Kinderhände den Stoff für ein legendäres Kleidungsstück: die ersten Levi’s-Jeans. Die roten Backsteingebäude der Company erstrecken sich damals über die gesamte östliche Flussseite von Manchester in New Hampshire. Sprecher Jede der Fabriken hatte ihren eigenen Glockenturm. (…) Wenn die Glocken läuteten, war es Zeit, nach Hause zu gehen. Die Leute strömten durch die Fabriktore auf die Canal Street und über die Brücke. 9.000 Leute, die durcheinander wuselten, scherzten und versuchten, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Autorin  So beschreibt es ein Arbeiter später. Unter diesen Tausenden von Menschen sind viele Kinder. Kinder wie Mattie. Von ihr selbst gibt es aber keinen Bericht darüber, wie es ist, in der Baumwollspinnerei zu arbeiten. Und das ist damals leider ein generelles Problem: Kinder schuften täglich bis zu 16 Stunden, fallen ins Bett, nur um am nächsten Morgen gleich wieder arbeiten zu gehen. Wer schafft es da noch, zum Beispiel Tagebuch zu schreiben? Und es können ja noch nicht mal alle schreiben. MUSIK Dass es überhaupt Zitate von Mattie gibt, kommt daher, dass sie ein paar Mal interviewt wurde. Vor dieser Recherche kannte ich sie zwar noch nicht, aber in den USA ist sie relativ berühmt. Warum – dazu kommen wir noch. ATMO Fabrik Autorin  Mattie geht ab 1848 also nicht mehr zur Schule, sondern in eine Fabrikhalle. In Hallen wie diesen ist es heiß, stickig und so laut, dass man nicht mal sein eigenes Wort versteht. Sprecher  „Kinder von 5 Jahren an sitzen in der unbequemsten Lage, mit zusammengezogenen Beinen und gebücktem Rücken in überfülltem Raume am Spulrad. (...) Schwächlinge, übermüdet, der Kopf grindig, die Augen triefend, die Brust schwindsüchtig, der Magen leidend; zum Militärdienst taugten sie nicht, in die Schule kamen sie nicht, und verirrte solch ein Geschöpf sich einmal dahin, so fand es wenigstens auf einige Augenblicke Schlaf und die Ruhe, welche ihm sonst die schreckliche Stimme des Werkmeisters raubten.“  Autorin  Wie es in den neu errichteten Fabriken zugeht, schildern, wie in dem eben gehörten Bericht über deutsche Textilfabriken, meist Erwachsene. Vor allem Beamte, Mediziner oder Intellektuelle. Kinder kommen nicht zu Wort, haben keine Stimme. Auch auf meiner Suche nach Quellen von Kindern in Fachbüchern und Katalogen historischer Ausstellungen bleibe ich lange erfolglos. Aber dann werde ich doch noch fündig! Auf einer Plattform mit Arbeitsblättern für den Geschichtsunterricht lese ich zum ersten Mal den Namen Ellen Hootton. Ein Mädchen aus Großbritannien. Von ihr gibt es Zitate! Denn sie sagt 1833 vor der Königlichen Untersuchungskommission für Fabriken aus. Und zwar auf Initiative von Aktivisten aus der britischen Mittelschicht, die sich gegen Kinderarbeit einsetzen. Wie die zehnjährige Ellen ihre Arbeit beschreibt, könnte genauso gut von Mattie kommen: Sprecherin Mein Arbeitstag beginnt morgens um halb sechs und endet abends um acht. Ich bin Flicker an der Drosselspinnmaschine. Autorin  Ein ähnlicher Job, wie ihn auch Mattie übernehmen muss: Sprecherin Ich arbeite in einem Raum mit 25 anderen: drei Erwachsene, der Rest sind Kinder. Ich knote gerissene Fäden wieder zusammen. Autorin  Die Fäden, die auf den Spulen der Spinnmaschinen aufgezogen werden, reißen oft mehrmals pro Minute. Die Kinder haben also nur Sekunden, um sie wieder zusammenzuknoten. Sprecherin „Ich schaff das nicht“, das habe ich meiner Mutter gesagt. Aber die schickt mich trotzdem in die Fabrik. Ich bin deshalb schon mehrmals weggelaufen. Autorin  Familien wie die von Ellen oder Mattie sind in so einer Geldnot, dass sie auf den Lohn der Kinder angewiesen sind, und sei der noch so klein. In einem deutschen Bericht über Kinderarbeit heißt es damals, Kinder unter zwölf bekämen nur etwa zehn Prozent des Arbeitslohnes eines Erwachsenen. Kinder sind also verdammt billige Arbeitskräfte und steigern so den Profit der Unternehmer. Die freuen sich auch, dass Kinder weil sie so klein sind, sogar durch die niedrigsten Stollen kommen. Oder dass ihre winzigen Hände so „flink“ Fäden zusammenknüpfen. Sprecherin  Wenn ich einen Fehler mache, schlägt mich der Aufseher Mister Swanton – oder er nimmt einen Lederriemen und peitscht mich aus. Das passiert alle paar Tage. Mit seinen Händen macht er, dass mein Kopf wehtut. Autorin  Das erzählt die zehnjährige Ellen Hootton vor dem Fabrikausschuss. Sprecherin  Einmal, als ich zu spät gekommen bin, hat mir der Aufseher Eisengewichte umgehängt. Ich musste damit in der Fabrikhalle auf und ab laufen. Das ging nur gebückt, so schwer waren die. Die anderen Arbeiter haben sich über mich lustig gemacht. Sie haben mich im Vorbeigehen beschimpft und gezwickt, bis ich hingefallen bin. Autorin  Kinder wie Ellen und Mattie sind in der Industrialisierung grauenhafter, für uns heutzutage unvorstellbarer Gewalt und Willkür ausgesetzt. TC 14:30 – „Wer nicht hören will, muss fühlen“? MUSIK Autorin  Über 100 Jahre später, in den fünfziger Jahren. Im schwäbischen Dorf Motzenhofen – darf auch die Bauerntochter Gertraud auf keinen Fall zu spät zu kommen: ZSP 27a Interview Gertraud - Autorin: Wissen Sie noch, wovor Sie als Kind Angst hatten? - Gertraud: Ja, dass man einfach, wenn man nicht rechtzeitig zum Essen gegangen ist, dass man da… da hat es dann Schimpfe gegeben, wenn man nicht gekommen ist. Da hat dann Mama zur Tür rausgeplärrt, da sind wir gerannt. Vor was habe ich noch Angst gehabt? (Wird leiser, wirkt bedrückter) In Keller bin ich nicht gern gegangen, denn bei uns ist man, wenn man was angestellt hat, in den Keller gesperrt worden. Und da war ich mehrmals drunten. Keller habe ich gar nicht mögen! ...
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Apr 23, 2024 • 27min

KINDERARBEIT - BEI UNS DOCH NICHT! Folge 1: Gertraud

Gertraud Seidl aus der Nähe von Augsburg ist stolz: Sie ist vier Jahre alt und darf nun endlich auch mit auf die Weide und ihren Schwestern beim Hüten der Kühe helfen. Es bleibt aber nicht bei dieser Aufgabe. Auf dem Bauernhof ihrer Eltern ist in den 1950er Jahren so viel zu tun, dass sie nur wenig Zeit zum Spielen und für die Schule übrig hat. Dabei macht ihr nichts so viel Spaß wie zu lesen und zu lernen. Als sie in der achten Klasse ist, treffen ihre Eltern hinter ihrem Rücken eine folgenschwere Entscheidung. Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab.CreditsAutorin: Paula LochteRegie: Rainer SchallerEs sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha  Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne MaierIm Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram Ein besonderer Linktipp der Redaktion:ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM. Literaturtipps: Anna Wimschneider (1985): Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin„Herbstmilch“ ist die Lebensgeschichte der Bäuerin Anna Wimschneider – ein Dokument des 20. Jahrhunderts, das vom Schicksal der kleinen Leute handelt, von Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und ihr Leben bewältigen, aufrecht und unerschütterlich. Anna Wimschneiders Erinnerungen beginnen mit dem frühen Tod der Mutter, die eine neunköpfige Familie hinterlässt und deren Pflichten ganz selbstverständlich die achtjährige Tochter Anna übernehmen muss. Hier geht’s zum BUCH.Heinrich von der Haar (2020): Kinderarbeit in DeutschlandÜber 500.000 Kinder arbeiten für Lohn, die Hälfte verbotenerweise – bei einem unzureichenden Kinderarbeitsschutz. Die familiären Notlagen sind weitgehend unsichtbar und scheinen unerheblich. Die Scham der aus Not arbeitenden Kinder und ihrer Familien verstärkt das Tabu und den Eindruck geldgieriger Kinder, sodass die Schutzbedürftigkeit unwesentlich zu sein scheint. Erschreckend wenig wissen wir über die Lage arbeitender Kinder. Gleichgültig stehen viele der Vernachlässigung der Schule und den gesundheitlichen Schäden durch Kinderarbeit gegenüber. Hier geht’s zum BUCH.Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds VergangenheitTC 09:14 – Tag ein, Tag ausTC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker?TC 13:41 – Rübenzeit statt SchuleTC 21:07 – „Schade, Gertraud“TC 25:09 – Kampf gegen ArmutTC 26:11 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  MUSIK  Autorin Sie weiß noch, dass sie geweint hat. Vielleicht in ihrem Zimmer. Wenn es so war, dann musste sie die Treppe hoch, bis unters Dach. Weil sie sich den Raum mit ihren Geschwistern teilt, geht sie wahrscheinlich direkt zu ihrem Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. Gertraud ist 13 Jahre alt. Das Bett ist ihr Versteck. Der einzige Ort, der nur ihr gehört. Irgendetwas drückt ihr schmerzhaft in die Rippen. Sie tastet nach der Ursache: ein Buch. Sie hat es im Bett versteckt, damit ihre Eltern es nicht bemerken. Abends, wenn sie eigentlich schlafen soll, liest das Mädchen. Mit Taschenlampe unter der Bettdecke. Die meisten Bücher aus der Bücherei hat sie schon zweimal gelesen. Sie träumt sich so weg: zu den Abenteuern von Winnetou und Old Shatterhand, nach Amerika. Dort will sie hin – obwohl sie kein Wort Englisch kann. Das Schulfach hatte sie nämlich noch nicht. Und das wird auch so bleiben. Gertraud wird nie Englisch lernen. Nie raus in die Welt, wie sie es sich erträumt hat. Denn ihre Eltern haben eine Entscheidung getroffen – gegen ihren Willen. MUSIK Autorin Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT: BEI UNS DOCH NICHT!Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“.ZSP 01 CollageInes Kämpfer:Die Zahlen haben sich in den letzten paar Jahren wieder verschlechtert, das ist eine Entwicklung, die wir ganz klar in den USA sehen können, aber auch in europäischen Ländern.  Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlichZum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.  Ausschnitt  Reportage USA overvoiced:Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen. Gertraud Seidl:Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt. Arne Bartram:Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt.  Ines Kämpfer:Dass diese Kinder dann häufig in sehr gefährliche Arbeit eingegliedert werden. Gertraud Seidl:Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen.  Ines Kämpfer:Es ist wirklich ein Teufelskreis. Und Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen.  Autorin Das ist Folge 1: Gertraud und der Bauernhof. ATMO Dorf Autorin Bei „Kinderarbeit“, da denke ich als Erstes an Länder wie Bangladesch. Oder ans 19. Jahrhundert. Ganz lang her, ganz weit weg. Das geht nicht nur mir so. Unter den häufigsten Google-Suchanfragen zu Kinderarbeit sind: „Kinderarbeit Industrialisierung“ und „Kinderarbeit in Indien“.Aber ich musste überhaupt nicht weit reisen, um hier und jetzt eine Person zu treffen, die als Kind schwer gearbeitet hat. Und die damit wohl für eine ganze Generation steht, vor allem auf dem Land.  ATMO Straße/ Dorf/ Wind Autorin25 Kilometer von Augsburg entfernt liegt das kleine Motzenhofen. Ich gehe jetzt hier an Feldern vorbei. Also da, wo der Ort beginnt, und da wo er aufhört, sind jeweils Felder. Und es ist eine ganz kleine Ortschaft: Die Häuser sind dicht an dicht, eine Straße führt durch den Ort und die ist schon ganz schön befahren.  ATMO Auto fährt vorbei  Hier treffe ich gleich Gertraud Seidl. Die ist hier geboren, aufgewachsen, jetzt fast 80, lebt hier immer noch und ich bin schon ganz gespannt, wie sie ihre Kindheit hier erlebt hat an diesem Ort, und wie er sich vielleicht auch verändert hat seitdem.TC 04:06 – Eine Reise in Gertrauds Vergangenheit  ATMO Schritte Autorin Ich biege auf einen Hof ein. Vorne ein kleiner Gemüsegarten, hinten eine Scheune und ein weiß verputzter Stall mit Platz für mehrere Dutzend Kühe. Wo früher ein altes Bauernhaus war, steht jetzt ein Neubau. ATMO Klingel, Tür geht auf- Sohn: Hallo?- Autorin: Hallo, ich bin Paula Lochte vom BR, ich bin verabredet mit Ihrer …- Sohn: Mutter!- Gertraud: Huch, ich habe Sie gar nicht gehört! Grüß Gott. Oh, haben Sie kalte Hände!- Autorin: Ist ein bisschen kalt draußen.- Gertraud: Ich habe selbst immer warme. Ich schaue mal, ob ich Pantoffeln für Sie habe.  Autorin Gertraud führt mich zu einer Eckbank in einer großen Wohnküche. Am Esstisch malen ihre zwei Enkelinnen mit Buntstiften Ausmalbilder aus. Ein Mehrgenerationenhaus: Unten wohnt Gertraud, oben ihr Sohn mit seiner Frau und den Zwillingstöchtern. - Gertraud: So, geht ihr hoch jetzt zum Papa, oder?- Enkelin: Ich bleib da!- Gertraud: Ja, bleibsch da.- Enkelin: kichert- Gertraud: Habt ihr überhaupt gesagt, wie alt ihr seid?- Enkelinnen: Vier!- Autorin: Vier!  Atmo (unter Text) Autorin  Gertraud nimmt gegenüber von ihren Enkelinnen Platz.- Gertraud: „Dann schauen wir mal: Oma hat Schulstunde.- Enkelin: Nur anschauen– Gertraud: Ja, nur mit den Augen anschauen, ein Mikrofon ist das, was die Frau da hat, siehst du.– Enkelin: Ja. (Lachen) MUSIK Autorin Auf einmal ist es wie bei diesen Postkarten mit den Wackelbildern: Ich sehe die Frau, die fast 80 ist. Aber wenn ich zu ihren Enkelinnen blicke, mit ihren zerzausten weißblonden Haaren und dem schelmischen Grinsen, dann ist es, als würde ich Gertraud als kleines Mädchen sehen.  MUSIK hoch Als sie vier Jahre alt wird, 1948, da ist Gertraud richtig stolz. Denn sie ist endlich alt genug:  ZSP Gertraud Kühe hüten(enthusiastisch) Zuerst ist man mitgelaufen und dann hat man, wenn die Großen das können, dann muss der Kleine hinten nach auch können. Man hat ja immer wollen! Autorin „Die Großen“, das sind ihre drei älteren Schwestern. Gertraud reicht ihnen zwar gerade mal bis zur Hüfte … ZSP 05b Gertraud Wusch„I war ja so a kleina Wusch.“ (lacht)Autorin … aber sie darf nun mit. Zum Kühe hüten! Gut, ein vierjähriger Fratz neben einer Kuh: Wer passt da eigentlich auf wen auf?  ZSP 05c Gertraud Kühe hütenKühe hüten, das war eigentlich, wenn schönes Wetter war, die tollste Arbeit. Da war man halt viel draußen. Da war nebendran ein Wald. Und da haben wir viel im Wald gespielt! Und einen Bach gab es da. Ja, das war schön! Da haben wir uns immer gestritten, wer da mitdarf. Meistens ein Größeres und ein Kleines dazu und so.  MUSIK Autorin  Kühe, Gänse und Schweine zu hüten war eine Aufgabe, die in Deutschland lang vor allem Kinder übernommen haben. Seien es die eigenen oder die sogenannten „Hütekinder“ oder „Schwabenkinder“. Das waren Kinder aus armen Bauernfamilien im Alpenraum, zwischen sechs und elf Jahre alt. Zigtausende von ihnen sind jedes Jahr ohne ihre Eltern nach Oberschwaben, also in den Süden von Bayern und Baden-Württemberg, gekommen. Um sich dort auf den Höfen anderer Familien zu verdingen: als saisonale Arbeitskräfte. Ihr Arbeitstag begann um vier, fünf Uhr morgens und endete, zumindest in der Erntezeit im Sommer, erst gegen 22:00 Uhr. Was mich besonders erschreckt, denn das ist ja immer ein Warnsignal, dass es Kindern nicht gut geht: Bettnässen war bei Hütekindern ein verbreitetes Problem. Das habe ich in der Recherche immer wieder gelesen. Denn die Kinder standen unter einem enormen Druck, dazu kamen der Schlafmangel und das Heimweh. Nicht allen Hütekindern ging es schlecht. In Überlieferungen von ihnen lese ich, dass manche genau wie Gertraud das Tiere hüten mochten. Dass sie auch „stolz“ waren auf ihre Arbeit. Oder es ihnen in der Fremde zumindest besser ging als zuhause, immerhin gab es genug zu essen. Aber es gibt auch Berichte von Misshandlungen und sexuellen Übergriffen durch die „Dienstherren“. Hütekinder gab es bis in die Nachkriegszeit. Sie haben schwer gearbeitet, aber zum Bruchteil des Lohns eines Erwachsenen. Manche der Kinder waren so arm, dass sie nicht mal Schuhe hatten. Und so sind ihnen, wenn es auf der Weide besonders kalt war, Zehen abgefroren. Eine Strategie dagegen war: die Füße in die warmen Kuhfladen zu stecken. Gertraud, die Bauerntochter aus dem schwäbischen Motzenhofen, hatte, als sie klein war, in den 50er Jahren, zum Glück immer Schuhe. Und Arbeitskleidung, wenn auch nur die abgetragenen Sachen ihrer Schwestern. Das „Arbeitsgewand“, wie sie es nennt, sah ungefähr so aus wie ein Dirndl:  ZSP 06a Gertraud ArbeitsgewandDa waren da meistens Puffärmel dran. Im Winter dann natürlich lange Ärmel. Da vorne Knöpfe und ein Rock und darüber dann eine Schürze. So wie die, die da an der Tür hängt. Autorin Wie eine Küchenschürze also. Mit Taschen innen und außen. Praktisch, denn wenn die eine Seite schmutzig ist, kann man die Schürze einfach umdrehen. Und am Samstagnachmittag, wenn die Arbeit auf dem Feld getan ist …  ZSP 06b Getraud ArbeitsgewandDa hat man dann das Arbeitsgewand gewaschen, mit der Bürste. Wenn man da flott war, hat man dann mehr Freizeit gehabt.TC 09:14 – Tag ein, Tag aus  MUSIK Autorin Mir fällt auf, dass Gertraud kein einziges Mal jammert, als sie mir von ihrer Kindheit erzählt. Selbst wenn’s um harte Arbeit geht, die erst am Samstagabend endet. Oder um Situationen, in denen ihre Eltern sie seelisch verletzt haben (dazu kommen wir noch). Sie hat das alles stoisch ertragen. Verklärt vielleicht auch manches in der Rückschau, das machen wir ja alle. Aber wenn wir zu Erinnerungen kommen, die schön waren, dann merke ich schon einen Unterschied in ihrer Stimme. Da schwingt dann auf einmal Freude mit:  ZSP 6c Interview Spiele- Gertraud: Wenn der Mais schön draußen gestanden ist und die Kolben angesetzt hat, dann haben wir die Maiskolben rausgerissen und Pferdl gespielt.- Autorin: Der Mais war dann das Pferd?- Gertraud: Ja, das Gelbe vom Mais ist das Pferd gewesen, weil die haben ja dahinten den Schwanz dran gehabt die Maiskolben, die haben doch da die Haare dran.  Autorin Die Momente, in denen Gertraud und ihre Geschwister einfach nur spielen sind kostbar – auch weil sie so selten sind. Die meisten Tage sehen ganz anders aus: ZSP 07a Gertraud TagesablaufUm sechse hat die Mama geweckt. … Autorin Eins der fünf Kinder muss aber immer schon eine Stunde früher aufstehen, um gemeinsam mit den Eltern auf dem Acker oder der Wiese das Futter für die Tiere zu holen. Einer übernimmt das Mähen, der andere lädt auf – zusammen geht es schneller. ZSP 07b Interview Tagesablauf  - Gertraud: So um Dreiviertelsieben haben wir fertig sein müssen, da sind wir nach Hollenbach gegangen eine gute Viertelstunde zu Fuß in die Kirche: Da war um sieben Uhr jeden Tag eine Messe. Und nach der Kirche, um acht, ist dann die Schule angegangen. Die war gleich zwei Häusl weiter ungefähr.- Autorin: Und dann, nach der Schule?- Gertraud: Je nachdem, was für eine Arbeit angefallen ist. Erst war bei uns immer angestanden, Hausaufgaben machen. Autorin Also den Eltern ist, zumindest in den ersten Schuljahren, schon wichtig, dass sich die Kinder erst um die Schule kümmern, und dann um die Arbeit. Von der gibt es mehr als genug: ZSP 07c  Gertraud Tagesablauf   Unsere Eltern haben am Vormittag meistens eine Fuhre Futterrüben aufgeladen und die haben wir dann in den Keller schmeißen müssen. Und da war so eine Holzrutsche in den Keller, da sind sie dann runtergerollt.  Autorin Und danach? Je nach Jahreszeit und Wetter …  ZSP 08 Gertraud AufgabenDen Hof zusammenkehren, Rüben und Kartoffeln am Acker das Unkraut raushacken, Disteln, da hat man die Wurzeln abgestochen im Getreidefeld. Holz reinholen, Holz nachfüllen, Reisig hacken, beim Kartoffelklauben haben wir natürlich auch geholfen, klar: Meine zweite Schwester, die war sehr kräftig, die hat dann immer die Körbe ausgeleert. Oder das Grünfutter gemäht, Klee, das haben wir alles gelernt: Getreide mähen mit der Sense und so. Das ist nicht so einfach. Das ist schon klar. MUSIK TC 11:47 – Was dich nicht umbringt, macht dich stärker? Autorin Das Gewicht von einem vollen Kartoffelkorb tragen, mit der Sense mähen, Stunden auf dem Feld ackern: Das sind Schwerstarbeiten. Was Gertraud und ihre Geschwister als Kinder leisten müssen, ist eine ganz andere Nummer als hier mal ein bisschen im Haushalt zu helfen oder dort mal ein wenig mitanzupacken – das würde auch nicht unter „Kinderarbeit“ fallen. Die UN-Kinderrechtskonvention verbietet seit 1989 Arbeit, die für Kinder gefährlich oder schädlich ist und dadurch deren Rechte verletzt. Wie das Recht auf Bildung, auf Sicherheit oder Gesundheit. Gemeint sind mit dem Begriff „Kinderarbeit“ also Aufgaben, für die Kinder eigentlich zu jung sind. Wer arbeitet, muss mindestens 15 sein, auf dieses Mindestalter haben sich Staaten mittlerweile in internationalen Abkommen geeinigt.  ZSP 09a  Gertraud Da gibt es ein Sprichwort, das heißt: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.  Autorin Das sagt Gertraud in unserem Gespräch immer wieder  ZSP 09b  GertraudWas dich nicht umbringt, macht dich stärker – heißt es. Mich hat es stark gemacht.  Autorin Vielleicht ist das eine typische Haltung für ihre Generation. Und es stimmt: Gertraud wirkt total fit, viel jünger als 80. Sie ist eher klein, aber bis heute ganz drahtig und hat kurze braune Haare.   ...
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Apr 19, 2024 • 23min

JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Feuchtwangers Fluchten und seine Bücher

