Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Mar 29, 2024 • 24min

ARKTIS - Die Suche nach der Franklin-Expedition

Expedition in die Arktis: Im Jahr 1845 soll Sir John Franklin einen Seeweg durch das Polarmeer nach Asien finden. Unter seinem Kommando: die Schiffe HMS Erebus und die HMS Terror. An Bord: 129 Seeleute und Proviant für mehrere Jahre. Doch bald fehlt von der Expedition jede Spur - Was war geschehen? Erste Suchtrupps machen sich auf, um das Schicksal der Expedition zu klären. Bald finden sich erste Spuren, Gerüchte machen die Runde. Von Georg Florian Ulrich (BR 2024) Credits Autor: Georg Florian Ulrich Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Amberger, Andreas Neumann, Frank Manhold, Sabine Kienhöfer Technik: Michael Krogmann Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Roger Byard Linktipps: SWR (2024): Expedition in die Arktis Das "ewige Eis" in der Arktis schwindet. Welche Folgen hat das für unser Klima und unsere Zukunft? MOSAiC - die größte Arktis-Expedition aller Zeiten - soll genau das klären. Ein ganzes Jahr ließ sich eine internationale Crew von Wissenschaftler*innen mit dem Forschungseisbrecher "Polarstern" im Meereis nahe dem Nordpol einfrieren. Eine Expedition der Extreme begann: zwischen Eisbärangriffen, in monatelanger Dunkelheit und bei Temperaturen weit unter null Grad. Die gewonnenen Klimadaten vom Nordpol sollen jetzt helfen, die Prognosemodelle für den Klimawandel zu verbessern. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2005): Die Heldenmacher Vor 175 Jahren wurde die Royal Geographical Society gegründet. Tausende Expeditionen hat sie seither betreut: Von der tragisch endenden Suche John Franklins 1854, einen Weg durch das nördliche Eismeer, westwärts bis nach Indien zu finden bis zur erfolgreichen Erstbesteigung des Mont Everest im Jahr 1953. Inzwischen hat die altehrwürdige Gesellschaft ihr Herz für Anfänger entdeckt: Sie unterhält ein Expeditionsberatungszentrum. ZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:56 – Keine Kosten und Mühen gescheut TC 06:58 – Die Suche nach LebenszeichenTC 11:40 – Eine Witwe gibt nicht aufTC 16:42 – Forschung nach TodesursachenTC 21:00 – DurchbruchTC 23:06 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro Musik & Atmo alte Stadt Sprecher:London, 1848. Seit mehr als drei Jahren gibt es keine Neuigkeiten von den beiden Schiffen. Kein Brief, keine Nachricht von der HMS Erebus und der HMS Terror erreicht die Admiralität in London. Niemand hat die zwei Schiffe gesehen, die ins arktische Eismeer gesegelt sind. Die Unruhe in der Admiralität wächst. Dabei hatte die Leitung der Royal Navy große Hoffnungen in die Expedition gesetzt – und eine Menge Geld. Man entschließt sich zu handeln. Zitator: (Ausrufer/Steckbrief)„20.000 Pfund Belohnung für jeden, der Hinweise zur Auffindung der Schiffe unter dem Kommando von Sir John Franklin geben kann!“ Atmo Polarwind Sprecher:Eine Suchaktion von weltumspannenden Ausmaßen beginnt: Während ein Schiff von Großbritannien aus Kurs auf Grönland nimmt, fährt ein anderes die Küste im Norden von Alaska ab. Immer Ausschau haltend nach den beiden Schiffen der Franklin-Expedition. Gleichzeitig bahnt sich ein Suchtrupp im äußersten Norden Kanadas über Land einen Weg gen Norden, hin zu den Eisfeldern der Arktis. Irgendwo in dieser riesigen Region müssen sie abgeblieben sein. Drei Jahre zuvor, im Jahr 1845, hatten sie sich aufgemacht. Sprecherin:Ziel der Expedition: Die Nordwestpassage. Der erhoffte, aber bislang unentdeckte Seeweg von Europa nach Asien durch das arktische Meer. Wenn es eine solche Passage gäbe! Für die britische Seefahrt wäre es ein Riesengewinn. TC 01:56 – Keine Kosten und Mühen gescheut Sprecher:Will ein britischer Händler Anfang des 19. Jh. Ware aus Asien importieren, etwa Porzellan aus China, muss er an die 24.000 Kilometer Seeweg zurücklegen. Erst ganz Afrika umschiffen, den sturmgepeitschten indischen Ozean durchqueren, schließlich durch die Straße von Malakka, in der Piraten lauern. Erst dann kann er in China vor Anker gehen. Und auf dem Rückweg das Gleiche noch einmal. Musik Sprecherin:Die Nordwestpassage verspricht die Möglichkeit, all diese Gefahren zu umgehen. Und natürlich: Schneller wäre die Route auch: 8000km Umweg ließen sich so sparen. Wenn man sie denn findet: Denn bislang ist die Gegend zwischen Grönland und dem nördlichen Kanada ein weißer Fleck auf der Landkarte. Zu widrig waren die eisigen Temperaturen für die Entdecker des 17. Und 18. Jahrhunderts. Sprecher:Doch seit den Tagen der ersten Entdeckungsreisen in die Arktis hat sich das technische und geographische Verständnis der Briten enorm verbessert. Musik Die Industrielle Revolution ist in vollem Gang: In Großbritannien fahren bereits regelmäßig Eisenbahnen, neue Erfindungen wie die Konservendose oder die Nutzung der Elektrizität beginnen das Leben der Menschen zu verändern. Mit diesen technischen Errungenschaften, ist man sich sicher, auch den harten Bedingungen der Arktis trotzen zu können. Sprecherin:Deshalb hatte sich die Admiralität in London entschieden, zwei Schiffe auf eine Expedition in die Arktis zu schicken. Sie sollen endlich die Nordwestpassage finden. Die Wahl fällt auf die HMS Erebus und HMS Terror. Bombardenschiffe, sie sind schwer gepanzert – wie geschaffen, um Packeis zu durchbrechen. Bereits 1839 haben sie sich bei Expeditionen in die Antarktis bewährt. Atmo Fabrik im Dampfzeitalter Für die Expedition werden keine Kosten und Mühen gescheut. Die Schiffe werden generalüberholt, die schon dicken Rümpfe zusätzlich mit Eisenplatten verstärkt. Zwei neuartige Dampfmaschinen werden verbaut, um den Schiffen zusätzlichen Antrieb zu liefern. Möglich macht das die Schiffschraube, die erst wenige Jahre zuvor erfunden wurde. Sprecher:Die Dampfmaschinen versorgen zudem eine Zentralheizung, die trotz arktischem Wetter für angenehme Wärme an Bord sorgen soll. Auch für reichlich Proviant ist gesorgt. Zitator: (begeisterter Reporter)Die Vorkehrungen, die für den Komfort der Offiziere und der Besatzung getroffen wurden, sind ausgezeichnet: Die an Bord genommenen Vorräte sind beträchtlich und bestehen aus Konserven, einer großen Menge Tee und extra starkem westindischen Rum. Sprecherin:Dazu kommen 7 Tonnen frisch abgekochtes Fleisch, verpackt in den neuen, modernen Konservendosen, 14 Tonnen Salzfleisch, 4740 kg Kartoffel- und Gemüsekonserven und 4200 Liter Zitronensaft. Er soll gegen Skorbut helfen, die gefürchtete Seefahrer-Krankheit. Sogar eine beträchtliche Bibliothek mit mehr als 1000 Büchern wird an Bord genommen. Einer mehrjährigen Expedition in die Arktis steht nichts mehr im Wege. Musik Sprecher:Für Das Oberkommando wird schließlich Sir John Franklin auserkoren. Er ist zu diesem Zeitpunkt fast 60 Jahre alt, seine letzte Arktisexpedition fast 20 Jahre her. Manche Zeitgenossen äußern Bedenken wegen seines Gesundheitszustands. Dennoch soll diese Expedition das Glanzstück werden, das Franklins Karriere abschließt. Zudem stehen ihm erfahrene Männer zur Seite: Unter seinem Kommando steht auch Captain Francis Crozier, der bereits in der Antarktis mit der Terror unterwegs war. Sprecherin:Dann endlich! Mai 1845: Unter großem Beifall legen die Schiffe ab. Sie stechen unter guten Vorzeichen in See, die Besatzung ist optimistisch. ATMO knarzendes Segelboot, See Vor der Küste Grönlands werden die letzten Vorräte an Bord genommen, dann machen sich die Schiffe auf ins Eis – in bisher unbekannte Gefilde. Musik Sprecher:Auf ihrem Weg in den Lancastersund begegnen sie zwei Walfängern. Man besucht sich gegenseitig, tauscht Informationen aus. Es ist das letzte Mal, dass die beiden Schiffe von anderen Seeleuten gesehen werden. Atmo/Musik hoch Sprecherin: Es vergeht ein Jahr ohne jegliche Nachricht von der Expedition. Dann noch eins. Schließlich ein drittes. Sprecher:Über Jahre nichts von einer Expedition in die Arktis zu hören, ist in dieser Zeit erstmal nicht ungewöhnlich. Die Expedition von James Clark Ross zum Beispiel saß vier Jahre im Eis fest. Sie ernährten sich von ihrem Proviant und Robbenfleisch, bis auf drei Seeleute kehrten alle wohlbehalten zurück. Doch Franklins Mannschaft ist deutlich größer, seine Vorräte nur für zwei, maximal drei Jahre ausgelegt. TC 06:58 – Die Suche nach Lebenszeichen Sprecherin:Nachdem dann auch im dritten Jahr von der Expedition keinerlei Nachricht eintrifft, wird die Admiralität nervös. Wo sind die HMS Erebus und Terror? 1848 beginnt die Suche nach den verlorenen Schiffen. Drei Suchexpeditionen werden losgeschickt - erfolglos. Keine Spur findet sich von den beiden Schiffen. Die Lage ist ernst. Mit jedem Monat, der vergeht, sinken die Chancen, Franklin und seine Leute lebend zu finden. Sprecher:Im Jahr darauf werden ganze 14 Expeditionen ausgestattet. Die beiden Schiffe müssen doch irgendwo zu finden sein! Dass die Rettungsaktion so umfangreich ausfällt, liegt auch an der Ehefrau von John Franklin, Lady Jane. Sie nutzt ihren öffentlichen Einfluss, um Druck auf die Admiralität auszuüben. Atmo Wind Sprecherin:Endlich finden sich erste Zeichen der Expedition. Doch sie geben eine düstere Vorahnung, auf das, was kommt. Auf Beechey Island, einer kleinen Insel am Lancastersund, findet man die Überreste eines Winterlagers. Und: Drei Gräber. Die Namen auf den Grabsteinen sind gut lesbar. Zitator: John Torrington, 20 Jahre. William Braine, 32 Jahre. John Hartnell, 25 Jahre. Sprecherin:Besatzungsmitglieder der Franklin-Expedition. Alle drei gestorben im Jahr 1846, beerdigt hier auf Beechey Island. Die Erebus und Terror müssen hier Station gemacht haben. Woran starben sie? Gab es eine Krankheit an Bord? Die Insel wird genauestens untersucht, doch außer leeren Konservendosen und anderem Abfall findet sich nichts. Kein Logbuch, keine Nachricht wurde hinterlassen. Die Suche läuft weiter. Sprecher:Inzwischen erhitzen sich in London die Gemüter: ein Schuldiger wird ausgemacht. Der jüdische Kaufmann Stephan Goldner. Er hatte die Expedition mit Konservendosen versorgt. In nur 7 Wochen hatte Goldner den Großauftrag bewältigt. Jetzt häufen sich Vorwürfe, die Konserven seien von minderwertiger Qualität gewesen. Ging die Franklin-Expedition mit verdorbenem Proviant auf Reisen? Verhungerten die Seeleute trotz voller Vorratsschränke? Ein Bericht in der Times legt das nahe. Der Vorwurf ist haltlos, wie sich bald herausstellt. Eine offizielle Untersuchung spricht Goldner frei, doch sein Ruf ist ruiniert. Musik Sprecherin:Bei der Suche in der Arktis geraten inzwischen die Suchtrupps selbst in Not. Mehrere Schiffe bleiben im Eis stecken. Es dauert mehrere Jahre, bis die Expeditionen zurückkehren. Tatsächlich leisten sie mit ihren Reisen wichtige Beitrag zur Erkundung der Arktis. Aber außer den Gräbern auf Beechey Island können sie keine Hinweise über Franklins Schicksal liefern. Sprecher:Dennoch - die Hoffnung auf Neuigkeiten bleibt. Und tatsächlich finden sich neue Hinweise: Der Arzt und Polarforscher John Rae trifft auf seinen Arktis-Reisen auf Inuit, die ihm von düsteren Ereignissen berichten. Rae fasst ihre Berichte zusammen: Musik Zitator:Etwa vierzig weiße Männer wurden gesehen, wie sie in Begleitung eines Offiziers über das Eis nach Süden wanderten und ein Boot und Schlitten mit sich zogen. Sie sahen aus, als ob ihnen der Proviant ausgegangen wäre. Sie kauften von den Eingeborenen eine kleine Robbe oder ein Stück Robbe. Der Offizier wurde als ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters beschrieben. Sprecherin:Handelt es sich bei dem Offizier um Franklin? Hat er seine Schiffe verlassen, und seine Mannschaft über Land weitergeführt? Doch die Inuit haben Rae noch mehr zu berichten: Zitator:Später hat man die Leichen von etwa dreißig Personen, einige Gräber auf dem Festland und fünf Leichen auf einer Insel in der Nähe entdeckt.Einige der Körper befanden sich in Zelten. Andere lagen unter einem Boot, das sie als notdürftige Unterkunft umgedreht hatten, einige verteilt um das Lager herum. Bei einem vermuteten die Inuit, dass es sich um einen Offizier handelte, da er ein Fernrohr über die Schultern geschnallt hatte und sein doppelläufiges Gewehr unter ihm lag. Sprecherin:Die Inuit zeigten Rae Gegenstände, die nur von Bord der Erebus und der Terror stammen konnten. Laut ihren Schilderungen waren die Männer in einer ausweglosen Situation. Musik TC 11:40 – Eine Witwe gibt nicht auf Zitator:Aus dem Zustand vieler Leichen und dem Inhalt der Kessel war ersichtlich, dass unsere unglücklichen Landsleute zum letzten Mittel gezwungen waren, um ihr Leben zu erhalten. Sprecherin:Kannibalismus – als letztes Mittel gegen den Hunger. Eine für die viktorianische Zeit unerhörte Unterstellung.  Als die Nachricht London erreicht, ist die Empörung groß. Die Witwe von Sir John Franklin, Lady Jane, lässt auf ihren Ehemann und dessen Expedition nichts kommen. Sprecher:Sie bekommt prominente literarische Unterstützung. Charles Dickens, ein Freund der Familie, steht ihr bei. In einer Zeitschrift wettert der berühmte Autor gegen die Inuit, weist ihre Berichte als unglaubwürdig zurück. Für ihn sind sie nichts weiter als: Zitator: Zitat Charles Dickens„Das Geschwätz einer groben Handvoll unzivilisierter Menschen, die in Blut und Walfett zuhause sind!“ Sprecher:1854 werden alle Expeditionsmitglieder für tot erklärt. Musik Lady Jane Franklin will jedoch Gewissheit. Zwei Jahre später finanziert sie erneut eine Expedition unter dem Kommando von Francis McClintock. Sprecherin:Tatsächlich gelingt es McClintock als erstem, eine handfeste Nachricht von der Expedition zu finden. In einem kleinen Steinhügel auf King William Island stößt er auf einen Brief der Franklin-Expedition. Versteckt in einem Bleizylinder, wasserdicht geschützt. Der erste Eintrag weckt Hoffnungen: Zitator:Mai 1847: Von 1846-47 überwintert bei Beechey Island. Sir John Franklin befehligt die Expedition. Alle wohlauf. Sprecherin:Der Beginn der Expedition scheint gut verlaufen zu sein. Doch an den Rand des Briefes gequetscht finden sich weitere Zeilen. Jemand muss den Bleizylinder zu einem späteren Zeitpunkt wieder geöffnet, den Brief erneut beschrieben haben. Die zittrige Handschrift lässt sich schwer lesen. Musik Zitator:April 1848 - "Terror" und "Erebus" wurden am 22. April verlassen. 105 Seelen unter dem Kommando von Capitain Crozier landeten hier im September 1848. Sir John Franklin ist am 11. Juni 1847 gestorben, Gesamtverlust durch Todesfälle bis heute: 9 Offiziere und 15 Männer. Wir brechen morgen zum Back's Fish River auf. Atmo Eiswind, Schritte Sprecherin:Franklin ist also definitiv tot. Mit ihm 24 weitere Besatzungsmitglieder – eine ungewöhnliche hohe Todesrate, selbst für Arktisexpeditionen. Das Ziel der Überlebenden, der Back’s Fish River, liegt mehrere hundert Kilometer Fußweg entfernt. Durch kaum wegbares Packeis, danach durch eine felsige Tundra, in der es im Frühjahr kaum Nahrung gibt. Sprecher:McClintock fährt mit seinem Hundeschlitten den Weg ab, den die Überlebenden genommen haben müssen. Er stößt auf ein seltsames Relikt: ein Beiboot eines der Schiffe. Scheinbar auf den Kopf gestellt, um einen provisorischen Unterschlupf zu bieten. Zitator:Im Boot befand sich etwas, das uns in Ehrfurcht erstarren ließ. Es waren Teile von zwei menschlichen Skeletten. Das eine das eines schmächtigen jungen Menschen, das andere das eines großen, starken Mannes mittleren Alters, vielleicht ein Offizier. Große und kräftige Tiere, wahrscheinlich Wölfe, hatten einen Großteil dieses Skeletts zerstört. Sprecher:Doch die Gegenstände, die McClintock und seine Kameraden rund um das Boot finden, werfen noch mehr Fragen auf: Kämme, Haarbürsten, Taschenbücher. Und sogar eine ganze Ladung Silberbesteck. Nichts, was man auf einem Marsch um Leben und Tod erwarten würde. Zudem finden sich neben etwas Tee ca. 18kg Schokolade. McClintock vermutet, dass die beiden Männer mit dem Boot und der Schokolade als letztem Proviant zurückgelassen wurden, als sie zu schwach geworden waren, um weiter zu ziehen. McClintock kehrt nach Großbritannien zurück. Er ist überzeugt, dass alle Mitglieder der Franklin-Expedition verstorben sind. Musik Sprecherin:Lady Franklin gibt jedoch bis zuletzt nicht auf, das Schicksal ihres Ehemanns zu klären. Noch mit 82 Jahren finanziert sie eine Expedition in die Arktis. Sie stirbt, noch während sie auf die Rückkehr des Schiffs wartet. Die Expedition endet ergebnislos. Auch eine letzte Expedition wenige Jahre später fördert keine neuen Erkenntnisse zutage. Atmo Eiswind Heulen TC 16:42 – Forschung nach Todesursachen Sprecher:Doch das Rätsel um das Verschwinden der Erebus und Terror zieht die Menschen weiter in seinen Bann. Anfang der 1980er Jahre, gut 100 Jahre nach der letzten Expedition, macht sich ein Team von Forschern der University of Alberta auf, das Rätsel um die Expedition zu lösen. Die kanadischen Forscher stoßen die Reste des Beiboots, das McClintock gefunden hatte. Sie dokumentieren die Fundstelle, sammeln die menschlichen Knochen ein. Im Labor stoßen sie auf Überraschendes: Neben Anzeichen für Skorbut weisen die Knochen der Mitglieder von Franklins Expedition einen zehnmal höheren Bleigehalt auf, als die der Inuit, die in der Gegend beerdigt wurden. Musik Sprecherin:Nun wollen die Forscher der Sache auf den Grund gehen. Zwei Jahre später machen sie sich auf nach Beechey Island, zu den Gräbern die die Franklin-Expedition dort zurückgelassen hatte. Für ihre Expedition brauchen sie eine besondere Genehmigung: Sie wollen die Gräber öffnen, die Leichen der Crewmitglieder untersuchen. Professor Roger Byard von der University of Adelaide ist Pathologe und hat sich eingehend mit den Forschungen zur Franklin-Expedition beschäftigt. OV Prof Roger Byard Beschreibung BleiOVERVOICE männlichThey dug up John torringtons body…Die haben die Leiche von John Torrington ausgegraben, einem der Besatzungsmitglieder, die auf Beechey Island beerdigt wurden. Und dabei fanden sie einen sehr hohen Bleigehalt. Und deshalb sagte man: Aha, die Expedition benutzte diese neumodischen Blechdosen, die mit Blei verlötet waren, das ans Essen abgegeben wurde. Und deshalb meinte man, dass sie an einer Bleivergiftung gestorben sind. Musik Sprecherin:Eine Bleivergiftung tötet nicht direkt, sondern schadet über längere Zeit dem Nervensystem. Erste Symptome: Erschöpfung, Reizbarkeit. Dann: Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme. Am Ende greift die Vergiftung auf das Gehirn über: Verwirrtheit, Orientierungsprobleme, Charakterstörungen. Starben die Männer, weil ihre bleiverseuchten Vorräte sie in den Wahnsinn trieben? Es würde ihre merkwürdigen Entscheidungen erklären: weshalb sie etwa Silberbesteck und anderen wertlosen Tand einpackten, als sie ihre Schiffe verließen. Sprecher:Lange gilt diese Erklärung als einer der Hauptgründe für das Scheitern der Expedition. Doch inzwischen gilt sie als überholt. Prof. Byard weiß warum. OV Prof Roger Byard MultifaktorenOvervoice männlichOver the years the looked at graves of similar vintage…Im Laufe der Jahre hat man bei Gräbern ähnlicher Jahrgänge von Marineangehörigen festgestellt, dass die Bleikonzentrationen bei allen sehr hoch sind. Damals gab es Bleirohre auf den Schiffen und alle möglichen anderen Dinge. Die Bleivergiftung war also nicht der Grund. Also stand man wieder am Anfang bei der Frage nach der Todesursache. (…) Aber ich denke, dass es viele Gründe gab, dass man sich im Grunde genommen einfach abnutzt. Es ist also ein additiver Effekt einer ganzen Reihe von Faktoren. (…) The fact that you’re miserable as hell…Die Tatsache, dass man sich verdammt elend fühlt und weiß, dass man nie wieder nach Hause kommen wird. Das ist wirklich nichts, was einen dazu anspornt, zu versuchen, zu überleben. Aber sie waren jahrelang dort, also waren sie unglaublich stoische Männer. SprecherHinweise für eine Vielzahl an Belastungen finden sich in den menschlichen Überresten: Die Lungen der Männer auf Beechey Island sind von Tuberkulose zerfressen. Die verstreuten Knochen auf den anderen Inseln zeigen Zeichen von Skorbut.  Musik Sprecherin:Doch die Knochen geben auch Aufschluss über ein weiteres Rätsel: Forensiker in den 1990ern Jahren entdecken gerade Schnitte an den Knochen, die am Boot gefunden wurden: Spuren von Klingen. Hier wurde Fleisch von Knochen gelöst. Spätere Studien zeigen: Die Knochen wurden sogar aufgebrochen, über Stunden gekocht, um an das Mark zu gelangen. Eindeutige Beweise für Kannibalismus unter den letzten Überlebenden. Genauso, wie die Inuit es den ersten Suchtrupps im 19. Jahrhundert geschildert hatten. Nach Jahrzehnten der Verleumdung zeigt sich: Die Inuit hatten Recht. TC 21:00 – Durchbruch Sprecher:Die Forscher fangen an, die Berichte der Inuit in ihre Untersuchungen miteinzubeziehen. Und so gelingt im Jahr 2014 ein großer Durchbruch. Atmo Eisbrecher und SonarEin Suchboot, ausgestattet mit einem Sonar, durchfährt eine Bucht nahe der King-William Insel. Laut Schilderungen der Inuit ist hier vor mehr als 150 Jahren ein großes Holzschiff gesunken. Plötzlich erscheint auf dem Radar ein Bild, das eindeutiger nicht sein könnte: Es ist ein Schiff, der Bug liegt zertrümmert am Meeresboden, doch der Rest ist deutlich erkennbar. Sprecherin:Es ist die HMS Erebus. Nach mehr als 150 Jahren ist sie wieder da, in ihrer ganzen Pracht. Doch sie liegt einsam am Meeresgrund. Wo ist ihr Schwesterschiff, die HMS Terror? Sprecher:Es dauert noch zwei weitere Jahre, bis auch dieses Rätsel gelöst wird. Etwa 100 Kilometer weiter südlich, vor der Küste der Adelaide-Halbinsel. Inuit hatten in dieser Gegend schon öfters angeschwemmte Wrackteile gefunden, doch den entscheidenden Hinweis gibt ein Inuk-Jäger. Vor einigen Jahren war er mit seinem Schneemobil auf der zugefrorenen Bucht unterwegs. Dabei stieß er auf einen Holzpfahl, der aus dem Eis aufragte. Jetzt führt er das kanadische Forschungsteam an die Stelle. Der Pfahl, der aus dem Wasser aufragte - Es ist der Mast der HMS Terror. In nur 11m Tiefe liegt das Wrack des Schiffs. Musik Sprecherin:Spätere Tauchgänge zeigen: Das eiskalte Wasser hat das Wrack in außergewöhnlicher Qualität erhalten. Glasflaschen und kostbares Porzellan liegen unversehrt in den Regalen, Gewehre hängen an der Wand. Als ob die Mannschaft sie gerade erst verlassen hätte.Das Team der Unterwasserarchäologen hofft, in Zukunft vielleicht sogar eines der Logbücher bergen zu können. Vielleicht kann so die Geschichte um die Expedition zu Ende erzählt werden. TC 23:06 - Outro  
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Mar 22, 2024 • 23min

GEFÄHRLICHE NACHBARN - Taiwan im Konflikt der Mächte

Der Inselstaat Taiwan gehört zu den politischen Pulverfässern der Welt. Die Führung betont regelmäßig die Eigenständigkeit Taiwans, das offiziell Republik China heißt. Die kommunistische Volksrepublik China aber betrachtet das Land als abtrünnige Provinz und fordert den Anschluss an die Volksrepublik. Dies wollen die USA aber unbedingt verhindern, denn das Südchinesische Meer und die Taiwanstraße sind wichtige Routen für den Welthandel. Zudem ist die hochentwickelte Halbleiterindustrie Taiwans für zahlreiche Industriestaaten von immenser Bedeutung. Von Claudia Steiner (BR 2023) Credits Autorin: Claudia Steiner Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Andreas Dirscherl Technik: Roland Böhm Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Christine Moll-Murata, Anna Marti Linktipps: BR (2024): Notizen aus Taiwan und China – Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung  Taiwan war nie Teil der Volksrepublik und stand nie unter Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas. Dennoch beansprucht Peking die demokratisch regierte Insel als eigenes Territorium. Die meisten Taiwaner können sich keinen Zusammenschluss mit dem autokratisch regierten China vorstellen. Zum Beitrag geht es HIER. Deutschlandfunk (2024): Taiwans polarisierte Medienlandschaft Am 13. Januar wählt Taiwan einen neuen Präsidenten. Das schwierige Verhältnis des Inselstaats zu Festlandchina spiegelt sich auch in einer polarisierten Mediendebatte wider: pro- und anti-chinesische Medien berichten teils komplett konträr. JETZT ANHÖREN phoenix (2023): Taiwan – Angst vor der Invasion Taiwan wird oft als eine der gefährlichsten Regionen der Welt bezeichnet. Aber: Nicht das Land selbst, sondern die politischen Umstände machen die Lage vor Ort so gefährlich. Film von Michael Müller JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:54 – Der AusgangspunktTC 05:01 – Von offizielle und inoffiziellen BeziehungenTC 08:41 – Das Problem der „Wiedervereinigung“TC 11:00 – Ein Land im Konflikt zweier AtommächteTC 14:24 – UmbruchsdenkenTC 17:28 – Der Weiße TerrorTC 19:46 – Ein Leben mit militärischer SpannungTC 22:10 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro ATMO Nachrichtenticker Einspielung 1 (COLLAGE, 09.10.2021, 05.08.2022, 27.5.2022, gerne übereinander legen und/oder mit Ticker trennen) MUSIK: Z8031117101 HOT NEWS 0‘45SPRECHER 2 UND NACHRICHTENSPRECHERChinas Präsident Xi Jinping hat erneut die Wiedervereinigung Taiwans mit der Volksrepublik gefordert. Bei einer Feierstunde zum 110. Jahrestag der Revolution von 1911 sagte Xi, die Wiedervereinigung müsse und werde definitiv verwirklicht werden.… / Die Taiwan-Krise führt auch zu Spannungen zwischen China und Deutschland. Die chinesische Botschaft in Berlin hat nun Außenministerin Baerbock Unterstellungen und eine Einmischung in innere Angelegenheiten vorgeworfen. … Ein chinesischer Flugzeugträger ist durch die Meerenge bei Taiwan gefahren. Er wurde laut Verteidigungsministerium in Taipeh von zwei weiteren Schiffen der chinesischen Armee begleitet. Als Reaktion hätten Taiwans Streitkräfte Luftpatrouillenflugzeuge, Marineschiffe und Raketensysteme aktiviert… ATMO Nachrichtenticker (bricht ab) MUSIK SPRECHERDie Nachrichten zeigen deutlich: Der Status von Taiwan ist kompliziert und konfliktbehaftet. Der Inselstaat, der offiziell Republik China heißt, liegt zwischen Japan und den Philippinen, 180 Kilometer östlich der Volksrepublik China. Die riesige, autoritär geführte, kommunistische Volksrepublik China betrachtet das kleine, demokratische Taiwan als abtrünnige Provinz und fordert den Anschluss an Peking. Die Führung in der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh betont dagegen ihre Eigenständigkeit. Aber politisch ist das Land relativ isoliert. Von den meisten Ländern wird Taiwan nicht als souveräner Staat anerkannt, auch nicht von Deutschland. Dabei war Taiwan nie Teil der 1949 von Mao Zedong gegründeten Volksrepublik China. Und Chinesen waren auch nicht immer Bewohner der Insel. Ein Rückblick: Musik TC 01:54 – Der Ausgangspunkt SPRECHER Ursprünglich war die Insel von indigenen Bevölkerungen besiedelt. Über die Jahrhunderte gab es unterschiedliche Einflüsse: So kamen am Ende der chinesischen Ming-Dynastie Mitte des 17. Jahrhunderts chinesische Einwanderer nach Taiwan. Ebenfalls im 17. Jahrhundert bauten Holland und Spanien koloniale Stützpunkte auf der Insel auf. Die Kolonialmächte wurden aber von chinesischen ming-loyalen Truppen vertrieben.  Von 1895 bis 1945 stand Taiwan schließlich unter japanischer Herrschaft. Doch mit der Kapitulation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von San Francisco am 28. April 1952 gab Japan alle Rechte an ehemaligen Kolonien, und damit auch an Taiwan auf. Doch der genaue Status der Insel war unklar. Christine Moll-Murata ist Professorin für Geschichte Chinas und Leiterin der Taiwanforschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum. O-TON 1 (Moll-Murata, 2.32) Aufgegeben hat es das zwar, aber es ist nicht deutlich formuliert worden, an wen. Weder die Repräsentanten der Volksrepublik China, die inzwischen 1949 gegründet worden war, noch die Repräsentanten der Republik China, die sich jetzt im Exil befanden seit 1949 auf Taiwan, also weder die einen noch die anderen waren anwesend. MUSIK SPRECHERDas heißt: Keine der beiden Seiten waren in den Friedensvertrag involviert, weder die Kommunisten auf dem Festland, noch die Nationalisten im Exil. Beide Seiten war sich zuvor in einem blutigen Bürgerkrieg gegenüber gestanden. Die Kommunisten gingen daraus als Sieger hervor, die Nationalisten zogen sich nach Taiwan zurück – der Ausgangspunkt des heutigen Konflikts. Anna Marti, Leiterin des Taipeher Büros der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung. O-TON 2 (Marti, 2.19) Und Mao Zedong hat am 1. Oktober 1949 in Peking die Volksrepublik ausgerufen. Der vorher existierende Staat, also nach dem Ende des Kaiserreichs, vor der Volksrepublik, war aber die Republik China und die Leute, die damals in Amt und Würden waren, Macht hatten, das ganze Militär, die gesamte Flugzeugflotte und die gesamte Marine sind geflohen vor den Kommunisten, die haben ja eben verloren. Und die haben sich nach Taiwan zurückgezogen.  SPRECHER Die nationalistische Regierung unter der Führung von Chiang Kai-shek von der Kuomintang-Partei flüchtete also mit ihren Truppen auf die Insel – mitsamt der Goldvorräte und wertvoller Kulturschätze aus der „Verbotenen Stadt“, der Palastanlage im Zentrum Pekings. Im nationalen Palastmuseum in Taipeh sind seit 1965 Hunderttausende dieser Schätze ausgestellt und gelagert: Wertvolle Stücke aus Jade, Porzellan und Vasen, Gemälde und Bronzen. Für die Volksrepublik China sind es Beutestücke. Willkommen waren die Nationalisten auf der Insel erst einmal nicht: Die damalige Bevölkerung in Taiwan betrachtete die Ankunft der Soldaten vom Festland als Invasion.  MUSIK TC 05:01 – Von offizielle und inoffiziellen Beziehungen SPRECHERInternational wurde die Republik China auf Taiwan zunächst als Vertreter Gesamtchinas anerkannt. So hatte das kleine Taiwan zum Beispiel einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – obwohl es de facto nur die Insel Taiwan und einige wenige Inseln vor dem chinesischen Festland kontrollierte. Dies änderte sich 1971. Damals wollte die US-Regierung unter Präsident Richard Nixon die Beziehungen zur Volksrepublik China neu aufstellen In der Resolution 2758 heißt es: ZITATORIN „Die Vollversammlung der Vereinten Nationen […] beschließt, all die Rechte der Volksrepublik China instandzusetzen und die Vertreter ihrer Regierung als die einzigen legitimierten Vertreter Chinas in den Vereinten Nationen anzuerkennen und von nun ab die Vertreter Chiang Kai-sheks von dem Platz zu entfernen, den sie zu Unrecht in den Vereinten Nationen und all ihren Organisationen einnehmen.“ SPRECHER Der Beschluss, der die gesamte Macht-Konstellation änderte, er gilt bis heute. Vor allem Länder des globalen Südens stimmten zu. Doch der Beschluss war nicht im Sinne aller Staaten - die USA etwa wollten, dass sowohl die Volksrepublik China als auch die Republik China im Sicherheitsrat vertreten sein sollen, konnten sich mit dieser Haltung aber nicht durchsetzen. Und so nahmen 1979 die USA diplomatische Beziehungen zur flächenmäßig deutlich größeren Volksrepublik China auf und brachen die offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab. Aber eben nur die offiziellen diplomatischen Beziehungen. Zugleich verpflichtete sich Washington mit dem Taiwan Relations Act, Taiwan verteidigungsfähig zu halten. Auch viele andere Staaten haben bis heute keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan. Denn um mit China zusammenarbeiten zu können, müssen Länder die Ein-China-Politik anerkennen. Peking versteht sich als Rechtsnachfolger der Republik China. Anna Marti: O-TON 3 (Marti, 7.01) Das heißt, dass Peking darauf besteht, dass es nur ein einziges China gibt. Und in ihrer Sichtweise ist das eben die Volksrepublik. Und wer mit China, also wer mit Peking diplomatische Beziehungen unterhalten möchte, der muss das akzeptieren. Das heißt, man kann nicht gleichzeitig mit Peking und mit Taipeh diplomatische Beziehungen unterhalten. Musik SPRECHERZu den wenigen Ländern, die heute Taiwan offiziell anerkennen, gehören unter anderem Haiti, Guatemala, Paraguay und der Vatikan. Doch auch wenn es offiziell keine Anerkennung gibt, arbeiten viele Länder – auch Deutschland - eng mit Taipeh zusammen. Es ist diplomatisches Fingerspitzengefühl gefragt. Anna Marti.  O-TON 4 (Marti, 7.37 /24.21)  Was aber wichtig ist: Nur, weil man keine Botschaft in Taipeh hat, heißt das nicht, dass es keinerlei Austausch gibt. Die heißen dann hier anders. Also die deutsche Vertretung heißt da nicht hier die deutsche Botschaft, sondern das ist das Deutsche Institut. / Es gibt einen taiwanischen Pass, der auch anerkannt wird und der in manchen Gebieten auch wirklich sogar besser ist als der chinesische Pass. Also ganz konkret können Leute mit einem taiwanischen Pass in den Schengenraum einreisen, ohne vorher ein Visum beantragen zu müssen. Und das ist bei Menschen, die einen Pass aus der Volksrepublik haben, ist es nicht möglich. Und das ist natürlich ein gewisser Pragmatismus. Es wirkt erstmal merkwürdig, dass zum Beispiel Deutschland, das Taiwan nicht als Staat anerkennt, den Pass aber anerkennt. Aber es gibt zum Beispiel auch ein Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Taiwan und Deutschland. TC 08:41 – Das Problem der „Wiedervereinigung“ SPRECHERDie Eigenständigkeit Taiwans wird auch in anderen Punkten deutlich: So hat das Land eine eigene Währung, den Taiwan-Dollar, und ein eigenes Militär. Doch zwischen der Volksrepublik China und der Republik China herrscht ein starkes Machtgefälle: Das Militär von China zählte 2023 rund zwei Millionen aktive Soldaten, das Militär von Taiwan rund 170.000. China ist Taiwan in militärischer Hinsicht über alle Waffengattungen hinweg deutlich überlegen.  MUSIK SPRECHERDer Status Taiwans ist also seit Jahrzehnten umstritten, die politische Kluft zwischen der Republik und der Volksrepublik China tief. Beide Seiten beharren auf ihren Positionen. Die Führung in Peking betrachtet das 23 Millionen Einwohner zählende Taiwan – welches im Vergleich zu den 1,4 Milliarden Menschen auf dem Festland winzig ist - als Teil der Volksrepublik. Peking strebt eine „Wiedervereinigung“ an und droht mit einer militärischen Eroberung der Insel, sollte sich Taiwan als unabhängig erklären. Immer wieder gibt es militärische Machtdemonstrationen: Chinesische Kriegsschiffe patrouillieren regelmäßig in der Nähe der taiwanesischen Küste, Flugzeuge verletzten den Luftraum. Oder es werden wie im Sommer 2022 bei Manövern Raketen abgefeuert und stürzen in der Nähe der Insel ins Meer – kurz zuvor hatte die damalige Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi Taiwan trotz Warnungen aus Peking besucht. Die Sprecherin des Außenministeriums in Taipeh erklärte damals kämpferisch:  Einspielung 2 (China startet großangelegtes Militärmanöver... ab 27. Sek, chin. O-Ton. Overvoice.) Unsere Regierung ist noch entschlossener, die Souveränität und territoriale Integrität unserer Nation zu schützen. Angesichts des aktuellen Szenarios wird unsere Regierung nicht nur ihre Selbstverteidigungsfähigkeiten aktiv stärken, sondern auch enge Beziehungen zu gleichgesinnten Ländern wie den Vereinigten Staaten pflegen. Gemeinsam werden wir die auf Regeln basierende internationale Ordnung verteidigen, eine weitere regionale Eskalation vermeiden und gleichzeitig die Sicherheit der Straße von Taiwan sowie die Freiheit, die Offenheit, den Frieden und die Stabilität in der indopazifischen Region energisch schützen.  TC 11:00 – Ein Land im Konflikt zweier Atommächte SPRECHERDas Engagement der USA für Taiwan hat vor allem geopolitische Gründe. Die Insel im Pazifik ist ein Land im Konflikt zweier Atommächte, China und den USA. Die USA hat zudem wichtige Militärbasen im Pazifik. Anna Marti: O-TON 5 (Marti, 15.18) Die USA haben große Militärstützpunkte in Japan und in Guam. Und da sind auch wichtige Teile der Pazifikflotte, zum Beispiel auch der Flugzeugträger, die zum Teil dann hier auch durch die Taiwan-Straße fahren, in sogenannten Freedom of Navigation-Routen. Also ganz konkret bedeutet das, dass man da durch die Taiwan-Straße durchfährt, um eben zu zeigen, dass das ein internationales Gewässer ist und nicht, wie von der Volksrepublik beansprucht, ein nationales Gewässer. Musik SPRECHER Eine Eroberung Taiwans durch China wäre ein weiterer Schritt für die Großmacht-Ambitionen Pekings, denn dies würde dem Land zu mehr Macht im Pazifik verhelfen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine befürchten Beobachter, dass China auf ähnliche Art und Weise versuchen könnte, Taiwan zu erobern. Spätestens seit Peking die Demokratiebewegung in Hongkong niederschlagen ließ, ist klar, dass die Volksrepublik auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Die USA – als Schutzmacht - beliefern Taiwan deshalb mit Waffen. US-Präsident Joe Biden bezeichnete es als „Verpflichtung“, Taiwan zu verteidigen – wie dieses Engagement außer Waffenlieferungen genau aussehen könnte, ließ er offen. Die Bochumer Taiwan-Expertin Christine Moll-Murata: O-TON 6 (Moll-Murata, 7.10) Natürlich gibt es auch wirtschaftliche Interessen der USA, aber in erster Linie ist es eben geopolitischer Art. Und das hat, ja, eben auch mit dem Verhältnis von USA zu China zu tun. In letzter Zeit, also seit den letzten fünf, sechs Jahren, spricht man von Decoupling, also von einer Loslösung oder von einer Entflechtung der amerikanischen Wirtschaft von der chinesischen Wirtschaft. Und da spielt eben Taiwan eine wichtige Rolle. SPRECHEREin militärischer Konflikt hätte massive Auswirkungen, auch auf die Weltwirtschaft. Das kleine Taiwan - die Insel ist etwa so groß wie Baden-Württemberg - gilt als Tigerstaat Südostasiens, also als eine besonders dynamische Wirtschaft. MUSIK Zwar taucht Taiwan wegen seines unklaren Status meist nicht in offiziellen Rankings auf, doch mit einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt für 2023 von knapp 800 Milliarden US-Dollar, liegt Taiwan weltweit etwa auf Platz 20. Besonders wichtig für viele Branchen ist vor allem die Chip- und Halbleiterindustrie. Dort ansässige Unternehmen wie die „Foxconn Technology Group“ oder die „Taiwan Semiconductor Manufactoring Company, Limited“ produzieren Elektronik- und Computerteile, Chips und Halbleiter unter anderem für Marken wie Apple, Nintendo, Microsoft und Sony. Anna Marti von der Friedrich Naumann Stiftung in Taipeh. O-TON 7 (Marti, 16.52) Es ist ganz klar: Die Welt ist abhängig von diesen Chips, die hier in Taiwan produziert werden. Und wenn die Lieferketten unterbrochen werden oder wenn es zu einem größeren Konflikt kommen sollte, dann wäre die Weltwirtschaft insgesamt betroffen, nicht nur wegen den Chips, aber natürlich auch wegen den Routen, den Schiffsrouten, die hier auch in nächster Nähe vorbeigehen und die Falle eines Konfliktes da natürlich betroffen wären. TC 14:24 - Umbruchsdenken SPRECHEREs mag erstaunlich klingen: Trotz des politischen Konflikts mit Peking hat Taiwan enge wirtschaftliche Beziehungen mit der Volksrepublik. Die Volksrepublik China ist Taiwans größter Handelspartner. Im Jahr 2022 gingen rund 40 Prozent aller taiwanischen Exporte nach China, inklusive der Sonderverwaltungsregion Hongkong. Taiwanesische Firmen wie Foxconn haben zudem auch Filialen auf dem chinesischen Festland – doch das scheint sich langsam zu ändern, sagt Professor Moll-Murata. O-TON 8 (Murata-Moll, 10.41)  Ich habe jetzt bei einem Besuch in Taiwan vor Kurzem gehört, dass sich einfach auch in Taiwan bemerkbar macht, dass viel mehr Unternehmen, die vorher auf dem Festland ansässig waren, eben versuchen, sich herauszuziehen und dann in Südostasien oder in Indien ihre Produktionsstätten neu aufzubauen - wegen der Unsicherheit, die der Produktion in China und auch natürlich aus geopolitischen Gründen. Ja, und aus Gründen, dass der Standort China für taiwanische Unternehmen eben mehr und mehr gefährlich zu sein scheint. MUSIK SPRECHERNicht nur wirtschaftlich, auch gesellschaftlich findet ein Umdenken statt: Auch wenn die Amtssprache Mandarin, also Chinesisch ist – es werden zudem unter anderem Taiwanisch und Hakka gesprochen -, sieht sich die Mehrheit der vor allem jüngeren Menschen in Taiwan inzwischen als Taiwanerinnen und Taiwaner und nicht als Chinesinnen und Chinesen. Christine Moll-Murata: O-TON 9 (Moll-Murata, 19.47) Die taiwanische Identität, also dieses Identitätsbewusstsein Taiwaner zu sein und nicht Chinese, das hat in den vergangenen Jahren immer stärker zugenommen. Das ist ganz klar. Das heißt aber übrigens nicht, dass nicht die Bevölkerung auch bei Wahlen durchaus zum Ausdruck bringen kann, dass sie an einer größeren Annäherung oder an einer Entspannung gegenüber China großes Interesse hat. SPRECHERDass viele Menschen in Taiwan zumindest den Status quo beibehalten möchten, liegt sicher auch am politischen System. Taiwan gilt als eine der stabilsten Demokratien Asiens mit freien Wahlen, einem funktionierenden Rechtssystem, Meinungs- und Pressefreiheit sowie einer liberalen Gesellschaft. So legalisierte der Inselstaat 2019 zum Beispiel als erstes asiatisches Land die gleichgeschlechtliche Ehe. Auf diese Errungenschaften legen die Menschen großen Wert. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass es gegen die Verfassung verstoße, wenn nur Männer und Frauen heiraten können. Laut dem Demokratieindex – zusammenstellt von der Universität Göteborg -  gehört Taiwan weltweit zu den Top-20-Demokratien und liegt damit unter anderem vor Slowenien und Österreich. Anna Marti: O-TON 10 (Marti, 11.38) Was man aber nicht vergessen darf, ist natürlich, dass Taiwan auch immer noch eine relativ junge Demokratie ist. Das heißt auf der positiven Seite, dass es den Menschen noch oft noch sehr bewusst ist, wie es vorher war und dass sie deswegen auch sehr, sehr viel Wert darauflegen. Musik TC 17:28 – Der Weiße Terror SPRECHERDenn Taiwan war nicht von Anfang an eine Demokratie. In dem früheren Einparteiensystem herrschte jahrzehntelang Kriegsrecht und der sogenannte Weiße Terror – begrifflich eine Abgrenzung zum roten Kommunismus. Es gab unter der Herrschaft der nationalchinesischen Kuomintang willkürliche Verhaftungen. Oppositionelle wurden unterdrückt, vermeintliche Kommunisten und Spione verschwanden und wurden getötet. Anna Marti: O-TON 11 (Marti, 9.57) Es gab politische Gefängnisse. Es war kein Rechtsstaat, und es war ein sehr, sehr repressives System. Und dieser weiße Terror, dieses Kriegsrecht, das galt in Taiwan sehr, sehr lange. Erst 1987 wurde das beendet, und dann setzte langsam eine Demokratisierung ein, die auch von den Menschen getragen wurde und die vor allem von unten kam und die ersten wirklich freien Wahlen, die fanden (19)96 auch erst statt, das heißt es weiter Weg. Und lange Zeit war der schöne Name Republik eben nur das, ein schöner Name und aber nicht wirklich mit Leben gefüllt. Musik SPRECHEROffiziellen Quellen zufolge wurden 1.061 Menschen zum Tode verurteilt und bis zu 20.000 Menschen inhaftiert. Die Aufarbeitung dieser Zeit der Gewalt und Willkür ist ein langwieriger Prozess. Zwar wurden zum Beispiel ein ehemaliges Foltergefängnis und die Gefängnisinsel Lüdao zu Gedenkstätten umgewandelt, Literatur und Kunst setzen sich intensiv mit dem Thema auseinander, und die Opfer des Weißen Terrors wurden entschädigt, die Täter aber wurden nicht juristisch zur Verantwortung gezogen. Erst 1996 wurde der erste direkte Präsident der Insel gewählt: Lee Teng-hui. Der ehemalige Bürgermeister von Taipeh war der erste Präsident, der auch auf der Insel geboren war. In den Nachrichten vom März 1996 hieß es: Einspielung 3 (Taiwan hat gewählt, 00.01)   Während also Präsident Lee feierte und sich feiern ließ, ist für die Führer in Peking, die Taiwan als abtrünnige Provinz betrachten, ein Alptraum wahr geworden. Lee Teng-hui, dessen Wunsch nach mehr internationaler Anerkennung Taiwans die Krise zwischen den beiden Chinas ausgelöst hat, hat 54 Prozent der Stimmen erhalten….   Musik TC 19:46 – Ein Leben mit militärischer Spannung SPRECHERDer Konflikt um Taiwan ist ein Dauerthema – nicht nur international, sondern auch auf der Insel selbst. Denn es kommt immer wieder zu militärischen Machtdemonstrationen, scharfen Reden und Versuchen der chinesischen Einflussnahme, sagt die Ostasienwissenschaften Moll-Murata: O-TON 12 (Moll-Murata, 18.26) Wobei man sagen muss, dass natürlich China auf verschiedene Weise, nicht nur mit militärischen Drohgehabe versucht, Taiwan zu beeinflussen, sondern auch massiv mit Presse, mit den Medien und mit den sozialen Medien auch. SPRECHERTrotz der Spannungen und militärischen Konfrontationen sei im Alltag aber keine ständige Nervosität zu spüren, sagt Marti, die in Taipeh lebt. O-TON 13 (Marti, 21.37) Ich vergleiche es immer ein bisschen, wie wenn man in einen Raum kommt, wo es nicht gut riecht. Wenn man die Tür aufmacht und reinkommt, dann merkt man das - und je länger man in dem Raum ist, desto weniger merkt man das. Irgendwann hat sich die Nase dran gewöhnt und man riecht es nicht mehr. Und das ist so der Eindruck, den ich öfters hier in Taiwan habe. Dass die Menschen diese Gefahr kennen, es war schon immer so, und es gab immer mal Auf und Ab. Und dass man da, wie so ein bisschen abstumpft. Denn man hat ja eigentlich nur zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann entweder sich in frenetischen Vorbereitungen stürzen oder ganz extrem in andauernde Panik verfallen. Oder man kann es so ein bisschen ignorieren und für die allgemeine Gesundheit ist, glaube ich, das Ignorieren und sich einfach damit Arrangieren besser. MUSIK SPRECHERNichtsdestotrotz nimmt in dem jungen demokratischen Land die Diskussion über Politik, das Verhältnis zu China und die Zukunft des Landes einen großen Raum ein. Auch die junge Bevölkerung hat ein großes Interesse an Politik, sagt Christine Moll-Murata: O-TON 14 (Moll-Murata, 28.22) Ich habe viele Definitionen gehört von Taiwan… die einen sagen, wir sind ein Staat ohne Selbstbewusstsein. Die anderen sagen, wir sind ein ganz besonderer Staat. Manche beharren darauf, dass sie sich auf dem Weg zur Nationenbildung finden. MUSIK hoch SPRECHERTaiwan war, ist und bleibt wohl auf absehbare Zeit ein Land im Konflikt der Mächte. Das demokratische Land steht zwischen der mächtigen kommunistischen Volksrepublik China und den USA, für die die Insel geopolitisch, aber auch wirtschaftlich von großer Bedeutung ist. In den vergangenen Jahren nahmen die Spannungen um die Insel eher zu – es bleibt ein Balanceakt.  MUSIK TC 22:10 – Outro
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Mar 22, 2024 • 23min