Bibliotheken haben bekanntlich keine Füße. Aber - Lion Feuchtwanger, der Meister des historischen Romans aus München, musste schnell sein, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. So baute er in seinem Leben drei Bibliotheken auf, mit jeweils mehr als 10.000 Büchern: in Berlin, im französischen und amerikanischen Exil. Diese Bibliotheken waren weit mehr als nur Bücher in Regalen - sie waren das immobile Alter Ego Lion Feuchtwangers. Von Michael Zametzer (BR 2024)Credits Autor: Michael Zametzer Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Udo Wachtveitl, Christopher Mann Technik: Stefan Oberle Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Julia Schneidawind, Dr. Heike Specht  Ein besonderer Linktipp der Redaktion: Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER. Literaturtipps: Julia Schneidawind (2023): Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles. Vandenhoeck & Ruprecht. Während eine nicht bezifferbare Masse an jüdischem Buchbesitz durch Raub, Verfolgung, und Krieg nach 1933 unwiederbringlich zerstört wurde, sind heute wenige Sammlungen über die Welt verstreut erhalten geblieben. Folgt man den Spuren der Sammlungen von ihrem Entstehungskontext an ihre heutigen Verwahrungsorte, eröffnen sich wichtige Erkenntnisse mit Blick auf die Frage nach Translokation materieller Kultur, aber auch dem Nachwirken deutsch-jüdischen Büchererbes heute in unterschiedlichen Räumen und Kontexten. Hier geht’s zum BUCH. Heike Specht (2024): Die Frauen der Familie Feuchtwanger. Eine unerzählte Geschichte. Piper Verlag. Die deutsch-jüdische Familie Feuchtwanger vollzog im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen spektakulären Aufstieg von der Fürther Provinz ins Großbürgertum der Residenzstadt München. Ein Aufstieg, der undenkbar gewesen wäre ohne vier Generationen starker Frauen, die die Familiengeschicke durch die historischen Wirren lenkten, als knallharte Geschäftsfrauen, als Pionierinnen und in Zeiten der Verfolgung als echte Heldinnen. Heike Specht erzählt die Geschichte der Feuchtwangers aus der weiblichen Perspektive und berichtet von außergewöhnlichen Lebensentwürfen aus fast 200 Jahren. Denn hinter großen Familien stecken oft mächtige Frauen. Hier geht’s zum BUCH.   Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 - IntroTC 02:12 – Die Bibliotheken deutscher SpracheTC 04:03 – Bayrisch-Barock & Jüdisch-OrthodoxTC 07:46 – Wandel zum politischen SchriftstellerTC 13:41 – Französisches ExilTC 16:22 – In der Villa AuroraTC 19:30 – Die Hüter des VermächtnisTC 22:10 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - Intro MUSIK, kratzend, berstend, zerstörend, darüber Zitator (Lion Feuchtwanger): Wie gefällt Ihnen mein Haus, Herr X? Lebt es sich angenehm darin? hat der silbergraue Teppichbelag der oberen Räume bei der Plünderung durch die SA-Leute sehr gelitten? Sprecher: Im Jahr 1933 besetzen und enteignen die Nazis das Haus von Lion Feuchtwanger in Berlin… Zitator (Lion Feuchtwanger):Was fangen Sie wohl mit den beiden Räumen an, die meine Bibliothek enthielten? Bücher, habe ich mir sagen lassen, sind nicht sehr beliebt in dem Reich, in dem sie leben, Herr X. Und wer sich damit befasst, gerät leicht in Unannehmlichkeiten. Sprecher: Die Bibliothek umfasst über 30.000 Bücher. Erstausgaben, deutsche Klassiker, Jüdische Literatur. Das Arbeitswerkzeug des Schriftstellers, des Bestsellerautors Lion Feuchtwanger… Zitator (Lion Feuchtwanger)Kommt es Ihnen nicht doch manchmal merkwürdig vor, dass sie in meinem Haus sitzen? Ihr Führer gilt sonst nicht als Freund der jüdischen Literatur. Sprecher:Drei Bibliotheken hat Lion Feuchtwanger in seinem Leben aufgebaut. Die Erste in Berlin. Und noch zwei im Exil. Im französischen Sanary-Sur-Mer, und schließlich in Pacific Palisades, einer Villenkolonie nahe Los Angeles. Er, der Münchner Jude, der Weltschriftsteller, berühmt für seine historischen Romane, für Jud Süß, Erfolg, die Josephus-Trilogie, wird die USA nie mehr verlassen. Er bleibt staatenlos. Und die Bibliotheken erzählen vom Leben des deutschen, des bayerischen, des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger. TC 02:12 – Die Bibliotheken deutscher Sprache 1 ZSP Julia SchneidawindEs sollte auch eine Bibliothek der deutschen Sprache werden… Sprecher: Julia Schneidawind hat für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet und forscht nun am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität.Für ihre Doktorarbeit hat sie die Schicksale von Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Schriftsteller untersucht: Franz Rosenzweig, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl, Stefan Zweig und – Lion Feuchtwanger. Dessen letzte Bibliothek, in Pacific Palisades bei Los Angeles, hat für sie einen besonderen Stellenwert. 2 ZSP Julia SchneidawindEr hatte ja ganze Abteilungen, die sich wirklich deutschsprachigen Literaten und Schriftstellerinnen gewidmet haben, und es war ihm eben auch ein Anliegen, das zu zeigen. Und es waren zum einen die Exil-Schriftsteller, -Schriftstellerinnen, aber auch eben jene, die es nicht ins Exil geschafft haben. Und dafür stellt der Ort auf jeden Fall auch einen ja, wie wir heute sagen, eine Memorial Library dar.  Sprecher:Aber egal, ob in Berlin, im französischen oder amerikanischen Exil - Natürlich war jede dieser drei Bibliotheken Feuchtwangers auch ein repräsentativer Ort. Besucher sollten nicht nur seltene Erstausgaben bewundern, sondern auch das intellektuelle Koordinatensystem erspüren können, in dem sich der Erfolgsschriftsteller bewegte. Die Bibliotheken waren aber noch mehr. Sie waren Feuchtwangers immobiles Alter Ego. Und als ihr Besitzer schnell sein musste, um zu entkommen, blieben Sie am Ort und waren den Nazis ausgeliefert. So erzählen diese Bibliotheken zunehmend auch von einem Menschen in der Fremde, der immer wieder versucht, mit Büchern eine Verbindung zum verlorenen Zuhause herzustellen. TC 04:03 – Bayrisch-Barock & Jüdisch-Orthodox MUSIK Kindheit und Jugend in München Sprecher:Lion Feuchtwanger kommt aus einem bürgerlichen Münchner Haus. Der Vater, Sigmund Feuchtwanger ist erfolgreicher Margarinefabrikant. Er stammt aus einer alten fränkisch-jüdischen Familie. Lion, ältestes von neun Kindern, wächst im Münchner St. Anna-Viertel auf. Die Familie gehört zum orthodoxen Münchner Judentum, lebt die strengen jüdischen Traditionen, aber… 3 ZSP Heike SpechtDie Feuchtwangers waren eben eine wirklich besondere Mischung für die damalige Zeit. Bayerisch-Barock würde ich fast sagen, und jüdisch-orthodox. Das ging ganz gut zusammen. Sprecher: Die Schriftstellerin Heike Specht hat sich intensiv mit dem Leben der weitverzweigten Familie Feuchtwanger beschäftigt, mit ihren Traditionen und ihrem jüdischen Selbstverständnis. Ein Selbstbewusstsein, dass sich auch in der stattlichen Bibliothek des Elternhauses widerspiegelt. Julia Schneidawind. 4 ZSP Julia SchneidawindDas ist, denke ich, charakteristisch für diese Sammlungen um die Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts, dass diese Sammlungen natürlich seit der Jugend meistens wachsen, wenn man aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus kommt. Und natürlich spielen dann auch Antiquariate eine große Rolle. Und so wachsen sozusagen diese Sammlungen über die Generationen und kriegen natürlich immer einen sehr eigenen Zuschnitt über die Interessen, die man eben persönlich dann auch hat.  Sprecher: Die Bibliothek von Vater Sigmund bietet einen Schatz an jüdischer und weltlicher Literatur und ist bei bibliophilen Menschen über die Grenzen Münchens hinaus bekannt. In den Regalen stehen Bibelinterpretationen ebenso wie die Märchen von Wilhelm Hauff und Werke der Deutschen Klassik, aber auch moderne Literatur von Wedekind bis Hauptmann. Prägender Lesestoff für den jungen Lion. 5 ZSP Julia SchneidawindGerade in den Jugendjahren Feuchtwangers hat er vermutlich auch sehr stark auf die Bibliothek seines Vaters zurückgegriffen. Er hatte eine unglaublich einzigartige Sammlung, die heute komplett in Vergessenheit geraten ist und auch leider verschollen. MUSIK Sprecher: Seine Schulzeit in München, auf dem konservativen Wilhelmsgymnasium, beschreibt Lion Feuchtwanger nicht gerade überschwänglich positiv. Und zuhause wartet dann noch ein Privatlehrer mit den Studien von Talmud und Bibel. Aber – er beginnt früh zu schreiben, gewinnt schon als Gymnasiast einen Wettbewerb, studiert nach dem Abitur Geschichte, Philosophie und Deutsche Philologie, promoviert brillant über Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“. Eine akademische Laufbahn, eine Professur aber ist ihm – als Juden – de facto verwehrt. Er gründet eine Zeitschrift, schreibt Artikel, Theaterkritiken und lebt das Leben der Schwabinger Bohème. Feuchtwanger macht mit ersten Veröffentlichungen von sich reden, hält sich aber auch als Nachhilfelehrer finanziell über Wasser. Julia Schneidawind. 6 ZSP Julia SchneidewindDa gibt es Anekdoten darüber, dass er aufgrund seiner, ja, nicht Abneigung zum Glücksspiel häufig seine Bibliothek verspielte und dann die Bücher sozusagen abgeben musste. Sprecher: Wobei die ersten Bücherbestände Feuchtwangers wohl schwer den Namen „Bibliothek“ verdienen mögen. Den Luxus einer eigenen, großen, repräsentativen Bibliothek wird er sich erst Jahre später erfüllen können. Noch aber, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, ist das Geld knapp, und die Lust Lions am Leben groß. 1912 heiratet er Martha Löffler, die aus einer wohlsituierten, jüdischen Familie in München stammt. Das Paar schwimmt im Zeitgeist, im Leben der Bohème. Dann der Schicksalsschlag: Die einzige Tochter, Elisabeth, stirbt schon im Alter von zwei Monaten.TC 07:46 – Wandel zum politischen Schriftsteller MUSIK Sprecher: Das Paar macht eine ausgedehnte Reise, nach Südfrankreich, nach Italien und Nordafrika. Im August 1914 – sie sind gerade in der französischen Kolonie Tunesien – bricht der Weltkrieg über Europa herein. Feuchtwanger verfällt nicht in patriotisches Hurra-Geschrei wie viele seiner schreibenden Kollegen, entzieht sich aber auch nicht der Einberufung. Seine labile Gesundheit erspart ihm den Fronteinsatz. Die Entfesselung von Hass, Krieg und nationalistischem Rausch in Europa aber werden aus Lion Feuchtwanger einen politischen Schriftsteller machen. MUSIK Weimar Sprecher: Die ersten Jahre der Weimarer Republik werden zu den ersten Erfolgsjahren für Feuchtwanger. Nicht mehr nur seine Theaterkritiken, sondern auch seine Bühnenstücke werden gedruckt und – gespielt. Ein Stück aber findet bei den Verlagen gar keinen Anklang: Die Geschichte des Juden Joseph Süß Oppenheimer am Hof des Württembergischen Herzogs. In „Jud Süß“ behandelt Feuchtwanger die zentralen Fragen der Assimilation von Juden in Deutschland. Von Marta kommt der Vorschlag, den Stoff doch als historischen Roman umzusetzen. 7 ZSP Heike SpechtAlso sie hat ihn auf diese Spur gesetzt und das hat dann funktioniert und wurde ja dann wirklich schon in den Zwanzigern ein Weltbestseller, was ja überhaupt erst quasi das Fundament gelegt hat, dann auch für seinen Lebensstil in Deutschland noch und dann aber vor allem im Exil. Sprecher: „Jud Süß“ wird ein Welterfolg, der sich schon im ersten Jahr 100.000-mal verkauft. In Großbritannien und den USA erscheint der Roman ab 1926 auf Englisch unter dem Titel „Power“, später folgen Übersetzungen in 15 weitere Sprachen. Bittere Ironie der Geschichte: Der Roman liefert später die Vorlage für den wohl schlimmsten antisemitischen Propagandafilm der Nazis. MUSIK Akzent Sprecher:In den frühen 1920er Jahren wächst auch die Freundschaft zu Bertolt Brecht. Der bedingungslose Erneuerer des Theaters findet in Lion Feuchtwanger, dem Erfinder des dramatischen historischen Romans, einen streitfreudigen Partner. MUSIK Goldene Zwanziger, Berlin Sprecher: 1925 wird dem Paar dann München zu klein – und das Klima zu nationalistisch. Das heiße Pflaster der Weimarer Jahre liegt ohnehin nicht an der Isar, sondern an der Spree. In Berlin leben auch viele jüdische Intellektuelle, Schriftsteller, Filmemacher, Schauspieler. Wenn München Anfang des 20. Jahrhunderts noch leuchtete, so pulsiert Berlin nun im Takt der modernen Zeit. MUSIK weg Sprecher: Lebenslanges, intensives Lesen ist zentral für die Arbeit Lion Feuchtwangers. Dementsprechend richtet er ab 1932 im neuen Berliner Domizil, einer Villa am Grunewald, eine umfangreiche Bibliothek ein. In den Regalen seines Arbeitszimmers stehen dann etwa 300 Bücher, die er für das aktuelle Romanprojekt benötigt. Also eine Art Handapparat, das Handwerkszeug des Autors. Insgesamt wird die neue Sammlung über 10.000 Bücher umfassen. Eine Bibliothek zum Arbeiten, mit einigen wertvollen Bänden. 8 ZSP Julia Schneidawind: Lion Feuchtwanger war jetzt kein klassisch bibliophiler Sammler, aber er hat sich durchaus auch Erstausgaben gegönnt. Also da war er manchmal schon interessiert, gerade dann, wenn diese Werke auch Bezug zu seinen eigenen Arbeiten hatten. Sprecher: 1930 erscheint der Roman „Erfolg“. Er macht seinem Titel alle Ehre und beschert Feuchtwanger Ruhm und Geld. Der Schlüsselroman zeichnet ein karikaturenhaftes Bild vom gesellschaftspolitischen Klima der zwanziger Jahre in München. Das Personentableau verweist dabei direkt auf die Akteure jener Zeit, die den Nährboden des deutschen Faschismus mit gedüngt haben. Die Schriftstellerin Heike Specht: 9 ZSP Heike Specht:Genau dieser Blick ins Innere, dieses gnadenlose Wahrnehmen, wie die nichtjüdische Gesellschaft, die Mehrheitsgesellschaft tickt. Das ist tatsächlich prophetisch. MUSIK Unheil, Machtergreifung Sprecher: Von der Machtübernahme der Nazis erfahren die Feuchtwangers in den Vereinigten Staaten, wo sie seit 1932 auf einer langen Vortrags- und Lesereise unterwegs sind. Und – sie stehen ganz oben auf der Feindesliste der Nazis. Am 10. Mai 1933 brennen Feuchtwangers Bücher auf dem Berliner Opernplatz. Sein Name steht auf der ersten Ausbürgerungsliste und – die gleichgeschaltete Universität in München erkennt ihm den Doktortitel ab. Sprecher: Und zuhause, in der Berliner Villa, bleibt kein Buch neben dem anderen stehen. Julia Schneidawind: 10 ZSP Julia SchneidawindDie Bibliothek Lion Feuchtwangers in Berlin wurde tatsächlich schon 1933 von den NS-Behörden geplündert. Und das hängt natürlich auch damit zusammen, dass Lion Feuchtwanger von Beginn ein sehr starker Kritiker des Regimes war und auch das öffentlich gemacht hat. Und das war auch der Grund, warum gerade diese Bibliothek schon 33 eben geplündert wurde in seiner Villa in Berlin. Während andere Bibliotheken erst später dann tatsächlich das Interesse der NS-Behörden auf sich gelenkt hatten, war es eben dieses Beispiel für sehr frühe Plünderung. Und wir wissen heute tatsächlich nicht, was mit den einzelnen Büchern passiert ist. Es gibt auch wieder nur Anekdoten darüber, dass die Bücher verschleudert wurden, also dass die Nazis das irgendwie versucht haben, zu Geld zu machen. Aber Anhaltspunkte dafür haben wir leider nicht.  TC 13:41 – Französisches Exil Sprecher: Weil sie nicht nach Deutschland zurückkönnen, wählen Lion und Marta ein Exil in Frankreich, den malerischen Küstenort Sanary-sur-Mer an der Cote d’Azur. Dort stranden viele deutsche und österreichische Intellektuelle auf ihrer Flucht vor den Nazis: Hermann Kesten, Bertolt Brecht, die Brüder Mann, Arnold Zweig. Lion Feuchtwanger beginnt sofort mit dem Aufbau einer neuen, der zweiten Bibliothek. 11 ZSP Julia Schneidawind:Lion Feuchtwanger hat dann sozusagen da auch Sammlungen gekauft, aber natürlich auch auf antiquarische Bestände zurückgegriffen. Es gibt diese eine Aufzeichnung in seinem Tagebuch, da schreibt er von einem Besuch von einem Herrn Spier. Ich konnte leider nicht genau rekonstruieren, um welchen Herrn Spier es sich handelt, der ihm die Bibliothek anbietet, und er notiert in das Tagebuch Bibliothek von Spier gekauft. Das ist ein Beispiel dafür. Sprecher: Diese zweite Bibliothek wächst in den folgenden Jahren auf über 20.000 Exemplare an. Sie ist vor allem eine Arbeitsbibliothek.  MUSIK Frankreich-Exil Sprecher: Mit der Besetzung Frankreichs 1940 zieht sich auch für die deutsche Exilgemeinde die Schlinge nun zu. Lion Feuchtwanger kommt in das Lager Les Milles und später nach Saint Nicola bei Nimes. Marta, die selbst zeitweilig interniert war, gelingt es, mithilfe eines jungen Diplomaten der amerikanischen Botschaft, ihren Mann aus dem Lager zu holen – mit dem Auto, wie sie in den 1950er Jahren im Interview erzählt. Dabei bediente sie sich einer List: 12 ZSP Archiv: Marta Feuchtwanger Und dann gab ich ihm einen Zettel mit, da stand nur darauf: frag nicht, sag nix, steig ein. Und daraufhin ist mein Mann in das Auto eingestiegen. Und da gab ihm der Konsul einen Mantel und ein Tuch. Und da, wenn die Wachen ihn angehalten hatten, bei der Rückfahrt, hat er immer gesagt, das ist meine Schwiegermutter. Sprecher: Nach einer abenteuerlichen Flucht über Spanien und Portugal erreichen die Feuchtwangers schließlich die Vereinigten Staaten. Sprecher:Und die Bibiliothek in Sanary-Sur-Mer? Julia Schneidawind hat den Weg der Bücher rekonstruiert. Lion Feuchtwanger kann seine Mitarbeiterin Lola Sernau noch beauftragen, die Bücher aus der Villa in Frankreich zu holen und zum Verschiffen in Kisten zu verpacken. Allerdings sollen die Kisten über Jahre im Hafen von Lissabon feststecken. 13 ZSP Julia SchneidawindEs gab da Probleme eben mit dem Zoll und anderer bürokratischer Natur, und natürlich war das mit sehr hohen Kosten verbunden. Und der Zustand war nicht ganz so großartig. Und das ist tatsächlich heute aber auch der einzige Anhaltspunkt. Wir haben keine Listen, wir wissen nicht genau, welche Bücher tatsächlich damals in diesen Kisten waren. TC 16:22 – In der Villa Aurora MUSIK Sprecher: Nach wenigen Monaten in New York zieht das Paar 1941 nach Kalifornien und findet schließlich 1943 in Pacific Palisades ein neues Zuhause - ein kleiner Küstenort außerhalb von Los Angeles. Das Anwesen ist eine hochherrschaftliche Villa mit Meerblick, später „Villa Aurora“ genannt. Und – letztendlich kommen auch die Bücher aus Frankreich dort an. Sie werden zur Grundlage einer neuen, der dritten Bibliothek. Hermann Kesten, enger Freund Lion Feuchtwangers, äußert sich bewundernd über Feuchtwangers Lebensstil, der ganz den Geschlechterrollen der Zeit entspricht. Zitator:So sollten Schriftsteller wohnen, mit zwanzig Zimmern, mit 11tausend Büchern, einem hügeligen Park mit zwei acreas, einer Sekretärin und einer Frau, die kocht, gärtnert, bäckt, chauffiert und dem großen Dichter aufs Ergebenste dient, was für ein Leben. MUSIK Sprecher: Das Leben ist für die Exilanten unterschiedlich schwer zu meistern in den Staaten. Marta und Lion aber leben begünstigt. Von den Erlösen des eben erst veröffentlichten Romans „Die Brüder Lautensack“ können sie das Haus finanzieren. Und im Zentrum des Anwesens steht eine neue - die dritte Bibliothek Feuchtwangers. Ein weiterer Neuanfang. Das Projekt Bibliothek hilft ihm über die Frustration von Verlust und Neubeginn hinweg: 14 ZSP Julia SchneidawindAlso wir können bei der Sammlung in Los Angeles tatsächlich auch von einer Rekonstruktion sprechen. Er hat auf die Netzwerke zurückgegriffen, die er früher kannte, also auch sehr viele Antiquare. Jüdische Antiquare, die auch im Exil lebten, konnten ihm dann auch wieder Bücher vermitteln. Und er hat sehr viele hiesige Antiquariate besucht. Aber auch über Kataloge, die er ständig auch aus Europa noch zugeschickt bekam, hat er versucht, diese Sammlung erneut aufzubauen. Sprecher: Grundlage für die neue Bibliothek sind aber die Bestände aus Sanary-Sur-Mer, oder wenigstens, die Bücher, die es in die Staaten geschafft haben. Eine Gedulds- und Zerreißprobe für den Schriftsteller, denn erst 1941 soll er – nach vielen Verzögerungen – seinen Schatz zumindest teilweise wieder in die Regale stellen können. Ludwig Marcuse, Freund und Nachbar der Feuchtwangers, schreibt in seinen Memoiren unter dem Titel „Mein zwanzigstes Jahrhundert“: Zitator (Marcuse):Abermals Wände aus Büchern, ein drittes Mal in einer Casa auf einem abgelegenen Hügel über der pazifischen Küste. Das war ein gewaltiges Mausoleum aus den Werken der Dichter: Ich ging immer zu ihm, wenn die Bibliothek meiner Universität versagte. MUSIK Kalifornien Sprecher: Martha Feuchtwanger macht derweil Promotion (engl.) für ihren Mann, fungiert als geschickte Agentin. Als charmante Gastgeberin und legendäre Köchin machte sie das Exil zu einem Anziehungspunkt inmitten dieser Emigrantenkolonie. Und das Zentrum dieses intellektuellen Clubs ist die prächtige Bibliothek. MUSIK KriegsendeTC 19:30 – Die Hüter des Vermächtnis Sprecher:Nach dem Krieg löst sich die Exilgemeinde am Pazifik langsam auf. Brecht, Thomas Mann, Döblin und Werfel kehren nach Europa zurück. Lion und Marta Feuchtwanger bleiben. Wegen des angenehmen Klimas, wie der Schriftsteller in einem Interview erzählt. Aber wohl vor allem, weil er stets fürchten muss, als Staatenloser nicht mehr in die USA zurückkehren zu dürfen, sollte er einmal ausreisen. MUSIK Thema Erinnerung Sprecher: Lion Feuchtwanger stirbt am 21. Dezember 1958. Seine Frau Marta überlebt ihn um fast 30 Jahre. Sie überträgt schon ein Jahr nach seinem Tod die Villa samt Bibliothek der University of Southern California, behält aber das Wohnrecht. Sie wird, bis zu ihrem Tod im Jahr 1987, zur Hüterin von Feuchtwangers Vermächtnis. 15 ZSP Marta Feuchtwanger: Da ich ja auch immer Führungen mache in der Bibliothek. Das sind sehr viele Inkunabeln und auch noch Manuskripte, handgeschriebene, zum Beispiel eine von Papst Innozenz dem Dritten und ganz einzigartige Ausgaben. Nach meinem Tod bleibt es aber genauso, wie es jetzt ist. Sprecher:Der Großteil der Bibliothek, etwa 20.000 Bände, befindet sich bis heute in der Villa Aurora, das mondäne Anwesen ist eine Künstlerresidenz für Stipendiaten aus aller Welt. Der Rest der Bücher ist Teil der „Lion Feuchtwanger memorial library“ an der „University of southern California“ im nahen Los Angeles. MUSIK, darüber Sprecherin: Eines verbindet die drei Bibliotheken, die Lion Feuchtwanger im Laufe seines Lebens aufgebaut hat: Sie waren nicht nur Werkstätten für den Schriftsteller, sondern auch Ankerplätze eines Menschen im Exil. 16 ZSP Archiv: Lion FeuchtwangerIm Übrigen bin ich deutscher Schriftsteller und suche mich immer zu umgeben mit deutschen Dingen, mit deutschen Büchern und dergleichen. Wenn ich deutsche Bücher lese, dann habe ich das Gefühl, ich unterhalte mich mit dem Autor. MUSIK EndeTC 22:10 - Outro
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Apr 19, 2024 • 23min

JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Der Orientalist Karl Süßheim