GEFÄHRLICHE NACHBARN - Wie Bangladesch entstand

Bangladesch - ein Staat, der aus Massakern hervorging. Die Region war zunächst der östliche Teil Pakistans, im fruchtbaren Mündungsdelta der Flüsse Ganges und Brahmaputra gelegen. Im Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung vom westlichen Pakistan kam es 1971 zu schweren Gewalttaten und einem Krieg, an dem schließlich auch Indien beteiligt war. Mehrere Millionen Menschen mussten flüchteten. Von Bettina Weiz (BR 2021) Credits Autorin: Bettina Weiz Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Xenia Tiling, Carsten Fabian Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Micheal Mann   Linktipps: SWR (2022): George Harrsion – „The Concert for Bangladesh“ George Harrisons Konzert und Album "The Concert for Bangladesh" ist quasi die Mutter aller Charity- und Benefizkonzerte. Am 1. August 1971 spielte das ehemalige Mitglied der Beatles zwei Konzerte im ausverkauften Madison Square Garden in New York. Fast 250.000 US-Dollar Spendengelder kamen an diesem Tag zusammen um dem von Krieg, Vertreibung, Völkermord und Naturkatastrophen gebeutelten Bangladesh zu helfen. Aber das war erst der Anfang. JETZT ANHÖREN BR (2024): Die verzweifelte Lage der Rohingya  In der Nähe von Coxs Bazar im Süden von Bangladesh liegt das wohl größte Flüchtlingslager der Welt. Etwa eine Million Rohingya lebt hier, etwa die Hälfte davon Kinder. Verfolgt von der Militärjunta flüchtete die muslimische Minderheit aus ihrer Heimat Myanmar. Doch auch in Bangladesch haben sie keine Zukunft. Zum Podcast geht es HIER. hr (2024): Booming Bangladesh Menschen aus der Kulturszene von Bangladesh erzählen: Modeschöpferin Bibi Russell über ihre Liebe zur Altstadt der Hauptstadt Dhaka, der Fotograf und Aktivist Shahidul Alam wie auch das Kollektiv "Britto Arts Trust" über Kunstfreiheit, die Kunst-Mäzenin Nadia Samdani bringt auf ihrem "Art Summit" die internationale Kunstszene und führende Künstler/innen aus Bangladesh miteinander in Kontakt. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:44 – Das Bengalen LandTC 06:38 –  Die Rolle von Pakistans Teilung in Ost und West  TC 12:17 – Die Mutter aller BenefizkonzerteTC 16:28 – Das Politikum des zweiwöchigen KriegTC 22:28 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro ATMO/MUSIK 1 ERZÄHLERINNew York, Sommer 1971. Ex-Beatle George Harrison tritt auf die Bühne des Madison Square Garden. ATMO (Beifall /George Harrison)„Thank you, thank you“.Darauf weiter: ERZÄHLERIN40.000 Menschen sind zu den zwei Konzerten des Tages gekommen. Es ist Harrisons erster großer Auftritt nach der Trennung der Beatles, und manch ein Fan hofft, dass die Kultband vielleicht doch wieder zusammenfindet. Außerdem stehen an diesem Tag Topstars auf dem Programm, von Eric Clapton bis Bob Dylan. Aber zuerst macht Harrison die Bühne frei für eine Gruppe von Indern mit traditionellen Trommeln und Langhalslauten. ATMO /Musik 1 (George Harrison: „So let me introduce on Sitar Ravi Shankar“ Jubel) ERZÄHLERINDer Sitar-Spieler Ravi Shankar sagt, an diesem historischen Tag hätten sie nicht nur ein Musikprogramm. Sie hätten auch eine Botschaft. ATMO/ MUSIK 1 (Ravi Shankar: „And this is to just make you aware of a very serious situation that is happening....) Darauf Overvoice-Sprecher: Und zwar sollt Ihr auf etwas sehr Schlimmes aufmerksam gemacht werden, das gerade passiert. Wir versuchen nicht, Politik zu machen. Wir sind Künstler. Aber wir möchten, dass Ihr durch unsere Musik die Qualen, den Schmerz und die vielen traurigen Geschehnisse in Bangladesch mitfühlt. Und mit den Flüchtlingen, die nach Indien gekommen sind. (... the pain and lots of sad happenings in Bangladesh. And also the refugees who have come to India.“ Beifall) Musik TC 01:44 – Das Bengalen Land ERZÄHLERINBangladesch: das war damals neu – als Wort und auch als Staat. Der war zum Zeitpunkt des Konzertes gerade erst im Entstehen. Die heftigen Auseinandersetzungen darum führten zum dritten pakistanisch-indischen Krieg. Er dauerte nur knapp zwei Wochen – vom dritten bis zum 16. Dezember 1971. Damit ist er als einer der kürzesten Kriege in die Weltgeschichte eingegangen. Aber trotzdem haben er und vorangegangene innerpakistanische Auseinandersetzungen gewaltiges Leid verursacht. Die Rede ist von bis zu drei Millionen Toten und über 50 Millionen Flüchtlingen. Und das hatte eine lange Vorgeschichte. MUSIK 2 überblendet in ATMO (Wasser-fließt in der Ebene) ERZÄHLERINEs geht um Bengalen. Bangladesch heißt wörtlich „Bengalen-Land“. Gemeint ist ein Gebiet der Superlative. Hier kommt das Wasser vom höchsten Gebirge der Welt zusammen. Ganges, Brahmaputra und Meghna bilden das größte Flussdelta auf dem Globus. Es ist Schwemmland, eine der fruchtbarsten Gegenden der Welt. Für die Bauern ist bis zu dreimal im Jahr Ernte, so der Südasien-Historiker Michael Mann von der Berliner Humboldt-Universtität. 1. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Der Reisanbau wird dort seit Jahrtausenden kultiviert, Vermutungen gehen auch dahin, dass Reis unter anderem in Bengalen zunächst mal durch Menschen kultiviert worden ist, das heißt dass wir tatsächlich auch mit eine der ältesten Regionen in der Welt haben, die besiedelt wurde, MUSIK 3 ERZÄHLERINDas heutige Bangladesch ist der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt. Vor tausend Jahren regierten Buddhisten das Land. Vor 800 kam es unter muslimische Herrschaft. Im 18. Jahrhundert siedelten sich Briten an. Sie kamen als Händler und schwangen sich zu Herrschern auf. 1876 krönten sie die Queen of England zur Kaiserin von Indien. Der Regierungssitz von Britisch-Indien lag in Bengalen: Kalkutta. Eine Stadt von imperialer Größe, voller Paläste und Kultur. Die war eine Gemeinschaftsleistung von Menschen unterschiedlichen Glaubens. Das zeigt das Beispiel des Sitar-Spielers Ravi Shankar. ATMO / MUSIK 4 ERZÄHLERINSeine Familie stammte aus Bengalen. Sie war Hindu. Ravi Shankars Lehrer indes war Muslim. Und er war nicht bloß sein Lehrer. Ravi Shankar lebte auch jahrelang in seinem Haushalt mit. Er heiratete dessen Tochter und trat oft gemeinsam mit dessen Sohn auf, unter anderem beim „Konzert für Bangladesch“ in New York. MUSIK 5 ERZÄHLERINGerade die Gebildeten und die Reichen in Bengalen begannen Ende des 19. Jahrhunderts laut darüber nachzudenken, wie es wäre, Indien zu regieren. Selbst. Ohne Briten. In der aufkeimenden Unabhängigkeitsbewegung spielten Bengalen starke Rollen. Da teilten die britischen Herrscher 1905 Bengalen auf: in einen mehrheitlich muslimischen Ostteil und einen hauptsächlich hinduistischen Westteil. Nach scharfem Protest hoben sie die Teilung wieder auf. 1911 wurde ihnen Bengalen endgültig zu mächtig. Sie verlegten ihren Regierungssitz von Kalkutta nach Delhi. ERZÄHLERINDoch die Unabhängigkeitsbewegung ging weiter – mit Erfolg. 1947 gab der letzte britische Vizekönig von Indien die Gesetzgebungsmacht auf dem Subkontinent ab. In derselben Augustnacht entstanden in der Nachfolge Indien und Pakistan. Indien gab sich eine säkulare Verfassung. Pakistan nannte sich später als erster Staat der Welt „islamische Republik“. Gandhi, der Mahatma und Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, hatte sich beinahe zu Tode gehungert, um eine solche Teilung zu verhindern. Am Ende der Kolonialzeit aber waren die Religionen so politisiert, dass die Teilung unabwendbar war. In der Folge machten sich rund 12 Millionen Menschen auf den Weg, so der Südasienhistoriker Michael Mann: Muslime von Indien nach Pakistan und Hindus von Pakistan nach Indien. 2. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Also ein tatsächlicher Austausch der Bevölkerung, wobei schätzungsweise 1 Mio Menschen umgekommen sind ERZÄHLERINBis heute wirken die Traumata von damals nach. Sie belasten das Verhältnis von Indien und Pakistan, ebenso wie die Frage, zu wem Kaschmir gehört. Das ehemalige Königreich, fast so groß wie die alte Bundesrepublik, wird von Indien beansprucht und von Pakistan ebenfalls, zum Teil auch von China. Mehrfach gab es Kriege um Kaschmir, und die Spannungen halten an. Musik TC 06:38 –  Die Rolle von Pakistans Teilung in Ost und West  ERZÄHLERINDer indisch-pakistanische Krieg von 1971 allerdings drehte sich nicht um Kaschmir. Er begann als Konflikt innerhalb Pakistans. Das bestand seit seiner Gründung 1947 aus zwei getrennten Landesteilen, die weit über 1000 Kilometer voneinander entfernt waren: Westpakistan längs des Flusses Indus, angrenzend an Afghanistan und den Iran; und Ostpakistan im Ganges-Brahmaputradelta mit einer Grenze zum heutigen Myanmar. Bengalen war damit wiederum geteilt, denn Westbengalen, also das westliche Gangesdelta, gehört zu Indien. Wer von West-Pakistan nach Ost-Pakistan reisen wollte, brauchte auf dem Landweg tagelang und musste durch das verfeindete Indien. Westpakistan war vielerorts gebirgig und trocken, Ostpakistan dagegen flach, üppig grün, und Wasser ist das prägende Element. Westpakistan hatte mehr Fläche, Ostpakistan mehr Einwohner. Zwar waren beide Landesteile muslimisch, aber mit anderen Ritualen, anderen Heiligen, anderen Traditionen. Ost- und Westpakistan hatten unterschiedliche Sprachen und Kulturen und eine sehr andere Geschichte, so der Historiker Michael Mann von der Humboldt-Universität Berlin. 3. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Westpakistan ist quasi die Militärbastion britisch-Indiens gewesen, mit dem Punjab, wie das auch heute noch ist, der Punjab ist sehr stark also von Militärsiedlungen durchsetzt, wo auch viele Kasernenbauten waren, wo auch viel Militär stationiert war, das hatte damit zu tun, dass man im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ja immer noch vom sogenannten "Great Game" sprach, also diesem großen Spiel, was um die Einfluss-Zone in Zentralasien ging. Also im Prinzip das Vorspiel dessen, was wir heute gerade erleben um Afghanistan, um Grenzregionen zu Usbekistan, die Auseinandersetzung mit dem damaligen kaiserlichen Russland. ERZÄHLERINUm aus den beiden so unterschiedlichen Landesteilen einen Staat zu schweißen, wollte der Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah• in West- wie in Ostpakistan dieselbe Sprache einführen: Urdu. 4. ZUSPIELUNG (Michael Mann) Urdu ist ursprünglich eine städtische Sprache, die in ganz Nordindien gesprochen wurde und mit dem Hindi sehr stark verwandt ist, wird aber in persisch-arabischen Schriftzeichen geschrieben, so dass man historisch gesehen, im 19. und 20. Jahrhundert, so die Idee entwickelte, dass Urdu auch die Sprache der Muslime ist. Was im 19. Jahrhundert noch gar nicht der Fall war, aber eben im Zuge der Nationalisierung und der Frage der Unabhängigkeit dann zu einem Politikum wurde. Und das muss man sehen vor dem Hintergrund, dass nicht mal 2% der Bevölkerung in West- und Ostpakistan Urdu sprachen. Nicht mal in Westpakistan. MUSIK 7 ERZÄHLERINIn Westpakistan wurde eine Vielfalt anderer Sprachen gesprochen, in Bengalen dagegen einheitlich Bengali, die Sprache, die gerade erst ihre Renaissance erlebt hatte. Da stieß die Einführung von Urdu auf scharfe Gegenwehr. Außerdem hatte Ostpakistan den Großteil der Einwohner und erwirtschaftete das Geld. Das Sagen aber hatte Westpakistan, wo auch die Hauptstadt lag, Islamabad. 5. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Im bengalischen Bereich, also in Ostpakistan, hat das dazu geführt, dass man sich doch in einer Reihe von kolonialen Herrschaftsverhältnissen gesehen hat. Also zuerst mal seit 1565 durch die Moguln beherrscht, dann seit 1765 von den Briten und eben seit 1947 dann durch Pakistan. Das ist dann übrigens auch zu einer dieser Gründungserzählungen oder nationalen Narrativen geworden, dass man von drei Mächten kolonial beherrscht wurde und eben auch kolonial ausgebeutet wurde. Es ist wenig Geld von Westpakistan nach Ostpakistan geflossen, also auch die Infrastruktur wurde dort nicht aufgebaut, es wurde auch kein Militär dort stationiert, sondern es wurde tatsächlich als der Hinterhof betrachtet, der seine Agrargüter zur Verfügung zu stellen hatte. MUSIK 8 ERZÄHLERIN:Kein Militär – keine Mitsprache. Das Militär war nämlich entscheidend im neugegründeten Pakistan, erklärt der Historiker Michael Mann. 1970 gab es zum ersten Mal freie, allgemeine Wahlen. Klar gesiegt hat die Partei des bengalischen Politikers Mujibur Rahman•. Sie bekam fast alle Stimmen in Ostpakistan, und das bedeutete die Mehrheit im Parlament für ganz Pakistan. Doch der westpakistanische General Yahya Khan•, der in Islamabad die Macht hatte, zögerte die Regierungsübergabe hinaus. Unterdessen wurde Militär aus Westpakistan nach Ostpakistan geflogen. Die Lage spitzte sich zu, als ein tropischer Wirbelsturm Bengalen verwüstete. 6. ZUSPIELUNG (Michael Mann)In Ostpakistan kommt noch dazu, dass wir dort eine große Naturkatastrophe hatten mit mehreren 100.000 Opfern, und auch hier kam zu wenig und zu spät Hilfe von Seiten Westpakistans, so dass man auch hier den Eindruck bekam, man ist eigentlich doch eher der koloniale Annex, so wie es unter den Briten war, und das hat insgesamt die Stimmung im Land - gerade nach dem Wahlbetrug dann auch - so aufgeheizt, dass schnell also auch der Ruf nach Unabhängigkeit dann klar wurde. Musik 9 TC 12:17 – Die Mutter aller Benefizkonzerte ERZÄHLERINAnfang März 1971 hätte die pakistanische Nationalversammlung in ihrer neuen Besetzung, also mit bengalischer Mehrheit, tagen sollen. Doch die Militärregierung ließ sie nicht zusammenkommen. Da rief Mujibur Rahman, der Parteichef der siegreichen Bengalen, zu Streik und zivilem Ungehorsam auf. Die Folge: Gewalt und Tod. ERZÄHLERINAm 25. März 1971 richteten das Militär und Bürger, die zu ihm hielten, ein Massaker in Dhaka an, der Hauptstadt des damaligen Ostpakistan. Unter den Toten waren viele Studenten, Kinder, Leute wie Du und ich. Zivilisten eben. Die Berichte aus diesen Tagen sind unerträglich grauenvoll. Der Wahlsieger Mujibur Rahman wurde verhaftet und nach Westpakistan ausgeflogen. Die meisten führenden Mitglieder seiner Partei flohen. Sie richteten in Kalkutta im indischen Teil Bengalens eine Exilregierung ein. Dort erklärten sie Ost-Pakistan für unabhängig von West-Pakistan und gaben dem neuen Staat den Namen „Bangladesch“. MUSIK 10 ERZÄHLERINIn den folgenden Monaten führte die Regierung West-Pakistans Krieg gegen den abtrünnigen Landesteil. Dabei wurde sie von einem Teil der bengalischen Bevölkerung unterstützt, was bis heute tiefe Gräben in der Gesellschaft hinterlassen hat. 7. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Wozu es tatsächlich kam, war es, dass man Terror ins Land brachte. Und dazu wurden gezielt eben die Truppen ausgeschickt, Massaker unter der Bevölkerung anzurichten. Und das geschah, dass manchmal ganze Dörfer massakriert wurden, dass Frauen vergewaltigt wurden, dass sie zum Teil bei lebendigem Leib verbrannt wurden. MUSIK 11 (singt) „My friend came to me /with sadness in his eyes /he told me that he wanted help...“ Darauf OVERVOICE-SPRECHERMein Freund kam zu mir mit Traurigkeit in den Augen. Er sagte mir, er wolle Hilfe, bevor sein Land stürbe. Obwohl ich den Schmerz nicht fühlte, wusste ich, dass ich es versuchen musste. Jetzt bitte ich Euch alle, helft uns einige Leben zu retten! MUSIK 11 kurz hoch: ...now I am asking all of you /to help us save some lives... ERZÄHLERINDas Konzert, das der Ex-Beatle George Harrison im August 1971 in New York organisierte, gilt als das erste Allstar-Benefiz-Konzert überhaupt. Harrison sang auch selbst. MUSIK 11: George Harrison (singt) „Bangladesh, Bangladesh /where so many people are dying fast /and it sure looks like a mess... ERZÄHLERINIm Ergebnis spendete Harrison zunächst ein paar Hunderttausend Dollar aus dem Verkauf der Eintrittskarten an das Kinderhilfswerk UNICEF für Bangladesh. Musik: George Harrison (singt) „We’ve got to relieve Bangladesh /relieve the people of Bangladesh...“ OVERVOICE-SPRECHERWir müssen es den Menschen von Bangladesch leichter machen! ERZÄHLERINVor allem aber machte das Konzert mit einem Schlag das Wort „Bangladesch“ in der westlichen Welt bekannt.Doch die hielt sich politisch zurück. Deutschland betrachtete den Konflikt als innere Angelegenheit Pakistans. Es beschränkte sich darauf, Hilfsgelder für Flüchtlinge zu geben. Die USA sympathisierten mit Pakistan. Unterstützung erhielten die neu entstandenen Guerillagruppen, die für ein unabhängiges Bangladesch kämpften, vom Nachbarstaat Indien. Zum einen aus geostrategischem Kalkül, so der Südasien-Historiker Michael Mann. Mit einem unabhängigen Bangladesch würde es bei künftigen militärischen Auseinandersetzungen mit Pakistan keinen zwei-Fronten-Krieg geben. Außerdem wollte die Regierung von Indira Gandhi den Zustrom von Flüchtlingen stoppen. Viele von ihnen waren ins indische Kalkutta gekommen. 8. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Die Konsequenzen aus dem Bangladesch-Krieg, die haben wirklich nochmal dafür gesorgt, dass Kalkutta eben nicht mehr die Stadt der Intellektuellen, der Literaten war, sondern Kalkutta hat dann erst den Ruf bekommen, eine Stadt des Elends zu sein. Wo z.B. so ne Figur wie Mutter Teresa überhaupt erst aktiv werden konnte. Die wiederum zu dem Bild von Kalkutta als einer Stadt des Elends und der Krankheit beigetragen hat. TC 16:28 – Das Politikum des zweiwöchigen Krieg ERZÄHLERINIm Winter 1971 war die Lage Bangladeschs immer noch aussichtslos. Da griff die indische Armee offen in den Konflikt ein. Am 3. Dezember marschierte sie in Ost- und Westpakistan ein. Am 14. Dezember kamen Berichte aus Bangladeschs Hauptstadt Dhaka von gezielten Massakern der pakistanischen Armee und ihrer Kollaborateure an gut ausgebildeten Bangladeschern. Das sollte es offenbar schwerer machen, den neuen Staat aufzubauen. Am 16. Dezember kapitulierte die pakistanische Armee. Damit konnte das unabhängige Bangladesch Wirklichkeit werden. Mujibur Rahman wurde aus dem Gefängnis entlassen und bekam in Dhaka den Empfang eines Helden. Er wurde zum ersten Premierminister des neuen Staates. MUSIK 12 ERZÄHLERINPakistan ist seither nur noch das ehemalige West-Pakistan, das Land zwischen Indien im Osten und Afghanistan und dem Iran im Westen. So heftig die Gewalt gegenüber dem abtrünnigen Landesteil 1971 war, so wenig sei der Krieg von damals heute Thema, sagt der Südasien-Historiker Michael Mann. 9. ZUSPIELUNG (Michael Mann)In Westpakistan spielt das gar keine Rolle mehr, da ist es völlig ausgeblendet worden, also da - ist noch nicht mal der Verlust eines Landesteiles wird da irgendwie in der Geschichte thematisiert, ERZÄHLERINAuch in Bangladesch sei der Krieg lange kaum Thema gewesen. Im neuen Jahrtausend dann wurde dort für ihn der Begriff „Genozid“ gebräuchlich. Der war ursprünglich für die industrielle Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Holocaust verwendet worden. Er findet aber zunehmend auch anderswo Verwendung, und nun auch in Bangladesch. 10. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Ein Diskurs im Sinne von einer Diskussion oder einer Auseinandersetzung gibt es gar nicht. Es gibt eigentlich eher das Konstatieren von "es ist ein Genozid", und der Genozid ist von pakistanischen Militär gegenüber der bengalischen Bevölkerung in Ostpakistan, in Bangladesch, durchgeführt worden. /// Das ist die Selbstvergewisserung, und das ist quasi ein Teil des Gründungsmythos, der für sich selbst in Anspruch genommen wird, // um die schiere Unfassbarkeit eben dieser reihenweisen Massaker auf einen Nenner zu bringen MUSIK 13 ERZÄHLERINVier Jahrzehnte nach dem Krieg wurden zwei Gerichte gebildet, um die Verbrecher zu bestrafen. Doch eines stellte nach drei Jahren die Arbeit ein, und rasch wurden Vorwürfe laut, es mangele an Unabhängigkeit und Standards. Der Krieg ist zu einem Politikum geworden. 11. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Was zur 50jährigen Wiederkehr des Befreiungskrieges passiert ist, ist eine quasi-Monumentalisierung. Also man hat ein völlig überdimensioniertes, nach unserem Verständnis überdimensioniertes Museum zur Erinnerung an den Befreiungskrieg gebaut, wo also Hubschrauber und andere Gerätschaften, Großgeräte ausgestellt werden, mit einer sehr schönen modernen Architektur auch, man hat andere Denkmäler gebaut, die auch diesen Befreiungskrieg in monumentaler Art und Weise erinnern, es führt aber auch dazu, dass Kritik an Mujibur Rahman nicht geäußert werden darf, das ist politisch völlig unopportun und kann also auch zu Schwierigkeiten führen MUSIK 14 ERZÄHLERINDas Museum zur Erinnerung an den Befreiungskrieg in Dhaka gibt die Zahl der Toten in den Auseinandersetzungen von West- mit Ostpakistan und im Krieg von Pakistan und Indien mit rund drei Millionen an. 10 Millionen Menschen, vor allem Hindus, seien nach Indien geflüchtet, 45 Millionen innerhalb Bangladeschs vertrieben worden. Fast 280.000 Frauen und Mädchen wurden demnach vergewaltigt. Doch im einzelnen verzeichnen konnte die Opfer niemand, und es gebe unterschiedliche Zahlen, sagt Michael Mann von der Humboldt-Universität zu Berlin. 12. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Die Forschung zu diesem Unabhängigkeitskrieg und vor allem auch welche Rolle Mujibur Rahman vorher, hinterher gespielt hat, ist für Bangladeschis sehr schwierig. Das habe ich also auch selber an der Universität erfahren, als eine Doktorandin mir im Prinzip mitteilen musste, dass das, was sie eigentlich als Thema vorhat, nämlich sich mit dem Unabhängigkeitskrieg zu beschäftigen, nicht in dieser Form umsetzen kann und dass auch ihre Eltern ihr abgeraten hätten, Interviews durchzuführen dann auf dem Land. ERZÄHLERINEs würde bedeuten, dass viele Frauen und Männer, die diese Massaker überlebt haben, sich der schmerzlichen Erinnerung an verdrängtes Leid stellen müssten – und die Täter verheimlichter Schuld. 13. ZUSPIELUNG (Michael Mann)Was man weiß ist, wie die militärischen Aktionen abgelaufen sind, wann wo welche Flugzeuge eingeflogen wurden, also da gibt es auch nicht viel Weiteres zu erforschen. Das eigentliche - das soziale Elend, das familiäre Elend, das menschliche Elend, das ist bei weitem noch nicht in dem Maße erforscht, wie es sein sollte. MUSIK 11 ERZÄHLERINFür den Musiker George Harrison ist in Dhaka ein Denkmal aufgestellt worden. Ein Jahrzehnt nach dem Konzert für Bangladesch hatte er weitere 10 Millionen Dollar aus dessen Erlösen an das Kinderhilfswerk UNICEF gespendet. So lange hatte es gedauert, bis Rechtsstreitigkeiten um das Konzertalbum beigelegt waren. Das Geld wurde Grundstock für eine Stiftung, die bis heute Kinder in Bangladesch unterstützt. In dem Staat, der nach dem Krieg 1971 in Südasien entstanden ist, sind Millionen von ihnen auch jetzt in Not.Musik 15 TC 22:28 - Outro
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Mar 22, 2024 • 22min

GEFÄHRLICHE NACHBARN - Die Teilungen Polens

Eine unglaubliche Geschichte: Da liegt im Herzen Europas ein Riesenreich, einer der größten Staaten Europas, eine Adelsrepublik mit jahrhundertealten Traditionen. Und dieser Staat verschwindet dann innerhalb zweier Jahrzehnte von der Landkarte. So geschehen mit Polen, das im späten 18. Jahrhundert Beute seiner angrenzenden Nachbarländer wurde. Preußen, Österreich und Russland nahmen sich in drei Schritten für sie passende "Arrondierungsflächen", als wäre Polen ein großer Kuchen. Von Julia Devlin (BR 2012) Credits Autorin: Julia Mahnke-Devlin Regie: Irene Schuck Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Wolfgang Pregler, Margrit Carls, Andreas Neumann Technik: Wilfried Hauer, Adele Kurdziel Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Eckhart Hellmuth, Dr. Richard Butterwick, Dr. Małgorzata Zemła Linktipps: Planet Wissen: Geschichte Polens Polen ist eine selbstbewusste Nation mit einer bewegten Geschichte. Oft zerrissen zwischen den geopolitischen Kräften des Westens und des Ostens, entwickelte sich Polen zum Meister der Überlebenskunst. Zum Beitrag geht es HIER. Deutschlandfunk Kultur (2018): Politisierte Erinnerung  1918 kehrte Polen als Staat auf die Landkarte zurück, nach 123 Jahren Unfreiheit unter fremder Herrschaft. Die Erinnerung an damals hat großen Einfluss auf die aktuelle politische Diskussion und die Frage: Welches Land soll Polen heute sein? JETZT ANHÖREN Planet Wissen (2020): Polen – Land der Kontraste Polen ist pure Vielfalt. Auf der einen Seite wilde, ursprüngliche Natur, auf der anderen Seite quirlige, moderne Städte. Polens Geschichte ist geprägt von einer mächtigen Kirche und einem langen Freiheitskampf, der schließlich in der Öffnung nach Westen mündete. Seitdem wächst die Kluft zwischen Jung und Alt, zwischen Gewinnern und Verlierern, denn längst nicht alle profitieren vom Wirtschaftswachstum der letzten Jahre. Nährboden für Jarosław Kaczyński und seine nationalkonservative PiS-Partei, die seit 2015 die Regierung stellt und alles versucht, ihre Macht nachhaltig zu festigen. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 01:00 – Fortschritt als Schwäche?TC 02:32 – Der König, die Zarin und die KaiserinTC 07:30 – Erste Verfassung EuropasTC 10:04 – ExistenzangstTC 12:22 – Die dramatische Lage der JudenTC 13:46 – Polnisches TraumaTC 20:28 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 - Intro Musik / Polnische Nationalhymne, Chorversion (ev. C136376) ERZÄHLERDie polnische Nationalhymne. Noch ist Polen nicht verloren, so lautet die erste Zeile. Dass sie heute noch gesungen wird, in einem freien Polen, grenzt an ein Wunder. Denn Polen war als Staat über 120 Jahre lang von der Landkarte verschwunden. ERZÄHLERINEiner der größten und ältesten europäischen Staaten wurde im 18. Jahrhundert wie ein Kuchen zwischen den drei Nachbarn aufgeteilt. ERZÄHLER1772 ZUSPIELUNG Paukenschlag. ERZÄHLERErste Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag. ERZÄHLERINPolen verliert dreißig Prozent seines Territoriums. ERZÄHLER1793 ZUSPIELUNG Paukenschlag.ERZÄHLERZweite Teilung Polens. ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERINPolen verliert weitere vierzig Prozent seines Territoriums. ERZÄHLER1795 ZUSPIELUNG Paukenschlag ERZÄHLERDritte Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERINPolen existiert nicht mehr. Musik / Barock ERZÄHLERPolen-Litauen im 18. Jahrhundert: Ein Großreich, das sich seit Jahrhunderten zwischen der Ostsee und den Karpaten, zwischen Preußen und Russland erstreckt. Seine Fläche ist gut doppelt so groß wie die der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Doch der Gigant ist anfällig für Konflikte von innen und von außen. TC 01:00 – Fortschritt als Schwäche? ERZÄHLERINPolen ist eine Adelsrepublik. Das heißt, der Adel, die sogenannte Szlachta, hat das Sagen. Regiert wird das Land vom Sejm, dem Parlament. Einen König gibt es zwar, aber anders als andere Könige erbt er seine Würde nicht, sondern wird vom Sejm gewählt. Viel zu sagen hat er nicht. Das mag fortschrittlich scheinen, verursacht aber Streit und Intrigen und schwächt den Staat. ERZÄHLEREin weiteres fortschrittliches Gesetz und Ursache vieler Zerwürfnisse ist das sogenannte liberum veto. Dieses Gesetz fordert, dass Entscheidungen im Parlament einstimmig fallen müssen. Ein einziger Adliger kann mit seinem Einspruch alles blockieren. ZITATOR 2 (herrisch)„Nie pozwalam!“ ERZÄHLERIN„Ich gestatte nicht!“ Durch diesen Ruf werden sämtliche Beschlüsse einer Sitzung null und nichtig. ERZÄHLERIm 18. Jahrhundert nehmen die Probleme überhand. Konflikte um die Thronfolge brechen aus, mehrmals herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, und das Parlament ist durch das liberum veto praktisch handlungsunfähig. Zudem haben zahlreiche Kriege das Land verwüstet. Polen wird zur leichten Beute für die Nachbarstaaten. Das sind: im Norden und Westen Preußen, im Süden das Habsburger Reich, im Osten Russland. ERZÄHLERIN Russland beeinflusst die polnische Politik schon lange, man könnte Polen fast als russisches Protektorat bezeichnen. Doch den Anstoß zu den Teilungen gibt eine andere Großmacht: Preußen. Eckhart Hellmuth, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Ludwig Maximilians Universität in München:TC 02:32 – Der König, die Zarin und die Kaiserin 1. ZUSPIELUNG (Hellmuth - O1)„Friedrich ist die treibende Kraft hinter dieser ersten polnischen Teilung. „ ERZÄHLER Der Preußenkönig verbirgt seine Absichten nicht: ZITATOR 1 „Polen muss man verspeisen, Blatt für Blatte, wie eine Artischocke“ ERZÄHLERIN Friedrich der Große hat Appetit auf ein ganz bestimmtes Stück Nordpolens. Ein großer Teil seines Königreiches – Ostpreußen - ist eine Exklave. Hoch im Norden und weit im Osten gelegen hat Ostpreußen keine Landverbindung zum Kernland. Denn dazwischen liegt das Land des polnischen Königs. ERZÄHLER Mit der Annexion dieser nordpolnischen Gebiete will Friedrich eine Landbrücke zwischen Pommern und Ostpreußen schaffen. Schon 1752 schreibt er: ZITATOR 1 „Polnisch Preußen trennt Pommern von Ostpreußen und hindert, dieses zu behaupten. Ich halte es nicht für angebracht, diese Provinz mit Waffengewalt zu gewinnen...Erwerbungen mit der Feder sind solchen mit dem Schwert allemal vorzuziehen.“ 2. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O2)„Der Weg in die erste polnische Teilung ist natürlich eine Möglichkeit, das Territorium ohne großen militärischen Konflikt zu arrondieren.“ ERZÄHLERIN „Erwerbungen mit der Feder“ bedeutet, Diplomaten statt Soldaten einzusetzen, mit gleichgesinnten Partnern die Beute von verschiedenen Seiten einzukreisen. Alleine ist ein Vorstoß zu riskant – die anderen Großmächte reagieren sehr empfindlich, wenn das Gleichgewicht der Kräfte gestört wird. Friedrich muss die Nachbarstaaten Polens einbeziehen: das Zarenreich und das Habsburger Reich. Zunächst lässt er seine Diplomaten am Zarenhof sondieren. Die Herrscherin dort: Katharina die Große. Dr. Richard Butterwick, Professor für polnische Geschichte am University College London: 3. ZUSPIELUNG (Butterwick - O1)“Frederick the Great had long had his eyes on this bit of territory connecting Brandenburg with East Prussia... ZITATOR 2 / overvoice„Friedrich der Große hatte schon lange ein Auge auf dieses Territorium im Norden geworfen, das Brandenburg mit Ostpreußen verbindet, aber auch am Zarenhof gab es Interesse an dem Territorium nördlich und östlich von Dvina und Dnjepr.“ ERZÄHLERIN Schnell ist man sich handelseinig: Wenn Friedrich Westpreußen bekommt, darf sich die Zarin in Polens Osten bedienen. Im Vertrag vom 17. Februar 1772 werden die künftigen Grenzen festgelegt. Mit diesem Vertrag in der Tasche ziehen die Diplomaten weiter, an den Kaiserhof nach Wien. Auch hier ist eine Frau auf dem Thron: Maria Theresia. 4. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O3)Habsburg kommt ja relativ spät an Bord, wobei es da gewisse Differenzen zwischen Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph II. gibt. Maria Theresia ist ja extrem vorsichtig, hat auch moralische Bedenken gegenüber dieser ersten Teilung Polens.“ ERZÄHLER Doch der Teilungsvertrag zwischen Russland und Preußen ist beschlossene Sache, Maria Theresia steht vor vollendeten Tatsachen. 5. ZUSPIELUNG (Butterwick – O2)“So when they are faced with the bargain between Russia and Prussia they’ve effectively no choice...” ZITATOR 2 / overvoice„Konfrontiert mit dem Handel zwischen Russland und Preußen hat Wien effektiv keine Wahl. Statt einen Krieg mit beiden anzufangen, macht es lieber mit.“ ERZÄHLERIN Friedrich kommentiert zynisch: ZITATOR 1 „Die Kaiserin Katharina und ich sind einfache Diebe. Ich wüsste nur gerne, wie die Kaiserin Maria Theresa ihren Beichtvater beruhigt hat? Sie weinte, als Sie nahm; je mehr Sie weinte, desto mehr nahm Sie.“ ERZÄHLER Die Entscheidung lastete Maria Theresia zeitlebens schwer auf der Seele. Ihrem Sohn Ferdinand schreibt sie: Musik / Barock, ev. Spinett, traurig.ZITATORIN „Diese unglückliche Teilung Polens kostet mich zehn Jahre meines Lebens... durch wie lange Zeit habe ich mich dagegen gewehrt! Nur die Wahrscheinlichkeit, allein einen Krieg gegen Russland und Preußen führen zu müssen, Elend, Hungersnot und verderbliche Krankheiten in meinen Ländern zwangen mich, auf diese unseligen Vorschläge einzugehen, die einen Schatten werfen auf meine ganze Regierung. Gott wolle, dass ich dafür nicht noch in der anderen Welt zur Verantwortung gezogen werde.“ ERZÄHLERIN So tritt Österreich im August 1772 dem Teilungsvertrag bei und sichert sich große Territorien im Norden seines Reiches. ERZÄHLERDer Vertrag wird dem polnischen Reichstag vorgelegt. Bestochen, durch Drohungen gefügig gemacht und im Bewusstsein der eigenen Schwäche unterzeichnet der Sejm die so genannten „Abtretungsverträge“. 6. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O4)„Der Weg in die erste polnische Teilung ist natürlich eine Möglichkeit, das Territorium ohne großen militärischen Konflikt zu arrondieren. ...Es kommt ja nicht bei der ersten polnischen Teilung zu irgendeinem militärischen Konflikt.“ ERZÄHLERIN Friedrichs Traum hat sich erfüllt: Musik / Militärmarsch ZITATOR 1 „Erwerbungen mit der Feder sind solchen mit dem Schwert allemal vorzuziehen.“ ERZÄHLER Eine zeitgenössische französische Karikatur zeigt die vier beteiligten Monarchen, wie sie um eine Landkarte Polens sitzen: drei zeigen auf die gewünschten Gebiete, während der polnische König verzweifelt seine Krone festhält, die ihm vom Kopf fliegt. Sein Königreich hat ein Drittel seiner Bevölkerung und mehr als ein Viertel seines Territoriums verloren und ist nur noch so groß wie Frankreich.TC 07:30 – Erste Verfassung Europas ERZÄHLERIN Der Schock der Verluste rüttelt die polnische Führungsschicht auf. König und Sejm raufen sich zusammen und entwickeln eine Verfassung - die erste moderne Verfassung Europas. Sie ist stark von der französischen Aufklärung beeinflusst. Die Macht des Königs wird eingeschränkt, die des Parlaments gestärkt. Das liberum veto wird abgeschafft, stattdessen ein Mehrheitsprinzip eingeführt. Die Bürger erhalten ein Mitspracherecht. Weil die Verfassung am 3. Mai 1791 verabschiedet wird, ist der 3. Mai heute in Polen Nationalfeiertag. Musik / Jeszcze Polska nie zginela... (polnische Nationalhymne, Instrumentalversion) ERZÄHLER Mit dieser Verfassung könnte Polen wieder zu einem handlungsfähigen Staat werden - wären da nicht die Nachbarn. Die empfinden das Dokument als Affront. Denn zur selben Zeit gehen in Frankreich ungeheuerliche Dinge vor: Musik /  Marseillaise (dem Folgenden unterlegen) ERZÄHLERIN Das Volk erhebt sich gegen den Monarchen, gibt sich eine Verfassung. ERZÄHLER Parallelen zu den revolutionären Vorgängen in Frankreich drängen sich auf. Polen und Frankreich – Brüder im Geiste, welch schreckliche Vorstellung! Zu viele revolutionäre Feuer will man nicht brennen sehen, zumal nicht in der eigenen Nachbarschaft. Der Funke könnte überspringen. ERZÄHLERIN Katharina die Große empört sich über die polnische Verfassung. ZITATORIN „Dieses Schriftstück ist ein Machwerk, schlimmer, als es sich die französische Nationalversammlung ausdenken könnte! Die Pest der französischen Lehren ist hier am Werke!“ 7. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O5)„Also ein polnischer Staat, der sich eine vergleichsweise offene, vom Geist der französischen Revolution inspirierte Verfassung gibt, der darüber hinaus versucht, die internen Strukturen effizienter zu gestalten, so dass die Einflussmöglichkeiten dieser drei europäischen Mächte auf die innenpolitischen Verhältnisse Polens reduziert werden, provoziert die Intervention 93.“ ERZÄHLER 1793 ZUSPIELUNG Paukenschlag ERZÄHLER Zweite Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERIN Polen verliert weitere vierzig Prozent seines Territoriums. ERZÄHLER Preußen sichert sich mit Danzig und Thorn zwei wichtige Handelsstädte, außerdem Großpolen mit der Hauptstadt Posen. Russland nimmt sich Weißrussland und große Gebiete Litauens und der Ukraine. Österreich wird auf Wunsch der Zarin ausmanövriert, ist also nicht beteiligt. Mit Kanonen und mit hohen Bestechungsgeldern bringt man den Sejm dazu, diesen weiteren Abtretungsvertrag 1793 zu ratifizieren. Außerdem wird die polnische Verfassung außer Kraft gesetzt.TC 10:04 – Existenzauflösung ERZÄHLERIN Doch diesmal lassen sich die Polen den erneuten Raubzug nicht einfach gefallen. Durch alle Schichten der Bevölkerung flammt Widerstand auf. Er gipfelt 1794 im Kościuszko-Aufstand. ATMO / Kriegerisches oder Marsch ERZÄHLER Mehr als ein halbes Jahr lang kämpfen polnische Adelige, Bürger und Bauern gegen die Besatzer - vergeblich. Vor den Armeen Russlands und Preußens müssen die Aufständischen schließlich kapitulieren. Damit sind die Weichen gestellt für die endgültige Auflösung Polens. 8. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O6)„Und es gibt einen großen Unterschied zwischen der zweiten und der ersten Teilung: Bei der ersten polnischen Teilung sind alle drei Teilungsmächte von der Vorstellung einer fortdauernden Existenz Polens ausgegangen, eines Polens, das zwar geschwächt ist, das unter dem Einfluss dieser drei europäischen Mächte stehen soll, das aber als Staat erhalten bleiben soll. 93 ist dies nicht mehr der Fall. 93 ist man sich bewusst, dass man in einem weiteren Schritt auch Restpolen an diese drei europäischen Mächte fallen soll. Da gibt es eine logische Verbindung zwischen der Situation 93 und 95, und durch die Aufstandsbewegung in dieser Zwischenzeit in Polen gibt es natürlich einen Vorwand, um hier auch noch erstens zu intervenieren und dann Restpolen aufzuteilen. ERZÄHLER 1795 ZUSPIELUNG Paukenschlag ERZÄHLER Dritte Teilung Polens ZUSPIELUNG Trommelwirbel, Paukenschlag ERZÄHLERIN Polen existiert nicht mehr. Musik / Chopin: Marche funèbre (3. Satz aus Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 35), dem Folgenden unterlegen. ERZÄHLER Im Jahre 1795 unterzeichnen der Preußenkönig Friedrich Wilhelm der Zweite, der Habsburger Kaiser Franz II. und die Zarin Katharina einen dritten Vertrag. Sie teilen den verbliebenen Rest unter sich auf. Der König dankt ab. 1797 erklären die Teilungsmächte das Königreich Polen für erloschen. ERZÄHLERIN Danach versuchen die jeweiligen Besatzungsmächte die „neu erworbenen“ Gebiete, so die offizielle Bezeichnung, in ihre Länder einzugliedern. Das ist mit einem gewissen Maß an Unterdrückung verbunden. Wobei es den Polen unter den Habsburgern am besten, unter den Zaren am schlechtesten geht.TC 12:22 – Die dramatische Lage der Juden ERZÄHLER Vor allem die Lage der Juden verschlechtert sich. In Polen leben viele Juden, da es ihnen seit dem Mittelalter Zuflucht und Schutz gewährt hat. Über die Jahrhunderte haben sich blühende Gemeinden entwickelt. Doch unter den neuen Herrschern ist es mit der Toleranz vorbei. ERZÄHLERIN Und zwar schon nach der ersten Teilung: Friedrich der Große duldet Juden nur dort, wo sie der Wirtschaft förderlich sind. Doch nun leben in Preußen mit einem Mal Landjuden, nicht vermögend, von daher auch nicht einträglich. ZITATOR 1 „Die Bettel-Juden vom platten Lande müssen jedoch successive und ohne Ungestüm weggeschaffet werden.“ 9. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O7)„...die erben plötzlich ein paar Tausend Juden, Landjuden, die höchstwahrscheinlich als Vagabundierer rumgezogen sind und was macht der Friedrich – er jagt die tatsächlich über die Grenze und schmeißt die raus. Paar Tausend, einfach so über die Grenze zu jagen, das ist auch für das 18. Jahrhundert eigentlich ein ziemlich kapitaler Bock.“ ERZÄHLERIN Über 6.000 Juden werden über die Grenze in das da noch bestehende Restpolen deportiert. Musik / Klezmer (traurig) ERZÄHLER In Russland ist man bis zu den Teilungen nie mit Juden in Berührung gekommen, denn Juden durften sich im Zarenreich nicht niederlassen. Nun hat die Zarin auf einen Schlag Hunderttausende jüdischer Untertanen. ERZÄHLERIN Was tun mit diesen nicht-orthodoxen Untertanen? Die Zarin entscheidet, dass sie bleiben dürfen, doch grenzt sie ihren Lebensraum strikt ein. Sie dürfen nur in einem Reservat, dem sogenannten „Ansiedlungsrayon“ im äußersten Westen Russlands leben, wo sie aufgrund von Überbevölkerung und vielen Restriktionen schnell verarmen.TC 13:46 – Polnisches Trauma ERZÄHLER Und wie reagiert die europäische Öffentlichkeit auf die Teilungen? Richard Butterwick: 10. ZUSPIELUNG (Butterwick – O3)“When the Polish-Lithuanian Commonwealth was partitioned for the first time in 1772 it did strike much of European public opinion as something exceptional.” ZITATOR 2 / overvoice „Als Polen-Litauen 1772 zum ersten Mal geteilt wurde, empfand das die europäische Öffentlichkeit als abnorm. Das zeigt sich zum Beispiel in der berühmten Karikatur, auf der drei gierige Monarchen ein Land zerstückeln, das sich nicht mehr verteidigen kann. Viele sahen es als einen brutalen Angriff auf die weithin akzeptierten Umgangsformen der Staaten miteinander.“ ERZÄHLERIN Die Teilungen - ein eklatanter Verstoß gegen zwischenstaatliche Umgangsformen, ein gravierendes Unrecht - eine für britische Historiker typische Einschätzung. In der deutschen Geschichtsschreibung hingegen wurden die Teilungen lange marginalisiert. Professor Hellmuth: 11. ZUSPIELUNG (Hellmuth – O8)„Ein Teil der angelsächsischen Historiographie liest dieses Ereignis als wirklich eine der ganz großen Aktionen des 18. Jahrhunderts, dieses Verschwinden von Polen. In negativer Weise. Einer der größten europäischen Staaten verschwindet innerhalb von gut zwei Dekaden von der europäischen Landkarte, das ist eigentlich ein unvorstellbarer Akt! Es gibt nichts Vergleichbares! Und dieser Staat ist dann über 120 Jahre nicht existent und man kann natürlich im Nachhinein auch verstehen, dass dies für die polnische Nation eigentlich bis in unsere Gegenwart hinein ein traumatisches Ereignis ist und wenn wir uns also etwas irritiert über bestimmte Reaktionen heute in Polen zeigen, dann hängt das ganz entscheidend damit zusammen, dass dieser Staat auf dramatische Weise von der europäischen Landkarte im 18. Jahrhundert getilgt worden ist.“ ERZÄHLER Ein traumatisches Ereignis, das bis heute nachwirkt. Dr. Małgorzata Zemła,, Dozentin für polnische Sprache an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 12. ZUSPIELUNG (Zemła – O1)„Ja, ich glaube, es ist sehr tief im Bewusstsein oder auch im Unterbewusstsein verankert. Es war ein nationales Trauma, das weiß jeder und es ergibt sich die Frage, wenn das ein nationales Trauma ist, wie wird man mit diesem Trauma fertig. Denn nicht nur einzelne Personen haben es sehr schwer mit der Bewältigung eines Traumas, auch Kollektive.  Also wenn man die Gegenwart nur unter diesem Gesichtspunkt sieht, dass es Teilungen gegeben hat, dass die Nachbarn sich daran beteiligt haben, wenn man diese Nachbarn weiterhin so sieht, das kann auch sehr gefährlich sein.“ ERZÄHLERIN Doch nicht nur das Trauma wirkt weiter. Eine Fremdherrschaft über vier Generationen hinweg hinterlässt auch andere Spuren. 13. ZUSPIELUNG (Zemła – O2)„Also diese Besatzer, diese Mächte haben die Mentalität der Polen in diesen Teilen ziemlich stark beeinflusst. Sie spüren das selber. Also wenn man zum Beispiel Eltern hat, und ein Elternteil stammt eben aus dem ehemals preußischen Teil, und ein anderer aus Krakau, oder aus Warschau, es gibt eine gewisse Diskussion in der Familie, was das bedeutet. Und auf jeden Fall gibt es diese Unterschiede noch.“ ERZÄHLER  Die Herrschaft der Habsburger über ihr Teilungsgebiet im Süden war vergleichsweise liberal, und so wird ihr Einfluss auch positiv gesehen. 14. ZUSPIELUNG (Zemła – O3)„Natürlich der Einfluss der deutschen Sprache im Süden oder im Westen ist ganz groß. Das österreichische Teil hatte viele Freiheiten, und da ist es ganz natürlich, dass man auch noch Deutsch kann, und dass manches aus dieser Kultur in die polnische Kultur aufgenommen wurde. Die Österreicher haben sich sehr oft polonisiert, haben Polinnen geheiratet, aber das weiß man bis heute noch, in Krakau, das sind die Krakauer, die haben etwas mit Österreich zu tun, sie haben Namen, die darauf hinweisen, dass ihre Familie aus Wien stammt, und das wird sehr anerkannt. Das ist eine Art von positiver Kennzeichnung, ganz normal.“ ERZÄHLERIN Dazu kommt, dass Österreich auch katholisch ist. Im konfessionellen Bereich gibt es keine Unterschiede. Anders im protestantischen Preußen und im orthodoxen Russland. Hier wird immer wieder versucht, die Bevölkerung zum Glaubenswechsel zu bewegen, katholische Kirchen werden geschlossen. Doch der Druck bewirkt nur eine noch stärkere Hinwendung der Polen zum Katholizismus. 15. ZUSPIELUNG (Zemła – O4)„Im russischen Teil war es ganz schwierig, weil einerseits die Kulturen sind gewissermaßen ähnlich, die Sprache ist ähnlich, aber die Restriktionen waren da zeitweise sehr groß, auch auf der Schule musste man Russisch sprechen, und natürlich hatte man dort auch die meiste Angst, dass das Polnische verlorengeht. Alle Straßenschilder waren zeitweise nur auf Russisch, also da bemüht man sich vielleicht am meisten, um sich von der Kultur irgendwie mindestens in diesem privaten Bereich abzugrenzen.“ ERZÄHLERWenig erstaunlich, dass in diesem Teil der Widerstand am heftigsten ist. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch bleiben die Polen ein Stachel im Fleisch des Zarenreiches, leisten Widerstand gegen die Besatzer, erheben sich in Aufständen, die grausam niedergeschlagen werden. ERZÄHLERIN Als Staat ist Polen nicht mehr vorhanden, doch in den Herzen und Köpfen der Menschen lebt es weiter. Sprache, Kultur und Religion bilden die Brücke zwischen der großen Vergangenheit der Adelsrepublik und einer ungewissen Zukunft. Als hätten die Polen den Rat des Philosophen Jean-Jacques Rousseau befolgt: ZITATOR 2 „Wenn ihr nicht verhindern könnt, dass eure Feinde euch schlucken, so verhindert zumindest, dass sie euch verdauen.“ Musik / Jeszcze Polska nie zginęła...(CD 32477 take 24) ERZÄHLER Verdauen lassen sie sich nicht, die Polen. 1918 ersteht das Land, das 123 Jahre von der Landkarte verschwunden war, neu - mit Hilfe der Siegermächte des 1. Weltkrieges. Doch das ist schon wieder eine neue Geschichte. TC 20:28 - Outro
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Mar 15, 2024 • 23min