Viele Jahrzehnte lang war der jüdische Orientalist und Historiker Karl Süßheim vergessen, obwohl er Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern durchaus ein Mann von Bedeutung war. Seine Leidenschaft für Orientalistik und seine Sprachkenntnisse machten ihn während des Ersten Weltkrieges sogar unentbehrlich. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich sein Leben schlagartig. Doch vergessen wurde Karl Süßheim erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Warum? Und wie wurde er wiederentdeckt? Von Ulrike Beck (BR 2024) Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Laura Maire, Stefan Merki, Christopher Mann Technik: Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Kristina Milz, Lisa D’Angelo Ein besonderer Linktipp der Redaktion: Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER. Literaturtipps: Kristina Milz (2022): Karl Süßheim Bey (1878-1947). Eine Biografie über Grenzen. Metropol-Verlag. Er war ein glühender bayerischer Patriot, tiefgläubiger Jude und leidenschaftlicher Orientalist: Der in Vergessenheit geratene Karl Süßheim hat die Grenzen seiner Zeit herausgefordert wie kaum ein anderer. Er wuchs in Nürnberg auf, lebte als junger Mann lange im Nahen Osten. An der Universität München unterrichtete er bekannte Wissenschaftler wie Gershom Scholem und Franz Babinger, bis die Nationalsozialisten ihn entließen. Eine sehr ausführliche und detaillierte Biografie über das Leben und Werk Karl Süßheims. Hier geht’s zum BUCH. Kristina Milz (2022): Karl Süßheim (1878-1947). Ein verfolgter Wissenschaftler und seine Universität. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung. Ausgabe 02/22, S. 64 – 72. Immer wieder stößt die Wissenschaft auf faszinierende bayerisch-jüdische Biografien von Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind, obwohl ihre Rolle in der Geschichte eine besondere war: Protagonisten der Geschichte wie Karl Süßheim sind nicht zufällig vergessen worden. Die Reihe „Bayerns vergessene Kinder“ porträtiert jüdische Biografien, die eine damnatio memoriae zum Opfer gefallen sind – und ihrer Wiederentdeckung harren. Hier geht’s zum ARTIKEL. Barbara Flemming & Jan Schmidt (2002): The diary of Karl Süssheim (1878-1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Stuttgart: Steiner Verlag. The orientalist Karl Süssheim kept his Diary in Turkish – and later in Arabic – from his early years in the Ottoman Empire through the Young Turk Revolution of 1908 and after his return to Germany, through war, revolution, and the horrors of Nazi rule. This book presents selected episodes in translation from the surviving parts of Süssheim’s Diary, covering the years 1908 to 1940. In its detached style it allows the reader a remarkable insight into Süssheim’s family surroundings, his academic career at Munich University, and the eventful times he lived through. Hier geht’s zum BUCH. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:48 – Orientalistik statt HopfenhandelTC 04:34 – Die Zeit in KonstantinopelTC 08:30 - SchicksalsjahreTC 11:25 – Ein zweiseitiger RufTC 16:57 – Kampf ums VermächtnisTC 22:03 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK ErzählerKarl Süßheim. Die Historikerin Kristina Milz wird hellhörig, als sie auf den Namen stößt. 1.O-Ton (Kristina Milz)Also ich habe an der LMU Magister Geschichte studiert und hab mich damit auseinandergesetzt, wie die Historiker an der LMU mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind. Und dafür hab ich mir erstmal angeschaut, wer von 1933 bis 45 in der Fakultät überhaupt da war. Und da ist mir sein Name aufgefallen. Also er war 1933 noch da, im Sommersemester, und es war ein klar erkennbar jüdischer Name und verschwindet dann eben sang- und klanglos und man hört nichts mehr von ihm. Da war mir relativ schnell klar, er muss einer der Opfer der Rassenpolitik gewesen sein, also dieses Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Und dachte natürlich, dass sich im Historicum in der Bibliothek Literatur dazu finden lässt. MUSIK Erzählerin:Doch auch nach längerer Suche stellt sich heraus: Es gibt nichts. 2.O-Ton (Kristina Milz)Und so bin ich dann natürlich sehr neugierig worden.ErzählerinDas Ergebnis ist eine Dissertation, die 2022 als Biografie erscheint und den Titel trägt: „Karl Süßheim Bey. Eine Biografie über Grenzen“.  Kristina Milz hat ihre Dissertation am Institut für Zeitgeschichte in München verfasst. Seit 2022 arbeitet sie auch für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich der Erforschung und Vermittlung jüdischen Lebens in Bayern widmet. Erzähler Während der Recherchen zu ihrer Biographie stößt Kristina Milz darauf, dass Jahrzehnte vor ihr im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt auf Karl Süßheim aufmerksam geworden sind. Und in langjähriger Kleinarbeit seine Tagebücher ins Englische übersetzt haben.ErzählerinEs sind zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die Kristina Milz damit auf Englisch zur Verfügung stehen. Um mit den übrigen Quellen und dem Nachlass arbeiten zu können, nimmt sie Sprachunterricht am Münchner Nahostinstitut, wo der Name Süßheim ihrem Dozenten noch geläufig ist:3. O-Ton (Kristina Milz)Das heißt, ich musste tatsächlich anfangen, erst mal Türkisch zu lernen, habe auch Arabischkurse belegt und habe dann eben das Osmanische […], dafür gibt es an der LMU auch Kurse, und da bin ich auch dringesessen. Mein Osmanisch-Dozent hat auch immer gesagt: Kristina, du lernst nicht Osmanisch, Du lernst Süßheim!TC 02:48 – Orientalistik statt Hopfenhandel MUSIK ErzählerKarl Süßheim kommt am 21. Januar 1878 in Nürnberg zur Welt. Sein Vater Sigmund betreibt einen florierenden Hopfenhandel, die Mutter Clara stammt als Tochter des Fabrikanten und Politikers David Morgenstern aus sehr wohlhabenden Verhältnissen. ErzählerinKarl wächst also gemeinsam mit seinem älteren Bruder Max und seiner jüngeren Schwester Paula in einer wohlsituierten und jüdisch-liberalen Familie auf.ErzählerSigmund Süßheim möchte selbstverständlich, dass einer seiner Söhne das erfolgreiche Geschäft übernehmen soll. Doch der Hopfenhandel interessiert weder Max, noch Karl. ErzählerinNachdem Max nach dem Abitur seinen Weg als Jurist und späterer SPD-Politiker im Bayerischen Landtag einschlägt, entscheidet sich auch Karl gegen den Wunsch des Vaters. Er beginnt 1896, Geschichte zu studieren. Zunächst in Jena, dann in München, Erlangen und Berlin. ErzählerIn Berlin besucht Karl das Seminar für orientalische Sprachen und lernt dabei junge Gaststudenten aus dem Osmanischen Reich kennen. Woher sein Interesse an dieser Region kommt, lässt sich nur rekonstruieren.4.O-Ton (Kristina Milz)Das durfte seine Familie auf keinen Fall wissen, weil die Orientalistik damals ja auch noch sehr so als Orchideenfach verschrien war. Und als Karl Süßheim dann in Berlin war, (…) war einige Jahre zuvor das sogenannte Seminar für Orientalische Sprachen gegründet worden. (…) Also in dieser Zeit muss man sich vorstellen, entsteht eigentlich die Islamwissenschaft. Es entsteht dieses Fach, das sich mit dem „zeitgenössischen Orient“, wie man damals gesagt hat, beschäftigt hat. Und das ist genau das, was Karl Süßheim dann interessiert hat.TC 04:34 – Die Zeit in Konstantinopel MUSIK ErzählerinGleich nach der Abgabe seiner Dissertation über die „Preußischen Annexionsbestrebungen in Franken…“ zieht Karl Süßheim 1902 für einige Jahre nach Konstantinopel. Um dort seine Sprachkenntnisse im Türkischen und Arabischen zu vertiefen.ErzählerIn Konstantinopel erlebt der frisch promovierte Historiker eine ganz andere Atmosphäre als im Kaiserreich.5.O-Ton (Kristina Milz)Als er zuerst nach Konstantinopel gekommen ist und sich vor allem in diesem sultanstreuen Umfeld bewegt hat, war er ja durchaus an der einen oder anderen Stelle mit Antisemitismus konfrontiert. (…) Aber bei ihm ist es tatsächlich so, dass er erstmals in seinem Leben nicht in erster Linie als Jude wahrgenommen wird. In ihm wird vor allem der deutsche Wissenschaftler gesehen, der sich diese Sprachen so gut angeeignet hat und mit dem man jetzt eben über Politik und Geschichte und dergleichen diskutieren kann. Und noch sehr viel evidenter wird das dann, wenn er sich mit den sogenannten ‚Jungtürken‘ abgibt, also der osmanischen Opposition, die sehr nach Westen ausgerichtet war, die sehr auf Modernisierung geschaut hat und auch genau das einfordern wollte vom Sultan. ErzählerinKarl Süßheim ist selbst zunächst überzeugter Konservativer und Monarchist.6.O-Ton (Kristina Milz)Als Karl Süßheim ins Osmanische Reich kam, war er politisch äquivalent eigentlich aufgestellt zu seiner Einstellung im Kaiserreich also sehr königstreu und patriotisch. Und hat dann aber eben dadurch, dass er diesen Kontakt mit den Jungtürken in Kairo hatte, zum ersten Mal die Idee des Tyrannensturzes für sich auch akzeptiert. Und war dann auch mitten im Zentrum dieser Revolution.ErzählerDie Jahre im Osmanischen Reich sind in Süßheims Leben in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Er, der Zeit seines Lebens kein guter Netzwerker war, sucht plötzlich die Nähe zu orientalischen Intellektuellen und knüpft Kontakte. Dabei findet er auch den Zugang zu seinem Glauben.7.O-Ton (Kristina Milz)Er macht es in seinem Tagebuch gar nicht so explizit, an welcher Stelle es dann so ist, dass er wirklich jüdisch gläubig wird. Aber man sieht, er beschäftigt sich eben mit dem Islam auch sehr intensiv. Er hat zum Beispiel Kontakt mit dem Islamgelehrten Musa Kazim, der später dann der Scheichülislam, also der Großmufti eigentlich von Konstantinopel wird. Also das ist derjenige, der Süßheim zum Islam bringen will und da wird viel diskutiert. Und als er sich dann davon wieder abgrenzt und abwendet, findet er immer mehr Kontakt, auch mit den orientalischen Juden und beschäftigt sich dann damit und kommt dann eben sehr gläubig zurück.MUSIK ErzählerinKarl Süßheim ist 30 Jahre alt, als er zurückkehrt und an der Uni München beginnt, seine Habilitation zu schreiben. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte der Dynastie vor den Osmanen: den Seldschuken.ErzählerAls frisch habilitierter Privatdozent gibt er ab 1911 an der Münchner Universität Kurse in Arabisch, Persisch und Osmanisch. Anfangs ist die Zahl seiner Studenten noch überschaubar, aber mit Beginn des Ersten Weltkrieges ändert sich das schlagartig. ErzählerinMit dem Osmanischen Reich als Verbündeten wollen plötzlich viele Studenten Türkisch lernen. Es entsteht ein regelrechter Boom auf die Expertise des Karl Süßheim. Wobei er nicht nur an der Uni gefragt ist.8.O-Ton (Kristina Milz)Im Ersten Weltkrieg war es so, dass Süßheim nicht eingezogen wurde, weil er eben an der Heimatfront, wie man es nannte, unentbehrlich war. Das lag daran, dass er eben als einer der wenigen diese Sprachkenntnisse hatte und dann in vielerlei Hinsicht helfen konnte zu Hause. Zum einen bei der Zensur, also bei der bayrischen Militärzensur hat er gearbeitet. Er hat aber auch als Dolmetscher gearbeitet. Wenn zum Beispiel jungtürkische Delegationen zu Besuch waren, dann ist er mit denen mitgefahren und hatte eben übersetzt.TC 08:30 - Schicksalsjahre MUSIK ErzählerAb 1919 unterrichtet Karl Süßheim als außerordentlicher Professor die Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch. Er ist inzwischen 41 Jahre alt und noch immer Junggeselle. ErzählerinKarl findet erst acht Jahre später die Frau, die zu ihm passt. Mit Karolina Plank, einer tiefgläubigen Katholikin. Ausgerechnet er, der als einziger in seiner Familie ein gläubiger Jude ist, lässt sich 1927 auf eine gemischt-konfessionelle Ehe mit Karolina ein.9.O-Ton (Kristina Milz)Man muss aber schon auch sagen, das war sicher für ihn ein großer Schritt zu gehen, weil er davor sehr, sehr lange explizit nach einer jüdischen Frau gesucht hat. Er hat sich dann aber von seiner Frau versprechen lassen, dass er für die religiöse Erziehung der Kinder zuständig sein wird in der Ehe. Und wir reden vom Jahr 1927. Da hat sie sich auch darauf eingelassen, weil sie auch noch überhaupt gar nicht wusste, was das für Auswirkungen haben wird.Erzähler1929 kommt Tochter Margot zur Welt, die zweite Tochter Gioconda wird 1934 geboren. Ein Jahr, nachdem sich für Karl Süßheim und seine Familie alles verändert hat.10.O-Ton (Kristina Milz)1933, kann man zweifellos sagen, dass das das allerschlimmste Jahr in seinem ganzen Leben war. Also neben der nationalsozialistischen Machtübernahme stirbt erstmal sein Bruder an einem Schlaganfall. Dann wird durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihm seine Stelle an der Universität genommen. Und seine Mutter stirbt auch noch in diesem Jahr. Also alles passiert innerhalb eines Jahres, und da ist der Bruch zwischen der Zeit davor und diesem Jahr ganz extrem in den Quellen.ErzählerinNach der Pogromnacht vom November 1938 wird Karl Süßheim für 16 Tage im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er schreibt über diese Zeit auf Arabisch in sein Tagebuch und schafft damit laut Kristina Milz ein einzigartiges Dokument. In dem er nicht nur nüchtern Fakten für die Nachwelt festhält, sondern auch sehr akkurate Skizzen vom Konzentrationslager anfertigt, die er auf Arabisch beschriftet.11.O-Ton (Kristina Milz)Und man muss sich vorstellen, er war jemand, der natürlich ein relativ behütetes Leben hatte. Und plötzlich kommt er in dieses Konzentrationslager, sieht, dass Menschen erschossen werden. Sieht, dass Menschen zusammenbrechen, wird geschlagen, weil er sich nicht als Judenschwein bezeichnen will. All diese Dinge passieren ihm dort. Und nachdem er zuvor immer gesagt hat, er geht nicht aus Deutschland weg, weil das seine Heimat ist – Bayern, seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Bayern –, denkt er dann um. Dabei muss man aber auch wissen, dass er unterschreiben musste, dass er das Land verlassen wird, als er aus dem Konzentrationslager entlassen wird.TC 11:25 – Ein zweiseitiger Ruf ErzählerErst im Sommer 1941 gelingt es Karl Süßheim mit seiner Frau und den Töchtern, nach Istanbul zu emigrieren. Sie sind eine der letzten Familien in Bayern, die der Schoa entkommen sind. Ein Teil seiner Privatbibliothek wird beschlagnahmt und landet in der Bayerischen Staatsbibliothek.ErzählerinDa aber auch die Türkei zu diesem Zeitpunkt eigentlich keine deutschen Juden mehr aufnimmt, musste das türkische Kabinett eine Ausnahme für Karl Süßheim beschließen. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist damit verbunden, dass er an der dortigen Universität unterrichtet. Damit steht er zwar unter Druck, aber auch endlich wieder im Hörsaal. Die Bedingungen an der Universität Istanbul brachten für Karl Süßheim einige Herausforderungen mit sich: Er musste um seinen Professorentitel kämpfen, seine Publikationstätigkeit war eingeschränkt. Auch in der Lehre musste er sich erst eingewöhnen.12. O-Ton (Kristina Milz)Man muss sich auch diese Situation mal vorstellen, also er hatte jahrelang während des Nationalsozialismus wenige Schüler bis gar keine Schüler. Er hatte vielleicht noch ein paar Privatstunden gegeben für die Leute, die sich das getraut haben. Und plötzlich ist er da in der Türkei und steht vor vollen Hörsälen, und alle wollen über die türkische Geschichte bei ihm lernen. Es ist auch interessant, weil in seinem Nachlass finden sich die Inskriptionslisten, wo man die ganzen Namen der türkischen Studierenden sieht, die sich für seine Vorlesungen angemeldet haben. Und es sind seitenweise Einträge.MUSIK ErzählerKarl Süßheim bleiben nur wenige Jahre im Exil. Er stirbt am 13. Januar 1947 mit nur 68 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. Und wird auf dem jüdischen Friedhof in Istanbul beerdigt. An seinem Grab spricht der jüdische Romanist Erich Auerbach die Worte:ZitatorAuf dem Gebiet der türkischen Geschichte wird der Name Karl Süssheim nicht vergessen werden und nicht vergessen werden können.ErzählerinWas Süßheims Reputation in der Türkei angeht, sollte Auerbach Recht behalten. Doch in Deutschland passiert das Gegenteil: Der einstige Professor für orientalische Sprachen und die „Geschichte der mohammedanischen Völker“ gerät in Vergessenheit. ErzählerNicht zuletzt, weil die Ludwig-Maximilians-Universität keinen Nachruf auf ihren einstigen Professor Karl Süßheim herausgibt. Obwohl eine Würdigung von ehemals verfolgten Wissenschaftlern in der Nachkriegszeit eigentlich zum Standard gehört.ErzählerinUnd auch Süßheims Witwe wird lange ignoriert. Karolina, die nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert ist, wendet sich 1947 mit der Bitte um eine Witwenrente an die Uni. Und muss 11 Jahre lang dafür kämpfen:13.O-Ton (Kristina Milz)Man könnte ja meinen, so wie ich auch eben damals auf ihn gestoßen bin, dass er eben einfach vergessen wurde. Man sieht aber sehr deutlich eben an den Quellen auch im Universitätsarchiv, dass das nicht der Fall war, weil die LMU fast 20 Jahre lang damit beschäftigt war, kein Geld auszugeben in der Sache Süßheim. Also diese Quellen im Universitätsarchiv, die betreffen die Universität, das Finanzministerium, das Kultusministerium und so weiter. Und man sieht daran auch, dass zum Beispiel noch mit nationalsozialistischer Gesetzgebung wirklich argumentiert wird. Also es wird dann zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob seine Witwe Witwenrente bekommt, mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 argumentiert.  Und es stellt sich bei ihm sehr lange nicht einmal die Frage in den Dokumenten, was denn mit ihm passiert wäre, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte. MUSIK ErzählerErst nachdem Karolina Süßheim 1951 die United Restitution Organization bevollmächtigt, sich ihres Falls anzunehmen, fordert das Kultusministerium die Personalakte Süßheims bei der Uni an. ErzählerinEs werden Gutachten in der Causa Süßheim eingeholt. Unter anderem vom Dekan der Philosophischen Fakultät Anton Spitaler, der während der NS-Zeit Stipendiat der gleichgeschalteten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bei der Korankommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Und im Zweiten Weltkrieg der Wehrmacht in Belgien und Frankreich als Dolmetscher gedient hatte. In seinem Gutachten fällt Spitaler ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen Lehrer.14.O-Ton (Kristina Milz)Anton Spitaler (…) wurde direkt gefragt, wie die Karriere von Karl Süßheim weitergegangen wäre, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Und dieses Gutachten ist wirklich erstaunlich vernichtend. (…) Er macht seine Sprachenkenntnisse zum Beispiel sehr schlecht, sagt die wären nicht vorhanden gewesen. Das sind ganz offensichtliche Lügen, die in diesem Gutachten drinstehen. Und an einer Stelle schreibt er sogar noch, er hätte durchaus etwas von Karl Süßheim gelernt, aber das hätte er eher aus ihm herausgeholt, als dass Süßheim es ihm gegeben hätte. Das war natürlich schon sehr bezeichnend. Und man muss sich vor Augen halten, dass es zu dem Zeitpunkt ja überhaupt nicht mehr darum ging, Karl Süßheims Karriere voranzutreiben oder dergleichen, er war ja längst tot. Also es ging wirklich nur noch darum, seine Familie zu entschädigen.ErzählerDieses Gutachten geht in die Bewertung des Falles ein. Erst 11 Jahre nach dem Tod ihres Mannes bekommt Karolina Süßheim ab 1958 eine entsprechend kleine Entschädigung. Weitere sieben Jahre später wird der Fall zu den Akten gelegt.TC 16:57 – Kampf ums Vermächtnis MUSIKErzählerinWährend in Bayern der Name Süßheim bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in Vergessenheit gerät, machen sich im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt daran, Süßheims Tagebücher ins Englische zu übersetzen. Zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die lange Zeit unentdeckt waren. 15.O-Ton (Kristina Milz)Weil er sehr viele Handschriften gesammelt hat, im Laufe seines Forscherlebens also originale Handschriften aus dem Nahen Osten und die auch zusammengehalten hat. Seine Witwe hat diese Handschriftensammlung dann verkauft, und die ist in Teilen in Berlin und in Teilen in Washington gelandet. Und in Berlin – bei diesen Handschriften befand sich eben auch sein Tagebuch, was die Witwe bestimmt nicht gewusst hat, weil das natürlich nicht unterscheidbar war zu anderen Notizen, die er gemacht hat für sie, weil es in fremden Sprachen war. Und deswegen sind eigentlich Wissenschaftler erstmals wieder mit ihm in Kontakt gekommen, weil sie sich seine Handschriften angeschaut haben und dann das Tagebuch gefunden haben.ErzählerDie Edition „The Diary of Karl Süssheim“ erscheint 2002 und löst eine Welle der Erinnerung aus. Oder wie die FAZ damals schreibt:ZitatorErst die kommentierte Übersetzung der Tagebücher gibt Süssheim sein Leben zurück, macht aus dem Vergessenen und Unbekannten einen an allem interessierten Menschen im Wirbel des dramatischen Geschehens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.MUSIK ErzählerinNicht nur die Bayerische Staatsbibliothek setzt ab 2003 ein Restitutionsverfahren ein, sondern auch die Provenienzforschung des Stadtarchivs Nürnberg wird aktiv. Und setzt sich mit der Familie Süßheim in Verbindung. Für Lisa D’Angelo, der Enkelin von Karl Süßheim, eröffnet sich damit ein ganz neuer Zugang zur eigenen Familiengeschichte:16.O-Ton (Lisa D‘Angelo)2014 hatte ein Archivar das Internet genutzt, um meine 84-jährige Tante Margot in New York ausfindig zu machen, wo sie seit über 65 Jahren lebte. Er wollte sie wissen lassen, dass das Archiv ein antikes Buch mit dem Süßheimer Exlibris besaß. Und dieses Buch war von den Nazis beschlagnahmt worden, kurz bevor mein jüdischer Großvater und meine katholische Oma und ihre beiden Mädchen nach Istanbul geflohen waren. Und als das Nürnberger Archiv mit meiner Tante Margot Kontakt aufgenommen hat, hat sich uns natürlich eine ganz neue Welt der Familie Süßheim eröffnet. ErzählerMargot Süßheim ist es, die beginnt, als Zeitzeugin über ihren Vater zu sprechen. Und auch ihrer Nichte einige Details über die Schwierigkeiten ihrer Familie während der Nazizeit zu erzählen. Allerdings erst, als Lisa erwachsen ist.17.O-Ton (Lisa D‘Angelo)Ehrlich gesagt, wusste ich nur sehr wenig über meinen Großvater. Als Kind hörte ich, dass mein Großvater ein Sprachwissenschaftler war, der etwa 15 Sprachen beherrschte. Ich hörte auch, dass seine Mutter Clara ein bisschen schwierig war. Und sie sammelte auch Dinge, die mein Großvater auch geerbt hatte. Und seine Vorliebe für das Sammeln von Büchern rettete tatsächlich die Familie, denn meine Oma verkaufte seine umfangreiche Büchersammlung an die Yale University in den USA, um die Schiffstickets zu kaufen, mit denen sie von Istanbul nach New York auswandern konnten. ErzählerinLisa D’Angelo ist das öffentliche Gesicht der Familie Süßheim. Sie verwaltet nicht nur den privaten Nachlass ihres Großvaters, sondern reist auch nach Deutschland, um Ausstellungen zu eröffnen oder Vorträge zu halten. So wie 2022 im Münchner Literaturhaus. Da hatte sie die weite Anreise von Chicago auf sich genommen, um zur Vorstellung von Kristina Milz´ Biografie „Karl Süßheim Bey“ zu sprechen; der ersten umfassenden Biografie des bedeutenden bayerischen Orientalisten.MUSIK ErzählerKarl Süßheim hat ein kostbares Erbe hinterlassen. Eines, das viel zu lange im Verborgenen geblieben ist, sagt Kristina Milz:18.O-Ton (Kristina Milz)Ich finde es vor allem eben sehr wichtig, weil oftmals davon ausgegangen wird, man hätte zum Nationalsozialismus schon alles erzählt. Und gerade die Geschichte von Karl Süßheim zeigt auch mal wieder, dass wir noch lange nicht fertig sind damit, diese Zeit uns anzuschauen.TC 22:03 – Outro
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Apr 19, 2024 • 23min

JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Die Fischacher Laubhütte

Sie ist das wohl weitest gereiste Schmuckstück des "Israel Museum" in Jerusalem: eine aufwendig bemalte Laubhütte aus dem bayerisch-schwäbischen Fischach. Irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab der Kaufmann Jakob Deller diese "Sukkah" in Auftrag. Mit der rituellen Nutzung einer solchen Laubhütte erinnern gläubige Jüdinnen und Juden an den Auszug aus Ägypten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Laubhütte durch einen waghalsigen Transport per Zug und Schiff nach Palästina gebracht. Von Lukas Grasberger (BR 2023)Credits Autor: Lukas Grasberger Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Susanne Schroeder, Annette Wunsch Technik: Roland Böhm Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Rahel Sarfati, Bernhard Purin, Klaus Wolf, Bernd Päffgen, Naomi Feuchtwanger-Sarig Ein besonderer Linktipp der Redaktion: Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER. Linktipps: Die Fischacher Laubhütte im Isreal Museum, Jerusalem Jüdisches Leben in Fischach, Infos des Hauses der Bayerischen Geschichte Literaturtipp: Heike Specht (2006): Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis. Wallstein Verlag Sie waren Stammgäste im Hofbräuhaus, fühlten sich in den Alpen wie zu Hause, liebten die Theater und Museen der Stadt, pflegten die landesübliche Feindschaft gegenüber Preußen und in »unserem München« galt ihnen auch der Berliner Jude als Zugereister. Über drei Generationen verband die Familie Feuchtwanger eine strenge jüdische Orthodoxie mit einer ausgeprägt bayerisch-barocken Lebensweise. Die Geschichte der Feuchtwangers ist aber auch eine Geschichte von Familienzusammenhalt und Familienzwist, von arrangierten Ehen und leidenschaftlicher Liebe, von glänzenden Erfolgen und bitteren Niederlagen. Hier geht’s zum BUCH. Rachel Sarfati (2013): Restoring the Fischach Succa In early 2004 the Israel Museum presented the exhibition “Succot from around the World.” A painted wooden succa that had been part of the permanent exhibition for many years was taken apart and rebuilt in the exhibition hall. When the exhibition closed, it was decided that the succa’s being dismantled and the museum’s being closed for renovations provided a fortuitous opportunity to have the 19th-century succa sent out for restoration - this revealed an intriguing history. Hier geht’s zum ARTIKEL. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:39 – Ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnenTC 05:15 – Die Kunst aus FischachTC 09:20 – Ein Inventar für jüdische KulturTC 13:15 – Holz, das die Welt verbindetTC 21:50 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Musik ErzählerinDer Münchner Hauptbahnhof, ein Tag im Jahr 1937. Reisende wuseln zu ihren Bahnsteigen, Abschiede allerorten, herzlich hier, wehmütig dort. Eine Mutter mit fünf Kindern und schwer beladen erregt Aufmerksamkeit. Berta Fränkel ist Jüdin – bald wird sie den Zug nach Triest besteigen, um dann per Schiff nach Palästina auszuwandern: Ob ihres sperrigen Gepäcks argwöhnisch beäugt von der allgegenwärtigen nationalsozialistischen Ordnungsmacht. O-Ton 1 Rachel Sarfati, Kuratorin, Israel Museum, Jerusalem engl. Sprecherin dt. OV„...und dieser Polizist beobachtete sie eine Weile, wie sie ihre Sachen in einer riesigen Holzkiste verstaute. Er ging zu ihr, und fragte Berta Fränkel: „Warum schleppen Sie diese riesige Holzkiste in die neue Heimat?“ Und sie antwortete: „Dort, in der Wüste, gibt es kaum Bäume. Ich brauche dieses Holz, um mir dort, in Israel, ein neues Haus zu bauen.“ Musik ErzählerinDer neugierige Polizist gab sich zufrieden, und ließ ab von Berta Fränkel. Dadurch entging ihm – Überlieferungen zufolge - der wahre Charakter der vermeintlichen Frachtverpackung. O-Ton 2 Sarfati Sprecherin OV„Die Innenseite dieser Holzplanken war nämlich kunstvoll bemalt. Es waren die Wände einer Sukkah, einer Laubhütte. Es war sehr mutig, sie so außer Landes zu schmuggeln. Denn damals hatten die Nazis den Export von Kulturgütern bereits untersagt. Durch diese Aktion Berta Fränkels blieb die Sukkah erhalten: Als eine von ganz wenigen Laubhütten, die die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg überleben sollten. Bis heute ist die Fischacher Sukkah ein faszinierendes Ausstellungsobjekt.“ Erzählerin ...sagt die israelische Historikerin Rachel Sarfati, Kuratorin am Jerusalemer Israel Museum, wohin die aus Bayerisch-Schwaben stammende Laubhütte letztlich auf abenteuerlichen Wegen gelangen wird. Mit Objekten wie der Fischacher Laubhütte beschäftigt sich auch die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in einem Teilprojekt namens „Spurensuche“. TC 02:39 – Ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen Musik Doch: Was ist das überhaupt - eine Laubhütte? Und welche Rolle spielt eine „Sukkah“ in der jüdischen Kultur und Religion? O-Ton 3 Bernhard Purin, Leiter Jüdisches Museum München, Teil 1„In der Bibel ist – unter den vielen Geboten die man dort findet – ein Gebot: „Und ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen“. Das soll an den Auszug aus Ägypten und die Rückkehr ins Heilige Land erinnern.“ Erzählerin ...erklärt der Kulturwissenschaftler Bernhard Purin. Er leitet das Jüdische Museum München. O-Ton 3 Purin Teil 2„Darum gibt’s jedes Jahr im Herbst das Laubhüttenfest, wo man aus seinem Haus quasi auszieht, und im Garten oder vor dem Haus, am Balkon – oder wo auch immer – eine Holzhütte aufstellt, die als besonderes Merkmal hat, dass sie kein Dach hat. Sondern nur ein Gitter, auf dem Laub liegt.“ O-Ton Bernd Päffgen NEU 1„Die Laubhütte wird eine Woche lang aufgestellt, vom 15. bis 21. Tag im jüdischen Herbstmonat Tischri. Hier geht es, ja, um Erntedank, vor allem aber um Gastfreundschaft. Diese einmal ganz konkret, im Kreis der eigenen Familie. Aber auch enge Freunde werden eingeladen.“ Erzählerin...ergänzt der Münchner Archäologieprofessor Bernd Päffgen, der die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ leitet. O-Ton Päffgen NEU 2„Und dann gibt es aber auch den höheren Sinn: Man lädt auch Abraham, Isaak, Jakob, Moses, Aaron, Josef und David ein. Man feiert nicht nur, man besinnt sich, bekennt sich zum jüdischen Glauben.“  Musik ErzählerinIn der Laubhütte wird gebetet, gegessen, und zuweilen auch übernachtet. Was in unseren Breiten zuweilen empfindlich kalt werden kann – wenn das Laubhüttenfest dem jüdischen Kalender gemäß, in die zweite Oktoberhälfte fällt. Hierzulande nutzt und nutzte man daher auch Dachböden mit zum Himmel offenen Luken als Laubhütten. Doch auch die traditionellen, mobilen Holz-Sukkot waren verbreitet, erklärt Bernhard Purin. Diese boten ein Erscheinungsbild... O-Ton 4 Purin„...ähnlich wie man sich heute Gartenhütten vorstellen kann: Die außen ganz einfach waren, mit Fenster und einer Tür. Zerlegbare Hütten, die man im Garten aufgestellt hat. Die innen aber oft sehr reich bemalt waren, mit Bildern, die auf die Feiertage, auf´s Laubhüttenfest Bezug nehmen. (…) Man hat großen Wert auf diese Laubhütten gelegt – und die auch sehr schön ausgestaltet.“ TC 05:15 – Die Kunst aus Fischach ErzählerinWohlhabendere Juden beauftragten Maler, um die Innenseiten der Laubhütten künstlerisch auszuschmücken. Wie etwa der Kaufmann Jakob Deller aus Fischach, einem Dorf gut 20 Kilometer südwestlich von Augsburg. Dort, im ländlichen Bayerisch-Schwaben, waren Juden von christlichen Grundherren aus wirtschaftlichen Motiven angesiedelt worden, erklärt der Augsburger Mittelalter-Experte und Universitätsprofessor Klaus Wolf.    O-Ton 5 Klaus Wolf, Prof. für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern, Uni Augsburg„Wir wissen ja, dass ab 1438/40 die Juden aus der Reichsstadt Augsburg vertrieben wurden. (…) Fischach gehörte zu Bayerisch-Schwaben, das damals natürlich kein Bestandteil von Bayern war, sondern weite Teile gehörten zum sogenannten Vorder-Österreich, waren also Habsburgisch. Und in diesen Territorien wurde es den Juden ermöglicht, sich anzusiedeln. Das hat die Obrigkeit natürlich nicht aus philanthropischen Gründen getan, sondern der steuerlichen Einnahmen wegen.“ Musik ErzählerinJüdische Familien eröffneten für das wirtschaftliche Leben des Ortes bedeutsame Betriebe: Bald gab es jüdische Metzger und Bäcker, dazu kamen Textilgeschäfte, Viehhandlungen – oder der Laden für Zigarren, Wein und Spirituosen des Kaufmanns Deller. Fischach wuchs und florierte. Mitte des 19. Jahrhunderts war nahezu die Hälfte der gut 500 Einwohner jüdisch. Juden engagierten sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: In der Freiwilligen Feuerwehr, im Gemeinderat. Es gab eine israelitische Volks- und Religionsschule, eine Synagoge und auch einen jüdischen Friedhof. Und die Juden von Fischach begingen ihre Feiertage – wie das Laubhüttenfest. Die wohlhabenderen, weiß Bernd Päffgen, gaben bei örtlichen Künstlern und Handwerkern hölzerne Laubhütten in Auftrag. O-Ton 6 Prof. Bernd Paeffgen, Prof. für Archäologie, LMU München und Co-Sprecher der Ad hoc-AG „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“, BAdW„In der Biedermeierzeit, da beauftragten kurz vor 1840 Jakob und Esther Deller in Fischach einen einheimischen Schreiner mit dem Bau dieser Laubhütte. Ein schwäbischer Maler bekam den Auftrag, die Innenwände der Sukkah in diesen sehr kräftigen Farben zu gestalten. (…) ErzählerinWie damals auch in Kunstwerken der christlichen Kultur nicht unüblich, ließ sich auch der Auftraggeber der Fischacher Laubhütte, Jakob Deller, mit seiner Frau Esther in seiner Sukkah verewigen. O-Ton Päffgen NEU 3„Zu sehen ist da eben Fischach, mit dem jüdischen Viertel und der Synagoge. Das ist gewissermaßen ein kleines Jerusalem in Bayerisch Schwaben, das da dargestellt ist. (…) Und Frau Deller steht mit weißer Kittelschürze stolz vor der Eingangstüre ihres Hauses - so als will sie gleich Gäste in Empfang nehmen. Und ein ganz vornehmer Herr mit Gehrock und Zylinder geht mit einem Jäger und Jagdhund in den westlichen Wäldern auf die Jagd.ErzählerinKlaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern und Vorsitzender der Synagogenstiftung im schwäbischen Ichenhausen ergänzt: O-Ton 7 Wolf„Ja, das ist so die Zeit zwischen Wiener Kongress und 1848, und das ist hier wunderbar eingefangen. Und das ist in dieser Form, will ich sagen, einzigartig. Es ist ein ganz wichtiges Zeitdokument und auch ein wichtiges kunstgeschichtliches Dokument.“ O-Ton 8 Naomi Feuchtwanger-Sarig, Kunsthistorikerin, Jerusalem, engl., Sprecherin dt. OV„Die Darstellungen sind einerseits eingebettet in die örtliche Umgebung, sehr typische Volkskunst aus dieser Region Deutschlands. Buchstäblich auf der anderen Seite der Sukkah findet man aber Bilder aus Jerusalem wie den Felsendom - oder biblische Motive wie etwa Moses auf dem Berg Sinai oder jüdische Festtage. Wie die Fischacher Sukkah solche Szenen verschmilzt: Das ist sehr besonders – und einzigartig.“ TC 09:20 – Ein Inventar für jüdische Kultur Musik Erzählerin Die Einzigartigkeit der Fischacher Sukkah, von der die Kunsthistorikerin Naomi Feuchtwanger-Sarig hier spricht: Sie musste auch ihrem Großvater Heinrich Feuchtwanger bewusst gewesen sein, als er sie entdeckte. Dieser hatte vor rund hundert Jahre eine Mission: zusammen mit dem Kunsthistoriker Theodor Harburger reiste er quer durch Bayern, um jüdische Kunst- und Kulturdenkmäler zu inventarisieren. Von Feuchtwangers und Harburgers akribischer Arbeit profitiert der Münchner Museumsleiter Bernhard Purin für ein Editionsprojekt zu den Inventaren der bayerischen Synagogen noch heute. O-Ton NEU Purin Er hat an die 3000 Objekte schriftlich beschrieben, handschriftlich auf kleinen Zetteln, die er mit nach Palästina genommen hat. Die seit vielen Jahrzehnten in einem Archiv in Jerusalem liegen. (…) Und es ist ein Ziel von unserem Projekt, herauszufinden, welche Objekte noch erhalten sind. ErzählerinWas nach einer nüchternen schlicht bürokratischen Aufgabe klingt, war dennoch fundamental, um jüdische Kultur zu bewahren -  auch diese Fischacher Laubhütte, wie sich später herausstellen wird. Denn zu jener Zeit der Weimarer Republik lösten sich die jüdischen Landgemeinden in Bayern auf – ursprünglich mehrere Hundert an der Zahl. Da viele Juden seit dem 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert waren und auch immer mehr Landjuden in Städte wie München oder Nürnberg zogen. O-Ton 9 Purin„Und dann hat irgendwann mal im ausgehenden 19. Jahrhundert der Punkt begonnen, wo Antiquitätenhändler durchs Land gezogen sind und von den letzten Gemeindemitgliedern die Sachen abgekauft haben. Und da hat dann der Landesverband der jüdischen Gemeinden gesagt: Das müssen wir verhindern und hat Anfang der 20er Jahre die Regelung beschlossen, dass sich auflösende Gemeinden ihre Ritualgegenstände an den Landesverband geben müssen. Aber so eine Vorschrift kann man nur vollziehen, wenn man weiß, was es gibt. Und darum hat man dann den Kunsthistoriker Theodor Harburger beauftragt. Der hat über 200 Synagogen besucht und hat genaue Inventare gemacht und hat dann aber auch, wenn er an den einzelnen Synagogenorten war, sich so ein bisschen umgesehen, weil ihn das als Kunsthistoriker interessiert hat, was in Privatbesitz ist. Und so hat er dann die Fischacher Laubhütte gesehen.“ ErzählerinDie bevorstehende NS-Herrschaft, die Zerstörung der jüdischen Kultur, die Shoah: Sie waren also nicht der Anlass der Bestandsaufnahme. Spätestens mit Beginn der NS-Diktatur muss Heinrich Feuchtwanger aber die existentielle Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland geahnt haben. Noch zu Zeiten der Weimarer Republik plante Feuchtwanger ein Museum, das die Vielfalt jüdischer Kultur und Geschichte darstellt und bewahrt – ähnlich dem jüdischen Museum, das 2007 schließlich am Münchner Jakobsplatz eröffnet wurde. Seine Enkelin Naomi Feuchtwanger-Sarig erinnert sich. O-Ton 11 Feuchtwanger-Sarig OVSprecherin dt. OV„Er und Harburger hatten versucht, ein solches Museum in München zu etablieren, aber es kamen schreckliche Zeiten auf. Deshalb streckte mein Großvater seine Fühler zum Museum nach Palästina aus, denn dorthin hatte er bereits Kontakte. Er selber war bereits 1935 emigriert, seine Familie folgte Anfang 1936. Erzählerin Die Fischacher Laubhütte, so hatte er es geplant, sollte einen Platz im Museum in Palästina finden. Fortsetzung O-Ton 11Sprecherin dt. OVDoch wie sollte er jetzt die Sukkah heraus aus Deutschland bekommen? Er fragte Berta Fränkel, eine enge Verwandte, die in München lebte, und ebenfalls auf dem Sprung nach Palästina war, ob sie die Laubhütte nicht mit einpacken könnte. Und so entstand die Idee, die Laubhütte als Kisten-Verpackung zu tarnen.“   TC 13:15 – Holz, das die Welt verbindet Musik Erzählerin Es sollte noch bis 1937 dauern, bis die Fischacher Sukkah ins damals britische Mandatsgebiet Palästina gelangte. Der Transport war ein heikles Unterfangen. Denn die Nationalsozialisten hatten schon ein Auge auf die Feuchtwangersche Sammlung geworfen und bereits einige wertvolle Goldmünzen beschlagnahmt. Die Sorge, auch die Sukkah könnte den Nazis in die Hände fallen, war groß. O-Ton 13 Päffgen„... Man hat die einzelnen Bretter auseinandergenommen und hat daraus großformatige hölzerne Transportkisten (...) gemacht, die nach Palästina ausreisten, die bemalten Innenseiten, die hat man mit billigem Stoff bespannt, damit die nicht beschädigt wurden, aber auch nicht gesehen werden konnten. Und die Kisten wurden dann also von München nach Jerusalem verschifft. Kontrolliert wurde natürlich nur der Inhalt. An diesen Holzkisten war man natürlich nicht interessiert, und so kam die Fischacher Sukkah nach Jerusalem, da wurde sie wieder zusammengesetzt, und zunächst verwahrte sie Doktor Heinrich Feuchtwanger bei sich, in seinem Haus.“ Erzählerin...ergänzt der Archäologe Bernd Päffgen, der zur jüdischen Geschichte in Bayern forscht. Die Laubhütte aus Bayerisch-Schwaben sollte schnell zum Schmuckstück und Anziehungspunkt im Bezalel Museum werden. Der Münchner Museumsleiter Bernhard Purin schreibt es der unermüdlichen Inventarisierungs-Arbeit von Feuchtwanger und Harburger am Vorabend der Shoah zu, dass die Sukkah, zahlreiche liturgische Gegenstände, weltliche wie religiöse Kunst und Kunsthandwerk gerettet und nach Palästina gebracht werden konnten. O-Ton 14 Purin„Das gab´s nur in Bayern, an keinem anderen Ort Deutschlands. Und Harburger ist dann immer an den Ort Deutschlands gefahren, wo es Synagogengemeinden gab, (...) und Stücke, die ihm interessant erschienen, hat er dann auch fotografiert. Und wir haben schon vor fast 25 Jahren die Fotos veröffentlicht: So circa 800. Und da kann man mit Erstaunen feststellen, dass sich doch relativ viel erhalten hat.“ ErzählerinWie die Fischacher Laubhütte, deren wechselvolle Geschichte mit ihrer Ankunft in Palästina noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Für Naomi Feuchtwanger-Sarig ist diese Geschichte auch eine Familiengeschichte. Die Sukkah aus Schwaben: Sie ist der Enkelin von Heinrich Feuchtwanger seit ihrer Kindheit präsent. O-Ton 15 Feuchtwanger-Sarig Teil 1 Sprecherin OV„Ich erinnere mich an lebhafte Diskussionen, als ich ein kleines Mädchen war. Ich habe nicht viel verstanden – aber es ging wohl darum, ob man die Sukkah noch einmal nach Deutschland transportieren sollte. In Köln war für das Jahr 1964 eine Ausstellung von jüdischem Kulturgut geplant, bei der die Fischacher Laubhütte gezeigt werden sollte. Mein Vater – damals Kurator im Bezalel-Museum, wo diese Sukkah ausgestellt war – war vor allem aus konservatorischen Gründen dagegen, denn sie war in relativ schlechtem Zustand. ErzählerinDie Fischacher Laubhütte erneut auf Reisen nach Deutschland zu schicken – das war für Heinrich Feuchtwanger aber auch aus einem anderen Grund problematisch, sagt seine Enkelin. O-Ton 15 Feuchtwanger-Sarig Teil 2 Sprecherin OV„Als Jude, der vor den Nazis geflohen war, war er der Meinung, dass aus Deutschland gerettete jüdische Kulturgüter nicht mehr dorthin zurückkehren sollten. Er hat sich dann letztlich doch gebeugt. Er konnte überzeugt werden davon, dass mit einer erneuten Reise dieser Sukkah nach Deutschland quasi eine verbindende Brücke gebaut werden könnte. Mein Großvater wollte dieses Zeugnis des Judentums all dem Hass, all der Entfremdung entgegenhalten, und er reiste zur Vorbereitung der Ausstellung Anfang der 60er-Jahre dann auch selber in die Bundesrepublik. Diese Reise war sehr schwer für ihn, und möglicherweise emotional zu anstrengend. Er ist kurz danach gestorben.“  ErzählerinHeinrich Feuchtwangers Sorge um die Unversehrtheit der Fischacher Sukkah – sie sollte sich letztlich als berechtigt herausstellen. O-Ton 16 Sarfati Sprecherin OV„Die Ausstellungsmacher in Köln haben quasi als Dankeschön eine Restaurierung der Laubhütte vorgenommen. So kam es zu diesen, sagen wir mal, unprofessionellen Veränderungen der Fischacher Sukkah.“ Erzählerin…weiß die Jerusalemer Kuratorin Rachel Sarfati. O-Ton 17 Safarti Sprecherin OV„Ich habe eine neue Farbschicht entdeckt, die viele Fehler enthielt. Farben wurden von Hell nach Dunkel, und von Dunkel nach Hell verändert.“ ErzählerinVeränderungen, die zunächst unbemerkt blieben, sagt die Kunsthistorikerin Naomi Feuchtwanger-Sarig. Es erstaune sie, dass die „Verschlimmbesserung“ der Malereien bei einem so bekannten Objekt – das zudem als Leihgabe in anderen Museen ausgestellt war – zunächst niemandem auffielen. Naomi Feuchtwanger-Sarig veröffentlichte zwar 1988 eine Forschungsarbeit zur Sukkah aus Fischach und deren schicksalhafter Historie. Dass die Laubhütte vor Jahrzehnten unsachgemäß übermalt worden war – das fiel indes erst Mitte der 2000er-Jahre auf. Damals wurde die Sukkah abgebaut, um sie während der Renovierung des Museums routinemäßig einer Überholung zu unterziehen. O-Ton 19 Feuchtwanger-Sarig Sprecherin OV„Ursprünglich wollte man nur das Holz konservieren. Es war dann ein großer Schock, als man bei der Reinigung der Paneele entdeckte, dass es unter der oberen Farbschicht eine weitere gab.“ ErzählerinDie weitgereiste Fischacher Laubhütte ging daher erneut auf große Fahrt. Diesmal auf Erholungsurlaub, sozusagen. O-Ton 20 Sarfati Sprecherin OV „Ja, die Sukkah und ich, wir haben dann eine nette Zeit zusammen in Frankreich verbracht“ (lacht). Aber im Ernst: Israel ist ein sehr junger Staat, wir haben daher keine Tradition und Erfahrung mit Holzmalerei. Deshalb haben wir ein Labor im Ausland gesucht – und eines in West-Frankreich gefunden. Musik ErzählerinDie Restaurierung zog sich hin. Dass die Fischacher Laubhütte in ihren Originalzustand überhaupt zurückversetzt werden konnte – das ist einem Nachfahren ihres ursprünglichen Besitzers Jacob Deller zu verdanken: Alberto Deller, der als Kind vor den Nationalsozialisten nach Ecuador floh, besuchte Israel – und wollte dort die Sukkah seiner Vorfahren besichtigen. O-Ton 21 Sarfati Sprecherin OV„Alberto Deller stand jedoch vor verschlossenen Türen, denn das Museum war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Die Sukkah seiner Familie war abgebaut und im Depot zwischengelagert worden – bis wir das Geld für ihre Restaurierung auftreiben würden. Diese Geschichte war also das Einzige, womit ich aufwarten konnte. Und ich erzählte ihm von der schwierigen Finanzierung der Restaurierung. Ich wusste damals nicht, dass Deller sehr wohlhabend ist und sich bereits einen Namen als Mäzen der Hebräischen Universität hier in Jerusalem gemacht hatte. Schließlich bot er an, die Kosten für die Restaurierung zu übernehmen.“ Erzählerin Nun ist die Fischacher Laubhütte wieder in ihrem Originalzustand, in ihrer alten, neuen Heimat Israel Museum. Musik ErzählerinDie Laubhütte von Fischach: Sie verbinde Familien und Generationen, über die Kontinente hinweg, sagt die israelische Kuratorin und Kunsthistorikerin Rachel Sarfati. O-Ton 23 Sarfati Sprecherin OV„Ja, es gibt Verbindungen, die sich über die ganze Welt erstrecken. Die Sukkah verbindet die Deller-Familie und ihre Nachfahren, die Sterns. Sie verbindet die Familien Fränkel und Feuchtwanger. Sie verknüpft die Kontinente und Länder: Israel, Europa – und Lateinamerika. Die Fischacher Laubhütte ist ein so seltenes und einzigartiges Stück, dass auch ich mich in besonderer Weise verbunden fühle.“   TC 21:50 – Outro
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Apr 15, 2024 • 22min