VERSUNKENE ORTE - Rungholt, das Atlantis der Nordsee

Eine verheerende Stumflut im Jahre 1362 steht am Anfang vieler Mythen und Sagen, die sich um die versunkene Siedlung Rungholt ranken. Der Ort an der Westküste im heutigen Schleswig-Holstein birgt bis heute Rätsel. Seit Beginn seiner Erforschung ist aber schon einiges ans Tageslicht gekommen, was eine ganz andere Geschichte über Rungholt erzählt als vermutet. Von Thomas Samboll (BR 2022) Credits Autor: Thomas SambollRegie: Kirsten BöttcherEs sprachen: Thomas Meinhardt, Inka Kübel Technik: Wolfgang LöschRedaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Tanja Brümmer, Bente Sven Majchczack, Wolf-Dieter Dey, Dirk, Ruth Blankenfeldt, Karina Schnakenberg Linktipps:SWR (2024): Hanna Hadler findet versunkene Stadt im Wattenmeer1362 sorgte eine Sturmflut dafür, dass die Siedlung Rungholt in Nordfriesland verschwand. Ein Forschungsteam, darunter Mainzerin Hanna Hadler, konnten nun die Lage der ehemaligen Kirche nachweisen. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2024): Auf den Spuren historischer Schätze im Watt Der Schlick der Nordsee birgt viele Geheimnisse: Erst kürzlich konnten Archäologen die sagenumwobene Hafenstadt Rungholt entdecken, einen bedeutenden Handelsplatz des Mittelalters. Doch sie fanden noch mehr: Antworten auf den Klimawandel. JETZT ANHÖRENNDR (2019): Wetter extrem – Zwischen Sturmflut und Dürre Es ist nicht mehr zu übersehen: Der Norden verändert sich mit dem Klima. Was bedeutet das für die Bewohner an der Nordseeküste und im Hinterland? Philipp Abresch geht dieser Frage in der ersten Folge der NDR Reportagereihe zur Klimakrise nach. Seine Reise führt von den nordfriesischen Inseln über Cuxhaven bis zu den Obstplantagen in der Haseldorfer Marsch. Er trifft dort Landwirte, Geschäftsleute, Lokalpolitiker und den Klimaforscher Prof. Mojib Latif. Alle treibt dieselbe Sorge um: Wie schützen wir uns vor Extremwetter und wie verhindern wir, das alles noch viel schlimmer kommt? Zum Film geht es HIER.Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles GeschichteJETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 03:20 – Das konstruierte Leben des WilhelmTC 05:35 – Zwischen Sündflut und RiesenfischTC 11:34 – Ein florierender HandelTC 15:59 – „Wer nicht deichen will, muss weichen!“TC 19:46 – Mythen um RungholtTC 22:01 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ATMO 1 Nordseeküste Meeresrauschen SPRECHERDie Nordsee an der Westküste von Schleswig-Holstein. Meistens plätschern die Wellen hier eher ruhig und gemächlich an die Strände und gegen die Deiche. Aber der „Blanke Hans“, wie die Nordsee von den Küstenbewohnern genannt wird, kann auch anders. Ganz anders… 1. O-TON BrümmerHeute bin ich über Rungholt gefahren. Die Stadt ging unter vor 500 Jahren… ATMO 2 Nordseeküste Starker Wellengang, Sturm, auch als Unterleger MUSIK, bedrohlich SPRECHEROb sie wohl geahnt haben, was da auf sie zukommt? Seit Tagen hatten die Menschen an der Nordsee mit einem heftigen Sturm zu kämpfen. Wie ein eiserner Besen fegte er zunächst über England hinweg, um dann in Richtung Dänemark und das heutige Nordfriesland weiterzuziehen. Es regnete Bindfäden. So ein Wetter ist in der Gegend im Winter nichts Ungewöhnliches. Auch damals nicht, am zweiten Sonntag nach Epiphanias im Jahre des Herrn 1362. Genauer gesagt: Am 16. Januar. Und Warnungen, die viele Menschenleben hätten retten können, gab es im 14. Jahrhundert keine… ATMO 3 Warnmeldungen im Radio „Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Durchsage. Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer schweren Sturmflut!“ - „Deutsche Bucht West bis Nordwest, zunehmend 7 bis 8, orkanartige Gewitterböen. See zunehmend 6 Meter.“ SPRECHERWas sich dann in der Nacht vom 16. auf den 17.Januar 1362 an der Küste abspielte, darüber berichten alte Chroniken: Dort ist von einer gewaltigen Sturmflut die Rede, der „Groten Mandränke“, die das Land mit Mann und Maus überrolte und 100 000 Menschen das Leben kostete. Neuere Schätzungen gehen allerdings eher von 10 000 Toten aus. Sicher ist aber, dass die Wassermassen die Region zwischen Sylt und der Halbinsel Eiderstedt förmlich zerrissen haben. Ganze Landstriche wurden überflutet und weggespült. Aus Festland wurden Inseln und Halligen. In dieser Schreckensnacht soll auch Rungholt untergegangen sein, das alten Dokumenten zufolge der Hauptort der Edomsharde gewesen sein soll, einem Verwaltungsbezirk in Nordfriesland. Wahrscheinlich lag die Siedlung in der Nähe der heutigen Hallig Südfall westlich von Nordstrand. Dort gibt es besonders viele Funde aus dieser Zeit. Aber, so Tanja Brümmer vom Nordfriesland-Museum Nissenhaus in Husum: 2. O-TON Brümmer Wir sagen zwar immer Rungholt. Aber wir haben ja kein Ortsschild, was uns irgendwie dahin weist. Wir wissen in etwa, wo die Edomsharde war. Aber wo in dieser Edomsharde Rungholt lag, ist halt immer noch so die ganz, ganz große Frage. TC 03:20 – Das konstruierte Leben des Wilhelm SPRECHEREiner, der bestimmt genau Bescheid wüsste, ist Wilhelm, ein junger Mann mit markantem Kinnbart. Tanja Brümmer stellt den Star ihrer Rungholt-Ausstellung vor: 3. O-TON Brümmer Wilhelm ist die Gesichtsrekonstuktion eines Rungholters. Wir hatten im Hahre 2016 eine große Sonderausstellung zum Thema Rungholt, wo wir eben einen bestimmten Schädel rausgesucht haben bei uns aus der Sammlung, wo wir auch sicher sein konnten, dass er tatsächlich im Siedlungsgebiet von Rungholt gefunden worden ist. Und anhand dessen wurde dann mit einer Gerichtsmedizinerin eine Gesichtsrekonstruktion hergestellt. Und anhand von DNA-Analysen konnten wir dann auch wirklich sagen, welche Augenfarbe er in etwa hatte und welche Haarfarbe. Ich nenn´ ihn immer liebevoll Wilhelm. Ein halbes Jahr lang hat sein Schädel bei mir auf dem Schreibtisch gestanden. Ich hab´ ihn jeden Tag angeguckt. Und irgendwann hab´ ich gesagt: Guten Morgen, Wilhelm! Und dann war der Name da…“ MUSIK kurz SPRECHERWilhelm war Mitte bis Ende 20, als er kurz vor oder während der großen Sturmflut um´s Leben kam. Er hatte helle Haare und helle Augen. Auffällig sind auch seine ausgeprägten Gesichtszüge…: 4. O-TON Brümmer Also er hat ´n ganz, ganz starkes Kinn. Man sieht auch schon anhand der Konochenstruktur, dass er ´ne relativ große Nase hatte. Der Unterkiefer und Oberkiefer samt Zähne sind noch erhalten. Und er hat auch eine sehr, sehr ausgeprägte Wangenknochen-Struktur. Natürlich ist da auch immer ein Stückchen weit Interpretation dabei. Er hat ´n sehr freundliches, sehr lachendes Gesicht, weil wir auch gesagt haben: So´n Mensch, der muss ja jetzt nicht griesgrämig gucken. Also deswegen ist es auch so, dass man das Gefühl hat: Ja, das ist irgendwie ´n junger Mann von nebenan!  ATMO 4 Pferdegetrappel, Kutsche SPRECHERWihelm´s Schädel ist ein Fundstück von Andreas Busch. Der Hobby-Archäologe ist so etwas wie der „Vater“ der wissenschaftlichen Rungholtforschung. Alles begann im Mai 1921 mit einem ziemlich ungewöhnlichen Pfingst-Ausflug: Mit Pferd und Wagen fuhr Andreas Busch bei Ebbe von der Halbinsel Nordstrand nach Westen Richtung Südfall. Was wie eine kleine Spritztour ins Watt wirkte, war tatsächlich der Anfang der Suche nach dem sagenhaften Rungholt. An der Nordseeküste war der Ort schon lange ein Mythos: TC 05:35 – Zwischen Sündflut und Riesenfisch 5. O-TON Majchczack Man könnte das ja als „Urkatastrophe der Nordfriesen“ bezeichnen. Der Untergang dieser Landschaft! SprecherSagt Dr. Bente Sven Majchczack von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, einer der „modernen“ Rungholtforscher. Diese „Urkatastrophe“ hatte Ende des 19. Jahrhunderts auch den Dichter Detlef von Liliencron dazu inspiriert, sich erstaunliche Dinge über Rungholt zusammenzureimen. Dem wollte Andreas Busch nun auf den Grund gehen, erzählt Wolf-Dieter Dey, der das Inselmuseum auf Nordstrand leitet: 6. O-TON Dey (Anf.)“Heute bin ich über Rungholt gefahren“, so fängt dieses Gedicht an, „die Stadt ging unter vor 500 Jahren“… SPRECHER… neuere Versionen sprechen hier von 600 Jahren … 6. O-TON Dey (Forts.)Dieses Gedicht von Detlef von Liliencron hat den Mythos und die Legende von Rungholt ganz entscheidend geprägt! Er stellt Rungholt in seinem Gedicht als einen großen, mächtigen, stadtähnlichen Ort dar, der also von vielen tausenden von Menschen bewohnt war. Er vergleicht Rungholt mit dem alten Rom und hebt es in seiner Bedeutung in die Nähe des Ortes Atlantis, des sagenumwobenen, nachdem man ja immer noch sucht. Dieses Bild entspricht natürlich in keiner Weise der Wirklichkeit! SPRECHERUnd Tanja Brümmer vom Nordfrieslandmuseum Nissenhaus in Husum ergänzt: 7. O-TON Brümmer Diese Geschichte von Detlef von Liliencron bietet sich natürlich auch unglaublich an, weil da einfach sehr, sehr viele Symbole sind. Mit der „Sündflut“, also wirklich eben die Menschen, die waren böse, haben Sünde begangen, letztendlich dann zu erklären, warum es zu dieser großen Katastrophe gekommen ist. Das große Monster, was wie ein riesiger Fisch über der Welt liegt und einmal tief einatmet und dann die große Welle wieder herausläuft beim Ausatmen. Das sind natürlich auch unglaublich schöne Symbole! MUSIK Achim Reichel „Heute bin ich über Rungholt gefahren“, 3. Strophe: Mitten im Ozean schläft bis zur StundeEin Ungeheuer tief auf dem GrundeSein Haupt ruht dicht vor Englands StrandDie Schwanzflosse spielt bei Brasiliens SandEs zieht sechs Stunden den Atem nach innenUnd treibt ihn sechs Stunden wieder von hinnenTrutz, blanke Hans SPRECHERSo die Version von Achim Reichel Was aber hat sich dann wirklich zugetragen in Rungholt? Oder anders gefragt: Was würde Wilhelm wohl erzählen, wenn er könnte - der Zeitgenosse aus dem Nordfrieslandmuseum Nissenhaus in Husum, der womöglich in der ersten „Groten Mandränke“ 1362 umkam? Die Funde von Andreas Busch und die aktuelle Forschung geben Antworten. Demnach wird Wilhelm mit Sünde und Gotteslästerung wahrscheinlich genauso wenig zu tun gehabt haben wie die meisten seiner Mitbewohner, meint Archäologin Tanja Brümmer: 8. O-TON Brümmer Nee, das waren halt ganz, ganz normale Menschen des 14. Jahrhunderts, die sehr, sehr religiös waren. Und das zeigen letztendlich ja auch einfach die Objekte, die wir haben: Eine Fibel, wo wirklich „Ave Maria Gratia“ draufsteht. Pilgermarken, die sind auch gerade erst gefunden worden in einem außerordentlich großartigen Zustand. Man muss sich vorstellen: Die Menschen, die sind damals ja zu unterschiedlichen Wallfahrtsorten gepilgert. Und da geht´s tatsächlich um Aachen! Den großen Marien-Wallfahrtsort. Und pilgern von Rungholt nach Aachen, das ist schon ´n ordentlicher Weg! Also da sieht man einfach: Das waren sehr, sehr gläubige Menschen. SPRECHERSteinfunde im Watt deuten auch daraufhin, dass Rungholt wohl mehr hatte als nur eine einfache Holzkirche: 9. O-TON Brümmer  Wir sehen auch hier Steine, die also wirklich im Kloster-Format sind! Es wird ganz, ganz stark vermutet, dass es eine Kollegiats-Kirche in Rungholt gegeben hat. Das ist sozusagen die Zwischenstufe zu einem Kloster hin. Wo man dann auch fragen muss: Naja, okay, ´n Kloster gründet sich aber ja auch nicht einfach nur so, sondern da gehören auch schon ´n paar Menschen dazu. Und da gehört auch ´ne gewisse Wichtigkeit dazu. SprecherAber diese Wichtigkeit hatte auch ihre Grenzen. Die Friesen, die die feuchte Marsch- und Moorlandschaft an der Nordsee entwässert und urbar gemacht hatten, wohnten auf Warften, also kleinen Erdhügeln, die man heute noch von den Halligen kennt und die Schutz vor Überflutungen bieten sollten. Insgesamt waren dort wohl etwa 1000 bis 2000 Menschen zuhause. Von einer mittelalterlichen Metropole wie Hamburg, Lübeck oder dem alten Rom also keine Spur, so Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand: 10. O-TON Dey„Das ist Rungholt nie gewesen. Sondern es war halt ein Marschendorf. Es war ein großes Marschendorf! Aber es war eben keine große und mächtige Stadt, wie Herr von Liliencron es in dichterischer Freiheit eben versucht hat darzustellen.“ SPRECHERWenn alles gut läuft, beschert einem der fruchtbare Marschboden allerdings auch reiche Erträge. So war es wohl auch in Rungholt, erklärt Bente Majchczack von der Uni Kiel. Mit Hilfe von Drohnen, Satellitentechnik und Metalldetektoren haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nördlich der Hallig Südfall Reste von Warften, Entwässerungsgräben, Brunnen und Deichen sichtbar gemacht. 11. O-TON Majchczack Wenn man das alles richtig schön unter Kontrolle hat, dann sind das ganz tolle Böden für Getreideanbau. Und man konnte da große Überschüsse erwirtschaften. Und das Ganze hat wahrscheinlich auch ´ne politische Dimension gehabt: Also das ganz gezielt von der Oberhoheit, damals dänisches Königtum, diese Friesen wahrscheinlich auch angeworben sind bzw. Vergünstigungen erhalten hatten, ´n gewissen Schutz auch. So dass die das stemmen konnten, diese Landschaft zu erschließen. Und dann hatte man da auch ´n hartes, aber gutes Leben. Da gab´s richtig viel zu essen!  Wieviele fette Ochsen die da essen konnten, und was die da für Feste feiern konnten, das ist in diesen Zeiten einfach keine Selbstverständlichkeit! TC 11:34 – Ein florierender Handel SprecherOffenbar hatten viele Menschen in Rungholt aber auch deshalb gut zu essen, weil sie gute Geschäfte machen konnten. Der Boden in dieser Gegend war nämlich nicht nur gold wert für den Anbau von Nutzpflanzen, betont Ruth Blankenfeldt vom Zentrum für baltische und skandinavische Archäologie auf Schloß Gottorf in Schleswig. Er enthielt auch noch einen ganz anderen Schatz, der im Mittelalter äußerst begehrt war: Salz! 14. O-TON Blankenfeldt Dass man hier Salz-Torf abgebaut hat, daraus Salz gewonnen hat. Und dieses schwarze Salz, wie man sich das vorstellen muss, verhandelt hat. Diese Torfe baut man ab, dann werden die sehr, sehr lange gesiedet und so. Und was zurückbleibt, ist natürlich nicht so´n reines Salinensalz, wie wir´s heute kennen. Und schmeckt auch laut Berichten relativ bitter. Aber ist natürlich das „Gold des Nordens“, weil man´s in unheimlichen Mengen brauchte zum Konservieren. SprecherWie gut die Geschäfte offenbar liefen, zeigen auch die beiden wenige Zentimeter großen Waagschalen aus Messing, die Jahrhunderte lang von Sand und Schlick bedeckt waren und nun von der Nordsee bei Südfall freigespült worden sind. Karina Schnakenberg untersucht die neuesten Fundstücke aus dem Watt für ihre Magister-Arbeit an der Uni Kiel: 15. O-TON Schnakenberg Die haben jeweils drei kleine Löcher an den Rändern, womit sie dann aufgehangen wurden an einer Waage. Also es war nicht nur eine reine bäuerliche Region, die quasi keine Außenkontakte hatte, sondern eben auch Handel betrieben hat. Man hat Geld damit gewogen. Das heißt, man konnte damit auch ganz gut überprüfen, ob der Metall-, Bronze-, Silber-, was auch immer Gehalt eben stimmt. Ob diese Münzen eben echt sind, ob sie genug Anteil des jeweiligen Metalls in sich tragen oder ob sie zu leicht sind, was eben darauf hindeutet, dass sie unecht und einfach gefälscht sind. SPRECHERMit ziemlicher Sicherheit waren also Münzen ganz unterschiedlicher Herkunft im Umlauf. Ein Dolch aus Spanien, Schmuck aus England, maurische Keramik aus dem Süden Spaniens – all diese Funde zeigen, dass Rungholt ein wahrhaft internationaler Handelsort gewesen sein muss. Tanja Brümmer vom Nordfrieslandmuseum in Husum: 16. O-TON Brümmer Insgesamt sind es halt fünf spanisch-maurische Krüge, die im Rungholt-Gebiet gefunden worden sind. Und wir haben also wirklich islamische Ikonographien und Symboliken auf diesen Keramiken. Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man z.B. hier direkt am Ausguss so die Hände der Fatima wirklich als Glückssymbol für denjenigen, der daraus trinkt. Und das ist natürlich irgendwie ´n besonders schöner Gedanke, wenn man sich vorstellt: lslam, Katholizismus gemeinsam auf Rungholt. MUSIK, kurz SPRECHEROhne einen Hafen als „Tor zur Welt“ wären aber wohl weder Mauren noch andere weitgereiste Besucher in die Marschen und Moore der Edomsharde gekommen, und aus Rungholt wäre nicht viel geworden. Doch auch damit konnte der legendäre Ort auftrumpfen. Und das kam so, erklärt Bente Majchczack von der Uni Kiel: 18. O-TON Majchczack  Dass muss man sich so vorstellen, dass es da Sielhäfen gegeben hat. Also wo vom Binnenland das ganze Wasser rausgeführt werden musste durch den Deich, wurden diese Sieltore gebaut. Und dahinter bildet sich dann im Vorland ´n breiter Priel, also diese Gezeitenströme im Watt, den man dann mit Schiff gut erreichen kann. Und deswegen sind diese Siele immer die bevorzugten Hafenplätze, weil man da mit´m Boot sehr dicht an die Siedlungsplätze rankommt. Und dann hat man wahrscheinlich auch im Bereich dieser Siele hinterm Deich denn die entsprechenden Siedlungen, die dann mehr auf den Hafen ausgerichtet sind. MUSIK, kurz 19. O-TON MajchczackSo können wir uns vielleicht diesen Handelsplatz Rungholt vorstellen: Dass es da hinterm Deich in Hafenlage Siedlungen gab, die so´n bisschen mehr auf den Handel fokussiert waren und ´n bisschen weniger auf die Landwirtschaft. Aber ich denke, das gehört alles halt zu diesem Siedlungsbereich, wo auch diese reichen, bäuerlichen Siedlungen überall verteilt waren. Und die haben so ´ne Einheit und so´n Netzwerk gebildet.  Das ist wahrscheinlich das, wo der Mythos der Wahrheit am nächsten kommen wird. Also denen ging´s da im Grunde richtig gut. Solange es lief. Und dann kommt irgendwann das Meer… ATMO 2 Nordseeküste Starker Wellengang, Sturm, auch als Unterleger Musik bedrohlich TC 15:59 – „Wer nicht deichen will, muss weichen!“ Sprecher„Keen nich will dieken, de mutt wieken“ – so heißt es seit je her an der Nordseeküste: Wer nicht deichen will, muss weichen! Auch die Rungholter hatten damals zum Schutz gegen den „Blanken Hans“, also die Nordsee, die ersten Deiche gebaut. Und das war auch bitter nötig, denn heute weiß man, dass weite Teile des Marschlandes, in dem sie sich niedergelassen hatten, unter dem Meeresspiegel lagen. Andreas Busch hatte die Reste eines solchen Bauwerks in der Nähe von Südfall entdeckt. Ob es der Deich von Rungholt war? Das wird jetzt gerade genauer untersucht. 20. O-TON Majchczack Das ist ein sehr großer Deich. Da sind wir jetzt sehr zuversichtlich, dass das tatsächlich ein Seedeich war. Und der könnte durchaus auch ´ne Höhe von drei Metern gehabt haben. Aber es war am Ende nicht genug für das, was kam… MUSIK Achim Reichel „Trutz blanke Hans“, letzte Strophe: Ein einziger Schrei, die Stadt ist versunkenund Hunderttausende sind ertrunkenWo gestern noch Lärm und lustiger Tischschwamm andern Tags der stumme Fisch SPRECHERVermutlich haben die Rungholter also nicht geahnt, was da auf sie zukommt. Sonst hätten sie die Deiche verstärkt. Oder gab es Gründe dafür, dass sie sich nicht mehr ausreichend um die Schutzbauten kümmern konnten? Krankheiten wie die Pest zum Beispiel, die damals vielerorts grassierten? Auch darüber wird vielfach spekuliert. Tanja Brümmer hat ihren Wilhelm und andere menschliche Knochenfunde ebenfalls auf bestimmte Erkrankungen hin untersuchen lassen. Aber: 21. O-TON Brümmer Wir hatten so´n bisschen gehofft, dass wir den Nachweis auf „Malaria“ finden in Anführungsstrichen. Und zwar gab es eigentlich über viele, viele Jahrhunderte hier oben das Marschenfieber. Das ist im Endeffekt, wenn man so möchte, die nordeuropäische Malaria. Das gab´s auch tatsächlich noch bis zum 2. Weltkrieg. Und eigentlich war so´n bisschen die Hoffnung, dass wir sozusagen den frühesten Nachweis finden auf das Marschenfieber. Und das haben wir leider nicht. Also wir haben wirklich nur schriftliche Zeugnisse aus dem 18. Jahrhundert, aber halt leider nicht aus dem 14. oder aus dem 15. Jahrhundert. SPRECHER Ein wichtiger Faktor für den legendären Untergang Rungholts dürfte aber auf jeden Fall hausgemacht sein: Möglicherweise haben sich die Menschen dort mit der Entwässerung der Marsch ihr eigenes Grab geschaufelt, weil der Boden dadurch immer weiter absackte. Schlimme Folgen wird auf jeden Fall der Salz-Torf-Abbau gehabt haben, meint Rungholtforscherin Ruth Blankenfeldt, die von einem „extremen Eingriff in die Natur“ spricht: 22. O-TON Blankenfeldt Man hat erstmal den oberen Teil, die Kleie, abnehmen müssen. Ist dann nochmal tiefer gegangen, hat den Torf abgenommen, hat so halt künstlich einen, eineinhalb bis zwei Meter die Landschaft tiefer gelegt. Und das ist natürlich fatal, wenn dann wirklich mal ´ne Sturmflut kommt. Also das, womit man sich seinen Reichtum erwirtschaftet hat, ist zugleich aber auch der Sargnagel gewesen für viele Landschaftsteile. SprecherTatsächlich stand Rungholt aber ohnehin schon auf ziemlich wackeligen Beinen, erklärt Küstenärchäologe Dirk Meier. Was die Bewohner nicht wissen konnten: Sie hatten ihre Siedlung zwar nicht völlig auf Sand gebaut. Wirklich guten Halt bot der Tonboden in einem eiszeitlichen Schmelzwassertal aber auch nicht: 23. O-TON MeierDer Untergrund war nicht fest. Der ist richtig weggerissen worden. Das merken Sie heute, wenn Sie ´ne Wattwanderung machen. Es gibt immer so richtige Schlicklöcher, wo man so richtig wegsackt! Das ist da sehr stark verbreitet. Also der Untergrund war nicht stabil. Und das Meer hat sich genau diese alten Schwächezonen gesucht und ist genau in diese Schwächezonen eingebrochen. ATMO 2 Nordseeküste Starker Wellengang, Sturm TC 19:46 – Mythen um Rungholt SPRECHERHatte Rungholt also überhaupt eine Chance? Wohl kaum, angesichts der Wucht und Gewalt einer bis dahin noch nie dagewesenen Sturmflut. Andere Orte an der Küste wurden jedoch genauso von der Katastrophen-Flut weggeschwemmt. Warum wurde also gerade Rungholt zum Mythos? Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand hat eine Vermutung: 24. O-TON DeyIn einer Zeit, in der der Deichbau erst am Anfang war und so ein Deich mit Sicherheit etwas ganz Besonderes gewesen ist, hat der Ort Rungholt im Verhältnis zu anderen Orten eine Sonderstellung eingenommen. Das hat vielleicht die Menschen von Rungholt dazu verführt, etwas hochmütig zu werden gegenüber der Nordsee. „Trutz, Blanke Hans“, dieser Ausruf steht dahinter. Und vielleicht haben die anderen Bewohner den Rungholtern diese Arroganz etwas übelgenommen. Und so hat sich aus dieser Haltung heraus dann die Sage entwickelt, die heute Rungholt umgibt. Diese Sage könnte ein Hinweis darauf sein, dass Rungholt einer der ersten Orte war, der an unserer Küste einen Deich um seine Gemeinde gezogen hat… SPRECHERIn den uralten Geschichten über Rungholt könnte also doch ein Körnchen Wahrheit stecken. Vieles ist aber auch Fiktion. Dabei spielt auch die einzigartige Natur des Wattenmeers eine Rolle. Dort gibt es z.B. immer wieder Luftspiegelungen, die einem versunkene Städte vorgaukeln können. Und, so Tanja Brümmer, wenn man nur ganz genau die Ohren spitzt, kann man an windstillen Tagen zwischen Nordstrand, Pellworm und Hallig Südfall immer noch die Glocken eines von Gott verfluchten Ortes läuten hören…: 25. O-TON Brümmer Also die Glocken der Rungholter Kirche, die hört man natürlich immer um die Mittagszeit. Und nicht zu vergessen ist es ja so, dass, wenn eine Jungfrau, die an einem Sonntag geboren worden ist, am zweiten Johannistag um die Mittagszeit über Rungholt hinwegfährt, dass sie ja dann die Stadt wieder erlösen kann von ihrem Fluch! (lacht) ATMO 6 als Outro Wattenmeer, verschiedene Vögel TC 22:01 – Outro
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Mar 15, 2024 • 22min

VERSUNKENE ORTE - Pompeji, die konservierte Stadt

Die antike Stadt Pompeji gilt als eines der größten archäologischen Projekte der Welt. 79 nach Christus ist sie beim Ausbruch des Vesuvs untergegangen, doch seit nun fast schon 300 Jahren wird sie Stück für Stück wieder ausgegraben, regelmäßig gibt es spektakuläre Funde. Dabei müssen die bereits von der Asche befreiten Gebäude allerdings nicht nur erforscht, sondern auch ständig konserviert und bewacht werden. Von Michael Stang (BR 2023) Credits Autor: Michael Stang Regie: Martin Trauner Es sprachen: Frank Manhold, Maren Ulrich, Andreas Neumann Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Silvia Bertesago, Mattia Buondonno, Paolo Mighetto, Valeria Moretti, Alessandro Russo, Gabriel Zuchtriegel Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Was Pompeji über uns erzählt Lange wollte man aus Pompeji nur schöne Statuen und erotische Wohnzimmerbilder sehen. Gabriel Zuchtriegel, Direktor der Welterbestätte, plädiert für eine „mitfühlende Archäologie“ – und will auch die Schicksale Verschütteter ans Licht bringen. JETZT ANHÖREN Planet Wissen (2023): Vulkane – So bedrohlich sind sie wirklich   Millionen von Menschen leben mit der Gefahr eines plötzlichen Vulkanausbruchs quasi vor der Haustür. Und einer der gefährlichsten Vulkane der Welt liegt gar nicht weit weg: das Gebiet um den Vesuv mit den phlegräischen Feldern in Italien. Wie bedrohlich sind die feuerspeienden Berge für die Menschen, die in ihrer unmittelbaren Nähe leben? JETZT ANSEHEN ZDFinfo (2020): Pompeji – Protokoll einer Katastrophe   Innerhalb von 48 Stunden begräbt der Ascheregen des Vesuvs die römische Stadt Pompeji unter sich. Der Vulkanausbruch sorgt vor fast 2000 Jahren für ein Inferno. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKENTimecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:43 – Verschüttet seit 2.000 Jahren TC 05:11 – Ein antiker Schnellimbiss TC 08:01 – Ort des Experimentierens TC 12:15 – Noch lange nicht am Ende TC 17:29 – Das Problem mit den Grabräubern TC 21:27 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Regie: Musik O-Ton 1 (Buondonno): What you can see [...] OVERVOICE männlich Was Sie hier sehen können, ist eine besondere Situation. Diese zwei Menschen sind offenbar zusammen gestorben. Der eine war wahrscheinlich ein Sklave, der andere sein Herr. […] that was the master. Sprecher:Pompeji ist nicht nur Touristenmagnet, sondern auch Hotspot der archäologischen Forschung. Bei Ausgrabungen tauchen auch heute noch sensationelle Funde auf. Die größte Herausforderung für die Verantwortlichen ist jedoch, die weltberühmte antike Stadt dauerhaft zu erhalten. O-Ton 2: (Zuchtriegel): Wir sind in einer sehr speziellen Phase. Es sind über 10.000 Räume, teils mit Fresken, antiken Fresken, die seit den Ausgrabungen, die im 18 Jahrhundert beginnen, Wind und Wetter ausgesetzt sind. Sprecher:Starke Regenfälle haben in den vergangenen Jahren mehrfach die Mauern unterspült, lange Trockenphasen den Zerfall der Fresken beschleunigt. In Pompeji haben die Restaurierungsfachleute so viel Arbeit wie nie zuvor. O-Ton 3 (Bertesago): We can see already […]OVERVOICE weiblich Wir können die Auswirkungen des Klimawandels in Pompeji bereits heute schon sehen, weil wir in den letzten Jahren heftigere meteorologische Phänomene hatten.[…] more violent meteorological phenomena. Musik ausTC 01:43 – Verschüttet seit 2.000 Jahren Sprecher:Ein sonniger Tag. Touristinnen und Touristen aus der ganzen Welt besichtigen den riesigen Archäologiepark, der unweit der Stadt Neapel am Fuß des Vesuvs liegt. Pompeji ist ein Freiluft-Museum und Forschungsstätte zugleich, eine der beliebtesten Reiseziele Italiens. Die Denkmalschützer haben großartige Arbeit geleistet: Vom drohenden Verfall der antiken Häuser, Mauern und Fresken merken die internationalen Gäste wenig. Denn der Aufwand ist groß, um Touristen heute zu zeigen, wie die Menschen vor 2.000 Jahren hier lebten – bis der Vesuv ausbrach und die Stadt unter Asche und Staub begrub. O-Ton 4 (Bertesago): I think for an archaeologist […] OVERVOICE weiblichIch denke, für eine Archäologin ist das eine sehr interessante Arbeit an einem so wichtigen Ort, nicht nur für uns oder die italienische Geschichte und Archäologie, sondern unsere Arbeit ist tatsächlich weltberühmt.[…] famous all-over the world.   Sprecher:Archäologin Silvia Bertesago hat schon als Studentin in Pompeji gearbeitet. Heute ist sie eine der verantwortlichen Forscherinnen des Archäologieparks. Abseits der Touristenströme steht sie auf einer Anhöhe, ein kleiner, grasbewachsener Hügel – unberührt seit 2.000 Jahren. O-Ton 5 (Bertesago): So here we are in a part not yet […] OVERVOICE weiblichHier sind wir in einem Bereich, der noch nicht ausgegraben ist. Um uns herum können wir aber viele bereits ausgegrabene Gebäude Pompejis sehen, die sich auf einer tieferen Ebene befinden. Wir stehen hier etwas höher, denn genau unter uns gibt es einen Teil der Stadt, der noch nicht ausgegraben ist. Das wird aber in den nächsten Monaten geschehen.[…] excavated in the next months. Sprecher:Pompeji war eine antike Metropole, die exakten Ausmaße der Stadt sind im Detail bis heute nicht abschließend geklärt. Immer wieder müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entscheiden, wo es sich lohnt, als nächstes auszugraben. Auch das gehört zum Denkmalschutz: Was wird freigelegt und was nicht? Die Archäologin ist sich sicher, dass sie hier bedeutende Funde machen wird. O-Ton 6 (Bertesago): And we can imagine on the basis […] OVERVOICE weiblichWir können uns auf der Grundlage der Struktur vorstellen, dass wir einige wichtige, bedeutende Häuser ausgraben werden. Aber wir werden erst mehr Informationen bekommen, wenn wir mit den Ausgrabungen beginnen. Dabei werden wir auch neue Prospektionstechnologien verwenden, moderne Instrumente wie Georadar, mit denen wir noch vor dem ersten Spatenstich tief in den Boden blicken können. […] like Georadar and we can see deeper. Sprecher:Die Ausgrabung wird präzise geplant und von hochspezialisierten Teams durchgeführt. Archäologinnen und Geologen, Botanikerinnen und Anthropologen können schnell und flexibel auf neue Funde reagieren. O-Ton 7 (Bertesago): We don't know exactly […]OVERVOICE weiblichWir wissen nicht genau, was wir finden werden, aber wir erwarten Räume mit Fresken, eingestürzten Dächern, eine durch den Ausbruch zerstörte Architektur. Das sind immer sehr unterschiedliche Situationen und es gibt diverse Arten von Zerstörung und Zerfall. Und so müssen wir auf der Grundlage dessen, was wir finden, auf unterschiedliche Weise vorgehen.[…] on the bases of what we will find. TC 05:11 – Ein antiker Schnellimbiss Sprecher: Vielleicht haben sie wieder Glück und machen einen Sensationsfund wie mit dem antiken Schnellimbiss, der Ende 2020 der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Bilder vom am Tresen aufgemalten Hahn und zwei abstürzenden Enten schafften es am 26. Dezember in die ARD-Tagesschau. Internationale Medien berichteten über den aufgemalten Wachhund und die Nahrungsreste, die in der Nähe des Tresens gefunden wurden. Sie lassen Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten der Bewohner von Pompeji zu. Fastfood gab es also damals schon. Das antike Take-Away ist mittlerweile zu besichtigen, erzählt Touristenführer Mattia Buondonno. Er zeigt auf eine dicke Glasscheibe, die den Sensationsfund schützt: O-Ton 8 (Buondonno): That was found just three years ago. Sprecher:Das Schnellrestaurant besteht aus einem L-förmigen Steintresen mit runden Aussparungen, „Thermopolium“ genannt, in die die alten Römer die Amphoren mit dem warmen Essen stellten. An der Vorderseite sind die in den Speisen enthaltenen Tiere in prächtigen Farben aufgemalt.  O-Ton 9 (Buondonno): So, this is the famous last […] OVERVOICE männlichUnd das hier ist der berühmte letzte Gemäldefund mit dem Hahn, hier wurde auch Entenfleisch gefunden und dort sieht man sogar die Ente und man kann einige Originalinschriften und Graffiti sehen.[…] some original inscription, some graffiti. Sprecher:Und diese besagen nichts Nettes. O-Ton 10 (Buondonno): You can see some original […] OVERVOICE männlichDiese Beschreibung hier lautet: „NICIA CINAEDE CACATOR.“ Nicia ist ein griechischer Name, wahrscheinlich war es der Name des Meisters. Jemand war offenbar neidisch auf dem Imbissbetreiber und dieser jemand schrieb: Nicia, du hinterlässt überall Scheiße.[… ]NICIA, you are leaving shit everywhere.Sprecher:Mattia Buondonno gehört zum „Inventar“ von Pompeji. Seit 30 Jahren führt er Menschen aus aller Welt durch diese besondere Stadt. Schon als kleiner Junge, als sein Vater hier an Mosaiken gearbeitet hat, habe er die Touristen beobachtet und mit ihnen gesprochen. Mittlerweile hat er viel Erfahrung im Umgang mit ihnen gesammelt und weiß, dass die antike Stätte Pompeji für die meisten ein gewaltiges Erlebnis ist.    O-Ton 11 (Buondonno): I guided so many celebrities, […] OVERVOICE männlichIch habe so viele Prominente herumgeführt, Bill Clinton, Leonardo DiCaprio sogar zweimal, ich habe Bradley Cooper geführt, Meryl Streep, Nobelpreisträger. Und dann, wenn diese Menschen in Pompeji sind, wirken sie alle wie staunende Grundschüler, weil diese Kultur so großartig, so beeindruckend ist, dass sie sich sehr, sehr klein fühlen.[…] that they are very, very little, little people. MusikTC 08:01 – Ort des ExperimentierensSprecher:Der Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 verschüttete und zerstörte eine lebendige Metropole binnen weniger Stunden. 18.000 Menschen konnten fliehen, rund 2.000 starben. Eine Katastrophe in der Antike, für die Wissenschaft ein Glücksfall. Pompeji war immer attraktiv für die Ausgräber, hier hätten sie stets mit den neuesten wissenschaftlichen Methoden gearbeitet, erzählt Gabriel Zuchtriegel. Der deutsch-italienische Archäologe hat im Frühjahr 2021 seine Stelle als Direktor des Archäologieparks angetreten. O-Ton 12 (Zuchtriegel): Natürlich versuchen wir alle diese neuen Möglichkeiten zu nutzen. Auf der anderen Seite war Pompeji immer schon ein Ort des Experimentierens, wo man also auch neue Grabungstechniken und neue Konservierungsmethoden ausprobiert hat. Und wo also schon im 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert sehr innovative Menschen gewirkt haben und auch dadurch Anstöße gegeben haben, das ganze Fach über Pompeji hinaus. Sprecher:Die ersten Archäologen begannen im 18. Jahrhundert, die Stadt Pompeji auszugraben. Dazu gehörten luxuriöse Villen inklusive Bereiche für Sklaven, das Heiligtum des Apollo, der Jupitertempel, eine Gladiatorenschule, eine Badeanstalt, oder auch eine Bäckerei – das alles muss geschützt und restauriert werden. O-Ton 13 (Zuchtriegel): Die Mauern sind relativ dünn, aus Bruchstein meist oder Ziegel und Mörtel. Und jetzt kann man sich ja mal vorstellen, was aus unseren Häusern in 2.000 Jahren wird, aus dem Beton oder was eben das Material ist und sich dann ausrechnen, was es braucht eben an ja wirklich ständigen periodischen Instandhaltungsmaßnahmen, um das vor dem Verfall zu schützen. Sprecher:Eine beständige Arbeit, denn in Pompeji müssen hunderte Gebäude geschützt werden. Gabriel Zuchtriegel erinnert an eine Phase, in der zu sehr gespart wurde - mit fatalen Folgen: O-Ton 14 (Zuchtriegel): Wenn man sich dieses Bild mal vorstellen möchte, also Pompeji, ein Flugzeug, das immer tiefer absinkt durch fehlende Instandhaltung, fehlende Restaurierungsarbeiten und dann ab einem gewissen Moment, weil sie fast am Boden zerschellt. Und es kommt dann zu diesem dramatischen Ereignis 2010, dass ein antikes Gebäude tatsächlich einstürzt während eines Unwetters. Sprecher:Am 6. November 2010 stürzte ein Haus der Gladiatoren-Schule ein, einige Tage später gab eine Mauer am so genannten „Haus des Moralisten" nach. Wind und Wetter hatten ihr zugesetzt, sie war nicht ausreichend vor diesen Bedingungen geschützt, die im Zuge des Klimawandels stärker werden. O-Ton 15 (Zuchtriegel): Und das hat natürlich, es sind über die ganze Presse gegangen, nicht nur in Italien, sondern weltweit, sehr große Besorgnis berechtigterweise hervorgerufen und auch dem Bild Pompejis natürlich sehr, sehr geschadet. Sprecher:2012 stieß der damalige Ministerpräsident Mario Monti das „Große Pompeji-Projekt“ an, um die Stadt vor dem - erneuten - Untergang zu retten. 105 Millionen Euro flossen in neue Strukturen und Konservierungsmaßnahmen. O-Ton 16 (Zuchtriegel): Und danach dieser große Einsatz, also man versucht dieses Flugzeug wieder hochzuziehen und investiert sehr viel Geld, sehr viel Personal, Ressourcen auch. Und das klappt. Es wird zum Erfolg, und das Flugzeug steigt und steigt. Das Bild Pompejis in der Presse und überhaupt in der öffentlichen Wahrnehmung verändert sich wieder komplett, wird sehr positiv. Und jetzt ist die Frage: was ist eigentlich die richtige Flughöhe für dieses Flugzeug? Sprecher:Geld sei nicht mehr das große Problem, so Zuchtriegel, daran änderte auch die Corona-Pandemie nicht viel, als Einnahmen durch den Tourismus einbrachen. Denn Pompeji wird vom italienischen Staat und der Europäischen Union finanziert. Atmo: Schritte, WindTC 12:15 – Noch lange nicht am EndeSprecher:Majestätisch thront die „Insula Occidentalis“ auf einer Anhöhe, von hier oben konnten reiche Villenbesitzer den Golf von Neapel sehen. Zwei der herrschaftlichen Gebäude gehörten Marcus Fabius Rufus und Maius Castricius, hier liegen auch das „Haus des goldenen Armreifs“ und die Bibliothek. Atmo: Schritte, Baustellentür Sprecher:Alessandro Russo läuft über Bohlen, die auf dem staubigen Boden liegen. Die Baustelle ist die derzeit größte Ausgrabung in Pompeji. O-Ton 17 (Russo): This is the House of Library […] OVERVOICE männlichDas ist das Haus der Bibliothek, weil es hier einen Raum mit Möbeln gab, wo damals die Papyri lagen. Aus diesem Grund heißt es eben das Haus der Bibliothek. Den Namen des damaligen Hausbesitzers kennen wir aber nicht.[…]  the name of the real owner of the house. Sprecher:Der Archäologe geht zwei Räume weiter zu einem Baugerüst, das in die Tiefe führt. O-Ton 18 (Russo): The other excavation […]  (Klappe auf) OVERVOICE männlichDie andere Ausgrabung, mit der wir jetzt begonnen haben, findet eine Etage tiefer statt … Ich zeige es ihnen. […] show you Sprecher:Zwei Leitern später steht Alessandro Russo in einem großen Raum, der einmal ein geräumiges Esszimmer war, mit Blick auf das Meer. Reste des gewaltigen Tisches hätten sie ausgegraben und viele spannende Sachen entdeckt. Der Archäologe bleibt vor einer Wand stehen und zieht vorsichtig eine Folie beiseite. Zu sehen ist der neueste Fund, erst tags zuvor freigelegt. O-Ton 19 (Russo): We make the excavation from this level […]OVERVOICE männlich Wir graben von dieser Ebene bis ganz nach hinten zum Ende. Dort befindet sich auch ein neues Mosaik. Und die Fresken hier an der Wand, die wir noch nicht ganz kennen - sie sind vollständig und unberührt.[…] is complete, it’s untouched Sprecher:Paolo Mighetto, der die Ausgrabungen und Konservierungsmaßnahmen dieser Stätte leitet, gesellt sich dazu. O-Ton 20 (Mighetto): The restoration of a very complex site […] OVERVOICE männlichDie Restaurierung dieses Ortes ist äußert komplex, weil wir die Entwicklungsphasen der Stadt, inklusive der antiken dramatischen Ereignisse, erhalten wollen.[…] phases of the city, ancient City drama.Sprecher:Mighetto ist fasziniert von der vielfältigen Geschichte Pompejis. Die Stadt hat mehr Katastrophen erlebt als „nur“ den berühmten Vulkanausbruch. O-Ton 21 (Mighetto): Because the Pompeii was subject to the […] OVERVOICE männlichPompeji war 62 nach Christus einem Erdbeben ausgesetzt, zuvor hatte es zahlreiche kleine Beben gegeben. Und dann der Vesuvausbruch natürlich, im Jahr 79. Hinzukommen die ganzen Ausgrabungen im 18. und 19.Jahrhundert, als unterirdische Tunnel unter dem Gebäude gegraben wurden. Und überall die Asche und vulkanisches Material. Und schließlich sind hier während des Zweiten Weltkriegs zwei Bomben eingeschlagen. Unser Ziel ist es, all die Zeichen der Zerstörung zu bewahren.[…] the signs of this destruction. Sprecher:Pompeji ist ein Ort für die Öffentlichkeit, sagt Direktor Gabriel Zuchtriegel immer wieder - auch weil die Archäologischen Stätten von Pompeji und Herculaneum seit 1997 zum UNESCO Welterbe gehören. Deswegen sei es ihm und seinem Team wichtig, dass sie Pompeji immer als einen Ort präsentieren, an dem die Forschung weitergeht, an dem ständig neue Erkenntnisse gewonnen werden, sei es durch neue Ausgrabungen oder neue Analysen. Und an diesem Prozess müsse die Öffentlichkeit teilhaben. O-Ton 28 (Zuchtriegel): Die Frage, warum überhaupt Archäologie betrieben wird, warum die Gemeinschaft, der Staat, auch teilweise private Sponsoren darin investieren sollen, lässt sich eigentlich nur beantworten, indem man sagt: Wir geben natürlich auch etwas zurück an die Gesellschaft. Und zwar teilen wir unser Wissen und unsere Erkenntnisse und andere auch unsere neuen Perspektiven auf die Antike, den Menschen mit. Es ist einfach, dass es aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn macht, einen archäologischen Park zu betreiben, wenn nicht für ein Publikum. Wir machen das ja nicht nur für einen kleinen Gelehrtenzirkel.Sprecher:Durch die Corona-Pandemie sei der Archäologiepark Pompeji gut gekommen, sagt Zuchtriegel, er sei froh, dass wieder mehr Touristen kämen. Ob die Zahl von drei oder vier Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr wieder erreicht werden könne wie früher, sei aber im Moment noch nicht absehbar. Bei der Frage, ob künftig noch große Funde zu erwarten sind, lacht Gabriel Zuchtriegel. O-Ton 30 (Zuchtriegel): Ja, also in der Archäologie ist es so, dass man eigentlich immer nicht das findet, was man sich erwartet, manchmal auch erhofft, sondern manchmal mehr, manchmal weniger, meistens irgendetwas anderes. Und das gehört irgendwie dazu. Also die Freude ist auch die, dass man ständig überrascht wird. MusikTC 17:29 – Das Problem mit den GrabräubernSprecher:Pompeji steht mittlerweile gut da. Der Denkmalschutz schützt die Stätte immer besser vor Wind, Starkregen, Trockenheit, den Folgen der Klimakrise. Archäologische Forschungsfragen werden mit modernsten Methoden beantwortet, Geld fließt vom italienischen Staat und der EU, die Touristen kommen wieder. Wären da nicht die illegalen Raubgräber, wäre alles gut in Pompeji. O-Ton 31 (Bertesago): There are problems with illegal excavations […] OVERVOICE weiblichEs gibt Probleme mit illegalen Ausgrabungen, also Raubgrabungen und illegalem Handel von archäologischen Objekten.[…] traffic of archaeological things, objects. Sprecher:Klagt die Archäologin Silvia Bertesago. Raubgräberei war nicht nur ein Problem der Vergangenheit, sondern ist es auch in der Gegenwart. 2021 wurde der Fund einer reich verzierten Kutsche bekannt. Das Gefährt war nur knapp dem Raub durch Plünderer entgangen, die in den letzten Jahren Dutzende Tunnel in die noch unerforschten Teile Pompejis gegraben hatten. Zwei solcher Tunnel führten unmittelbar an der Kutsche vorbei. Auch Gabriel Zuchtriegel ist angesichts der kriminellen Energie fassungslos. O-Ton 32 (Zuchtriegel): Die Schäden sind enorm, die dadurch entstehen. Und es ist wirklich ein globales Phänomen, das auch ökonomisch für die organisierte Kriminalität einen ganz wichtigen Sektor leider darstellt. Sprecher:Die kriminelle Energie, die hinter den illegalen Ausgrabungen steckt, sei offenbar bei manchen Menschen sehr hoch, zudem gebe es regelrechte Bestellungen und damit einen lukrativen Markt, so der Direktor des Archäologieparks: O-Ton 33 (Zuchtriegel): Es gibt leider nach wie vor Leute - hauptsächlich im Ausland, also viele Spuren führen dann über die Schweiz oder andere Länder, in die USA und in andere Kontinente, also das ist wirklich ein weltweites Phänomen - die kaufen nach wie vor diese Objekte, ohne sich über die Herkunft wirklich sorgfältig zu informieren oder auch, teils wohl mehr oder weniger wissend, dass es aus illegalen Grabungen kommt. Das sind teils private Sammler, aber manchmal leider auch immer noch Institutionen, Museen. Sprecher:Natürlich sei das alles verboten, betont Gabriel Zuchtriegel, die Gesetzeslage sei eindeutig. Man darf nichts mitnehmen, auch keine kleinen, scheinbar unbedeutenden Fragmente wie etwa Keramikscherben. O-Ton 34 (Zuchtriegel): Es ist ein Problem, nicht innerhalb des Parks, Gottseidank. Das ist alles sehr gut überwacht, mehr als 500 Videokameras und natürlich einen ständigen Wachdienst. Sprecher:Damit der Archäologiepark noch sicherer wird, gibt es seit 2021 das „Smart@POMPEI-Projekt“. Zu ihm gehört „Spot“, ein gelber Roboterhund, mit langen Beinen und einem schwarzen Rechteck als Kopf. Er kann sich sicher in unwegsamem Gelände bewegen und durch enge Schächte und illegal gegrabene Tunnel laufen. Mit einer Kamera filmt er alles. „Spot“ kann Raubgräber aufspüren und möglicherweise zu ihrer Verhaftung beitragen, er kann aber auch bröselnde Mauern erkennen, so dass schnell Konservierungsmaßnahmen eingeleitet werden können. Der Archäologiepark Pompeji sei darüber hinaus durch neue Technologien wie Wärmebildkameras, Sensoren und Drohnen geschützt. O-Ton 35 (Zuchtriegel): Das heißt, da muss man eben aktiv werden, das irgendwie mit Dächern schützen, aber eben auch mit ständigen Instandhaltungs- und Restaurierungsmaßnahmen. Und vor allem, man muss es auch kontinuierlich ja überwachen, um einfach zu wissen, was passiert eigentlich in Real Time in der Ausgrabungsstätte. Musik TC 21:27 – Outro
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Mar 15, 2024 • 23min