ALTES ARABIEN - Die Nabatäer und die Felsenstadt Petra

Es war eine Sensation, als Archäologen vor rund 100 Jahren "Petra" ausgegraben haben: eine in Fels gehauene Stadt, die den Nabatäern als Handelsmetropole diente. Ihre Blütezeit hatten die Nabatäer zur Zeit Jesu. Sie beherrschten die Weihrauchstraße und organisierten den Handel zwischen Arabien und dem Mittelmeerraum. Bis heute stoßen Archäologen immer noch auf neue Erkenntnisse. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2016) Credits Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Irene Schuck Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Silke von Walkhoff Technik: Gerhard Wicho Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Stephan Schmid, Jane Taylor Linktipps: Das Kalenderblatt (2013): J.L. Burckhardt entdeckt Petra (22.08.1812) Die Felsenstadt Petra im heutigen Jordanien war bis ins 3.Jahrhundert n. Chr. als blühende Handelsstadt der Nabatäer bekannt. Am 22. August 1812 entdeckte der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt die sagenhaften Ruinen. JETZT ANHÖREN ZDFinfo (2020): Petra – Felsentempel in der Wüste Beeindruckende Felsformationen und mächtige Fassaden – mitten in der jordanischen Wüste fasziniert die antike Felsenstadt Petra Archäologen, Historiker und Touristen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:37 – Luxus mitten im NirgendwoTC 03:36 – Eine schlecht zu verteidigende LageTC 05:18 – Der NomadenstammTC 08:44 -  Ein Leben wie ihre VorfahrenTC 12:00 – Die Wallstreet der WüsteTC 15:06 – Im arabischen OlympTC 17:46 – Verantwortungsvoll, gut organisiert und stets bemühtTC 21:06 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro MUSIK ATMO 1 Aufstieg Erzähler:Der Aufstieg ist beschwerlich. Von Petra, der faszinierenden Felsenstadt unten im Canyon, hinauf zum 1.200 Meter hohen Gipfelplateau des Umm al-Bijara (sprich: Umm all Bichara), übersetzt der „Mutter der Zisternen“. Hunderte von Stufen wurden in den vergangenen zwei Jahrtausenden in den Kalk - und Sandstein geschlagen, um auf den höchsten Berg der Gegend zu gelangen. Erzählerin:Immer wieder wurde der Weg von Sandstürmen verweht, von Geröll verschüttet, von Erdbeben zerstört und ein ums andere Mal wiederhergestellt. In den vergangenen beiden Jahrhunderten von Archäologen, zuvor von Beduinen, zur Zeitenwende vom geheimnisumwitterten Volk der Nabatäer! ATMO 2 Archäologengespräch Erzähler:Seit den neunziger Jahren graben und forschen Archäologen der Berliner Humboldt-Universität rund um Petra. Zahlreiche Gebäudekomplexe - Tempel, Gräber, Villen aus den ersten Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende - haben sie bereits freigelegt und dokumentiert. Auf dem Umm al-Bijara sind sie auf eine erstaunliche Anlage gestoßen. ATMO 3 kratzen TC 01:37 – Luxus mitten im Nirgendwo Erzählerin:Eine luxuriöse Wellness-Oase auf einem Berg mitten in der Wüste: mit Marmor-Badewannen, kunstvollen Mosaiken, Steinfiguren von badenden Jünglingen. Prof. Dr. Stephan Schmid ist der Ausgrabungsleiter: O-Ton 1 Schmid Luxusbad:„Man darf sich da durchaus den damals üblichen Luxus vorstellen, der dadurch fast pervers wirkt, dass er an einem sehr unwirtlichen Ort praktiziert wird. Wir haben eine Badeanlage gefunden, die mit 20 auf 30 Metern ein ganz anständige Dimension erreicht. Da gab`s beheizbare Räume mit Boden - und Wandheizung, es gab für den Endnutzer fließendes Wasser, das kommt zwar aus den Zisternen, wird aber in Zwischentanks erst mal eingefüllt und der Endnutzer kann richtig seine Badewanne mit fließend Wasser füllen lassen und das ist natürlich für ehemalige Nomaden schon eine Leistung.“ MUSIK    Erzähler:Feinkeramik - und Glasscherben lassen vermuten, dass es sich die Badenden auf dem Berg gut gehen ließen. Die größte Badewanne, die mehreren Personen Platz bot, also eine Art antiker Whirlpool, ist direkt an der Felskante installiert, hinter der es Hunderte von Metern in die Tiefe geht – antike Wellness mit Nervenkitzel und einem fantastischen Panorama: Vom Plateau reicht der Blick über ganz Petra und auf der anderen Seite bis ins Jordantal, ins heutige Israel. Lage und Luxusausstattung des Berg-Bades waren vermutlich so etwas wie ein Architekturwettstreit mit Herodes dem Großen, der nebenan in Judäa pompöse Paläste bauen ließ. Ziel war es, Macht und Reichtum zur Schau zu stellen. MUSIK AUS TC 03:36 – Eine schlecht zu verteidigende Lage O-Ton 2 Schmid Herodes:„Die Nabatäer waren ja die direkten Nachbarn und auch direkt verschwägert mit Herodes dem Großen und seinen Nachfolgern, da gab`s einen regen Austausch von Heiratspolitik, man hat sich auch hin und wieder bekriegt, man kannte sich jedenfalls sehr gut. Und im Königsreich von Herodes dem Großen und seinen Nachfolgern kennen wir zahlreiche Höhenresidenzen, und unser Schlagwort ist, dass Um-el-Bijara, dieser Berg hier, die nabatäische Antwort auf Masada, die große Palastanlage von Herodes dem Großen am Toten Meer darstellen könnte.“ Erzählerin:Die exponierte Position dieser Anlage, die nicht nur aus Badewannen, sondern auch aus Wohn – und Wachgebäuden bestand, hatte auch einen strategischen Grund. O-Ton 3 Schmid Königsberg:„Unsere Arbeits-Hypothese ist die, dass sich hier oben eine Königsresidenz befunden haben könnte aus folgenden Gründen: Der Berg ist der Stadtberg von Petra, der überblickt das Stadtgebiet mit 300 Metern Höhendifferenz, Umm-al-Bijara, Mutter der Zisternen, also da wurde auch Wasser in Zisternen gesammelt. Offenbar wollte man hier oben größere Menschenmengen oder Menschen mit hohem Wasserbedarf bewirtschaften können. Der andere Punkt: Der Berg ist extrem wichtig für die Kontrolle des ganzen Gebietes. Petra selbst liegt ja in einem tiefen Talkessel, da hat man keine Sicht, keine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Und das ist ab dem Zeitpunkt, wo man aus der nomadischen in die sesshafte Lebensweise wechselt, denkbar ungünstig. Und dazu dient dieser hohe Berg, man hat hier eine perfekte Fernsicht und kann kommunizieren mit einer ganzen Reihe von Wachtürmen die sich rund ums Siedlungsgebiet von Petra  und befunden haben und diese Informationen eben mit dem Stadtgebiet eben austauschen und kommunizieren.“ TC 05:18 – Der Nomadenstamm MUSIK & ATMO 5 Kelle Erzähler:Wer waren diese Nabatäer, die in solch einem unwirtlichen, labyrinthartigen Schluchtensystem ihre Hauptstadt errichteten? ATMO 6 Schaufel Erzählerin:Neben den Tonscherben, Münzen oder Steinreliefs, die Archäologen wie Stephan Schmid zutage fördern, haben die Forscher nur einige schriftliche antike Quellen zur Verfügung: von den Geschichtsschreibern Strabon, Flavius Josephus oder Diodorus. Von den Nabatäern selbst wurden bisher nur wenige schriftliche Zeugnisse gefunden. Erzähler:In der Bibel tauchen die Nabatäer bei Paulus auf. Und zwar in Person von König Arétas, der als König von Damaskus bezeichnet wurde. Zu Jesu Zeiten reichte das Herrschaftsgebiet der Nabatäer bis ins heutige Syrien.  Erzählerin:Zum ersten Mal wird der semitische Nomadenstamm vom griechischen Historiker Diodorus erwähnt: Im Jahr 312 v. Chr. kämpfte demnach ein griechisch-makedonisches Heer von fast 5.000 Mann gegen die Nabatäer, eroberte vorübergehend Petra und erbeutete große Mengen an Weihrauch und Myrrhe sowie 500 Talente Silber, was 70 Tonnen entspricht! MUSIK AUS O-Ton 4 Schmid Könige:„Die frühesten Belege stammen aus der hellenistischen Zeit, wo ein König der Araber genannt wird, der eigentlich nur Nabatäer sein kann und dann ab dem späten zweiten Jahrhundert werden sie dann auch richtig König der Nabatäer genannt. Auch auf ihren eigenen Münzen treten sie als solche auf. Zumindest nach außen muss das als monarchische Form wahrgenommen worden sein. Man kann sich gut vorstellen, dass es eine Art Scheichtum war, es gab eben einen Oberscheich und weil er der Oberscheich war, galt er für die Griechen und Römer als König.“ MUSIK Erzähler:Aus ihrer Nomadenzeit hatten die Nabatäer die Stammesstrukturen bewahrt, auch als sie rund um Petra sesshaft wurden. Wie früher, als sie durch die Wüstengegenden im heutigen Syrien, Jordanien, Irak, Palästina und Saudi Arabien zogen, lebten sie in Großfamilien und Clans. Davon zeugen große Versammlungsräume, die in die Felswände von Petra gebaut wurden. In diesen Bankettsälen finden sich sogenannte Triklinien, abgetrennte Räume, die an drei Seiten Sitzbänke hatten. In diesen Räumen wurde rituell gekocht, es wurden Tieropfer dargebracht und es wurde beratschlagt und zu Gericht gesessen. Erzählerin:Als Nomaden hatten die Nabatäer keine eigene Schriftsprache. Sie bedienten sich des Aramäischen, also der Sprache Jesu, vor allem, wenn es um Handelsverträge, Bauinschriften etc. ging. Mythische, rituelle oder alltägliche Dinge wurden mündlich überliefert. MUSIK AUS O-Ton Schmid 5 aramäisch:„Da muss man offenbar unterscheiden zwischen dem, was sie gesprochen haben, das scheint wirklich Arabisch gewesen zu sein, ein Früh-Arabisch, und dem, was sie geschrieben haben. Geschrieben haben sie tatsächlich Aramäisch, das war damals die lingua franca, die in diesem Teil der antiken Welt durch das persische Achämenidenreich flächendeckend als Verwaltungssprache eingeführt wurde. In dieser Sprache schreiben die Nabatäer, das ist eigentlich schriftmäßig die Ursprungssprache des modernen Arabisch und des Hebräisch. Aramäisch ist die Sprache von Jesus und auch die Bibel ist in Aramäisch abgefasst in weiten Strecken.“ Erzähler:Aus diesem frühen Aramäisch hat sich dann die Arabische Schrift entwickelt, wie wir sie kennen. TC 08:44 -  Ein Leben wie ihre Vorfahren Erzählerin:Und wie sie die Nachfahren der Nabatäer benutzen, die heute in den Hügeln rund um Petra leben: ohne Strom und fließendes Wasser, in Zelten aus Tierleder, einem für die Männer, einem für die Frauen. ATMO 7 Mörser Kardamom O-Ton 6 Schäferin Name over weiblich:„Mein Name ist Haje (sprich: Ha-je), ich bin 50 Jahre alt und ich habe sechs Kinder.“ Erzähler:Die Frau sitzt auf einer staubigen Wolldecke vor dem Zelt, im Mörser zerkleinert sie Kardamom-Körner. Ihr schwarzer Umhang verhüllt den ganzen Körper, bis auf die Augen. O-Ton 7 Schäferin Tag over weiblich:„Unser Tag sieht so aus: Erst mache ich das Frühstück, meine Söhne gehen zum Wasser holen, die Töchter bringen die Ziegen zum Grasen. Wir essen Joghurt, Zwiebeln, Brot, trinken Tee. Sonst gibt`s kaum etwas. Fleisch nur, wenn Gäste kommen, dann schlachten wir eine Ziege “ ATMO 8 Brotbacken Erzählerin:Jetzt knetet die Frau Brotteig, den sie zu Fladen formt. Statt in einen Ofen steckt sie diese Fladen einfach in den heißen Wüstensand. Eine Viertelstunde später ist das Brot fertig gebacken und wird mit etwas Ziegenkäse und Wildkräutern gegessen. Erzähler:Das karge Leben der Beduinen dürfte sich kaum vom Lebensstil früherer Nomaden unterscheiden. Mit Geld kommen sie selten in Berührung, vielmehr tauschen sie Lebensmittel, Tiere oder Stoffe mit anderen Beduinen. MUSIK Erzählerin:Auch die Nabatäer haben in ihrer Nomadenzeit wohl so gelebt. Durch ihre steigenden Handelsaktivitäten und den aufkommenden Wohlstand änderte sich aber die Gesellschaftsform. MUSIK AUS Die Nabatäer suchten ein Zuhause, ein Zentrum, und fanden es in Petra. ATMO 11 Markt Erzähler:Den Marktplatz von Petra muss man sich wie einen großen Souk vorstellen, wie man ihn heute noch in Jordaniens Hauptstadt Amman findet. MUSIK An den Ständen bieten die Händler Gewürze, Gemüse, Fleisch, Fisch, Kaffee und Tee sowie Gebrauchsgegenstände aller Art feil. Erzählerin:Die Hauptstraße von Petra ist noch deutlich zu erkennen: die Pflastersteine sind gut erhalten und weisen keine Spuren von Rädern auf – der Boulevard war also eine frühe Fußgängerzone! Gesäumt von Brunnen, Badehäusern, Theater, Mausoleen. Zu Zeiten der Nabatäer war diese Prachtstraße noch beeindruckender als heute. Denn die meisten Gebäude waren mit kunstvollem Stuck verziert und farbenfroh gestrichen, während die Überbleibsel sandfarben sind. ATMO 12 Marktschreier Erzähler:Petras Marktschreier brachten die wertvollsten Produkte der damaligen Zeit unter die Leute: Luxusgüter wie Alabaster, Elfenbein, Perlen, Purpur oder Pfeffer. Auch Aromata wie Weihrauch, Myrrhe, Balsam oder Zedernduft. Vor allem die Einkäufer aus Rom rissen sich um die Zutaten für Salben, Cremes oder Badewasser, da die römische Kanalisation zum Himmel stank und mit Düften übertüncht werden musste.TC 12:00 – Die Wallstreet der Wüste Erzähler:In der Hochzeit reichte der nabatäische Karawanenstaat von Damaskus im Nordosten bis nach Medina im Süden, im Westen bis zum Sinai. Auf der arabischen Halbinsel kontrollierten sie die so genannte Weihrauchstraße, die von Jemen und Oman bis zum Mittelmeer führte und auf der neben Gewürzen aus Indien auch chinesische Seide transportiert wurde. Erzählerin:In der Oase Hegra im heutigen Saudi-Arabien übernahmen die nabatäischen Kaufleute die Ware von südarabischen Händlern, brachten sie in 30 bis 40 Tagesmärschen in Kamel- und Dromedarkolonnen nach Petra oder nach Gaza, dem wichtigsten Umschlagplatz am Mittelmeer. Von dort führte die Handelsroute nach Rom oder Athen. Die wichtigsten Karawanen-Strecken waren mit bewachten Brunnen, Warendepots und Versorgungsstationen versehen. MUSIK AUS ATMO 13 Petra Sprachen Erzählerin:Kaufleute aus vielen Regionen tummelten sich in Petra, das eine Art Wallstreet der Wüste war. Statt des Touristen-Mix‘ aus Englisch, Deutsch oder Japanisch war vor 2.000 Jahren ein Sprachengemisch aus Aramäisch, Persisch und Latein zu hören. Historiker schätzen, dass zur Hochzeit etwa 30.000 Menschen in Petra lebten, darunter zahlreiche Ausländer, die auch ihre Vorlieben mitbrachten. Der Archäologe Stephan Schmid stößt bei Grabungen immer wieder auf Keramik, Glas und Marmor aus Italien oder Griechenland. ATMO 14 Wasserplätschern Erzähler:Ein paar Kilometer von Petra entfernt sprudelt Quellwasser aus den Felsen. Laut Bibel soll Moses hier mit einem Stock auf einen Felsblock geschlagen und so die Quelle geöffnet haben. Diese Wasserstelle garantiert seit Tausenden von Jahren die Trinkwasserversorgung. MUSIK Erzählerin:Die Nabatäer entwickelten ein ausgeklügeltes Kanalsystem, das Wissenschaftler heute als „Wasserbaukunst“ bezeichnen: starke Regenfälle im Winter können die Schluchten rund um Petra komplett unter Wasser setzen, im Sommer fällt nahezu kein Regen. Diese Herausforderung meisterten die Ingenieure der Nabatäer, indem sie Dutzende von Barrieren bauten, um die Fließgeschwindigkeit des Wassers im Winter zu verringern. In Dämmen und unterirdischen Zisternen wurden enorme Wassermengen gesammelt, über ein weitverzweigtes Kanalsystem verbreitet. Erzähler:Rechnungen ergaben, dass rund ums Jahr etwa 45 Millionen Liter zur Verfügung standen. Eine immense Menge an Wasser, zumal mitten in der Wüste! Damit konnten die sesshaft gewordenen Nomaden auf bewässerten Terrassen Landwirtschaft betreiben, was den Fund zahlreicher Getreidemühlen, Wein – und Ölpressen erklärt. Luftaufnahmen deuten auch auf großzügig angelegte Gartenanlagen in Petra hin. Die Nabatäer hatten sich an einem der unwirtlichsten Plätze der Region ein Paradies geschaffen. ATMO 15 Petra KinderMUSIK AUSTC 15:06 – Im arabischen Olymp Erzählerin:Die Frage ist: Warum taten sie das in diesem staubigen Schluchten-Labyrinth? Erzähler:Eine Möglichkeit, die von Historikern und Archäologen diskutiert wird: Eventuell hatten die Nabatäer einen mystischen Bezug zu diesem Ort. MUSIK Jedenfalls fanden die Forscher zahlreiche Stein-Stelen, die Götter symbolisieren. Inschriften auf Reliefs lassen den Schluss zu, dass Petra nicht nur ein Handelszentrum, sondern auch eine Pilgerstätte war. Vielleicht vermuteten die Nabatäer, dass die von ihnen angebeteten Gottheiten hier zuhause sind. Petra wäre demnach eine Art arabischer Olymp gewesen. O-Ton 12 Schmid Duschara:„Die Nabatäer hatten ein relativ detailliertes Pantheon, da gibt es eine ganze Reihe von Göttern, allerdings scheint es sich ein bisschen auf einen Hauptgott zu fokussieren, also eine stark trichterförmige Verengung oder Konzentration auf einen Hauptgott. Hier in Petra ist das eindeutig Duschara, d.h. der von den Schara-Bergen. Und die Schara-Berge, das ist diese Gebirgskette, die den Übergang von der innerarabischen Hochebene in den arabisch-afrikanischen Grabenbruch, in dem auch der Jordan, das Rote und Tote Meer liegen, darstellt. Dieser Duschara war ganz wichtig, denn von den Schara-Bergen kommt das segens-und kulturbringende Wasser, von daher kommt aber auch das alles zerstörende Wasser, wenn man eben nicht aufpasst und das ein bisschen domestiziert. Lustigerweise oder interessanterweise, wenn es um die bildliche Darstellung von Duschara in Griechisch-Römischen Bildchiffren geht, dann taucht er als Dionysos oder Bacchus auf. Das gibt uns eine gewisse Vergleichbarkeit.“ Erzählerin:Hauptgott Duschara wurde auch mit Vollbart, als Verkörperung des griechischen Zeus, dargestellt! So anpassungsfähig die Nabatäer in ihren Handelsstrategien waren, so flexibel waren sie mit ihrer Religion: Sie passten sich den Umständen an, lernten Gottheiten der Nachbarvölker kennen und adaptierten sie. Je nach Region beteten sie die lokalen Götter an, das konnten auch Flüsse, Quellen, Berge oder Bäume sein. In der Beschreibung der nabatäischen Gottheiten finden sich Merkmale arabischer, persischer und vor allem hellenistischer Götter wieder. So hatte jede Siedlung einen eigenen Hauptgott, zum Teil glaubten einzelne Familien an eigene Wesen. MUSIK AUS O-Ton 13 Jane gods OV weiblich:“Außerdem wissen wir von drei Haupt-Göttinnen in Petra, deren wichtigste Al-Huzza war. Ihr Name kann mit „Die Große“ übersetzt werden. TC 17:46 – Verantwortungsvoll, gut organisiert und stets bemüht Erzählerin:Die britische Schriftstellerin und Fotografin Jane Taylor lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Jordanien, hat mehrere Dokumentationen über die Nabatäer veröffentlicht. Neben der sehr variablen Religion beeindruckt sie auch die relativ gleichberechtigte Rolle der nabatäischen Frauen: O-Ton 14 Jane women OV weiblich:„Es gibt Hinweise, dass die Nabatäer ihre Frauen wesentlich höher ansahen als etwa die Römer oder die Juden der Epoche. Ein Anzeichen dafür ist die Tatsache, dass auf den Münzen der Nabatäer nicht nur Könige, sondern auch Königinnen abgebildet waren. Das gab`s weder bei Römern noch bei den Juden. Es ist leider sehr wenig über das Alltagsleben der Ehefrauen, Mütter, Töchter überliefert, aber wir kennen relativ viele Namen von Königinnen und auch von Königstöchtern. Und diese wurden offenbar nicht viel anders behandelt als die Königssöhne.“ Erzähler:Die wenigen historischen Quellen vermitteln den Eindruck, dass die Nabatäer ein sehr verantwortungsvolles, gut organisiertes und um Frieden bemühtes Volk bildeten. Laut Geschichtsschreibern versuchten sie, mögliche Feinde eher mit Strategie und Diplomatie zu bezwingen als mit militärischer Gewalt. So führten sie ein römisches Heer fehl, damit dieses an keiner Oase vorbeikam und schließlich geschwächt ohne jeden Kampf aufgeben musste. MUSIK Als die Römer alternative Handelsrouten auf dem Seewege etablierten, verloren die Nabatäer ihr Handelsmonopol und wurden als Unterhändler quasi überflüssig. Relativ unspektakulär wurde ihr Reich von Rom geschluckt und ging in der Provinz Arabia auf. Aus Händlern wurden sesshafte Bauern. Erzählerin:Das Handelszentrum Petra geriet in Vergessenheit, stattdessen zogen die Karawanen nach Palmyra oder Aleppo. MUSIK AUS O-Ton 16 Schmid Ende:„Das nominelle Ende des nabatäischen Königreiches kommt 106 nach Christus, als die Römer hier einmarschieren und das Nabatäer-Reich in die Provinz Arabien umwandeln. Es ist immer noch nicht ganz klar, warum zu diesem Zeitpunkt, wenige Jahre später unternimmt der gleiche Römische Kaiser Trajan einen groß angelegten Feldzug in den damaligen Osten, das Partherreich wird bekriegt und teilweise erobert. Und möglicherweise war es für die Römische Verwaltung und Planung wichtig, in dieser Ecke der antiken Welt, wo wichtige Zufahrtsstraßen auch auf die künftigen Kriegsschauplätze hin durchführen, für Ruhe zu sorgen, prophylaktisch sozusagen.“ Erzähler:In der Folge vernachlässigten die Römer Petra. Viele Bewohner zogen weg, nur einige Christen nutzten die Höhlenverstecke auf ihrer Flucht vor den Römern. Die Stadt verfiel. Erzählerin:Und erlitt im Jahr 363 nach Christus sozusagen den Todesstoß. Ein schweres Erdbeben machte den Resten eines einst blühenden Handelsreichs ein Ende. Als der Schweizer Forscher Johann Ludwig Burckhardt alias Scheich Ibrahim 1812 Petra erreichte, existierte die Stadt schon lange nicht mehr. Wüstensand überdeckte die ehemalige Metropole wie ein Mantel des Schweigens.TC 21:06 – Outro
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Apr 15, 2024 • 23min

ALTES ARABIEN - Frühzeitlicher Fernhandel

Lange bevor Erdöl und Erdgas die Arabischen Emirate reich machten, wurde von dort Fernhandel bis nach Indien betrieben. Gold, Perlen, Waffen im Tausch gegen Edelsteine, Hölzer, Gewürze. Die Region um Dubai war schon in der Stein-, Bronze-und Eisenzeit ein wichtiges Handelszentrum. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2023) Credits Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Christian Baumann, Jenny Güzel Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Christian Velde, Ali Al Mansoori, Aisha Ahmet, Mansour Boraik, Abdullah Mansouri, Abdulla Rashed Al Suwaidi Linktipps: radioWissen (2023): Das Dromedar – Überlebenskünstler und Luxusrenntier Dromedar oder Kamel? Die Zahl der Höcker macht den Unterschied, Dromedare sind die mit einem Höcker. Der darin gespeicherte Fettspeicher ist einer der vielen Überlebenstricks der Schwielensohler in der Wüste. JETZT ANHÖREN 3sat (2020): Der Duft des Orient – Die Weihrauchstraße Weihrauch ist der Wundsaft eines knorrigen Wüsten-Baumes. Dieter Moor folgt den Spuren dieses gleichermaßen mythischen wie aromatischen Rauchs auf einer der ältesten Karawanen-Handelsstrasse der Geschichte. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:59 – Mehr als Palmen, Datteln und FischTC 05:00 – Lehren aus dem GrabTC 07:30 – Ein Industriegebiet mitten in der WüsteTC 11:43 – Das Allrounder-DromedarTC 14:03 – Auf der WeihrauchrouteTC 16:57 – Die Macht der PerlenTC 19:06 – Äußere EinflüsseTC 22:20 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK & ATMO 01 Geröll + ATMO Wüste Sprecherin:Er trägt immer sehr robuste Lederstiefel, denn er steht oft bis zu den Knöcheln in Haufen von scharfkantigen Muschelschalen und Knochenresten. Seit über 30 Jahren stochert der deutsche Archäologe Christian Velde in den Müllbergen der frühesten Bewohner von Ras al Khaimah, O 01 Muscheln:„Diese Hügel bezeichnen wir als Muschelhaufen, im Grunde ein Abfallhaufen, von dem, was Menschen gegessen haben. Für uns fantastisch, das ist das, was wir brauchen! Wir graben im Abfall der Menschen, die einmal gelebt haben. Man muss das nur wirklich aufheben (…) das hat ein Mensch vor drei bis vier Tausend Jahren ausgeschlürft und dann hierhin geworfen.“ ATMO Muschelhaufen Sprecher:Austern waren wohl schon in der Vorzeit eine Delikatesse oder eher ein Grundnahrungsmittel in dem nördlichsten der Vereinigten Arabischen Emirate. MUSIK Sprecherin:Der Archäologe steht in einer steinigen, staubigen Ebene. Ein paar Kilometer östlich beginnen die steilen Berghänge des Hajar-Gebirges, im Westen glänzt der Arabisch-Persische Golf in der Sonne. Sprecher:Aus dem Gebirge fließt nach Regenfällen kostbares Wasser herab. Und in den bergigen Regionen können Wildtiere gejagt werden. Aus dem Meer wiederum gibt es reichlich Fische und Meeresfrüchte zu essen. Diese Lage hat die Arabische Golfküste schon sehr früh attraktiv für eine Besiedlung gemacht.TC 01:59 – Mehr als Palmen, Datteln und Fisch O 02 Steinzeit:„Die frühesten Nachweise, wie wir jetzt wissen, sind etwa 200.000 vor der Jetzt-Zeit. Das ist die sogenannte Alt-Steinzeit, das ist die Zeit, in der sich die ersten Wellen früher Menschen aus Afrika weiter ausbreiten und das Faszinierende ist, dass man heute annimmt, dass sie auch über die Arabische Halbinsel nach Asien gekommen sind. Man kann das wirklich nachweisen, dass von 200.000 bis jetzt Menschen in diesem Raum gelebt haben.“ Sprecherin:Auf einer Insel, die zum Emirat Sharjah gehört, haben Forscher im Jahr 2022 Hinweise auf eine Siedlung aus der Altsteinzeit entdeckt, die ältesten Spuren der ganzen Region. Sprecher:Das hat die Wissenschaftler überrascht, weil in dieser Epoche lange Trockenzeiten auf der Arabischen Halbinsel vorherrschten. Offenbar waren die Menschen damals in der Lage, trotz der harschen Bedingungen zu überleben. Sprecherin:In der Jungsteinzeit, also etwa ab 10.000 vor unserer Zeitrechnung, haben sich die Lebensbedingungen erheblich verbessert.  O 03 Monsun:„Vom Neolithikum mit einer kurzen Unterbrechung bis zum dritten Jahrtausend hat es hier eindeutig mehr geregnet als heute. Und zwar deswegen, weil in dieser Zeit der Monsun, der sich heute praktisch auf Indien beschränkt, damals bis in den Norden gekommen, d.h. es hat hier im Grunde zwei Regenzeiten gegeben.“ MUSIK Sprecher:Die Ebene, die heute auf dem Staatsgebiet von Ras al Khaimah liegt, hat sich damals zum Obst-und Gemüsegarten der Region entwickelt. ATMO 02 Wedel Sprecherin:Die Grabungsstätten des Archäologen Christian Velde sind eingerahmt von ausgedehnten Palmgärten. O 04 Datteln:„Wir wissen, dass es von etwa von 3000 vor bis in die Moderne hier Palmengärten gegeben hat, auch wenn wir die ersten Dattelkerne schon aus dem Neolithikum kennen.“ ATMO 03 Palmgarten Sprecher:Einer dieser Palmgärten gehört Ali Al Mansoori (sprich: Mansuri). Weiße Haare, weißer Vollbart, weißes Scheichsgewand, so steht der Dattelbauer zwischen seinen Palmen: O 05 dades OV männl.:OV- männlich „Die Menschen früher hatten wenig zu essen hier, eigentlich nur Datteln und Fisch. Das Gute an den Datteln: man kann sie auch ohne Kühlschrank ein Jahr lang aufbewahren. Und sie sind auch noch gesund! Eine Palme versorgt dich mit 120 Kilo Datteln, davon kann sich eine Familie ein Jahr lang ernähren.“ Sprecher:Zwischen den Palmen dringt Sonnenlicht hindurch, so können darunter zwei weitere Ebenen mit Obstbäumen und Boden-Gemüse gedeihen. MUSIK Sprecherin:Aber die Menschen lebten auch damals nicht nur von Datteln und Fischen. Tonscherben und Steinwerkzeuge, die in Ras al Khaimah ausgegraben wurden, deuten darauf hin, dass bereits im sechsten Jahrtausend vor Christus, in der sogenannten Obed-Zeit, Tauschhandel mit Mesopotamien betrieben wurde. TC 05:00 – Lehren aus dem Grab Sprecher: Im dritten Jahrtausend vor Christus lebte die Umm-an-Nar-Kultur im heutigen Emirat, im Anschluss die Wadi-Suq-Kultur. Aus dieser Epoche stammen bedeutende Funde von Christian Velde: Hunderte von Gräbern! Zusp. O 08 Gräber:„Wo wir etwas finden, ist jenseits der Palmengärten, wo die Menschen meistens ihre Toten bestattet haben und deswegen finden wir sehr häufig Gräber. Und die findet man tatsächlich in diesem Gebiet zwischen den Palmengärten, in den Schotterflächen am Rand der Berge. Das Faszinierende ist Shimal, wo sich ein gewaltiger Friedhof befindet mit mehr als 100 megalithischen Gräbern, die aus einer Zeit zu Beginn des zweiten Jahrtausends stammen, aus einer Kultur, die wir Wadi Suk-Kultur nennen, aus der Zeit zwischen 2000 und 1600 v.Chr.“ ATMO 06 Grab Sprecherin:Blickt man über die Ebene, reiht sich Hügel an Hügel, unter jedem Hügel ruhen Gruppen-Gräber, die meist für 30 bis 60 Personen angelegt wurden. Nur einige der Grabhügel sind bisher freigelegt worden, mit teils erstaunlichen Funden: O 09 Hund:„Ein komplettes Skelett einer jungen Frau, die angehockt – das sind alles Hockerbestattungen im 2. und 3. Jahrtausend – dort bestattet worden ist und das Faszinierende an dieser Bestattung ist, dass oberhalb ihres Kopfes ein Hund bestattet war. Sie ist also scheinbar mit ihrem Hund bestattet worden. Es ist ein Hund, der nachweislich seit den Beduinen hier existiert, aber sehr wahrscheinlich schon Jahrtausende davor existiert hat.“ Sprecher:Für Archäologen sind es oftmals die unspektakulären Entdeckungen, die für neue Erkenntnisse sorgen. So ergaben Untersuchungen an abgenagten Hühnerknochen, dass schon in der Bronzezeit Handel mit dem fernen Indien stattgefunden hat: 0 10 Huhn:„Das Huhn ist faszinierenderweise im Industal, also in Indien domestiziert worden, die Urform des Huhns. Und tatsächlich hat man die Reste von Hühnern auch hier gefunden. Tatsächlich scheinen im dritten Jahrtausend Hühner hierher exportiert worden zu sein.“ Sprecherin:Da sich abgeknabberte Hühnerknochen nicht so gut als Ausstellungsstücke für ein Museum eignen, werden im Nationalmuseum von Ras al Khaimah Steinpfannen, bemalte Becher, Bronzewerkzeuge und Waffen, etwa Dolche oder Pfeilspitzen gezeigt. TC 07:30 – Ein Industriegebiet mitten in der Wüste ATMO 07 Innenhof Sprecher:Im Innenhof des Museums hat die Museums-Führerin Aisha Ahmet gerade eine Studentengruppe verabschiedet. Für sie als Einheimische ist es etwas Besonderes, dass sich Besucher aus anderen Weltgegenden für die frühzeitliche Geschichte von Ras al Khaimah interessieren: O 11 map OV weibl.:OV- weiblich „Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich mir die alten Karten anschaue und sehe, dass mein Land schon vor sehr langer Zeit mit weit entfernten Gegenden der Welt vernetzt war. Und auch die Gäste hier im Museum - etwa die aus China oder Indien - staunen, dass unsere Länder schon in der Frühzeit Handel miteinander getrieben haben.“ MUSIK Sprecherin:Aufgrund seiner Lage in dem schmalen Streifen zwischen Meer und Berg war das heutige Ras al Khaimah prädestiniert für frühe Siedlungen. Aber auch in den anderen Emiraten entlang der Küste des Arabisch-Persischen Golfes wurden Belege für weitreichende Handelsaktivitäten gefunden. Sprecher:Eine Zufallsentdeckung sorgte im Jahr 2002 in Dubai für Schlagzeilen: Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum, der Herrscher von Dubai, erspähte während eines Helikopterfluges ungewöhnliche dunkle Schattierungen im Wüstensand. Wie Wissenschaftler kurze Zeit später analysierten, handelte es sich um Schlacke, ein Abfallprodukt von Schmelzöfen aus der Eisenzeit.   Sprecherin:Die umfangreichen Grabungsarbeiten förderten Tausende Metall-Objekte zu Tage, vor allem Waffen und Schmuck. Der Archäologe Dr. Mansour Boraik ist der Direktor des Saruq al Hadid-Museums, in dem die Exponate zu sehen sind: 0 13 Gold OV männl.:OV- männlich „Das war ein richtiges Industriegebiet für Metallarbeiten. Vor allem Waffen wurden hergestellt: Speerspitzen, Äxte, Pfeile. Daneben haben wir aber auch analysiert, dass hier Gold zu Schmuck verarbeitet wurde. Wir haben Goldkettchen gefunden, unbearbeitetes Gold, und auch Goldschmuck mit Perlen. Das Gold kam wohl aus Saudi-Arabien und Jemen und wurde hier bearbeitet.“ MUSIK Sprecher:Der Großteil der Fundstücke wird auf das Zeitfenster 1300 bis 800 vor Christus datiert. In den Öfen wurde Eisen geschmolzen, und aus Kupfer und Zink wurde Bronze hergestellt. Sprecherin:Für diese Prozesse sind Öfen notwendig, die auf über 1200 Grad heizen können. Für damalige Verhältnisse ein Kraftakt – mitten in der Wüste! Sprecher:Zwar gab es aufgrund höherer Niederschläge mehr Vegetation als heute, also mehr Bäume, etwa Akazien, trotzdem musste das Brenn-Holz für die Öfen aus einem weiten Gebiet zusammengetragen werden. Vermutlich holten die Arbeiter sogar aus dem Hajar-Gebirge brennbares Material. Sprecherin:Neben den industriell betriebenen Öfen waren aber auch Goldschmiede vor Ort. Das beweisen kunstvoll gestaltete Schmuckstücke, zum Beispiel Halsketten oder Armreife – besetzt mit wertvollen Steinen von weit her. Mansour Boraik: O 14 stones OV männl.:OV- männlich „Die Juwelen waren aus verschiedenen Edelsteinen und Halbedelsteinen gemacht: Amethysten, Achate, Karneole, Lapislazuli, Muscheln, Kristall, alles Mögliche. Das heißt, sie waren in Verbindung mit verschiedenen Handelsvölkern in Mesopotamien, Anatolien, im Industal oder Ägypten. Steine, Silber und Gold wurden weit gehandelt.“ Sprecher:So spektakulär die Funde in Saruq al Hadid waren, so rätselhaft sind die Hintergründe dieser eisenzeitlichen Industriestadt:  O 15 mysteries OV männl.:OV- männlich „Wir haben über 20.000 Objekte ausgegraben. Aber wir stehen immer noch vor vielen Rätseln. Wir wissen nicht, wer diese Menschen waren, wohin sie gegangen sind, warum sind sie verschwunden. Warum haben sie so viele Gegenstände hier zurückgelassen? Diese Geheimnisse müssen erst noch enträtselt werden.“TC 11:43 – Das Allrounder-Dromedar ATMO 08 Kamel + ATMO Wüste Sprecherin:In der Übergangsphase von der Bronze- zur Eisenzeit ist auf der Arabischen Halbinsel etwas geschehen, was die gesamte Region massiv verändert hat: Die Menschen erkannten, dass die einheimischen einhöckrigen Kamele, also Dromedare, als Reit- und Tragetiere benutzt werden können. Für Christian Velde war das ein Quantensprung: 0 16 Domestizierung:„Plötzlich haben die Menschen angefangen zu überlegen: Wir fangen die ein, packen sie in einen Pferch und haben unsere Fleischvorräte direkt bei der Hand. Damit fängt die Domestizierung des Kamels an, um 1500, wahrscheinlich als Fleischlieferant. Bis man dann entdeckt hat, die Viecher eignen sich hervorragend, um sie mit Gütern zu bepacken und durch die Gegend wandern zu lassen, weil sie ewig lange ohne oder mit sehr wenig Wasser auskommen. Und dann zweitrangig mit der Domestizierung und Nahrungsmittel-Fleisch-Lieferant Nummer 1 hat man gesehen: Mensch, das sind unsere Lasttiere!“ Sprecher:Damit war der Handelsweg zu Land nach Süden, Norden und Westen frei: 0 17 Wüste:„Und plötzlich ist die Wüste, die immer eine Trennung war – plötzlich konnte man die Wüste durchqueren mit diesen Kamelen. Und plötzlich, das sieht man im ersten Jahrtausend, fangen Handelskontakte mit Jemen an oder mit anderen Teilen der Arabischen Halbinsel weiter im Norden. Weil die weiten Strecken, die man durch den Sand durchgehen muss, mit sehr wenigen Wasserquellen, kann man jetzt überwinden. Das Kamel also, erst als Fleischlieferant und dann als das Lasttier, hat die Arabische Halbinsel in der Eisenzeit, also im ersten Jahrtausend v.Chr. sehr verändert.“ MUSIK Sprecherin:Mit den Karawanen fingen Menschen an zu wandern. Beduinen, also Nomaden, die vorher nur in gebirgsnahen Gegenden mit Wasserquellen unterwegs waren, konnten jetzt weite Handlungsreisen unternehmen. Sprecher:Die Königreiche im südlichen Arabien, wie die der Sabäer und Minäer, konnten ihre Waren auf dem Kamelrücken über die ganze Halbinsel bis nach Palästina, Syrien und zum Mittelmeer transportieren. Bekanntestes Beispiel ist die Weihrauch-Route: ATMO WüsteTC 14:03 – Auf der Weihrauchroute O 18 Weihrauch: „Mit der Entwicklung des Kamels und der Karawanenwege wurde dieses Produkt ein Verkaufsschlager Jemens in der gesamten mediterranen Welt, aber auch hier im Golf und der Arabischen Welt. Sprecherin:Die Karawanen funktionierten ähnlich wie heute Aktiengesellschaften. Kleine Händler konnten sich mit ihren Produkten einkaufen und auf einen großen Gewinn beim Weiterverkauf hoffen. Bezahlt wurde zunächst mit Gold und Silber, bis sich die ersten Münzen etablierten: O 19 Münzen:„Es hat sogar in dieser Zeit tatsächlich zum ersten Mal in diesem Bereich das Prägen von Münzen gegeben. Man hat Münzen aus dieser Zeit, man hat sogar eine Prägeform oder Gießform für Münzen gefunden. Das ist also die Zeit eines Beduinenreichs und diese Beduinen haben alle vom Handel gelebt, der Handel war der Kern dieses Beduinenreichs.“ Sprecher:Die Zeit von 300 vor bis 300 nach Christus war die Ära der Beduinenreiche an der Golfküste. ATMO Meeresbrandung Sprecherin:Da die Technik der Bootsbauer voranschritt und die Schiffe immer weiter segeln konnten, entwickelte sich ein wahrer Fernhandel. Die frühesten Seefahrer konnten mit ihren Schilfbooten nur überschaubare Distanzen zurücklegen. Sprecher:Die für den Arabisch-Persischen Golf typischen Holz-Dhaus kamen dann bis nach Indien und China. ATMO 10 Werft 1 + ATMO 11 Werft 2 Sprecherin:Dhaus, wie sie in der Werft von Abdullah Mansouri in Ras al Khaimah noch heute fabriziert werden: 0 20 Bootsbauer OV männl.:OV- männlich „Mein Großvater und mein Vater haben auch schon Dhaus gebaut. Sie haben es mir beigebracht, als ich 13 Jahre war. Seitdem bin ich jeden Werk-Tag hier in der Werft. Wir verwenden ausschließlich Holz, was Anderes kommt für mich nicht in Frage. Die Inspiration für die Boote hole ich mir aus alten Büchern.“ ATMO 11 Werft 2 + ATMO 12 Werft 3 Sprecher:Gewürze aus Indien, Keramik aus China, Silber aus Anatolien, Marmor aus Ägypten, Weihrauch aus Jemen - wo heute Dubai, Katar, Bahrain oder Ras al Khaimah globale Handelszentren bilden, waren auch in den Jahrhunderten vor unserer Zeitenwende schon Verkehrs-Knotenpunkte. O 22 Händler:„Es war sowohl in der islamischen als auch in der vorislamischen Zeit immer ein Handelsmittelpunkt- und Schwerpunkt und Händler ziehen immer andere Religionen, andere Sprachen an, also es dürfte hier immer multikulturell gewesen sein, auch im dritten und zweiten Jahrtausend v.Chr. und in den späteren Perioden auch. Händler sind immer offen, Händler nehmen alles auf, sind tolerant gegenüber allen Religionen, Völkern, Kulturen. Denn das Wichtigste ist für sie, Geld und Handel zu machen und nicht, irgendwelche Ideologien zu verbreiten.“ MUSIKTC 16:57 – Die Macht der Perlen Sprecherin:Das wertvollste Handelsgut, das Ras al Khaimah zu bieten hatte, waren: Perlen. In den von Mangroven gebildeten sandigen Lagunen entlang der Küste haben Austernmuscheln ideale Lebensbedingungen. Sprecher:Früher mussten Perlentaucher ohne technische Hilfsmittel auf mühsame und lebensgefährliche Art und Weise am Meeresboden nach den Muscheln suchen. Im 20. Jahrhundert ist die Zucht von Perlenaustern aufgebaut worden.  Sprecherin:Die älteste Austern-Perle wurde in Abu Dhabi an einer Halskette als Grabbeilage einer Frau aus der Jungsteinzeit gefunden. Auch im Gilgamensch-Epos aus dem dritten Jahrtausend vor Christus werden Perlen erwähnt. Und der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere lobte die Perlen aus dem Arabisch-Persischen Golf als die feinsten der Welt. ATMO 13 Perlen Sprecher:Abdulla Rashed Al Suwaidi (sprich: Su-wa-i-di) betreibt in einer der Lagunen in Ras al Khaimah eine Perlausternfarm und demonstriert dort, wie die Perlen aus den scharfkantigen Muscheln gelöst werden. O 23 pearls OV männl.:OV- männlich „Wenn man wilde Austernmuscheln vom Meeresboden aufpickt, findet man in einer von 100 Muscheln eine Natur-Perle. Also etwa eine Quote von einem Prozent. Wenn man also 1000 öffnet, hat man zehn und davon sollte zumindest eine so groß und wertvoll sein, um die Ausgaben dafür zu begleichen. Es ist kein einfacher Job!“ ATMO 13 Perlen Sprecherin:Die weißen Naturperlen landeten und landen bis heute in Kronen, Zeptern oder kostbaren Schmuckstücken. O 24 power OV männl.:OV- männlich „Wer hat Perlen getragen? Könige, Sultane, Prinzen, Maharadschas, Kaiser, begehrten Perlen. Egal ob im alten Persien, in Indien, in China. Warum waren sie so angetan von Perlen? Weil sie Symbole sind für Geld und Vermögen und daraus resultiert: Macht. Perlen zeigten also ihre Macht!“TC 19:06 – Äußere Einflüsse ATMO Meeresbrandung Sprecher:Durch die Erreichbarkeit und die Handelsaktivitäten wurde die Arabische Golfküste, die bis dato nahezu unbehelligt von Feinden war, für andere Völker attraktiv. MUSIK Sprecherin:Im vierten Jahrhundert vor Christus versuchte Alexander der Große, Fuß zu fassen an der Küste, starb allerdings auf dem Weg ins südliche Arabien in Babylon. Einer seiner Feldherren schaffte es bis zum nordwestlichen Ufer des Golfes. Erst Alexanders Nachfolger, die Seleukiden, konnten ihr Reich bis zu den heutigen Arabischen Emiraten ausweiten, wurden aber schon im zweiten Jahrhundert vor der Zeitenwende von den Parthern abgelöst. Sprecher:Mit den verschiedenen Völkern kamen immer auch unterschiedliche Religionen an die Golfküste. Einige der lokalen Gottheiten waren über die Grenzen bekannt und wurden Jahrhunderte lang verehrt. Etwa die Göttinnen Allat und Aluzza, die von Gläubigen in Mekka genauso angebetet wurden wie im nabatäischen Petra. Es existierten auch jüdische Gemeinden auf der Arabischen Halbinsel und später kamen christliche Gruppierungen dazu: O 25 Christen:„Man darf nicht vergessen, dass die Arabische Halbinsel vor der Islamisierung sehr stark christianisiert war. Es gab viele christliche arabische Stämme in allen Teilen Arabiens. Es gab auch jüdische Stämme, der Jemen war zwischendurch ein jüdisches Königtum. Und man weiß inzwischen auch, dass es Christen hier an der Küste gegeben hat, gerade vor kurzer Zeit ist eine Kirchenanlage, vielleicht ein Kloster, vielleicht eine Kirche und Kloster gleichzeitig, ausgegraben worden, eine sensationelle Neuentdeckung! 5. bis 7. Jahrhundert. Sehr wahrscheinlich sind das alles nestorianische Christen.“ ATMO 15 Strandfußball Sprecherin:An Stränden wie dem in Ras al Khaimah, wo heute Kinder Fußball spielen, landeten um 300 nach Christus persische Streitkräfte und setzten sich für mehrere Jahrhunderte fest: O 26 Sassaniden:„Die Sassaniden, die letzte große vorislamische Dynastie Persiens, die auch Mesopotamien beherrscht hat, die etwa genauso groß und mächtig gewesen sind wie die Römer. Und die haben vom 4./5. Jahrhundert an auch diese Seite des Golfes dominiert, sind mit ihren Schiffen und Truppen rübergekommen. Wir haben z.B. sassanidenzeitliche Überreste gefunden von einer größeren Gebäudestruktur, die eventuell ein Verwaltungsgebäude dargestellt hat. Denn wir wissen, dass die Sassaniden hier saßen und versucht haben, den Oman zu erobern. Das Ganze ist dann relativ abrupt zu Ende gekommen mit dem Beginn des Islam.“ MUSIK Sprecher:Im siebten Jahrhundert schließlich bewegten sich muslimische Truppen von Medina und Mekka aus über die gesamte Arabische Halbinsel. Auch an der Golfküste übernahmen sie die Macht von den Sassaniden – der Beginn einer neuen Zeitrechnung. MUSIK hoch und aus TC 22:20 - Outro
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Apr 15, 2024 • 23min