VERSUNKENE ORTE - Uruk und wie alles begann

Eine City der Superlative: Uruk. Die Stadt war die erste Stadt der Welt - eine Megapolis mit bis zu 50 000 Menschen. Sie entstand im 5. Jahrtausend v.Chr. im Süden des heutigen Irak mit Häusern aus Lehmziegeln, Türmen und Palästen. Kanäle leiteten frisches Wasser aus dem Euphrat in die Stadt und das Abwasser wieder hinaus. Das kreative Potential war groß. Von Christine Hamel (BR 2023) Credits Autorin: Christine Hamel Regie: Irene Schuck Es sprachen: Berenike Beschle, Christian Baumann, Friedrich Schloffer, Katja Amberger Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Margarete van Ess Linktipps: Alles Geschichte (2022): ANFÄNGE der Kultur – Die Erfindung der Schrift Schrift ist eine ziemlich neue Erfindung innerhalb der Menschheitsgeschichte. Vor rund 5.200 Jahren tauchen im heutigen Irak erste Tontafeln auf, in die strukturierte Zeichen eingeritzt wurden. Doch es waren keine Texte im heutigen Sinn. Und im Gegensatz zu heute gab es einen eigenen Beruf des "Schreibers": Schon fünfjährige Kinder wurden dafür ausgewählt und über viele Jahre hinweg ausgebildet. JETZT ANHÖREN rbbKultur (2023): Margarete van Ess – Archäologin Als Margarete van Ess 1982, damals Studentin, das erste Mal auf archäologische Grabungsreise in den Irak fuhr, hatte sie ihre Blockflöte mit im Gepäck. An die Übungsstunden inmitten der Ruinen erinnert sie sich noch heute. Der antiken Stadt Uruk, zwischen Euphrat und Tigris, ist sie treu geblieben. Seit 1999 leitet sie die Ausgrabungen dort, seit 2020 als Direktorin der Orient Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. Die Liebe zum Orient ist ihr durch ihre Eltern, beide studierte Orientalisten, vermittelt worden. Zur Podcast-Folge geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:47 – Sesshaft im Sumpfland TC 04:02 – Eine Metropole aus Macht und Reichtum TC 05:58 – Die Ausgrabung einer Stadt TC 08:27 – Die Herrin des Himmels TC 11:34 – Von Magie und Kassenzetteln TC 21:48 – Die erste Metropole der Menschheit TC 22:25 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro Musik 1 "Atmosphere in B Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Album: Succession: Season 2 (Music from the HBO Series) - Länge: 1'37 Erzählerin: Bescheidenheit war nicht gerade eine Tugend in Uruk. Man gab sich prahlerisch und pompös, alle Tempel und Paläste fielen XXL aus. Größe muss nach altorientalischer Sitte Schönheit bedeutet haben, sie ist ja auch näher dran am Ganzen, am Universum. Überragt wurde alle städtebauliche Schönheit in Uruk von dem Ishtar-Tempel, einem Stufenturm auf einem 12 Meter hohen Sockel, der die Stadtmitte bildete. Geradezu hymnisch wird er im Gilgamesch-Epos besungen: Zitator: Sieh an dessen Mauer, die wie Kupfer glänzt! Besieh ihre Brustwehr, die niemand nachzubilden weiß! Nimm doch die Treppe, die dort seit ewigen Zeiten! Erzähler: Außerirdische gigantische Architektur. Der Sinn für Einzigartigkeit und Extravaganz begleitet die Entwicklung von Uruk – die Menschen hatten sichtbar Freude an den Wundern, die sie selbst erschufen. In Uruk entstanden aber nicht nur atemraubende Gebäude, sondern auch Arbeitsteilung, Bürokratie, die Schrift oder die Großplastik. Ob Fluch oder Segen sei dahingestellt - man darf aber getrost von einer Urukisierung der Welt sprechen. Uruk war urban branding….Nährboden für lauter zivilisatorische Entwicklungen. Es sollte noch drei Jahrtausende dauern, bis größere Städte entstanden. Babylon baut später auf den Kulturleistungen von Uruk auf. TC 01:47 – Sesshaft im Sumpfland Erzählerin: Begonnen hatte alles Ende des 5. Jtd. vor Chr. im Süden Mesopotamiens. Sowohl am linken als auch am rechten Ufer des Euphrat waren kleine Ansiedlungen entstanden. 1. Zsp.: (Margarete van Ess) Sie haben sich in einer Region befunden, wo sehr viele Sümpfe waren, an einer Grenze zwischen einem großen Sumpfland, das es heute im Irak tendenziell immer noch gibt, und den Flusslandschaften. Also in einer Region, wo wahrscheinlich der Euphrat, vielleicht aber auch der Tigris, auf dieses Sumpfland gestoßen ist. Erzählerin: Die Archäologin Margarete van Ess. Sie ist Direktorin der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. Seit 1999 leitet sie die Ausgrabungen in Uruk, die archäologischen Forschungen sowie die Konservierung der Ruinen. 2. Zsp.: (Margarete van Ess) Und so hatten sie zwei Grundlagen: nämlich einmal die Wasserwirtschaft, also Fischerei und das Nutzen von Pflanzen aus dem Sumpfland und auf der anderen Seite alles das, was mit der Flusslandschaft zu tun hat, also frühe Landwirtschaft, aber auch Bewegung auf den Flüssen. Und wir gehen davon aus, dass es genau diese Situation, also das Aufeinandertreffen von zwei verschiedenen Lebensumfeldern gewesen ist, was die Siedlung befördert hat. Erzählerin: Land- und Wasserwirtschaft boten eine Fülle von Produkten und Erzeugnissen, mit denen man sich kommerziell gut aufstellen und ausrichten konnte. Das hob das frühe Uruk von anderen Siedlungen ab, die entweder das eine oder das andere hatten. In der ganzen Region gab es ja tatsächlich bereits eine große Zahl von Dörfern und Siedlungen. Das Ende des ungebundenen Wanderlebens war schon etwa 10 000 vor Christus eingeläutet worden. Erzähler: Im Südosten der Türkei hatten Menschen ihre freie Wildbeuterei und das Nomadentum aufgegeben, um stattdessen Land zu beackern. Warum sich plötzlich Sesshaftigkeit und Vorratshaltung durchsetzten, ist bis heute mehr oder weniger ein Rätsel. Religion mag eine Rolle gespielt haben, der harte, von immer neuen Risiken bedrohte Alltag auch. Zur Entstehungszeit von Uruk Mitte des 5. Jahrtausends jedenfalls steckte Mesopotamien schon mitten drin in zivilisatorischen Entwicklungen. TC 04:02 – Eine Metropole aus Macht und Reichtum 3. Zsp.: (Margarete van Ess) Es waren wohl vergleichsweise egalitäre Gesellschaften, also alle sind gleichberechtigt, alle machen ähnliche Dinge, sorgen halt für ihren Lebensunterhalt und so weiter. So wie es aber dazu kommt, dass man stärker organisieren muss, also zum Beispiel den Übergang von einem Fluss in einem Sumpfland oder dann im Verlauf des 4. Jahrtausends fertig werden muss mit Klimaveränderungen, dann ergibt sich das eben: Jemand organisiert, oder eine Gruppe von Menschen organisiert und andere weniger. Das heißt, da bilden sich dann Hierarchien heraus, und es bilden sich auch verschiedene Handwerke heraus, unterschiedliche Arbeitsbereiche, die dann auch unterschiedlich bewertet werden. Also eine Gesellschaft entwickelt sich, wie wir sie heute ganz gut kennen. Erzählerin: Macht und Reichtum sind der Grundstein für die älteste Metropole der Welt. Mit der Gleichheit ist es dann auch schnell vorbei. Wenige herrschen über die vielen. Musik 2 "Atum 3" - Album: Ankh The Sound Of Ancient Egypt - Komponist: Michael Atherton - Länge: 0'52 Erzähler: Bis 3200 vor Christus steigt Uruk zur ersten und größten Stadt der Welt auf. 50 000 Menschen lebten hier, nicht alle freiwillig. Die Eroberungszüge jener Zeit richteten sich weniger auf Landgewinn. Vielmehr ging es darum, Arbeitskräfte heranzuschaffen. Man brauchte Sklaven für den Bau von Tempeln, Häusern, Stadtmauern und Bewässerungskanälen. Sklaven bildeten einen festen Bestandteil der Gesellschaft, eine in Uruk gefundene Schrifttafel gibt Aufschluss über Verärgerung nach dem Kauf einer Zwangsarbeiterin. Erzählerin: Der bereits dritte Käufer einer Sklavin eschauffiert sich darüber, dass sie lauter Götternamen trägt. Sie stünden ihr ja doch wahrscheinlich nicht zu. Das Gericht rät ihm daraufhin, sich bei Verkäufer eins und zwei zu beschweren.  TC 05:58 – Die Ausgrabung einer Stadt Erzähler: Anfangs hieß Uruk eigentlich Unuk – auch das weiß man dank einer sumerischen Schrifttafel.  4. Zsp.: (Margarete van Ess) Später erst unter den Akkadan heißt es Uruk. Akkada und Sumer sind zwei komplett verschiedene Sprachen. Spätestens im Verlauf des 3. Jahrtausends existiert neben Unuk auch das Uruk. Und dieser Name hält sich bis heute. Erzählerin: Magarete van Ess hat 1982 das erste Mal in Uruk gegraben. Seitdem lässt sie die Stadt nicht mehr los. Durch verschiedene Kriege musste die Archäologin ihre Arbeit immer wieder unterbrechen, Uruk liegt im kriegsgebeutelten und krisengeschüttelten Irak. Erzähler:  1849 wurden die Ruinen Uruks durch den britischen Geologen und Naturforscher William Kenneth Loftus wiederentdeckt. Systematische Ausgrabungen begannen aber erst unter deutscher Federführung im Winter 1912/13. Inzwischen gibt es 49 000 inventarisierte Funde, darunter 13 800 Tontafeln und Tausende von Keramikscherben aus fast 5000 Jahren. Erzählerin: Die aus Lehmziegeln errichteten Bauten zeichneten sich durch aufwendig gegliederte Außenfassaden aus, sie wurden gleichsam durch Nischen rhythmisiert und waren mit geometrischen Mosaiken aus farbigen Ton- und Steinstiften geschmückt. Musik 3 "Wave" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 0'22 Erzählerin: Uruk machte einen festlichen, absolut instagramtauglichen Eindruck: Schon von weitem nahmen und nehmen die Monumentalbauten und Dattelpalmen Ankömmlinge in Empfang. Musik 4 "Atmosphere in B Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Album: Succession: Season 2 (Music from the HBO Series) - Länge: 1'04 5. Zsp.: (Margarete van Ess) Man muss wissen, dass wir uns da in dem sehr langgestreckten Delta der Flüsse Euphrat und Tigris befinden, von Bagdad bis Basra, dem heutigen Hafenort, sind es etwa 600 Kilometer. Uruk liegt auf der Hälfte der Strecke, und das gesamte Gefälle von Bagdad bis Basra beträgt nur 40 Meter. Das heißt, das gesamte Land ist topfeben, alles was rausguckt, ist in irgendeiner Form von Menschen gemacht. Und Uruk gehört eben zu einer der größten archäologischen Stätten. Das heißt, wenn ich mich Uruk nähere, sehe ich eigentlich schon 10 Kilometer vorher, dass da ein großes Hügelgebirge aufragt, der Tempel in der Mitte der Stadt ragt noch immer besonders hervor und ich weiß also, ah, jetzt komme ich auf Inanna, auf das Heiligtum zu und werde demnächst in der Stadt sein. Musik 5 "Ice Glass" - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 1'05 TC 08:27 – Die Herrin des Himmels Erzähler: Inanna ist die Stadt- und Schutzgöttin von Uruk, Königin der Liebe und des Krieges. Ihr Name bedeutet „Herrin des Himmels“. Erzählerin: Sie ist denn auch die wichtigste Göttin der Sumerer: schön, liebestoll, kriegerisch und eroberungssüchtig, meist unberechenbar. Zahlreiche Mythen berichten von ihren Taten. Als sie in die Unterwelt abtaucht, zu ihrer Schwester, versiegt auf Erden die Lust und infolgedessen alles Leben. In der Erzählung „Ishtars Höllenfahrt“ heißt es: Zitator Kein Stier bestieg mehr eine Kuh, kein Esel eine Eselin, kein Jüngling schwängerte ein Mädchen auf der Straße. Der junge Mann schlief in seinem Zimmer, das Mädchen in der Gesellschaft seiner Freunde. Erzählerin: Ohne Inanna keine Zukunft der Menschen. Erzählerin: Der sexuelle Umgang miteinander war freizügig. Kaum Tabus. Uruk galt im 3. Jahrtausend als Stadt der „Dirnen, Kurtisanen und Edelnutten“ – auch das trug sicherlich zur Attraktion bei. Archäologen fanden in Uruk eine Tontafel mit einem nackten Paar beim Geschlechtsverkehr. Der Mann steht hinter der Frau, die sich nach vorne beugt, um mit einem Strohhalm einen Rauschtrank aus einem Gefäß zu trinken. Erzähler: Eine Darstellung, die möglicherweise eine Bordellszene zeigt oder dem Kult der Liebesgöttin zugerechnet werden kann. Musik 6 "Ice Glass" - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 0'21 Erzähler: Inanna sagt in einer Erzählung selbstbewusst: Zitatorin: Ich bin die Königin aller Sterne. Die Weisheit des Lebens kommt aus meinem Schoß, der wunderbar ist. Erzähler: Nach und nach entstanden Kulthäuser, Rundpfeilerhallen, Badeanlagen und ein sogenannter Empfangspalast. Dazwischen ein großer Hof mit Terrassen, der der kultischen Verehrung diente. Musik 7 "Wave" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 0'42 Im Jahr 2100 vor Chr. – in Uruk herrschte die 3. Dynastie von Ur – wurde ein neuer Tempel gebaut: der sogenannte Zikkurrat, ein Stufenturm. 6. Zsp.: (Margarete van Ess) Der Tempel stand auf zwei übereinander gestellten Terrassen. Die untere war vermutlich um das Jahr 2000 herum etwa 11’20 Meter, die darüber könnte halb so groß gewesen sein, etwa 5‘ 60 Meter und dann kam noch der Tempel obendrauf, das waren schon über 20 Meter hohe Gebilde. Erzählerin: Nicht ganz so steil wie die Mayapyramiden, aber eine in jeder Hinsicht herausragende Monumentalarchitektur. Als Personal dienten Priesterinnen und Priester, unter ihnen Schwule, Transsexuelle und Prostituierte.  7. Zsp. (Margarte van Ess) Tempel waren nicht einfach ein Gotteshaus, in das man ging zum Beten, sondern es waren wirtschaftliche Einheiten, so ein bisschen so wie Klöster im Mittelalter Europas. Erzähler: Neben dem Hauptheiligtum gruppierten sich von Anfang an weitere Lehmbauten: Wohnhäuser, Paläste und Verwaltungsgebäude. Sie waren meist um einen kleinen Innenhof angelegt, in dem Dattelpalmen Schatten spendeten. Straßen wurden streng im rechten Winkel wie in einer Garnisonstadt angelegt, Kanäle führten Frischwasser in die Stadt - die Menschen schöpften es mit Krügen ab- und leiteten Abwässer wieder hinaus.   TC 11:34 – Von Magie und Kassenzetteln Erzählerin: Im dichten Zusammenleben von Mensch und Tier nah an Sümpfen und am Wasser bei großer Hitze brachen sehr wahrscheinlich oft Krankheiten und Seuchen aus. Die Stadt hatte von Anfang an nicht nur Vorteile. Erzähler: Magierinnen und Beschwörer waren daher viel gefragt. Nicht nur bei Krankheiten, sondern bei allen Risiken des Lebens. Man schrieb ihnen Wissen über die Kraft von Steinen und Mineralien zu. Auf Tontafeln hielten sie fest, wie Frauen für ihre Männer Glücksamulette herzustellen hatten: Musik 8 "Part 6 - 4 Resonating Stones, Voice" - Komponist: Stephan Micus - Album: Music of Stones - Länge: 0'33 Zitatorin: Die 15 Steine fädelst Du auf ein Band aus Leinen, einen roten Wollfaden und einen blauen Wollfaden….Beiderseits der Steine knöpfst Du ein Stück Tamariskenholz ein. Ein Räuchergefäß mit Wacholder stellst Du hin. Du opferst Bier und rezitierst die folgenden Beschwörungsformeln: Ich bin erhört. Das Gebet nimm an von mir. Du hängst die Kette um seinen Hals. Erzähler: Die Handelswege waren weit und gefährlich. Geschäfte wurden mit Gewichtsteinen in Stab- oder Entenform abgewickelt, Gerste, Wolle und Öl wurden damit abgewogen. Erzählerin: Handel war DER Innovationsmotor – er gibt schließlich auch den Anstoß zur Schrift. Sie wurde in Uruk erfunden. Erzähler: Zunächst dienten kleine Tonobjekte, sogenannte Zählmarken - Kugeln, Scheiben oder Krüge - dazu, um etwas zu prüfen und beim Handel die Übersicht zu bewahren. Erzählerin: Ich habe Dir 15 Schafe zum Scheren gebracht, also packe ich 15 Kugeln in einen versiegelten Lederbeutel oder in ein versiegeltes Tongefäß. Wenn ich die Schafe nach drei Wochen abhole, weiß ich genau, dass es 15 Schafe waren – und nicht 14 oder 12.  Erzähler: Doch irgendwann waren die Anwendungsbereiche so vielfältig, dass die Zählmarken nicht mehr der Komplexität entsprachen. Neue Notierungshilfen mussten her. Dazu wurden erstmals Tafeln aus Ton geformt, in die man mit Schilfrohr Notizen geritzt hat. 8. Zsp.: (Margarete van Ess) Das sind im Anfang nur so etwas wie unsere Kassenzettel, da ist dann das Symbol für Schaf oder für eine Flasche drauf und dann ein Zahlzeichen, dann häufig auch noch eine Summe, so dass also klar wird: Da hat jemand Schafe gezählt, Flaschen gezählt und dann festgestellt, wie viel das insgesamt ist, vielleicht noch auf einen Monat bezogen und so weiter. Und das ist der Beginn der Schrift. Es ist im Prinzip ein Wirtschaftsnotierungssystem. Erzähler: Die Schriftzeichen waren sowohl abstrakt als auch bildhaft. 9. Zsp.: (Margarete van Ess) Es gibt Listen, auf denen dann die Objekte verzeichnet sind. Also dann gibt es da das Zeichen für Schaf mit ganz vielen unterschiedlichen Zeichen daneben, das ist einfach ein runder Kreis mit einem Kreuz drin. Das Interessante ist, dass diese Listen immer wieder abgeschrieben wurden über Jahrhunderte hinweg, und dabei verändern sich die Zeichen, werden zu richtiger Keilschrift. Und irgendwann, so in der Mitte des 3. Jahrtausends, kann man das dann wiederum lesen, weil diese Zeichen in der richtig entwickelten Schrift eben auch verwendet werden. Erzähler: Rund um die Stadt dehnten sich Obstplantagen und Felder aus. Angebaut wurden Wein, Äpfel, Quitten, Birnen und Granatäpfel, vor allem aber Getreide - in den Ruinen von Uruk fanden sich Tausende standardisierte Tongefäße, mit denen den Menschen Gerste oder Weizen zugeteilt wurde. Eine Art der Ausbezahlung. Mit Getreide trieb die Obrigkeit in der frühdynastischen Zeit um 3000 bis 2340 v. Chr. schließlich auch die Steuern ein. Das Gemeinwesen gestaltet sich bereits etwas bürokratisch aufgeblasen. Und die Staatsdiener ließen es sich sehr wahrscheinlich gut gehen.   10. Zsp.: (Margarete van Ess) Da gibt es einen König, da gibt es eine Beamtenschaft, die dafür zuständig ist, die Verwaltung einer Stadt oder auch eines Staates zu organisieren, und zwar eine ziemlich umfangreiche Beamtenschaft. Und es gibt spezialisierte Personen, die eben das Gerichtswesen kennen, es gibt Händler, die zwischen den Städten agieren, aber auch Händler, die bis in das Indusgebiet oder in die heutige Türkei hoch Handel betreiben. Und es gibt natürlich die Menschen, die vor Ort arbeiten, die Schafzucht übernehmen, die Landwirtschaft, das Fischen oder auch den Bootsbau, also alles das, was wir uns im Prinzip unter Handwerk vorstellen würden ist dann auch da. Musik 9 "Ice Glass" - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 0'54 Erzähler: Frauen waren Ende des 3. Jahrtausends, Anfang des 2. Jahrtausends vor Chr. in der mesopotamischen Gesellschaft vergleichsweise gleichberechtigt, sie konnten handeln oder auch erben. 11. Zsp.: (Margarete van Ess) Sie sind dennoch etwas zweitrangig, das sieht man gerne mal an Lohnlisten, da verdienen Frauen einfach weniger als Männer, das kennen wir ja auch. Aber sie sind nicht inexistent. Sie sind durchaus ganz normal auf den Feldern, in der Produktion tätig, sie spielen auch durchaus eine Rolle als Priesterinnen, manchmal auch in sehr hoher Funktion. Und sie können auch am Königshof eine große Rolle spielen, allerdings Königinnen gibt es in dieser Zeit eigentlich nicht. Musik 10 "Wave" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 1'08 Erzähler: Zentrale Aufgabe altmesopotamischer Herrscher war die Vermittlung zwischen Menschen und Göttern. Der König erhält seine Befehle laut Staatsverständnis von den Göttern. Aber die legendären Herrscher von Uruk wie Emmerkar, Lugalbanda und Gilgamesch wurden auch wie Götter verehrt. Bis heute berühmt ist vor allem der sagenhafte König Gilgamesch, dessen Heldentaten im gleichnamigen Epos verewigt sind, im ältesten literarischen Text der Weltgeschichte. Erzählerin: Ob es sich bei Gilgamesch um eine reale oder doch eher literarische Figur handelt, ist nicht gesichert.   12. Zsp.: (Margarte van Ess) Er vollbringt dann alle möglichen heroischen Taten, also zum Beispiel holt er Zedernholz aus dem Libanon-Gebirge, er kämpft gegen den Himmelsstier, alles Mögliche und er sucht zum Schluss nach dem ewigen Leben, nachdem sein Kompagnon Enkidu verstorben ist. Und stellt dann fest, das gibt es für ihn als menschliches Leben nicht, aber was bleiben wird, sind seine Taten und seine Bauwerke, die er geschaffen hat. Musik 11 "North of the Wall" - Album: Game of Thrones (Music from the HBO Series) - Komponist: Ramin Djawadi - Länge: 0'45 Erzähler: Die Mauer von Uruk etwa, die ihm zugeschrieben wird. Ein gigantisches Bauwerk, errichtet um das Jahr 2900 vor Chr. Die Mauer ist 9,3 Kilometer lang, bis zu acht Meter breit, an der engsten Stelle etwa fünf Meter. Sie muss etwa acht Meter hoch gewesen sein, und wurde von Bastionen verstärkt. Erzählerin: Ein Bauwerk der Superlative, Fortifikationsanlage und Ausdruck des Selbstbewusstseins von Uruk. 13. Zsp.: (Margarete van Ess) Wir haben einmal ausgerechnet, dass es um die 300 Millionen Ziegel gewesen sein müssen – mindestens. Soweit wir das im Moment erkennen können, ist das vermutlich relativ schnell auch fertig gewesen und dann Mitte des 3. Jtd. vor Chr. immer wieder erweitert worden. Es mag sein, dass das von einer Person in die Wege geleitet und auch umgesetzt worden ist, 300 Millionen Ziegel in die Wege zu leiten, ist so fürchterlich aufwendig nicht. Also das ist keine Arbeit, für die man Jahrzehnte braucht, schon ein paar Jahre, immer in den Sommermonaten, wenn man die Bevölkerung dazu anhalten kann, an einem Gemeinschaftswerk mitzuarbeiten. Und vor allem, wenn man organisieren kann, wo man welche Menschengruppen denn einsetzt, also es ist vor allem ein gigantisches logistisches Problem, so etwas zu machen.  Erzählerin: Insofern ist die Geschichte von Gilgamesch, der als Erbauer der Mauer von Uruk gilt, durchaus verständlich. Das Bauwerk schien in seiner Imposanz eher in den Tatbereich der Götter zu fallen als in den der Menschen. Erzähler: Anfang des 3. Jtd. werden auch andere Städte groß in Mesopotamien. Aus früheren Partner entwicklen sich konkurrierende Gegner;- eine schützende Mauer scheint daher durchaus sinnvoll gewesen zu sein. Aus Epen und späteren Texten weiß man, dass es zu Kriegen zwischen den Städten gekommen war. 14. Zsp.: (Margarete van Ess) Eine Stadtmauer ist aber tatsächlich auch dafür da, die Potenz derjenigen anzuzeigen, die sie gebaut haben, also den König oder auch die Menschen, die es getan haben. Sie ist auch ein Schutz gegen wilde Tiere oder eine Zollgrenze, sie ist alles Mögliche. Und als solche hat sie auch bis zum Ende gedient, also sie ist nicht irgendwann kaputt gegangen, wir finden sie in den Keilschrifttexten bis in die Suleukidenzeit, das ist bis in das 3. und 2. Jahrhundert vor Christus. Und meine archäologischen Reste zeigen mir, dass sie auch später noch existiert hat. Das heißt, sie war immer da, man sah sie, man wusste, wo sie ist, man wusste, wo die Stadt anfängt, wo sie aufhört, es gibt ein draußen und drinnen, insofern hat sie immer Bedeutung gehabt und schon im alten Mesopotamien haben sich die Menschen immer daran erinnert, dass dieses gewaltige Bauwerk eben die Großtat von Uruk war. Musik 12 "Atmosphere in B Minor" - Komponist: Nicholas Britell - Album: Succession: Season 2 (Music from the HBO Series) - Länge: 1'18 TC 21:48 – Die erste Metropole der Menschheit Erzähler: Uruk war die erste Metropole der Menschheit. Ein verdichteter Kulturraum, in dem Menschen erstmals urbanes Zusammenleben erprobten. Sie waren angewiesen auf Kooperationen und pragmatische Lösungen, beides unabdingbare Voraussetzungen für ein Miteinander.  Erzählerin: Zusammenhalt unter den Menschen stifteten zu Beginn Religion und intensive wirtschaftliche Beziehungen. Später kam viel Stadtstolz auf Uruk hinzu und eine Fülle an kulturellen Wechselbeziehungen – bis heute der Nährboden für Innovationen, Dynamik, Lebendigkeit. All das hatte aber auch seine Schattenseiten, das Leben in der Stadt führte zu Krankheiten und Seuchen, Versklavung, Gängelung, Konkurrenz und Kriegen. Erzähler: Die letzte Blütezeit in 5000 Jahren Urbanismus erlebte Uruk unter den Seleukiden zwischen 200 und 44 vor Christus. Sie ging einher mit der Errichtung neuer Monumentalbauten für die altorientalischen Götter. An wegweisender Bedeutung verlor Uruk erst, als die Handelswege andere Routen einschlugen.  Musik 13 "Bach/Caine: Goldberg Variations - The Eternal Variation" - Komponist: Uri Caine - Album: Bach: Goldberg Variations [Disc 2] - Künstler: Uri Caine Ensemble - Länge: 0'43 Erzählerin: Bis in das 4. Jahrhundert nach Christus war die erste Metropole der Menschheit belebt. Dann verlandete das fruchtbare Sumpfland infolge weitreichender klimatischer Veränderungen. Die Menschen fanden kein Auskommen mehr und zogen weg. Auch heute noch ist Warka staubig und trocken. Eine Wüste. Aber zugleich einer der genialsten und fruchtbarsten Orte der Menschheit: Die Erfindungen in Uruk prägen schließlich bis heute unser Leben. TC 22:25 – Outro
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Mar 8, 2024 • 23min