ALTES ARABIEN - Als Spanien arabisch war

Fast 800 Jahre lang herrschten auf der Iberischen Halbinsel arabische Fürsten, Emire, Kalifen. Diese Epoche wird Al Andalus genannt. Al Andalus war eine Glanzzeit für Kultur und Naturwissenschaften. Aber nicht nur das: Christen, Juden und Muslime lebten in dieser Epoche lange meist friedlich mit- und nebeneinander. Aber ab dem 12. Jahrhundert kam es zu immer mehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2013) Credits Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Martin Trauner Es sprachen: Alex Wostry, Friedrich Schloffer, Katja Schild Technik: Christiane Gerheuser-Kamp, Michael Zöllner Redaktion: Brigitte Reimer Im Interview: Isabel Martínez-Richter, Prof. Juan Pedro Monferrer-Sala, Georg Bossong, Antonia Alcántara Luque, Carlos López-Obrero, Manuel Vinuelas, Daniel Grammatico, Sebastián de la ObraEine besondere Link-Empfehlung der Redaktion:SWR (2024): Geisterjäger Gibt es das Unerklärliche wirklich? Hans Bender ist der größte Geisterjäger der deutschen Geschichte. Mehr als drei Jahrzehnte lang reist der Parapsychologe als Experte für Unerklärliches durch die Republik und untersucht ein merkwürdiges Phänomen nach dem anderen. Bender ist überzeugt: Spuk, PSI-Kräfte, Hellsehen und Telekinese sind echt. Angeblich hat er das sogar bewiesen. Aber kann das wirklich sein? Die Psychologie-Podcasterin Verena Fiebiger geht zusammen mit ihrem Team auf Spurensuche in der Welt des Paranormalen. HIER GEHT’S ZUM PODCAST Linktipps: SWR Kultur (2022): Al-Andalus heute – Spanien muslimisches  Erbe Bis 1492 stand Andalusien unter muslimischem Einfluss. Heute vermarktet die Region rund um Granada und Cordoba ihr arabisches Erbe, marokkanische Einwanderer verdienen Geld mit orientalischen Souvenirs und Teestuben für Touristen. Nicht alle finden das gut, manche sprechen von einer schleichenden erneuten Eroberung. Denn heute ist den meisten Spanierinnen und Spaniern die arabische Kultur fremd, die 800 Jahre lang auch ihre war. Immerhin: Die junge Generation hat mit der Rückbesinnung auf die muslimische Vergangenheit begonnen. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2022): Mit der Aufhebung des „Alhambra-Edikts“ endete offiziell die Verbannung der JudenAm 1. April 1992 widerrief der spanische König Juan Carlos das „Edikt von Alhambra“ – mit ihm waren genau 500 Jahre zuvor im Zuge der Reconquista die sephardischen Juden aus Spanien verbannt worden. De facto galt das Edikt zwar schon seit 1869 nicht mehr, aber für die Juden war es eine historische Wiedergutmachung. Zum Beitrag geht es HIER Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 02:00 – Wie eins zum anderen kamTC 04:44 – Die Kunst der SpracheTC 07:16 – Florierendes HandwerkTC 11:47 – Ein tragisches EndeTC 15:40 – Die Leidenszeit der jüdischen GemeindeTC 17:28 – Drei Religionen und eine StadtTC 21:41 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro ATMO 1 Glocken MUSIK Zusp. 1 Moschee-Kathedrale:„Es ist, denke ich, eines der faszinierendsten Bauwerke der Geschichte. So was gibt es sonst nirgends. Wir haben diesen neuen Namen Moschee-Kathedrale geprägt, der etwas verwirrend ist. Der Bischof ist damit überhaupt nicht einverstanden. 80 Prozent dieses Gebäudes sehen noch immer aus wie Moschee. 20 Prozent des Gebäudes wurden im frühen 16. Jahrhundert zerstört, um inmitten dieser Gebetshalle der Muslime eine Kirche zu verankern. Das gesamte Gebäude wurde geweiht mit dem Datum der Reconquista schon 1236 und ist entsprechend hochheiliges Gotteshaus.“ MUSIK  UND ATMO ENDE ATMO 2 Kathedrale Gesang Erzähler:Córdoba: Die Kunsthistorikerin Isabel Martínez-Richter steht in der Mezquita Catedral und blickt hoch zum Gewölbe. Islamische Hufeisenbögen, die auf über 800 Säulen ruhen, unterteilen den riesigen Gebetssaal in 19 Seitenschiffe. Die Moschee-Kathedrale ist einer der größten Sakralbauten weltweit. Wie ein notgelandetes Ufo haben die christlichen Herrscher im 16. Jahrhundert ein Kirchenschiff mitten in die Moschee gepflanzt - Rache der katholischen Könige an den Muslimen, die in den vier Jahrhunderten zuvor Córdoba dominiert hatten. Noch heute ist die Moschee-Kathedrale ein Symbol für das Mit- bzw. Gegeneinander von Muslimen und Christen in Spanien. ATMO ENDE Erzähler:Maurische Einwanderer hatten im Jahr 785 auf dem Fundament einer westgotischen Kapelle ihre Moschee errichtet. Der Bauherr war Abd ar-Rahman I., ein Emir, der für die erste Glanzzeit der Araber in Andalusien steht. Die Moschee von Córdoba wurde rasch zu einer der wichtigsten islamischen Gebetsstätten in der westlichen Welt. MUSIK TC 02:00 – Wie eins zum anderen kam Erzähler:74 Jahre zuvor - 711 - war ein Invasionsheer von Arabern und Berbern in der Nähe des heutigen Gibraltar gelandet, angeführt hatte es Tariq ibn Ziyad, im Auftrag des Kalifen von Damaskus. Ohne besondere Mühe besiegte es die Truppen des Westgoten-Königs Roderich. Es folgte ein siebenjähriger Feldzug, an dessen Ende die Iberische Halbinsel fast komplett arabisch besetzt war. Juan Pedro Monferrer-Sala, Professor für Arabistik und Islamwissenschaften an der Universität von Córdoba: MUSIK ENDE Zusp. 2 Prof. ocupacion: VOICEOVER (männlich)„Als die islamischen Truppen ankommen, ist die Iberische Halbinsel militärisch ziemlich desorganisiert. Es gibt keine Staatsgewalt. Als die Berber-Soldaten an Land gehen, ist der Weg frei für sie. Sie treffen auf keinerlei Hindernisse. Insofern muss man von einer Besetzung sprechen und nicht von einer militärischen Eroberung.“ Erzähler:Eine wichtige Voraussetzung: Die vielen jüdischen Bewohner waren von den Westgoten schlecht behandelt worden. Für sie konnte die Lage nur besser werden, zumal sie in Bagdad, Damaskus oder Kairo gute Erfahrungen mit den Muslimen gemacht hatten. Also öffneten sie den Mauren Tor und Tür. So begann die fast 800 Jahre dauernde Epoche al-Andalus: 929 ernannte sich Abd ar-Rahman III. zum Kalifen und damit zum direkten Nachfolger des Propheten Mohamed. Aus dem Emirat Córdoba wurde ein Kalifat, das auf einer Stufe mit den Kalifaten in Bagdad und Kairo stand. Córdoba war auf dem Weg, die wichtigste und auch modernste Stadt Europas zu werden. MUSIK 3 – Suhail Ensemble Erzähler:Der orientalische Palast des Kalifen hatte weit angelegte Säulengänge, Innenhöfe, Kuppeldächer, Gartenanlagen. Auf teuren Marmorböden lagen kostbare Seidenteppiche; Diwane und andere Möbel waren aus edelsten Hölzern, man dinierte auf kunstvoller Keramik, trank aus feinem Glas, die Luft war erfüllt von exotischen Düften. Insgesamt lebten 6000 Frauen am Hof: Haremsdamen, Dichtersklavinnen, Tänzerinnen, Köchinnen. Sie waren in eigenen Häusern für Bedienstete untergebracht. Der Hofstaat, also die Fürsten, ihre bis zu vier Ehefrauen, die Kinder, die engsten Vertrauten, Berater und Gäste bewegten sich mit handbetriebenen Aufzügen, damit die feinen Damen und Herren nicht Treppensteigen mussten. In Schreibstuben wurden wissenschaftliche, religiöse und literarische Werke aus diversen Sprachen für die Bibliothek des Kalifen übersetzt und kopiert: MUSIK ENDETC 04:44 – Die Kunst der Sprache Zusp. 3 Sprache:„Dabei muss man sich vor Augen führen, dass das Vordringen des Islam, die Ausbreitung des Islam ganz wesentlich ein Sprachereignis war. Das heißt: Der Koran ist nicht nur etwas, das man mit dem Kopf aufnimmt als Inhalt, sondern eben auch ein gewaltiges Sprach¬kunstwerk von einem überwältigenden Klang und das hat die Menschen überall in Bann gezogen. Insofern kam es in dieser ersten Zeit zu einem Nebeneinander nicht nur der drei Religionen, sondern auch der Sprachen, der jeweiligen Sprachen, und das Arabische spielt dabei eine beherrschende Rolle.“ Erzähler:Der Sprachwissenschaftler Georg Bossong von der Universität Zürich hat mehrere Abhandlungen über al-Andalus veröffentlicht. Besonders fasziniert ist er vom intellektuellen Austausch, der damals stattfand: Zusp. 4 Übersetzer:„Wir haben ja heute die Tendenz, eine strikte Trennung zwischen Orient und Okzident zu ziehen. Das Mittelmeer als eine Scheidelinie. Das war ja in der Antike überhaupt nicht der Fall. Ägypten gehörte genauso zum Römischen Reich wie Tunesien. Das war das Mare Nostrum auf dem Südufer genauso wie auf dem Nordufer. Und es war eine der vornehmsten Aufgaben der frühen Kalifen, die Quellen der griechischen Weisheit ins Arabische zu übersetzen. Diese Fülle der antiken Wissenschaft und Philosophie ist dann via al-Andalus nach Europa weitergegeben worden.“ Erzähler:Historische Quellen sprechen von 400.000 Büchern in der Bibliothek von Córdoba - es war vermutlich die umfangreichste Sammlung der Zeit. Die Stadt am Guadalquivir war Europas Kultur-Hauptstadt. Sogar bürokratische Mitteilungen oder buchhalterische Aufstellungen aus dem neunten und zehnten Jahrhundert waren hin und wieder in Versform geschrieben. Beamte mussten zum Teil in Reimen Bericht erstatten. Talentierte Poeten wurden mit Minister-Ämtern belohnt. Einer der berühmtesten Hof-Poeten, Ibn al-Chatib, dichtete so blumig, dass er seinen Zuhörern ein Wörterbuch mitbrachte, damit sie ihn verstanden. Zusp. 5 Sprachkunst:„Man kann sich das eigentlich in unseren Breiten kaum vorstellen, wie sprach-begeistert, ja, ich möchte sagen sprachverrückt die Araber sind oder sein können oder in der Vergangenheit immer waren. Sprachliche Schönheit ist etwas, was die Menschen so verzückt hat, dass es Anekdoten gibt, dass sie vor lauter Begeisterung über diese Schönheit einfach gestorben sind. Sie hat quasi der Schlag getroffen.“ MUSIK TC 07:16 – Florierendes Handwerk ATMO 4 Straße Erzähler:Die Bewohner sprachen Arabisch, Hebräisch, Koptisch, Aramäisch, Persisch, Romanisch-Spanisch, Latein. In einer Zeit, in der London oder Paris noch Dörfer waren, wohnten in Córdoba 200.000 Menschen. Als erste europäische Stadt hatte es gepflasterte Straßen mit Laternen, 300 Moscheen sind bekannt, 50 Krankenhäuser, Hunderte öffentlicher Bäder. Neben Hygiene und Poesie brachten die Araber Vieles auf die Iberische Halbinsel, was den Lebensstil der Einheimischen deutlich verfeinerte: Papier, Seide, Keramik, Schmiede- und Glaskunst sowie eine spezielle Lederwarenherstellung. Der Lederhandwerker Carlos López-Obrero aus Cordoba: Zusp. 7 Leder:VOICEOVER (männlich)„In Córdoba geht die Lederverarbeitung auf die arabische Zeit zurück: Truhen, Koffer, Schatullen, Wandbehänge, alles aus Pferde-Leder. Der Córdoba-Stil ist wegen seiner einzigartigen Gerb-Technik berühmt geworden. Nur hier wurde das Leder mit dem Sumach-Pflanzensaft gegerbt. Das macht das Leder besonders weich. So entstand der Begriff „cordovan-Leder“!“ MUSIK ATMO 8 Alhambra Springbrunnen Erzähler:Die Mauren brachten ausgeklügelte Bewässerungssysteme ins trockene Andalusien und ließen die Liebe zur Gartenkunst aufblühen. Granada entwickelte sich zu einer Gartenstadt, deren eindringlichster Ort die Alhambra mit ihren weiten Parkanlagen ist. Die Burg erstreckt sich über eine Bergkette, umfasst Dutzende von kunstvoll verzierten Gebäuden. Zur Hochzeit der Sultane von Granada galt die Alhambra als „Irdisches Paradies“. Ein Traum aus 1001 Nacht - aus Marmor, Alabaster, aus Zedern- und Ebenholz, vor der imposanten Kulisse der schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada. Daniel Grammatico schreibt als Architektur-Journalist viel über die Bauwerke aus der al-Andalus-Zeit. Er deutet auf gut erhaltene arabische Schriftzüge an der Wand in einem der Alhambra-Säle: MUSIK Zusp. 9 Alhambra Sternenhimmel: VOICEOVER (männlich)„Für mich ist das die luxuriöseste Poesie, die jemals veröffentlicht wurde … (rezitiert auf Arabisch) … das hier bedeutet: Besucher, bewundert diesen Palast, schaut diese Kuppel über euch an, in diesem Thronsaal, der in einem Turm untergebracht ist! Jedes Stück Holz bildet einen Stern und alle zusammen das Firmament. Und wir sind die Töchter, die kleinen Kuppeln!“ Erzähler:Tausende von blauen Mosaiksteinchen und vergoldeten Holzplättchen zierten einst die Decken der Alhambra. Viele sind wunderbar erhalten bzw. restauriert. Ibn Zamrak, ein Hofdichter, schwärmte im 14. Jahrhundert: „Die Sterne selbst sehnen sich danach, in ihr zu verweilen, anstatt am Himmel endlos zu kreisen!“ MUSIK ZU ENDEATMO 8 Alhambra Springbrunnen Zusp. 10 Alhambra naturalezza:VOICEOVER (männlich) „Diese Architektur manifestiert sich mit drei Stoffen: nicht mit den wertvollen Keramiken, nicht mit dem teuren Marmor, nicht mit den edlen Hölzern, sondern mit: Licht, Wasser und Natürlichkeit. Die Natur und die Natürlichkeit sind existentiell für alle Häuser und die Innenhöfe in al-Andalus. Das Haus verwandelt sich quasi in einen Garten.“ MUSIK Erzähler:Lustgärten mit Pavillons, Terrassen mit Blick auf die Stadt und die Berge, Bassins, kleine Kanäle, Springbrunnen umschmeicheln die Alhambra. Das Wasser wird aus den umliegenden Bergen zur Burg und weiter in die Wohnviertel geleitet. Trotz der langen trockenen Sommer blüht es überall: MUSIK Zusp. 11 Alhambra Wasser:VOICEOVER (männlich) „Wasser ist Leben, Wasser schläft nie. Die Araber kamen mit hochentwickelter Hydraulik; was sie hier gemacht haben ist eine grüne Revolution. Mit Hilfe von Bewässerungssystemen und Kanälen. Sie nutzten das Wasser für das Hamam, für die Hygiene, aber auch für die berühmten Gärten, die sie hier zu Füßen des Alhambra-Hügels kultiviert haben.“TC 11:47 – Ein tragisches Ende ATMO 10 Trompeten Erzähler:Die Alhambra war auch der Ort, an dem die Epoche al-Andalus theatralisch zu Ende ging: Der letzte arabische Herrscher Boabdil musste 1492 mit seinem Tross die Burg verlassen, da christliche Truppen in Überzahl vor den Toren standen. Nachdem Boabdil mit den Seinen die Alhambra verlassen hatte, soll seine Mutter gesagt haben: „Weine nicht wie ein Weib, da du als Mann die Burg nicht verteidigen konntest!“ Boabdils Seufzer auf dem letzten Hügel, von dem aus die Alhambra zu sehen ist, gab dieser Stelle den bis heute gebräuchlichen Namen „El suspiro del moro“, der Seufzer des Mauren. MUSIK Erzähler:Wie war es dazu gekommen? Das Reich der Mauren auf der Iberischen Halbinsel war nie vereint. Es bestand all die Jahrhunderte aus Emiraten, Fürstentümern sowie dem großen Kalifat Córdoba. Waren unfähige arabische Herrscher an der Macht, zerfielen die Reiche. Außerdem versuchten christliche Heere immer wieder, Territorien zurückzugewinnen. Im 11. Jahrhundert war Andalusien in Dutzende Taifas - autonome Fürstentümer - zerstückelt. Womöglich lenkte ihre Prunk- und Genusssucht die muslimischen Herrscher vom Regieren ab. MUSIK & ATMO 11 Trommeln Erzähler:Der katholische König Ferdinand I. entwickelte besonders viel Energie im Kampf gegen die Mauren: 1064 eroberte er mit Unterstützung der päpstlichen Heere die symbolträchtige Festung Barbastro zurück. Tausende arabische Soldaten wurden getötet, 1500 junge Frauen versklavt. Erzähler:Mittelalter bedeutete für al-Andalus: Raubzüge, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Entführungen. Soldaten wurden zu Legenden, wie der „Cid“, eigentlich Rodrigo Diaz de Vivar, berühmtester Ritter und erfolgreichster Feldheer der Epoche. Immer wieder wechselte er die Seiten, verdingte sich als Söldner mal für christliche Könige, mal für muslimische Fürsten: MUSIK & ATMO 11 Trommeln Zusp. 12 Prof. cid:VOICEOVER (männlich) „This is business würde man heute sagen: Der Cid muss wirtschaftlich überleben, er muss sein Geschäft vorantreiben. Er wird immer wieder an und über die Grenzen seines Landes gedrängt, was typisch ist für diese Zeit: Die Menschen wechseln ihre Kultur, ihre Zugehörigkeit, je nachdem, wo sie gerade am besten ihr Auskommen finden. So war auch der Cid mal auf der einen, mal auf der anderen Seite.“ Erzähler:Christliche Heere aus den nördlichen Provinzen Galizien, Asturien und Kantabrien, aus dem Baskenland und aus Portugal rückten im 11. Jahrhundert nach Süden vor. Die muslimischen Taifa-Könige, wie der Dichterkönig Al Mutamid von Sevilla, konnten ihre Provinzreiche nicht alleine verteidigen und riefen strenggläubige Berber-Krieger aus Nordafrika zu Hilfe: die berüchtigten Almoraviden, denen später die ebenso orthodoxen Almohaden folgten. Diese Kriegermönche besiegten die katholischen Armeen, wandten sich aber danach gegen die maurischen Klein-Könige selbst, deren dekadenten Lebensstil sie verabscheuten. Der Sprachwissenschaftler Georg Bossong von der Universität Zürich: Zusp. 13 Lotterleben: „Es ist allerdings so, dass dieses „Lotterleben“ in al-Andalus, dieses schöne Leben ein jähes Ende fand, als Ende des elften Jahrhunderts auf der einen Seite die Christen Toledo erobert haben, denn die hatten für dieses Lotterleben im Süden auch nichts übrig, und auf der anderen Seite dann eben die Taifa-Könige, diese kleinen Königreiche, die kampferprobten und rauen Krieger aus Afrika, die Almoraviden, um Hilfe gebeten haben. Und diese Almoraviden, die kamen dann, aber die Geister, die man rief, wurde man dann nicht mehr los.“TC 15:40 – Die Leidenszeit der jüdischen Gemeinde Erzähler:Die Dekadenz hatte ein Ende, der Glanz an den Höfen, aber auch die Toleranz zwischen den unterschiedlichen Konfessionen. 1128 erließen die Almoraviden eine Fatwa: Die Juden wurden ausgewiesen! Es begann die lange Leidenszeit der großen jüdischen Gemeinde in Andalusien. Sebastián de la Obra ist der Direktor des Sephardischen Hauses, eines jüdischen Museums in Córdoba: Zusp. 14 persecuciones:VOICEOVER (männlich) „Judenverfolgungen gab es in der Römischen Zeit, unter den Westgoten, während der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden, aber vor allem mit dem Beginn der spanischen Inquisition. Dieser spezielle spanische Anti-Judaismus dauert bis zum 19. Jahrhundert und wird dann zu einem Teil des europäischen Antisemitismus.“ Erzähler:Synagogen wurden zerstört, Tribunale eingerichtet, Scheiterhaufen angezündet. Hunderttausende flohen. Von denen, die blieben, wurden viele ermordet. Für die grausame Inquisition entschuldigte sich erst Papst Johannes Paul II. 500 Jahre später in seiner Ansprache „Mea culpa“: Zusp. 15 judio memoria:VOICEOVER (männlich) „Das christliche Erbe in Südspanien ist immens. Das maurische Erbe ist wunderschön und einzigartig. Das jüdische Erbe dagegen ist unsichtbar. Das Erbe der jüdischen Diaspora steckt in den Köpfen der Menschen, in ihrer kulturellen Entwicklung. Wenn die Leute fragen: Was ist denn von den Juden noch zu sehen, muss man antworten: Die Kultur der Juden findet sich nicht in Bauwerken und Steinen, sondern in Erinnerungen.“ MUSIK TC 17:28 – Drei Religionen und eine Stadt Erzähler:Ab dem 13. Jahrhundert ging al-Andalus seinem Ende entgegen. Den Berberkriegern fehlten das bürokratische und das diplomatische Geschick, um ein europäisches Reich zu beherrschen, aber auch die Unterstützung im Volk. Die christlichen Heere rückten immer weiter vor, gewannen eine Schlacht nach der anderen. Am 2. Januar 1492 wurde auf der Alhambra der Halbmond durch ein großes silbernes Kreuz ersetzt. Die letzte arabische Bastion auf spanischem Boden war gefallen. Die Eroberer, die so genannten „Katholischen Könige“, ließen sich als Befreier Europas feiern: Zusp. 16 Granada capilla terminar:VOICEOVER (männlich) „Das war eine dynastische Hochzeit zwischen Isabella, der Königin von Kastilien, die sie auch Isabella die Katholische nannten, und Ferdinand, dem König von Aragon. Sie vereinten ihre Kräfte und beschlossen, die Präsenz der Muslime hier zu beenden. Sie besiegelten das Ende der knapp 800 Jahre al-Andalus in Granada.Wir sind jetzt in der Königlichen Kapelle, wo die „Reyes católicos“ beerdigt sind. Zehn Jahre lang dauerte ihr Kampf, oder besser ihr Kreuzzug gegen die Araber. Granada war die letzte muslimische Bastion. Der letzte arabische Herrscher, der berühmte Boabdil, wurde aus der Stadt vertrieben und übergab symbolisch beim Hinausreiten aus dem Haupttor den Schlüssel zur Stadt.“ Erzähler:1492 ist auch das Jahr, in dem der genueser Seemann in spanischen Diensten Christoph Kolumbus nach Amerika segelte. Spanien war auf dem Weg zur Weltmacht. Über die „reconquista“, die Rückeroberung durch die Christen, streiten spanische Historiker noch heute: Zusp. 17 Identität: (Bossong)„Es gab und es gibt in Spanien eine Auseinandersetzung über die historische Bedeutung dieser muslimischen Geschichts-Epoche. Es gibt auf der einen Seite ein Lager von Konservativen, die der Auffassung sind, das war ein fremdes Element, das von außen gekommen ist und das nie in Spanien heimisch wurde; und die eigentliche Essenz des Spaniertums ist römisch, katholisch, christlich. Auf der anderen Seite gibt es Historiker, die der Auffassung sind, dass das semitische Element, und zwar sowohl das arabischsprachige als auch das hebräischsprachige jüdische Element, zum spanischen Nationalcharakter unauflöslich dazugehören.“ Erzähler:Nirgendwo sonst lebten Muslime, Christen und Juden so eng zusammen, hatten so intensive Beziehungen. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Gewalt, dennoch einigermaßen gleichberechtigt. Das lange Zeit friedliche Zusammenleben, die „convivencia“ war keine Utopie, sondern vorübergehende Realität. Zusp. 18 Prof. tolerancia:VOICEOVER (männlich)„Sie leben gemeinsam, aber jeder in seinem Viertel. Wir wissen von jüdischen, christlichen und muslimischen Stadtteilen. Kontakte bestehen durchaus: auf dem Markt oder auf dem Stadtplatz. Man trifft sich, aber bei der Religionsausübung bleibt man unter sich, die Andersgläubigen müssen draußen bleiben! Toleranz ist deshalb der falsche Ausdruck, denn Toleranz bedeutet auch religiöse Freiheit und die existiert hier erst im 19. Jahrhundert.“ MUSIK Erzähler:Auch wenn al-Andalus kein Paradies auf Erden war, die Epoche brachte weitreichende Veränderungen in Politik, Kultur, Wissenschaft und Religion mit sich. Für viele Historiker wie Professor Bossong bleibt die maurische Ära im westlichen Europa ein Vorbild: Zusp. 19 Konflikt:„Natürlich bin ich auch fasziniert von der aufscheinenden Möglichkeit, der aufscheinenden Chance eines friedlichen Zusammenlebens der drei monotheistischen Religionen, die sich leider meistens unversöhnlich gegenüberstehen. Das Zusammenleben von Muslimen und Juden kann Wunder hervorbringen, ihre Konfrontation führt zu den Konflikten, die wir alle kennen!“ MUSIK ENDETC 21:41 - Outro
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Mar 29, 2024 • 24min

ARKTIS - Der Polarforscher Fridtjof Nansen

Er ist einer der großen Polarforscher, doch das wird dem Leben von Fridtjof Nansen nicht einmal ansatzweise gerecht: Ende des 19. Jahrhunderts durchquert der Norweger als Erster das eisige Innere Grönlands, bald darauf gelingt ihm eine Expedition fast bis zum Nordpol. Später, während des ersten Weltkriegs, organisiert er umfangreiche Hilfen gegen die Hunger- und Flüchtlingskatastrophen. 1922 hilft er staatenlosen Flüchtlingen mit dem von ihm erdachten ?Nansen-Pass?. Von Sebastian Kirschner (BR 2020) Credits Autor: Sebastian Kirschner Regie: Eva Demmelhuber Es sprachen: Rahel Comtesse, Réne Dumont, Carsten Fabian, Christian Schuler Technik: Chris Schimmöller Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Carl Emil Vogt, Geir Klover Linktipps: Das Kalenderblatt  (2019): 05.07.1922 – Der „Nansen-Pass“ wird eingeführt Staatenlos, nirgendwo hingehören und auch nirgendwo bleiben können - für Flüchtlinge zu allen Zeiten ein Problem. Fridtjof Nansen löst es, indem er einen ganz besonderen Pass einführt. ZUM PODCAST Radiowissen (2022): Von Amundsen bis Hapag-Lloyd – Geschichte der Antarktis-Eroberung Die ersten Entdecker der Antarktis waren waghalsige Abenteurer, unter widrigsten Bedingungen und ohne aufwändige technische Hilfsmittel kämpften sie sich durch das unendliche Eis: Roald Amundsen, Robert Scott, Ernest Shakleton. Auf den frühen Expedition verloren viele ihr Leben, nur wenige konnten den Ruhm als Held und Entdecker tatsächlich genießen. Heute ist die Antarktis immer noch ein wüster Ort - aber längst kein leerer mehr. (BR 2011). JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:54 – Ein Mann, der auffälltTC 06:24 – 49 Tage WanderungTC 08:00 – Mindestens eine Portion EitelkeitTC 11:15 – Auf ins nächste AbenteuerTC 15:24 – Die zweite Karriere als DiplomatTC 19:30 – Zwischen Mentor und RivaleTC 22:53 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro SPRECHER/IN Als Fridtjof Nansen 1887 seine Pläne vorstellt, halten seine Kollegen ihn für verrückt. Die Idee des Norwegers klingt aberwitzig: Im Sommer des nächsten Jahres will er das eisige Grönland durchqueren. Niemand hat bisher diesen Weg geschafft. Keiner weiß, was die Insel im Inneren birgt – einer der letzten weißen Flecken der Landkarte.  Ein solches Risiko, nur um zu beweisen, dass Grönlandmit Eis bedeckt ist? ZITATOR 2„Sollte Nansens Plan in der gegenwärtigen Form in die Tat umgesetzt werden, […] stehen die Chancen zehn zu eins, dass er […] sein Leben und möglicherweise das anderer völlig sinnlos wegwirft“. SPRECHER/IN … urteilt damals die dänische Zeitschrift „Ny Jord“ über die Idee des Wissenschaftlers. Und das nicht ohne Grund, sagt Geir Klover [sprich Gaïr Klöwer]. Er ist Direktor des Nansen-Museums schlechthin: dem Fram Museum in Oslo, benannt nach dem späteren Forschungsschiff Nansens. 01_ZUSPIEL Geir KloverThere's quite a few that have attempted to cross Greenland before Nansen. And all of them had tried from the inhabitant West Coasts. And probably Greenland was steeper and colder and more difficult than they thought. So there it was quite easy for them to turn back. So Nansen thought his idea to cross Greenland was to go to the east coast to Greenland where there was no population and his ship left. And the only way to survive is to cross over to the west side. 01_ Voice-OverEtliche hatten vor Nansen versucht, Grönland zu durchqueren. Sie alle waren von der bewohnten Westküste aus gestartet. Wahrscheinlich aber war Grönland steiler, kälter und unwirtlicher als erwartet. Mit den Siedlungen im Rücken konnten sie aber recht einfach umkehren. Nansens hatte die Idee, von der Ostküste Grönlands aus zu starten, wo es keine Bevölkerung gibt. Und der einzige Weg zu überleben ist der durchs Landesinnere zur Westseite.TC 01:54 – Ein Mann, der auffällt SPRECHER/IN Fridtjof Nansen ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Der junge Mann fällt auf, wenn er durch die Straßen geht. Er trägt sogenannte Dr. Jäger-Gesundheitswäsche: eine Art frühe Funktionskleidung, schlicht, leicht, bestehend aus festen Wollhosen mit einer kurzen Jacke, zugeknöpft auf der rechten Körperhälfte. Und: Anders als die meisten Männer der Zeit ist er nahezu glatt rasiert und ohne Kopfbedeckung unterwegs. Noch als Student der Zoologie heuert er für ein fünfmonatiges Praktikum auf einem Robbenfänger an, um seine Abenteuerlust gegenüber den Eltern zu legitimieren – und findet so seine Bestimmung: ZITATOR 1Das Eismeer ist etwas für sich, nichts anderem vergleichbar und vor allem nicht dem, was man sich gern darunter vorstellt. Flaches, treibendes Eis in wogenden Schollen, bald grünlichblaue See, dann Nebel und Sonnenschein, Sturm und Stille. Das ist es, was ich fand. SPRECHER/IN … schreibt Nansen damals in sein Tagebuch. Als ihn der Drang zur Polarforschung packt, ist Nansen gerade dabei, sich erste wissenschaftliche Lorbeeren zu verdienen. Mit einer Doktorarbeit über das Zentralnervensystem wirbelloser Meerestiere wird er sich einen Namen machen – als Pionier in der noch jungen Disziplin der Neurologie. Nansens Abschlussprüfung für seine Dissertation liegt erst vier Tage zurück, als er am 2. Mai 1888 nach Grönland aufbricht. Und er konnte nur vermuten, was ihn und seine Mannschaft in den kommenden Monaten erwartet, sagt Geir Klover: 02_ZUSPIEL Geir KloverThere was no previous experience really in Norway for doing that type of expedition. So you had to use common sense. They barely made it you know almost starving. 02_ Voice-OverIn Norwegen gab es bis dahin keine wirklichen Erfahrungen mit derartigen Expeditionen. Man war auf gesunden Menschenverstand angewiesen. Beinahe verhungert haben sie es gerade so geschafft. SPRECHER/IN Dabei hat Nansen sich intensiv vorbereitet. In Expeditionsberichten hatte Nansen von den Strapazen seiner Vorgänger gelesen, Bilder gesehen, auf denen sich feine Herren mit Melonen auf dem Kopf und Gamaschen an den Füßen durch den Tiefschnee mühen. Der junge Forscher will planvoller vorgehen. Seine Mannschaft ist klein, aber wohl ausgesucht: ein Spezialistenteam von nur fünf Mann. Ein jeder zäh, ausdauernd und verlässlich. Nansen verwendet für seine Expedition eigens entworfenes Material, hat etwa spezielle Schlitten bauen lassen. MUSIK SPRECHER/IN Fast scheint es, als hätten schon seine Kindheit und Jugend Nansen auf diese Reise vorbereitet. Ihn prägt die ländliche Idylle seines Elternhauses nahe Kristiania. Der Sohn einer bürgerlichen Oberschichtfamilie liebt es zu fischen, zu jagen und tagelang durch die ausgedehnten Wälder zu streifen. Seine Mutter, eine geborene Baronesse Wedel-Jarlsberg, begeisterte den Jungen früh für Sport und die Natur, sagt der norwegische Historiker und Nansen-Biograf Carl Emil Vogt: 03_ZUSPIEL C.E. VogtShe loved nature, skiing etc. So I think that he had his very strong and independent character from his mother actually and his mother's family because his father was more of a pedantic correct Protestant, civil servant and lawyer. So I think the combination of the very protestantic ethos of the duty to do what you have to do etc. and the extremely independent and artistic and nature loving sentiments from his mother, I think that combination of them is very important actually. 03_ Voice-OverSie liebte die Natur, das Skifahren usw. Ich denke, dass er seinen starken und unabhängigen Charakter von seiner Mutter und ihrer Familie hatte. Sein Vater war mehr ein pedantischer, korrekter Protestant, Beamter und Anwalt. Also einerseits das sehr protestantische Pflichtbewusstsein, das zu tun, was zu tun ist, und andererseits die äußerst unabhängigen, künstlerischen und naturverbundenen Gefühle seiner Mutter: Ich glaube, dass diese Kombination sehr wichtig war. SPRECHER/IN Eigenschaften, auf die es in der Eiswüste Grönlands ankommt. Nansen will sein Ziel unbedingt erreichen, sein Motto lautet: die Westküste oder der Tod. Nach einer abenteuerlichen Odyssee auf Eisschollen entlang der Küste beginnt der Aufstieg über das bis zu 3200 Meter hohe Inlandeis. Auf dem Plateau reist die Expedition nachts. Dann ist es kälter, die Skier und Schlitten gleiten besser. Geschlafen wird tagsüber – jeweils zu dritt in einem Schlafsack. Das spart Gepäck. Am 8. September 1888 notiert Nansen in sein Tagebuch: ATMO WindgeheulTC 06:24 – 49 Tage Wanderung ZITATOR 1Der Weg ist unglaublich beschwerlich, schlimmer denn je, obwohl er hart ist; dieser Schnee ist widerspenstig wie Sand. Wir arbeiten gegen den Wind und Schneetreiben an. – Und weiter am 9. September: Es wurde im Laufe des Tages schlimmer mit dem Schneefall, und der Weg wurde schlechter und schlechter  SPRECHER/IN Hunger und entsetzlicher Durst plagen die Männer. Erst am 26. September erreichen sie die Westküste. 49 Tage Wanderung, 560 Kilometer und harte Entbehrungen liegen hinter ihnen. Zum ersten Mal ist der grönländische Eispanzer in Ost-West-Richtung bezwungen. Doch zurück nach Europa kommen sie vorerst nicht: Wegen des nahenden Winters fährt von Godthåb kein Schiff mehr ab. Einen Eilboten der Inuit kann Nansen noch beauftragen, mit dem Kajak 300 Kilometer nach Süden zu fahren, um dem letzten Transportschiff in Ivigtût ihre Erfolgsnachricht mitzugeben. Bis zum nächsten Frühjahr müssen sie bei den Inuit überwintern – aus Sicht von Geir Klover der eigentliche Erfolg der Expedition: 04_ZUSPIEL Geir KloverI think changed his mentality and also became more prepared for a future in exploring Polar Regions. It was the starkest initiation as a polar explorer. 04_ Voice-OverIch glaube, das hat in gewisser Weise seine Mentalität verändert, es hat ihn auf eine Zukunft in der Polarforschung vorbereitet. Das hat ihn auf seinem Weg zum Polarforscher wohl am stärksten geprägt.TC 08:00 – Mindestens eine Portion Eitelkeit SPRECHER/IN Die Nachricht von der Grönland-Querung läuft in der Zwischenzeit in großen Schlagzeilen um die Welt. Bei Nansens Rückkehr am 30. Mai 1889 empfängt ihn in Kristiania die jubelnde Menge. Tausende wollen Norwegens neuen Helden sehen. Dabei ist Fridtjof Nansen nicht nur der Held und soziale Mensch, als den ihn die meisten seiner Zeitgenossen und seine Nachwelt später gern stilisieren. In seinem Buch „Auf Schneeschuhen durch Grönland“, 2016 in der Edition Erdmann wieder aufgelegt, notiert er, was einer seiner Begleiter ihm vorwirft: ATMO Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Hungern müssten sie und würden obendrein wie die Hunde behandelt, es werde mit ihnen herumkommandiert, sie müssten den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten, schlimmer als Tiere - nein, das wäre nicht zum Aushalten. SPRECHER/IN Seine Mannschaft betrachtet ihn als selbstsüchtig, arrogant und launisch. Für Geir Klover nicht ohne Grund: 05_ZUSPIEL Geir KloverIts priority was more of the science and survival. Nansen didn’t care very much with his men. Every time he was always right. Whatever debate, whatever dialogue – he was always right. And basically I think he felt superior to them. So he did not accept anyone else's input than his himself. 05_ Voice-OverVorrang hatten für ihn die Wissenschaft und das Überleben. Nansen interessierte sich kaum für seine Männer. Er hatte immer Recht. Egal welche Debatte, welches Gespräch – er hatte Recht. Grundsätzlich fühlte Nansen sich ihnen überlegen. Er akzeptierte keine andere Meinung als die eigene. SPRECHER/IN Eine Portion Eitelkeit gehörte zu Nansens Persönlichkeit, notiert auch seine Tochter Liv in ihren Erinnerungen. Angesichts der späteren Erfolge und des Jubels, der Nansen zurück in Norwegen überall entgegenschallte, muss es für ihn auch schwer gewesen sein, nicht an den eigenen Mythos zu glauben. Denn aus Sicht von Geir Klover war Nansen geradeheraus, ein Typ, der sich nur schwer verstellen konnte: 06_ZUSPIEL Geir KloverThose people have difficulty relating to the feet, to spend a year and a half away, surviving a winter, eating polar bears and shooting Walrus. And then coming back to safety, it was quite unheard of at that time. He was very elegant. 06_ Voice-OverSolche Menschen tun sich schwer, auf dem Boden zu bleiben: anderthalb Jahre weg zu sein, einen Winter zu überleben, indem man Eisbären isst und Walrosse jagt. Und wieder sicher zurückzukehren – das war etwas nicht Dagewesenes. SPRECHER/IN Hochgewachsen, blond, gutaussehend, ein exzellenter Skifahrer und Redner. Mit seinen blauen Augen scheint Nansen immerzu in die unbekannte Ferne zu blicken – und dort zieht es ihn schon bald wieder hin. Knapp drei Monate nach seiner Rückkehr von Grönland heiratet der 27-Jährige die vier Jahre ältere Sängerin Eva Sars. Er nennt sie liebevoll »die beste weibliche Skifahrerin Norwegens«. Ausgerechnet Nansen, der sich lange als entschiedener Gegner der Ehe gezeigt hatte. Er liebt seine Frau, er baut ein Haus, hat fünf Kinder mit ihr – aber eigentlich ist er unfähig zu einem Zusammenleben. Der Polarforscher erweist sich als tyrannischer, launischer Ehemann und Vater – der erstmal nicht für die Familie, sondern seine Arbeit lebt. AKZENTTC 11:15 – Auf ins nächste Abenteuer SPRECHER/IN In Nansen reift bereits der Plan zu einer nächsten Expedition. Der Forscher ist sicher, den bis dahin unentdeckten Nordpol erreichen zu können – mithilfe der Eisdecke, die seiner Ansicht nach mit der Strömung nach Norden driftet. Dazu lässt Nansen eigens ein Schiff konstruieren, das dem Druck der Eismassen standhalten soll: die „Fram“. Mit ihr lässt Nansen sich und seine Mannschaft im Herbst 1893 im arktischen Packeis einfrieren. ATMO leichtes Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Montag, 9. Oktober. Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein betäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte: Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen. Die »Fram« verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte. Mit stetigem Druck schob sich das Eis heran, musste jedoch unter uns durchgehen und wir wurden langsam in die Höhe gehoben. Diese Pressungen wiederholten sich den ganzen Nachmittag und waren manchmal so stark, dass die »Fram« mehrere Fuß gehoben wurde; aber dann konnte das Eis sie nicht länger tragen und brach unter ihr entzwei. Es scheint hier ziemlich viel Bewegung im Eise zu sein. SPRECHER/IN … schreibt Nansen darüber in seinem Buch „In Nacht und Eis“. Das Schiff driftet und wird von den Eismassen nicht zerquetscht. Trotzdem verläuft die Mission anders als geplant. Nach zwei Wintern im Eis zeichnet sich ab, die Fram würde den Pol verpassen. Nansen fasst einen waghalsigen Entschluss: ATMO leichtes Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Noch immer muss ich warten und die Drift beobachten; aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und alles auf einem Marsch nach Norden über das Eis wagen. Ich weiß nichts Besseres zu tun. Es wird gefährlich sein, eine Frage um Leben oder Tod; aber habe ich eine andere Wahl? SPRECHER/IN Mit Hjalmar Johansen, einem seiner Begleiter, verlässt Nansen im März 1895 die Fram. Auf Skiern und Hundeschlitten machen sie sich auf den Weg, den Pol zu erreichen. Zum Schiff werden die beiden nie zurückfinden. Doch auch sein Ziel, den Nordpol, muss Nansen knapp über dem 86. Breitengrad aufgeben. Zu beschwerlich ist der Weg: ATMO Windgeheul unterlegen ZITATOR 1Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das enden soll. Inzwischen schwinden unsere Vorräte und mit ihnen unsere Hunde. Werden wir Land erreichen, solange wir noch zu essen haben – ja, werden wir es überhaupt erreichen? Bald wird es unmöglich, gegen dieses Eis und den Schnee noch weiter anzukämpfen. SPRECHER/IN Dennoch schafft der Norweger wieder das damals nahezu Unmögliche: Nansen und seine gesamte 12-köpfige Mannschaft kehren nach drei Jahren unversehrt zurück. Nansen und Johansen hatten sich zu Fuß und in Kajaks bis in den Süden von Franz-Joseph-Land durchgeschlagen. Mit einem Versorgungsschiff gelangten sie schließlich zurück Richtung Norwegen. Die Fram hatte derweil die Eisdrift fortgesetzt und nordwestlich von Spitzbergen wieder offenes Wasser erreicht. Im August 1896 kommt es im norwegischen Tromsø zum großen Wiedersehen. Auch wenn Nansen den Nordpol nicht erreicht, so beweist er seine Theorie zur Meeresströmung und kommt dem Pol so nahe wie niemand zuvor. Nansen ist zu diesem Zeitpunkt erst 35. Seine Erfolge machen ihn zu einem der angesehensten Männer des Landes. Gleichzeitig drängen sie den Forscher immer mehr in politische Ämter – auch weil er offensiv für die Unabhängigkeit Norwegens eintritt, sagt Carl Vogt:TC 15:24 – Die zweite Karriere als Diplomat 08_ZUSPIEL C.E. VogtNorway was in a union with Sweden. It was a loose and liberal union. We had only the king, the foreign policy in common but it became more and more clear during the century that Norway wanted its full independence. So these nationalist sentiments were stronger and stronger and Nansen became one of the most important national heroes in Norway. So I guess that was why Norwegian governments started to use him as some kind of an informal foreign minister so to speak. 08_ Voice-OverNorwegen existierte in einer Union mit Schweden. Zwar einer lockeren, liberalen Union – wir hatten nur den König, die Außenpolitik gemeinsam. Aber im Laufe des Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass Norwegen seine volle Unabhängigkeit wünschte. Diese nationalistische Empfindung wurde immer stärker, gleichzeitig wurde Nansen einer der wichtigsten Helden des Landes. Wohl deshalb hat die norwegische Regierung ihn sozusagen als informellen Außenminister eingesetzt. SPRECHER/IN Als solcher handelt Nansen ab 1906 in London die Souveränität seines Landes mit aus. Doch die große Wende in seinem Leben stand Fridtjof Nansen noch bevor: Im Jahr 1907 stirbt seine Frau Eva infolge einer schweren Lungenentzündung. Sechs Jahre später stirbt nach langer Krankheit auch sein jüngster Sohn Asmund. Für Carl Vogt ein Auslöser für Nansens nun folgenden radikalen Karrierewechsel: 09_ZUSPIEL C.E. VogtHe had lost a son in 1913 so this was some kind of a personal crisis for him. Then came the war and he really had become too old to do this Arctic or polar explorations anymore. 09_ Voice-OverEr hatte 1913 einen Sohn verloren. Das war für Nansen eine Art persönliche Krise. Dann kam der Krieg und er war einfach zu alt geworden für Polarexpeditionen. SPRECHER/IN Die Schrecken des Ersten Weltkriegs und eine drohende Hungersnot in Schweden veranlassen Nansen, sich für einen Platz Norwegens im neu geschaffenen Völkerbund einzusetzen. Dieser beauftragt Nansen im Frühjahr 1920, sich um den Austausch hunderttausender Kriegsgefangener zu kümmern. Auch wenn die Ausgangslage dafür denkbar schlecht war: Bis 1922 können etwa eine halbe Million Kriegsgefangene aus rund 30 Nationen dank Nansen nach Hause zurückkehren. Auch aufgrund eines speziellen, von Nansen erdachten Dokuments, dem später so genannten „Nansen-Pass“. Denn was vielen Flüchtlingen fehlt, ist eine Staatszugehörigkeit. Und das bringt massive Probleme mit sich: 11_ZUSPIEL C.E. VogtYou do not have citizens’ rights. That's the most basic. But you also have a lot of problems in your daily life. Without paper it is very hard to get a place to live. It is impossible to marry, to baptize your children for instance. And often impossible to have a work and pay taxes. You have a lot of bureaucratic problems in your life. So this is the reason why it became necessary to help these people have a legal status. 11_ Voice-OverSie haben keinerlei Bürgerrechte. Das ist das Grundlegendste. Aber sie haben auch viele Probleme im Alltag. Ohne Papiere ist es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Sie können nicht heiraten oder ihre Kinder taufen. Und oft ist es unmöglich, normal zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Sie haben viele bürokratische Probleme. Deshalb war es notwendig, diesen Menschen zu einem legalen Status zu verhelfen. SPRECHER/IN … sagt Historiker Carl Vogt. Fridtjof Nansen hat seine erste Aufgabe für den Völkerbund kaum angetreten, als man ihn bittet, zusätzlich eine Hilfsaktion für Russland zu leiten. Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und zuletzt anhaltende Trockenheit haben das Land ausgedörrt. Knapp 30 Millionen Menschen droht der Hungertod. Doch politisch traut der Sowjetregierung niemand, wieder steht Nansen, als Hoher Kommissar für Flüchtlingsfragen, am Rednerpult des Völkerbunds: ZITATOR 1Die Nahrungsmittel liegen in Amerika, aber niemand findet sich, sie zu holen. Kann denn Europa ruhig dasitzen und nichts dafür tun, diese Nahrungsmittel herüberzubringen und die Völker auf der anderen Seite zu retten? SPRECHER/IN Aber der Völkerbund verweigert seine Hilfe, politische Interessen überwiegen. Für Nansen eine schwere Niederlage. Trotzdem kann er private Spender und einen Kredit Norwegens organisieren, um den Hungernden zu helfen. Nicht zuletzt für diesen Einsatz erhält Nansen 1922 den Friedensnobelpreis. Seinem Einsatz für Flüchtlinge bleibt Nansen weiter treu: Nach Ende des griechisch-türkischen Kriegs 1922 setzt er sich für griechische Flüchtlinge ein. Ab 1925 bemüht er sich darum, die in der Türkei verfolgten Armenier in der Sowjetunion anzusiedeln. TC 19:30 – Zwischen Mentor und Rivale Zu den ihm nachfolgenden Polarforschern – Robert Falcon Scott, Roald Amundsen, Ernest Shackleton – hat Nansen bis zuletzt ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits ist er ihr Mentor, sie alle suchen seinen Rat. Andererseits bleibt Nansen immer ihr Rivale. Er hatte selbst Überlegungen für eine Südpolexpedition angestellt. Und doch überlässt Nansen seinem Landsmann Amundsen für eine Polarexpedition „seine“ Fram. Als Amundsen bei einer Rettungsmission 1928 in der Arktis umkommt, ist Nansen tief betroffen. Die folgenden Zeilen einer Rede in Erinnerung an Amundsen sind Teil der wohl einzigen Originaltonaufnahme, die sich von Fridtjof Nansen erhalten hat. Diese Zeilen könnten auch auf Nansen passen: 12_ZUSPIEL NansenAus der großen, weiten Stille wird aber sein Name im Glanz des Nordlichts durch die Jahrhunderte für die Jugend Norwegens leuchten. Es sind Männer mit Mut, mit Willen, mit Kraft wie seiner, die uns mit Glauben an das Geschlecht und mit Zuversicht in die Zukunft erfüllen. Die Welt ist noch jung, die solche Söhne erzieht. SPRECHER/IN In seinen Gedanken an Roald Amundsen verneigt sich Nansen vor dessen Leistungen. Für Historiker Carl Vogt liegen die wahren Leistungen bei Fridtjof Nansen selbst: 13_ZUSPIEL C.E. VogtHis most dangerous expedition was not the one to the North Pole. Of course he could have died there as well. But in 1921 he really went to the famine areas in Russia in the Volga valley and at least one or two of his travel companions died from typhoid fever they had caught on the train with Nansen. So he could easily have died from his engagement actually. So I mean it was really heroic. 13_ Voice-OverSeine gefährlichste Expedition war nicht die zum Nordpol. Natürlich hätte er dort auch sterben können. Aber 1921 ging Nansen wirklich in die Hungerregionen in Russland im Wolgatal. Und mindestens ein oder zwei seiner Reisebegleiter starben an Typhus, den sie sich während der Zugfahrt mit Nansen geholt hatten. Er hätte also leicht durch sein Engagement sterben können. Das war wirklich heldenhaft. SPRECHER/IN Am 13. Mai 1930 weilt Nansen auf dem Balkon seines Hauses in Lysaker. Im Liegestuhl genießt er den Frühling und den Besuch seiner Familie; mit einem Stapel Arbeit vor sich erholt Nansen sich gerade von einer langwierigen Venenentzündung. Seine Schwiegertochter Kari will ihm einen Tee bringen, als Nansen einem Herzinfarkt erliegt. Als Fridtjof Nansen mit 68 Jahren stirbt, hat er sie allesamt überlebt: Scott, Amundsen, Shackleton... Als Einziger endet er nicht auf einer Expedition. Und doch bleibt der Polarpionier, Diplomat und Friedensnobelpreisträger bis zuletzt unerfüllt und mürrisch, denkt, er habe sich nie im Leben zurechtgefunden. TC 22:53 – Outro
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Mar 29, 2024 • 23min

ARKTIS - Die Legende vom Sannikow-Land

Über 100 Jahre lang prangt das Sannikowland auf den Arktis-Karten - obwohl es nie gefunden wird. Einige lassen bei der Suche nach diesem Land ihr Leben, doch keine der Expeditionen kann die Existenz einer warmen Insel im Eis bestätigen. Bis die technische Entwicklung nach und nach die Wahrheit über das Sannikowland ans Licht bringt. Von Fiona Rachel Fischer (BR 2023) Credits Autorin: Fiona Rachel Fischer Regie: Frank Halbach Es sprachen: Laura Maire, Christian Baumann, Sven Hussock Technik: Josef Angloher Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Andreas Renner Linktipps: Deutschlandfunk (2020): Expeditionen ins Eis – gestern und heute Wie fühlt es sich an, bei klirrender Kälte, vom Eis umschlossen in tiefster Dunkelheit festzusitzen? Was treibt Polarforscher an, die unwirtlichen Regionen am Nord- und Südpol zu erkunden? Welche Eindrücke und Erkenntnisgewinne wiegen die enormen Risiken ihrer Abenteuer auf? Drei aktuelle Sachbücher liefern Antworten. JETZT ANHÖREN NDR (2024): Geister der Arktis Die preisgekrönte Extremtaucherin Christina Karliczek Skoglund begibt sich auf eine Expedition in die eisigen Tiefen der Arktis, um die geheimnisvollen Eishaie zu filmen. Die Tierfilmerin möchte nicht nur mit einem der "Methusalems der Meere" tauchen, sondern mit führenden Eishaiforschern über bahnbrechende neue Entdeckungen diskutieren. In Folge zwei stößt Christina immer weiter ins nördliche Grönland vor, um die "Einhörner des Meeres" zu finden. Die bedrohten Narwale leben das ganze Jahr über in Packeisnähe und sind durch den Klimawandel extrem bedroht. Ein mitreißender Doku-Zweiteiler. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 03:55 – Ein Kaufmann auf Expedition TC 05:54 – Der Arktis Hype des 19. Jahrhundert TC 08:45 – Auf der Suche bis in den Tod TC 11:40 – Stoff für einen Science-Fiction-Roman TC 17:20 – Ewiger wissenschaftlicher Mythos TC 21:55 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK & ATMO Geschrei von Wildgänsen, Eisiger Wind, Eisberggeräusche SPRECHERIN 1: Folgt man den sibirischen Wildgänsen gen Norden in das ewige Eis, so entdeckt man bald hinter der Kotelny-Insel einen bläulichen Schimmer am Horizont. Beim Näherkommen wird er dunkler und dunkler, bis er sich zu einer schroffen Bergkette verfestigt. SPRECHER 2: In der unerbittlichen arktischen Kälte ist der Aufstieg an den steilen Berghängen mühsam. Doch zieht man sich an der letzten Kante hoch, wird man Wunderbares erblicken: Das satte Grün der Wiesen und Bäume. Heiße Geysire, die aus der fruchtbaren Erde sprudeln. Die wilden Mammuts, die durch die urzeitliche Flora streifen, und die blau tätowierten Gesichter eines verschollenen Indigenenstamms. SPRECHERIN 1: Das Sannikowland. Eine mystische Arktisinsel mit Atlantis-Charakter. Gefunden wurde dieser wundersame Ort schließlich nie. ZITATOR 1: Hat dieses Land überhaupt existiert? Ich bin überzeugt, daß es existiert hat. SPRECHER 2: So der Geologe und Autor Wladimir Afanasjewitsch Obrutschew in seinem Roman „Sannikowland“. Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Verlags Neues Leben in der Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin. SPRECHERIN 1: Die Existenz des Sannikowlands ist eine von vielen Mythen, die sich im Zarenreich des 18. und 19. Jahrhunderts um die Arktis spinnen. SPRECHER 2: Zu dieser Zeit ist die Arktis ein weißer, also ein unausgestalteter Fleck auf der Landkarte. Im faszinierenden Unbekannten des ewigen Eises wird eine Nordostpassage entlang der eurasischen Nordküste vermutet, dass der Nordpol möglicherweise eisfrei sei, und irgendwo im Eismeer soll der achte Kontinent Arctica zu finden sein. Auf unentdeckten Inseln sollen große Reichtümer schlummern. MUSIK ENDE O-TON: Es gibt ja diese Insel-Mythen in der Kulturgeschichte zuhauf, dass man vermutet, irgendwo im Ozean hat sich eine Insel gehalten mit glücklichen Menschen. Also diese Insel-Utopien gehen bis in die Antike zurück. Denken Sie an Atlantis oder konkreter für die Arktis haben Sie die Hyperboreer, also diese Vorstellung, dass es irgendwo fernab der Zivilisation glückliche Menschen gibt, die warum auch immer, mal abgeschieden wurden. […] Und dann projiziert man einfach diese Vorstellung, die es schon gibt, auf diese Insel. SPRECHERIN 1: Professor Andreas Renner vom Lehrstuhl für Russland-Asien-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. SPRECHER 2: Es sind die Indigenen der sibirischen Küste, die bereits seit Jahrhunderten mit ihren flachen Booten das Eismeer befahren. Im 17. Jahrhundert gibt es erste Erkundungsfahrten von russischer Seite und es sind zunächst Entdecker und Eroberer, die von einer Flussmündung über das Meer zum nächsten großen Fluss fahren. Hierbei entstehen die ersten Karten dieser Region. Sie sind allerdings nur zum Navigieren gedacht und nicht einmal mit Längen- und Breitengraden versehen. SPRECHERIN 1: Wissenschaftliche Fahrten beginnen in den 1730er Jahren mit der Großen Nordischen Expedition, angestoßen von Marineoffizier Vitus Bering und beauftragt von Zarin Anna Iwanowna. Ganze 10 Jahre dauert sie. Die Karten, die die Forscher entwickeln, bleiben jedoch unvollständig. ZITATOR 1: Man wollte es kennenlernen, die Tiefe und die Temperatur der verschiedenen Wasserschichten messen und die Zusammensetzung des Wassers sowie die darin lebenden Tiere und Pflanzen, den Meeresgrund, die Richtung der Strömungen usw. erforschen. TC 03:55 – Ein Kaufmann auf Expedition SPRECHER 2: Doch es gibt noch eine weitere Gruppe, die Interesse an den arktischen Gewässern hat: Kaufleute, die mit Pelzen und Elfenbein handeln. MUSIK SPRECHERIN 1: Ein solcher Händler ist auch der Namensgeber und „Entdecker“ des Sannikowlands. Jakov Sannikow aus Jakutsk sammelt die Stoßzähne von Walrössern oder lässt sie erlegen, um das Elfenbein teuer zu verkaufen. Doch dann findet er eine noch lukrativere Einnahmequelle im ewigen Eis: O-TON: Mammutelfenbein. Also er hatte entweder Glück oder Gespür für. Es gibt auf den nordsibirischen Inseln sehr viele Mammutkadaver. Es hält sich in Nordostsibirien ungefähr bis 1500 oder 2000 vor der Zeitrechnung, also das letzte Refugium des Mammuts, und sie können dort nicht weg, sondern sie sterben dann tatsächlich zu Hunderten auf diesen Inseln mit dem Anstieg des Meeresspiegels. Und Sannikow ist einer der ersten, der systematisch diese Mammute sucht und ihnen die Stoßzähne wegnimmt und sie dann teuer verkauft. Also ein sehr erfolgreiches Business, und er ist tatsächlich dann wegen seiner Ortskenntnisse an einer wissenschaftlichen Expedition im Jahr 1809 beteiligt, die diese Neusibirischen Inseln vermessen soll. SPRECHER 2: Mit Mattias Hedenström, einem verbannten Beamten aus Riga, bricht Sannikow im Namen des Zaren zu der Mission auf. ATMO SCHIFF SPRECHERIN 1: Das Leben auf einer solchen Expedition ist hart: Die flachen Schiffe mit niedrigem Tiefgang, mit denen man im Eismeer navigieren kann, haben oft keine Kajütenaufbauten. Es ist dort eng, kalt und nass. Viele Menschen, die sich in die Arktis wagen, sterben an Erschöpfung, Hunger, Kälte oder Skorbut. MUSIK SPRECHER 2: Doch wer erfolgreich zurückkommt, den erwarten oft Ruhm oder Reichtum. So auch Sannikow, der nicht nur eine neue Insel entdeckt, sondern gleich noch eine zweite – wie er denkt. TC 05:54 – Der Arktis Hype des 19. Jahrhundert SPRECHERIN 1: Im Jahr 1811 erblickt der Händler nordwestlich der Kotelny-Insel eine unbekannte Landmasse. Diese ist für die Expedition allerdings unerreichbar. Hedenström trägt die gesichtete Insel dennoch in die Karte ein – unter dem Namen Sannikowland. SPRECHER 2: Damit setzt er ihrem Entdecker ein Denkmal, doch eine Sensation ist es noch lange nicht. Denn schließlich sind viele Inseln zu dieser Zeit unerreicht. Zehn Jahre später schickt die zarische Admiralität eine neue Expedition los, um die Karten weiter auszuarbeiten. MUSIK ENDE ZITATOR 2: [S]päter schien es, als seien die Angaben Sannikows widerlegt worden: Leutnant Anjou, der vom Marineministerium den Auftrag erhalten hatte, die von Sannikow gesehenen Länder aufzusuchen, kehrte 1824 mit der vollen Überzeugung zurück, daß die angeblich in Norden von den Neusibirischen Inseln gelegenen Landmassen wohl nur auf einer Täuschung beruhten. SPRECHER 2: –  schreibt Arktisforscher Baron Eduard von Toll später über diese Expedition. O-TON: Das ist auf jeden Fall eine Arktis-Expedition, die kreuz und quer um den Archipel und am Archipel entlangfährt, aber dieses Sannikowland nicht findet. Also man geht systematisch auch an die Stellen zurück, von denen die gesichtet wurde, und kann diese Entdeckung nicht bestätigen, lässt die Insel aber trotzdem auf den Karten stehen, weil es ja weder bestätigt noch widerlegt ist. SPRECHERIN 1: Diese Expedition soll die arktischen Inseln kartografieren, aber auch nach einer Landverbindung zu dem Kontinent Arctica suchen – den es freilich gar nicht gibt. Aber die Entdecker tragen immerhin eine neue Insel auf ihrer Karte ein: die Wrangelinsel, die erst knappe 100 Jahre später wirklich entdeckt und erforscht wird. SPRECHER 2: Auch jetzt ist die Küstenlinie nur bruchstückhaft kartografiert, denn der Eisgang verhindert das Durchkommen. Und das Sannikowland, das nordwestlich der Kotelny-Insel auf der Karte eingezeichnet ist, bleibt eine bloße Vermutung. MUSIK & ATMO Geschrei von Wildgänsen SPRECHERIN 1: Solche weißen Flecken auf der Karte, wie unentdeckte Inseln und der bisher unerreichte Nordpol reizen aber auch die westlichen Staaten, ihre Überlegenheit zu demonstrieren. MUSIK ENDE O-TON: Es gibt so einen, heute würde man sagen, so einen Arktis-Hype oder so ein Pole-Hype. Das hat einerseits einfach mit der technischen Entwicklung zu tun. Im neunzehnten Jahrhundert kann man eigentlich alle paar Jahre bessere Expeditionsschiffe bauen und dann kommen dampfgetriebene Schiffe. Die Schiffe werden stärker und eigentlich alle größeren europäischen Staaten beginnen Arktisexpeditionen, auch Deutschland, auch Österreich. Und das hat viel auch mit diesem kulturellen Wettkampf zwischen den europäischen Nationen zu tun. Es ist Prestigedenken, dann geht es gar nicht mehr so darum, Land im Besitz zu nehmen, sondern als Erster dort zu sein. TC 08:45 – Auf der Suche bis in den Tod MUSIK ZITATOR 2: An klaren Sommertagen sieht man von der Nordspitze der Insel Kotelny unter 76° n. Br. vier Berge, die sich kaum über den nördlichen Horizont emporheben — das ist das Sannikow-Land, ein noch nie betretenes Gebiet. SPRECHER 2: Es ist der 18. August 1886. Der deutsch-baltische Arktisforscher Eduard Gustav von Toll erblickt bei einem Aufenthalt auf der Kotelny-Insel am Horizont vier Berge am Horizont. ZITATOR 2: Die Berge des Sannikow-Landes erinnern in ihrer Form lebhaft an die abgestumpften Basaltkegel des Swätoi Noß, wie sie dem Auge von der Südküste der Gr. Ljächow-Jnsel erscheinen. SPRECHERIN 1: Und das an genau derselben Stelle, wie Sannikow 75 Jahre zuvor. SPRECHER 2: Meint Toll. Aber es ist eben nicht genau dieselbe Stelle. Doch Toll ist davon überzeugt, das Sannikow-Land gesichtet zu haben. Er stellt einen Antrag an die Russische Akademie der Wissenschaften mit der Bitte, eine Expedition auszurüsten und ihn auf die Suche nach der unerreichten Insel zu schicken. ATMO Geschrei von Wildgänsen & Musik ENDE SPRECHERIN 1: Im Jahr 1899 bewilligt die Akademie 180 000 Rubel für die Expedition. Im Juni des darauffolgenden Jahres sticht Eduard von Toll mit dem Motorschiff Sarja, der Morgenröte, von Kronstadt aus in See. MUSIK SPRECHER 2: Doch die Expedition verläuft nicht wie geplant. Das Eis verhindert, dass die Sarja nahe genug an die mutmaßliche Lage des Sannikowlands herankommt. Schließlich friert das Schiff auch noch nahe der Kotelny-Insel im Packeis ein. Im Juni 1902 beschließen Toll und einige andere schließlich, die Sarja zurückzulassen. Auf Hundeschlitten machen sie sich auf in Richtung Nordosten, um das Eiland auf eigene Faust zu suchen. SPRECHERIN 1: Sie werden nicht wieder zurückkehren. Ein Suchtrupp findet 1903 Tolls Tagebuch, doch die Arktisforscher bleiben verschollen. SPRECHER 2: Das dramatische Ende dieser Expedition bedeutet die endgültige Mythisierung des Sannikowlands. MUSIK ENDE O-Ton: Weil er das Unglück hat, von seiner Reise nicht zurückzukehren. Also man startet in Kronstadt und fährt dann durch Arktisschmelze eine sehr, sehr schwierige Route. Toll ist tatsächlich erst der dritte, dem es überhaupt gelingt, hier diese Passage von Europa bis ins ostsibirische Meer zu machen. […] Aber gerade weil er so verschwunden ist und es auch nicht eine gewisse Prominenz hat als Arktis Forscher, dann fängt es eben an, dass man ihn mit diesem Sannikowland verbindet, also die Suche nach dieser Insel. TC 11:40 – Stoff für einen Science-Fiction-Roman SPRECHERIN 1: Dieser abenteuerliche Stoff inspiriert schließlich den Science-Fiction-Autor Wladimir Obrutschew zu seinem Roman „Sannikowland“, der 1926 erscheint. In erster Linie ist Obrutschew jedoch Geologe: Sowohl im Zarenreich als auch später in der Sowjetunion forscht er zur Geologie Sibiriens, zu Gletscherbildung, Permafrost und Vulkanismus. Dafür wird er mit vielen Ehrentiteln ausgezeichnet und erhält fünf der renommierten Leninpreise. SPRECHER 2: Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse verarbeitet Obrutschew in insgesamt drei utopisch-phantastischen Romanen. Damit trifft er genau den Zeitgeist, denn die optimistische Aufbruchsstimmung der jungen UdSSR zeigt sich auch in einem allgemeinen Enthusiasmus für Wissenschaft. Die Bevölkerung soll gebildet, das wirtschaftliche Potential der Bodenschätze mithilfe der Wissenschaft maximiert werden. Dazu dient Science-Fiction-Literatur wie die von Obrutschew. Ihre Aufgabe ist es, ein breites Interesse an der Wissenschaft zu wecken und Forscher zu neuen Versuchen und Funden zu inspirieren – wie die Entdeckung von neuen Inseln im Eismeer! SPRECHERIN 1: Denn auch in den 1920ern gibt es noch genug Raum für Spekulationen, genug unerreichte Inseln. Es ist das letzte Jahrzehnt, in dem die Arktis als Raum des Abenteuers und des Entdeckertums gilt. Als die Wrangelinsel endlich erforscht wird, ist es eine Sensation. Eine große Inspiration für Obrutschew: MUSIK ZITATOR 1: Das ist ein Traumland! SPRECHERIN 1: In Obrutschews Roman machen sich drei verbannte Studenten zusammen mit zwei sibirischen Händlern auf den Weg. Im Auftrag eines Mitglieds der Akademie der Wissenschaften reisen sie zum Sannikowland. ZITATOR 1: Dieses geheimnisvolle Land zog die beiden nicht minder an als unsere drei Freunde, und sie waren froh, daß ihnen das glückliche Los zugefallen war, es als erste aufzusuchen. ATMO Geschrei von Wildgänsen SPRECHERIN 1: Den Zug der Wildgänse gen Norden sehen sie als Beweis für die Existenz einer warmen Insel im Eismeer. ZITATOR 1: Wohin sollten dann aber diese dummen und lebensmüden Vögel fliegen? SPRECHER 2: Zum Sannikowland! MUSIK ENDE SPRECHERIN 1: Wohin die fünf Abenteurer den Wildgänsen folgen. Sie finden die lang gesuchte Insel ohne Probleme und staunen nicht schlecht, als sie entdecken, dass das Sannikowland ein riesiger Vulkankrater ist, in dessen Wärme urzeitliche Flora und Fauna gedeihen. ZITATOR 1: Aber wer konnte ahnen, daß das Sannikowland ein zoologischer, oder richtiger – ein paläontologischer Garten ist! SPRECHERIN 1: Auch dem verschollenen – SPRECHER 2: – natürlich fiktiven – SPRECHERIN 1: Indigenenstamm der Onkilonen begegnen die Forschungsreisenden dort. Sie werden gastfreundschaftlich aufgenommen und erforschen eine Weile ungestört das Sannikowland. O-TON: Warum das funktioniert, das ist tatsächlich, glaube ich, die größte Caldera, die er da mal locker ins Polarmeer setzt, um halt eben zu erklären, dass es dort heiße Quellen gibt und Vegetation. Und dass diese Tiere, die woanders schon ausgestorben sind, also Mammute, Wollnashörner, sich eben auf Sannikow Land gehalten haben. SPRECHER 2: Obrutschew betont selbst im Vorwort, dass die fiktionale Schilderung auf dem wissenschaftlichen Forschungsstand seiner Zeit fuße. Im Roman finden sich lateinische Gattungsbezeichnungen, wissenschaftliche Daten werden dargelegt und die Forschungsreisenden diskutieren ihre Beobachtungen und Messungen ausführlich. ZITATOR 1: Ist der Talkessel der verschüttete Krater eines Vulkans, dann ist auch die üppige Vegetation unter diesem Breitengrad erklärt. […] Doch wollen wir uns vorläufig noch nicht festlegen, sondern abwarten, was weiter geschieht. SPRECHERIN 1: Diese Wissenschaftlichkeit verbindet der Autor mit der mythologischen Vorstellung einer warmen Insel im Eis, wo Menschen abgeschnitten vom Rest der Welt ein glückliches Leben führen. SPRECHER 2: Doch kaum sind im Roman die Forschungsreisenden auf der Insel angekommen, erfahren sie, dass das Glück der Onkilonen in Gefahr ist. ZITATOR 1: Die Geister des Himmels haben dem Schamanen verkündet, daß dem Volk der Onkilonen große Nöte bevorstehen. MUSIK ZITATOR 1: So weit das Auge reichte – überall stand Wasser, sämtliche Wiesen hatten sich zu Seen verwandelt, die Wälder hoben sich als schwarze Inseln oder Landzungen im weiten Rund des Wasserspiegels ab. Im Lichte der aufgehenden Sonne schimmerte das Wasser wie funkelndes Silber. SPRECHER 2: Das System der Insel gerät aus dem Gleichgewicht. Die Temperatur sinkt, das Wasser verschwindet zunächst aus dem heiligen See der Onkilonen, nur um den gesamten Talkessel zu überschwemmen. ZITATOR 1: Aus der Erde schossen feurige Kugeln bis in das hohe Rauchdach, Funkelgarben sprühten nach allen Seiten. ...

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