LEBEN IN GEFAHR ? Tamara Bunke, Che Guevaras Kampfgefährtin

Ihr Leben liest sich wie die Vorlage für einen Kinofilm: Die Deutsch-Argentinierin Tamara Bunke lebt zunächst in der DDR als systemtreue und sozialistisch geprägte junge Frau. Doch als ihr 1960 der Job als Dolmetscherin für den kubanischen Revolutionshelden Che Guevara zufällt, beginnt sie sich immer mehr für die Vorgänge in Kuba zu interessieren. Es beginnt ein Leben als Geheimagentin im Kugelhagel. Am 8.3. ist Internationaler #frauentag 2024. Credits Autorin: Gerda Kuhn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Thomas Loibl, Hemma Michel Technik: Fabian Zweck Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Oliver Rump, Dr. Gerd Koenen Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Warum Frauen die besseren Spione sind Als Doppelagentin führte Lily Sergueiew die Nazis 1944 in die Irre. Ein neues Sachbuch erzählt von ihr und anderen mutigen Spioninnen. Die Journalistin Corinna von Bassewitz berichtet in ihrem Buch, wie sie ihren Vater als Agent enttarnte. ZUM BEITRAG WDR Hörspiel (2022): Monika La Guerrillera – Die Frau, die Che Guevara rächte Am 9. Oktober 2022 jährte sich der Todestag von Che Guevara zum 55. Mal. Das Doku-Hörspiel erzählt die Geschichte seines Scheiterns in Bolivien - und die Story der Frau, die seinen Tod rächte: Monika Ertl, Tochter des NS-Filmers Hans Ertl. JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2024): Revolution auf Kuba – Als Fidel Castro die Macht übernahm   Am 1. Januar 1959 wurde Kuba ein anderes Land: Vor 65 Jahren stürzte Revolutionär Fidel Castro den bisherigen Machthaber Batista. 49 Jahre lang führte Castro Kuba als "Maximo Líder". Doch die anfängliche Euphorie der Kubaner hielt nicht lange an. Kath, Andrea. HIER anhören. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 04:06 – Die Vorzeige-GenossinTC 06:16 – Eine schicksalhafte BegegnungTC 09:47 – AgentenlebenTC 12:43 – Alleinsein, Angst und AuflösungTC 18:38 – Der Anfang vom EndeTC 22:21 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK ERZÄHLERIN:Was treibt jemanden dazu an, alles aufs Spiel zu setzen? Persönliche Sicherheit, Freunde, Heimat, vielleicht sogar die Zukunft mit einem geliebten Menschen? Für Tamara Bunke, geboren 1937 in Argentinien, gestorben 1967 im bolivianischen Dschungel, war vermutlich die stärkste Triebfeder für alles, was sie auf sich nahm, eine romantische Vorstellung vom Wesen der Revolution. ERZÄHLER:Tamara Bunke, die später unter dem Namen „Tania la Guerillera“ einen Ehrenplatz im Helden-Olymp der internationalen Linken erhalten sollte, träumte wie Kubas Revolutionsheld Che Guevara den Traum von der Befreiung Lateinamerikas. Wie Domino-Steine sollten rechte Diktaturen nacheinander stürzen und freie, gerechte Gesellschaften entstehen, geprägt vom Typus eines neuen, solidarischen Menschen. Kuba, so die Vision der beiden Revolutionäre, sollte dabei als Fackelträgerin der übrigen Welt vorangehen. 1. O-Ton Rump Tamara Bunke war eine sehr starke Persönlichkeit, sehr lustig, freundlich, aufgeschlossen; hat durch den ersten Eindruck überzeugt und Leute gewonnen; hatte eindeutig eine eigene Meinung… das heißt, es war ihre Meinung, dass sie für den Sozialismus, für die Freiheit, für die Gerechtigkeit … eingestanden hat und gekämpft hat … ERZÄHLERINProfessor Oliver Rump von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Der Historiker mit dem Fachbereich Museumsmanagement kam auf ganz besondere Weise mit dem Fall Tamara Bunke in Berührung: 2. O-Ton Rump Ich habe ein Kuba-Projekt an der HTW Berlin, das heißt Mugoku, da geht es um die Erhaltung von historischem Kulturgut auf Kuba, besonders Archivgut, und in dem Zusammenhang haben wir einen Logistik-Partner, das ist Cuba Si; eine Arbeitsgruppe bei der Partei Die Linke, und darüber habe ich erfahren, dass der Nachlass von Tamara Bunke in dem Gebäude der Partei „Die Linke“ sich im Keller befindet. ERZÄHLERGroße Weltgeschichte – am Ende verwahrt in einem Berliner Keller. Doch dort sollte der Nachlass der deutsch-argentinischen Revolutionärin nicht bleiben: 3. O-Ton RumpDann wurde ich eben daraufhin sehr neugierig, was da so liegt. Dann habe ich noch erfahren, dass Hans Modrow, der Ehrenvorsitzende der PDS, bei der Buchmesse in Havanna dieses Material, diesen Nachlass von Tamara Bunke, übergeben sollte; und ich als Historiker habe dann gesagt: So schnell kann das eigentlich nicht gehen, wir müssten uns eigentlich das Material noch einmal vornehmen, sichten und aufarbeiten, um daraus vielleicht noch neue Schlüsse zu ziehen. Und dem wurde dann auch stattgegeben und so ist der Nachlass in mein Büro gekommen. ERZÄHLERINGenau genommen war es der Nachlass von Tamaras Mutter, Nadja Bunke; sie war 2003 verstorben und hatte „Cuba Si“ die persönlichen Gegenstände aus dem Besitz ihrer Tochter übergeben. ERZÄHLERWas der deutsche Historiker Oliver Rump auch im Rahmen eines Studenten-Projektes erarbeitete, ist heute in Kuba zu sehen - in der revolutionsgeschichtlich wichtigen Stadt Santa Clara. Dort war für Che Guevara eine Gedenkstätte errichtet worden. Sie wurde später um ein Mausoleum ergänzt – als die zunächst anonym verscharrten Leichen des Revolutionshelden und seiner Mitkämpfer zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod doch noch in Bolivien entdeckt wurden. Hans Modrow, der letzte Ministerpräsident der DDR, war 2014 zur Übergabe von Tamaras Hinterlassenschaften nach Kuba gereist. Ihre Uniform, Notizbücher, Schulhefte, Zeugnisse und weitere Dokumente sind heute in der Gedenkstätte “Comandante Ernesto Che Guevara” ausgestellt. MUSIK TC 04:06 – Die Vorzeige-Genossin ERZÄHLERINDoch noch einmal zurück, in die Zeit, als Tamara Bunke noch nicht wusste, dass sie einmal als „Tania la Guerillera“ weltweit zu einer Ikone der revolutionsbewegten Linken aufsteigen würde. Sie wächst in ihrem Geburtsort Buenos Aires auf. Dorthin waren ihre Eltern, überzeugte Kommunisten, vor den Nationalsozialisten geflohen. 1952 zieht die Familie zurück nach Deutschland, genauer gesagt in die Deutsche Demokratische Republik, und wohnt unter anderem in Eisenhüttenstadt, der ehemaligen DDR-Vorzeigesiedlung Stalinstadt. 5. O-Ton Gerd KoenenUnd da kommen sie ja nun im heikelsten Moment…also 1952, da läuft in der DDR eine ganz finstere Kampagne … genau gegen die West-Emigranten, zu denen sie dazu gehörten …auch noch jüdisch, die Mutter jedenfalls ... also das war ja eine ganz düstere Stalinzeit ... mit Kosmopoliten-Verfolgung … wo dort auch ein Schauprozess für 1953 vorbereitet wird … und darauf reagieren sie - und das tut Tamara aber auch - mit einer Art Überanpassung … also sie sind 150 prozentig … sie stellen sich total zur Verfügung ... ERZÄHLER:Der Marxismus-Kenner und Historiker Dr. Gerd Koenen. In seinem Buch „Traumpfade der Weltrevolution. Das Projekt Guevara“ spürt er auch dem Leben von Tamara Bunke nach, das ab einem bestimmten Zeitpunkt auf tragische Weise mit Guevaras letzter revolutionärer Mission verknüpft war. Musik ERZÄHLERIN:Die junge Tamara - sie ist bei der Rückkehr 14 Jahre alt - wird in ihrer neuen Heimat rasch zur Vorzeige-Genossin. Sie arbeitet aktiv in der Freien Deutschen Jugend FDJ und wird Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, SED. Als Tochter eines Turnlehrers ist sie einerseits eine vielseitige Sportlerin und lernt auch Schießen, andrerseits hat sie auch musische Interessen, spielt Akkordeon und Gitarre und sammelt lateinamerikanische Folkloremusik. Nach dem Abitur immatrikuliert sie sich am Romanistischen Institut der Berliner Humboldt-Universität. TC 06:16 – Eine schicksalhafte Begegnung ERZÄHLER:Tamara ist bereit, mit aller Kraft am Aufbau des ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaats mitzuhelfen. Trotzdem bleibt ein Stück Fremdheit. Sie vermisst im grauen DDR-Alltag die lateinamerikanische Lebensfreude, vieles erscheint ihr steif und verknöchert. Irgendwann wird es der jungen Frau zu eng und zu stickig. Sie will zurück in ihre argentinische Heimat, aber ihr Ausreiseantrag wird zunächst abgelehnt. Doch eine schicksalhafte Begegnung steht ihr bevor: 6. O-Ton Gerd Koenen: …da kommt eben dieser Besuch von Guevara, damals noch als Industrieminister im Jahr 1960 in der DDR, und da ist sie seine Übersetzerin …begibt sich in das Gefolge von ihm …er nahm sie ernst und sagte – als er hörte, wo sie herkam – du kommst aus Argentinien? Willst du dich nicht unserer kontinentalen Revolution anschließen? Das hat sie dann wirklich elektrisiert. ERZÄHLERINJetzt steht für Tamara endgültig fest: Sie wird nicht länger in der DDR bleiben. Doch sie kann nicht einfach das Land verlassen. Trotzdem schafft sie es über eher dubiose Umwege, an Bord eines Flugzeuges nach Havanna zu gelangen – und dort den Platz einzunehmen, der eigentlich für ein Mitglied des kubanischen Nationalballetts bestimmt war, das zu diesem Zeitpunkt in der DDR gastierte. 7.O-Ton Gerd Koenen Ich glaube, da war ein gutes Stück Eigenmächtigkeit bei ihr dabei …. ich habe ja auch mit Mischa Wolf, dem Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes, noch sprechen können …und es war ja Tatsache, dass der DDR-Geheimdienst schon versucht hatte, sie für eine Agentenkarriere in Lateinamerika zu gewinnen, mit falschen Papieren, und sie dann – das war der Plan – sie in die USA einzuschleusen, in die exilkubanischen communities dort…. Musik ERZÄHLERMit ihrer Ausreise schafft Tamara Fakten. Die 23-jährige trifft im Mai 1961 auf der Karibikinsel ein und stürzt sich kopfüber in ihr neues revolutionäres Leben. Erst rund zwei Jahre zuvor hat Fidel Castro die Macht übernommen, vieles ist noch im Auf- und Umbruch. Tamara engagiert sich bei der Zuckerrohrernte, bei der Arbeit in den Parteikomitees, beim Internationalen Studentenbund und als Dolmetscherin. Nächtelang diskutiert sie mit ihren neuen Bekannten: 8. O-Ton KoenenIch hab ja auch eine ihrer kubanischen Freundinnen sprechen können, die sagte, die hat uns überhaupt erst den Marxismus-Leninismus beigebracht, wir hatten doch davon gar keine Ahnung… ERZÄHLERINSchließlich wird sie in die Revolutionäre Miliz Kubas aufgenommen – und trägt von nun an stolz Uniform. Ihren in der DDR zurückgebliebenen Eltern schreibt sie mitten in der Kubakrise 1962 voller Begeisterung, es gebe nichts Schöneres, als sich dort zu befinden, wo der revolutionäre Kampf am härtesten sei. ERZÄHLERTamara nimmt ihr Sprachenstudium wieder auf, macht erste journalistische Erfahrungen und steht überall dort zur Verfügung, wo Organisationstalent und Entschlossenheit gebraucht werden. Diese Qualitäten sind auch beim kubanischen Geheimdienst gefragt: 9. O-Ton Koenen (Che hatte Idee, sie zu rekrutieren) … dann kam sie dort wieder in das Umfeld von Guevara …über Feste der argentinischen Landsmannschaft … er hat wohl auch von sich aus die Idee gehabt, sie zu rekrutieren, denn Che war seinerseits auf dem Absprung.TC 09:47 – Agentenleben ERZÄHLERINDer Argentinier Che Guevara, der Seite an Seite mit Fidel Castro gekämpft hat, nimmt bereits Kurs auf das nächste Etappenziel des Projekts Weltrevolution. Es liegt im Herzen von Afrika, im Kongo. Doch hier wird er scheitern, und dann seinen alten Traum von der Befreiung ganz Lateinamerikas wiederaufleben lassen: 10. O-Ton Gerd KoenenFür Guevara gab es dieses romantische Projekt: Er selbst wird sozusagen das Feuer einer Weltrevolution anstecken und wenn nicht in Afrika, dann eben im Herzen von Lateinamerika. Das war ein Projekt, für das meines Erachtens Tamara Feuer und Flamme war. ERZÄHLERTamara soll helfen, Guevaras nächstes großes revolutionäres Projekt mitvorzubereiten. Als künftige Agentin durchläuft sie zunächst eine umfassende Grundausbildung. Sie übt den Umgang mit Funkgeräten, mit toten Briefkästen, das Abschütteln von Verfolgern. Schnell wird klar, Tamara ist für hohe Aufgaben geeignet. Für allerhöchste sogar. MUSIKAKZENT ERZÄHLERINAusgebildet wird sie von dem afro-kubanischen Geheimdienst-Offizier Ulises Estrada. Er ist der Grund dafür, dass die sonst so disziplinierte junge Frau ausnahmsweise gegen einen Befehl verstößt: Sie und der verheirate Familienvater Estrada werden ein Liebespaar. Doch intime Beziehungen sind im Geheimdienst untersagt. Die Affäre hat Konsequenzen: Estrada muss Tamaras weitere Ausbildung an einen anderen Offizier abgeben. Er darf sie weder zur Schulung nach Prag noch nach Bolivien begleiten, wo Guevara nun die nächste Revolution starten will. Die Trennung ist offenbar für beide hart. ERZÄHLERTamara soll unter falscher Identität in Bolivien ein konspiratives Netzwerk aufbauen. Von Prag aus reist sie in mehrere europäische Städte, um verschiedene Identitäten auszuprobieren. Schließlich wird aus Haydée Tamara Bunke Bider – so ihr vollständiger Name - die deutsch-argentinische Musik-Ethnologin Laura Gutiérrez Bauer. Ihr revolutionärer Deckname ist künftig „Tania“ – sie wählt ihn im Gedenken an eine ermordete sowjetische Partisanin. ERZÄHLERINTamara alias Tania alias Laura macht ihre Sache gut. Nach ihrer Ankunft in Bolivien im November `64 lebt sie sich rasch ein. Sie findet Zugang zur Oberschicht und gibt Deutschunterricht – unter anderem den Kindern des Präsidenten. Ihre Tarnung als Musikethnologin verschafft ihr die Möglichkeit, unauffällig durch Bolivien zu reisen und das Land zu erkunden. Um ihre Einbürgerung zu erleichtern, heiratet sie einen bolivianischen Studenten, dem sie kurz darauf ein Stipendium in Bulgarien besorgt, um sich später wieder von ihm scheiden zu lassen.TC 12:43 – Alleinsein, Angst und Auflösung ERZÄHLERSo routiniert und versiert ihr Agentenleben im Nachhinein auch wirkt – die beiden Jahre undercover in Bolivien sind gleichzeitig auch Jahre der Einsamkeit und der ständigen Angst vor Entdeckung. Fast ein Jahr lang hat sie keinen Kontakt zu Kuba. Endlich, im Jahr 1966, ist die Zeit der Isolation vorbei. Che Guevara gibt grünes Licht – und Tania beginnt mit der unmittelbaren Vorbereitung des Guerilla-Kampfes. Sie mietet Häuser als Lagerräume und Übernachtungsmöglichkeit an, kauft Waffen und Proviant ein und empfängt die ersten freiwilligen Kämpfer. ERZÄHLERINIm November trifft dann auch Che Guevara ein, der mit Hilfe kubanischer Geheimdienst-Experten sein äußeres Erscheinungsbild völlig verändert hat. Doch Bolivien ist nicht Kuba. Es gibt keine Landbevölkerung, die nur darauf gewartet hat, von dem berühmten Revolutionshelden befreit zu werden. Und: Der moskaukritische Guevara hat auch nicht die Unterstützung der linientreuen bolivianischen Kommunisten: 12 O-Ton Gerd Koenen: Das hat ja mit zum Scheitern der Guevara-Operation beigetragen, dass auch die eingesessene bolivianische KP mit absolutem Misstrauen betrachtet hat, was dort der Che für Leute zusammenholt, sie wussten ja gar nichts darüber. ERZÄHLERINTania bringt auch Besucher ins Dschungel-Lager; sie sollen für Guevara in Europa Solidaritäts-Kampagnen organisieren. Einer von ihnen ist der kommunistische Philosophie-Student Régis Debray. Als er mit Tania und einem weiteren Gast im Lager ankommt, ist Guevara unterwegs zu einer mehrwöchigen Erkundungstour. Tania beschließt, zu bleiben und auf seine Rückkehr zu warten - eine Entscheidung, die Guevara später scharf kritisiert. Denn nun sind die Rebellen ohne jeden Kontakt nach außen. MUSIK ERZÄHLERInzwischen gibt es Auflösungs-Tendenzen: Deserteure setzen sich ab und verraten dem bolivianischen Militär wichtige Details. Immer enger wird die schrumpfende Truppe eingekreist. Was der Commandante erst jetzt erfährt: Tania hat vor der letzten Fahrt ins Rebellen-Camp in der Kleinstadt Camiri ihren Jeep zurückgelassen – und in ihm wichtige Unterlagen und Adressen. Als das bolivianische Militär das Fahrzeug entdeckt, dauert es nicht lange, und Tania ist enttarnt. In seinem berühmten „Bolivianischen Tagebuch“ hält Che resigniert fest: Zwei Jahre Vorbereitungsarbeit waren nun letztlich umsonst. ERZÄHLERIN:Doch wie ist es zu erklären, dass Tania offenbar alle Sicherheitsvorschriften missachtet hat? Ist es wirklich vorstellbar, dass eine Top-Agentin in ihrem Auto überlebenswichtige Informationen einfach vergisst? Wild wuchernde Spekulationen ranken sich um diese Frage. Sie sei in Wirklichkeit eine Mehrfachagentin gewesen, lautet eine davon, und der sowjetische KGB habe sie gezwungen, Che‘s Projekt scheitern zu lassen; sie sei todkrank gewesen, so eine weitere These, und habe deshalb bewusst oder unbewusst ihren Tod herbeigesehnt. Der Historiker Gerd Koenen glaubt an eine andere Version: 14 O-Ton Koenen Sie hielt die ganze Rolle in La Paz, wo sie immer in der Maske eines Society girls auftreten musste, das hielt sie meines Erachtens nicht aus. Sie hat im Grund diese Doppelrolle, in die sie da gedrängt werden sollte, nicht ertragen und insofern glaube ich, dass das eine befehlswidrige, spontane Tat war, dass sie da runtergefahren ist und versucht hat, selber zur Guerilla hinzukommen. … ERZÄHLERTrotzdem halten sich – befeuert durch Filme und Bücher – bis heute hartnäckig Gerüchte, Tania und Che seien auch privat ein Paar gewesen. Gestreut wurden sie vermutlich auch von der CIA. Für Gerd Koenen eine abwegige Spekulation: 15 O-Ton Koenen Nein, im Gegenteil…. Che lebte sowieso in der schweißigen Welt seiner Männer… er hatte dann noch in Kuba seine Kinder und seine Frau …aber das war nur so ein Außenpunkt …er war absolut jemand, der im Feldlager unter Männern lebte, und da störte sie doch einfach …sie brachte die innere Stabilität der Truppe durcheinander. 16 O-Ton Koenen … aber das ist dann eben die melancholische Seite der Sache, dass sie da gar nicht reinpasste. ERZÄHLERIN:Seit der Entdeckung von Tanias Jeep gibt es für sie kein Zurück: sie muss mit der Truppe weiterziehen. Die tagelangen Märsche erschöpfen sie, ihre Ausrüstung ist unzulänglich, in den zu großen Stiefeln läuft sie sich die Füße blutig: 17 O-Ton Koenen…sie wollte selber dabei sein und konnte dann auch nicht mehr raus. Und Che hat sie dann auch … indem er sie zur Nachhut, zur Gruppe der Unzuverlässigen einteilte, und weil sie ja auch schon sehr schnell bei diesen Gewaltmärschen nicht mithalten konnte …. er hat sie im Grunde degradiert … das muss man sehen…. ERZÄHLER:Vermutlich wissen sowohl Che als auch Tania, dass das Unternehmen gescheitert ist: 18 O-Ton KoenenUnd insofern gleicht das Ganze einem Todesmarsch in das sichere Verderben, und das macht für mich auch das Pathos dieser ganzen Geschichte aus, warum es so ein lateinamerikanisches Epos ist. Es gibt so eine Art der heroischen Vergeblichkeit, man schaut dem Tod ins Auge und setzt irgendwie darauf, dass man Anschluss findet, an irgendwelche anderen Kräfte, aber die gab es da ja gar nicht. MUSIKTC 18:38 – Der Anfang vom Ende ERZÄHLERIN:Das Ende kommt in Etappen: Ein Bauer verrät die Nachhut an das bolivianische Militär. Am 31. August 1967 ist es soweit: Als die Rebellen den Rio Grande durchwaten, werden sie von Kugeln durchsiebt. Einige der Guerilleros sind sofort tot, andere verwundet. Auch Tania wird tödlich getroffen; ihr Körper wird vom Fluss davongetrieben und Tage später gefunden. ERZÄHLEREs gibt Berichte, wonach sich in ihrem Rucksack auch ein wasserdicht verpackter Brief an ihre Eltern befunden hat, in dem Tania Gefühle der Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit schildern soll. Ob das Schreiben tatsächlich existiert hat, bleibt offen. ERZÄHLERINTamara Bunke wusste womöglich am Ende nicht mehr, wofür sie eigentlich kämpfte: 20 O-Ton KoenenSie verlor sich selbst. ERZÄHLERChe Guevara stirbt wenige Wochen später. Auch seine Einheit muss sich Anfang Oktober dem bolivianischen Militär ergeben. Der einstige Revolutionsheld wird wenige Stunden später exekutiert. Warum hatte Kubas Staatschef Castro nicht wenigstens versucht, seinen ehemaligen Waffenbruder in Sicherheit zu bringen? 21 O-Ton KoenenIch glaube, er wollte nicht wieder raus. Guevara war der Typ, der sein Leben auf eine Karte setzte. Das Ganze hatte auch ein poetisches Flair. Guevara lebte im Grund auch in einer Welt der Literatur. Als Don Quichote der Weltrevolution hat er sich ja selbst stilisiert und er wollte dort zeigen, dass es geht. ERZÄHLERIN:In der DDR wird die Nachricht von Tanias Tod erst einmal verschwiegen. Doch ihre Mutter Nadja Bunke kämpft unermüdlich für das Gedenken an ihre Tochter. Sie erreicht, dass eine Todesanzeige erscheint und eine Trauerfeier stattfindet. Und sie schreibt ein Buch - zusammen mit Tanias ehemaligem Freund, Ulises Estrada.Irgendwann muss Ostberlin nachgeben und die Tote zumindest posthum zur Heldin aufwerten, wenn auch zu einer ungeliebten und schwierigen. ERZÄHLERGanz anders auf Kuba. Je länger Che tot ist, desto mehr wird er glorifiziert, und mit ihm auch Tania. 22 O-Ton KoenenEs war Castro dann, der dieses Erbe aufgenommen hat, und 1968 verkündete, nach Ches Tod, zu den jungen Menschen auf Kuba: Wenn ihr wissen wollt, wie der neue Mensch aussieht, dann schaut auf Guevara, und in dieses Gruppenbild der Guerilleros, das dann heroisch aufgemacht wurde, da passte sie dann natürlich ganz perfekt hinein, ein weibliches Gesicht, Tania la Guerillera, die sozusagen zur Rechten des Che in Santa Clara im Mausoleum liegt … also Gruppenbild mit Dame. MUSIK hoch und darunter ERZÄHLERIN:Die Geschichte der Dame ist aber in Wirklichkeit wohl eher die tragische Geschichte einer jungen Frau… 23 Koenen …. die aus dieser Enge der DDR rauswollte, und die zurück zu ihren lateinamerikanischen Wurzeln wollte, die ganz von dieser Romantik dieser kubanischen Revolution und der weltrevolutionären Mission, die man da nochmal hatte, angesprochen war und dann aber eben in diesem ganzen Projekt, diesem Guevara-Projekt, eben nur eine ziemlich dienende Rolle und letztlich für sie selbst bittere Rolle gespielt hat. (Stimme oben) ERZÄHLERIN:Die Rolle einer Guerillera, die einen hohen Preis für ihren Traum von Freiheit und von einer gerechten Welt bezahlte.TC 22:21 – Outro    
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Mar 8, 2024 • 23min

LEBEN IN GEFAHR ? Ada Blackjack, Überleben im Eis

Weil sie das Geld für ihren kranken Sohn benötigt, lässt sich die indigene Näherin Ada Blackjack auf eine halsbrecherische Arktis-Expedition ein. Mit vier jungen und unerfahrenen Männern bricht sie im Jahr 1921 in Nome, Alaska, auf. Zunächst verläuft alles nach Plan, doch dann bleibt das lang ersehnte Rettungs-Schiff im Eis stecken, die Nahrung wird knapp und die gefürchtete Seefahrer-Krankheit Skorbut bricht aus. Am 8.3. ist Internationaler #frauentag 2024. Credits Autorin: Karin Becker Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Christian Jungwirth, Rahel Comtesse, Christian Schuler, Karin Schumacher Technik: Christiane Gerheuser-Kamp Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Diane Glancy Linktipps: Deutschlandfunk (2022): Schulen, die zur Hölle wurden Tausende indigene Kinder wurden zwischen 1870 und 1996 in Kanada von ihren Familien getrennt und in Internaten untergebracht. Oft wurden sie dort sexuell missbraucht, viele starben. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der kanadischen Geschichte hat erst begonnen – und wird die Gesellschaft noch lange beschäftigen. JETZT ANHÖREN rbb (2024): Expedition Arktis – Ein Jahr. Ein Schiff. Im Eis. Es ist die größte Arktis-Expedition aller Zeiten: Im September 2019 macht sich der deutsche Eisbrecher "Polarstern" auf den Weg zum Nordpol. An Bord: die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer Generation. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2013): Vom Leben mit abschmelzenden Eisbergen Welche Auswirkungen der Klimawandel auf das Leben der Inuit hat, will der Buchautor und TV-Journalist Klaus Scherer deutlich machen. Von den Bewohnern der Arktis ließ er sich erzählen, wie sie mit der Klimaerwärmung leben. Viele müssen alte Gewohnheiten aufgeben. Zum Interview geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – IntroTC 01:30 – Eine fragliche ExpeditionTC 04:14 – Erste ZweifelTC 07:35 – Keine Rettung in SichtTC 13:11 – Alles für mein KindTC 16:13 – Eine glückliche WendungTC 19:57 – Zurück in die bittere ArmutTC 22:48 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro SPRECHERDie Insel ‚Wrangel Island‘ in der Arktis, 140 Kilometer bis zur sibirischen Küste. Ein Ort - umgeben von Nebel und gefrorenem Meer, bedeckt mit Eis. Eine Tierfalle im Schnee, darin: ein magerer Fuchs in seinen letzten Atemzügen. Ein paar hundert Meter weiter: Zelte. In einem davon liegt die gefrorene Leiche eines weißen Mannes – in einem anderen sitzt eine 25 Jahre alte Iñupiaq, eine Ureinwohnerin Alaskas, und schreibt auf einer Schreibmaschine. ZITATOR ADA“I finished my knitted gloves today and I open last biscuit box. The ice is over little below horizon. I thank the lord Jesus and his father.” OVERVOICE ADA“Ich habe heute meine Handschuhe fertiggestrickt und die letzte Plätzchendose aufgemacht. Das Eis reicht bis kurz unter den Horizont. Ich danke dem Herrn Jesus und seinem Vater.“ SPRECHERAda Blackjack heißt die schmale Person, die da im August 1923 auf ein Rettungsschiff wartet. Die dicken Schollen um die Insel müssen schmelzen, nur dann hat ein Schiff die Chance durchzukommen. Eine waghalsige Expedition hat sie an diesen Ort gebracht. Vier Männer sind bereits tot – Ada Blackjack ist die einzige Überlebende. MUSIK TC 01:30 – Eine fragliche Expedition SPRECHERGut zwei Jahre zuvor: Vilhjálmur Stefánsson, ein draufgängerischer Polarforscher und Ernährungswissenschaftler, geboren in Kanada, sucht sich die Mannschaft für eine Expedition auf Wrangel Island zusammen. Offizielles Ziel ist es, die Insel mindestens ein Jahr zu bewohnen und sie damit zu kanadischem Staatsgebiet erklären zu können. Stefánsson ist charismatisch und ehrgeizig, er will mit der Expedition auch seinen Ruhm weiter ausbauen. Der Entdecker pflegt die Theorie der ‚freundlichen Arktis‘, die alles zum Leben bietet, wenn man es nur richtig anstellt. Lockend mit Abenteuer und dem Versprechen, es gäbe auf der Insel reichlich jagbares Wildfleisch, hat er bald eine junge und reichlich unerfahrene Crew zusammengestellt. Er selbst bleibt zu Hause. Allan R. Crawford wird zum Leiter erkoren. Der Kanadier ist zwanzig Jahre alt, Geologiestudent und hat keinerlei Vorerfahrung mit Expeditionen. Mit ihm kommen drei Amerikaner: Errol Lorne Knight und Frederick W. Maurer, beide 28, und Milton Galle, der 20 Jahre alte Sekretär von Stefánsson. OTON 1“These four explorers needed somebody to cook and so for them. And Ada was a seamstress. She knew how to sew, to repair Mukluks, that the men wore, those heavy boots, and (…) she could speak English and she was available.” OVERVOICE OTON 1“Diese vier Entdecker brauchten jemanden zum Kochen. Und Ada war eine Näherin. Sie konnte nähen und Mukluks reparieren, die die Männer trugen, diese schweren Stiefel. Und sie konnte Englisch und stand zur Verfügung.“ SPRECHERDiane Glancy, Literatin und Sachbuchautorin, hat sich für ein Buchprojekt lange mit der fast vergessenen Geschichte der Ada Blackjack auseinandergesetzt. Geboren wird sie 1898 an der Westküste Alaskas, in einer abgelegenen Siedlung nahe der Goldgräberstadt Nome. Sie ist Tochter einer indigenen Familie von Iñupiat, Ureinwohnern Alaskas. Ihr Vater stirbt früh. Aus Geldnot wächst Ada in einer von Methodisten betriebenen Missionsschule auf. Dort lernt sie Englisch, lernt schreiben und nähen – alles Dinge, die sie als 23-Jährige für die Expedition interessant machen. Ada Blackjack hat freilich eigene Gründe, die Expedition zuzusagen. OTON 2“It was poverty and need and maybe a little longing for escape. Because she lived in poverty in Nome, Alaska, probably sleeping sometimes on the street. She had a husband who deserted her. She had two sons who died and another one lived, but she put him in a mission school (…). It was expedient for her to have money (…).” OVERVOICE OTON 2„Armut spielte eine große Rolle und vielleicht auch ein wenig die Sehnsucht, zu entkommen. Denn sie lebte in bitterer Not in Nome, Alaska, vermutlich übernachtete sie manchmal auf der Straße. Sie hatte einen Ehemann, der sie verließ. Sie hatte zwei Söhne, die starben. Ein weiterer lebte, doch sie musste ihn in eine Missionsschule geben. Geld war für sie wichtig.“  MUSIK TC 04:14 – Erste Zweifel SPRECHERFür Ada Blackjack eröffnet das Expeditions-Honorar von 50 Dollar pro Monat die Chance, ihren Sohn Bennett nach ihrer Heimkehr zu sich zurückzuholen. Aus Geldnot ist er in einem Heim untergebracht. Außerdem hofft sie, mit dem Honorar seine schwere Tuberkulose behandeln lassen zu können. Und so besteigt sie am 9. September 1921 die ‚Silver Wave‘: das Schiff, das die fünf Leute der Expedition nach Wrangel Island bringt. Weitere Iñupiat, die ihr als Teilnehmer angekündigt waren, springen im letzten Moment ab. Vermutlich ist den Native Americans, erfahren was das Überleben im Eis betrifft, die schlechte Vorbereitung der Expedition nicht entgangen. Ada Blackjack, selbst nicht bei ihrem eigenen Volk aufgewachsen, ist also mit den vier jungen Männern alleine. Die Crew hat Verpflegung für ein halbes Jahr dabei – dazukommen soll das Fleisch selbst erlegter Tiere. Ein Schiff, das für das Jahr darauf angekündigt ist, soll sie entweder mit Nachschub versorgen oder aber evakuieren. Kaum am Zielort angelangt, hisst der Expeditionsleiter Allan Crawford den Union Jack und beansprucht die Insel für Kanada. Die Katze der Expedition, Victoria, und die vier Männer beginnen, die Insel in Besitz zu nehmen und ihr Lager aufzuschlagen. Ada hingegen erfasst bei Ankunft ein klammes Gefühl, das sie rückblickend in ihrem Tagebuch beschreibt: ZITATOR ADA„When we got to Wrangel Island, the main land looked very large to me, but they said that it was only a small Island. I thought at first that I would turn back, I decided it wouldn’t be fair to the boys so I felt I had to stay.” OVERVOICE ADA“Als wir auf Wrangel Island ankamen, sah das Festland für mich sehr groß aus, aber sie sagten es sei nur eine kleine Insel. Ich dachte zuerst, ich würde wieder umdrehen. Ich beschloss, dass das den Jungs gegenüber nicht fair wäre, daher hatte ich das Gefühl, dass ich bleiben musste.“ SPRECHERDie ‚Silver Wave‘ legt also ohne Ada Blackjack ab und verschwindet am Horizont. In den bald etablierten Inselalltag und ihre Rolle darin findet die junge Frau nur schwer, aus verschiedenen Gründen: OTON 3“There's something called Arctic hysteria that some explorers face. When you’re out there in the great nothingness your whole being can sort of collapse on you and you don't know where you are and you are senseless sometimes and she pouted. (…) And sometimes she wouldn't work. She wouldn't sew or wouldn't cook and Lorne Knight told her once (…) if she didn't work, she would not eat. So there was a lot of animosity between them. (…) and they exiled her to her own little tent. (…) and when she was lazy, they said: no wonder your children died. and they would say very hateful things (…). And that didn’t help her attitude, her mind. (…) Another thing is that in native community women are your company and she had no women around her. (…) I think she was trying to treat the men like a community of women. (…) She finally came around and did the work. But she was very temperamental in the beginning and I think they expected her to be like one of the men. And of course she was not, being native and a woman … and young and not used to all of this. And they had camraderie and she was left out of it.” OVERVOICE OTON 3“Es gibt ein Phänomen unter Entdeckern, das sich „Arktische Hysterie“ nennt. Wenn Du da draußen im großen Nichts bist, kann dir dein ganzes Sein in sich zusammenfallen und du weißt nicht mehr, wo du bist und du wirst unvernünftig. Ada schmollte. Und manchmal verweigerte sie die Arbeit. Sie nähte nicht, kochte nicht, und Lorne Knight drohte ihr einmal, dass wenn sie nicht arbeitete, sie auch nichts zu essen bekäme. Zudem leben indigene Frauen eng mit anderen Frauen zusammen, aber es gab keine andere Frau. Ich denke, dass sie versuchte, die Männer wie ihre Gemeinschaft von Frauen zu behandeln. Irgendwann kriegte sie die Kurve und machte ihre Arbeit. Aber sie war anfangs sehr launisch und ich glaube, die Männer hatten erwartet, dass sie sich wie einer von ihnen verhielt. Natürlich tat sie das nicht, als Indigene und als Frau… sie war jung und die Situation für sie völlig neu. Und die Männer hatten Kameradschaft und sie war außen vor.“TC 07:35 – Keine Rettung in Sicht MUSIK SPRECHERDie Männer verbringen ihre Tage mit Jagen, Holzsammeln, Reparaturen. Außerdem haben sie eine Fotokamera dabei und schreiben Tagebuch – Milton Galle hat sich hierfür sogar eine Schreibmaschine mitgebracht. Ada hat mit all dem zunächst nichts zu tun, sie kocht und näht. Anfangs erlegen die Männer und ihre Jagdhunde ausreichend Fleisch für alle – die ‚Friendly Arctic‘ scheint auf Wrangel Island ihr Gesicht zu zeigen. Die ersten zwölf Monate vergehen ohne größere Ereignisse, so wirkt es jedenfalls im erhaltenen Teil der Expeditionstagebücher. Dann erwarten die fünf das Schiff mit Nachschub. Doch das Jahr 1922 bringt Wrangel Island einen kalten Sommer, die Insel bleibt von dicken Eisschollen umgeben. Der von Steffánson losgeschickte Schoner namens „Teddy Bear“ bleibt im Eis stecken und muss unverrichteter Dinge umkehren. Vergeblich warten die fünf auf der Insel, während es wieder Winter wird. ZITATOR ADA“Around about November they knew the boat wouldn’t come. About the middle of November we moved up to the west of our present camp, about four miles I think, so they wouldn’t have to haul the wood so far. After we arrived in our new camp I started to sewing skins for the two boys, Knight and Crawford, who were going to take a trip to Siberia.” OVERVOICE ADA“Ungefähr im November wussten sie, dass das Boot nicht kommen würde. Irgendwann Mitte November verlegten wir unser Lager weiter Richtung Westen, um circa vier Meilen denke ich, so dass sie das Holz nicht so weit schleppen mussten. Nachdem wir in unserem neuen Lager angekommen waren, begann ich mit Fellen zu nähen, weil die zwei Jungs, Knight und Crawford, vorhatten, nach Sibirien zu gehen.“ SPRECHERDie beiden Männer wollen sich übers Eis bis nach Sibirien durchschlagen und dort per Telegramm Kontakt mit Stefánsson aufnehmen. Vorher feiern die fünf Festsitzenden auf Wrangel Island noch ein wenig ausgelassenes Weihnachtsfest. ZITATOR ADA“At Christmas time we had some Salt seal meat and some hard bread and tea for our Christmas dinner. That time when we had dinner I wondered where I would be if I lived until Next Christmas.” OVERVOICE ADA“An Weihnachten hatten wir gesalzenes Seehundfleisch und etwas hartes Brot und Tee als Weihnachtsessen. Als wir beim Abendessen saßen fragte ich mich, wo ich sein würde, wenn ich das nächste Weihnachten erleben würde.“ SPRECHERDie beiden Männer müssen ihre Reise durchs Eis bald abbrechen: Lorne Knight ist den massiven Anstrengungen körperlich nicht mehr gewachsen. Er zeigt Anzeichen von Skorbut, wirkt zusehends angeschlagen. Die Vorräte im Camp werden knapper und knapper – und die jagbaren Tiere auf der Insel rarer. Und so entschließen sich die drei gesunden Männer der Expedition, Wrangel Island gemeinsam zu verlassen und Hilfe zu holen. Zurück bleiben der kranke Lorne Knight, der bald nur noch liegen kann, und Ada Blackjack. Die junge Iñupiaq ist mit der neuen Situation schlicht überfordert. Nicht nur muss sie sich nun um einen Kranken kümmern und weiter kochen und nähen. Sie ist jetzt auch für den überlebenswichtigen Fleischnachschub verantwortlich.  OTON 4“When it came time that she had to hunt, the men were looking at her because she was a native woman. She should have known how to hunt. But she said: I was raised in a mission school. I had to depart from my Inuit ways, I didn't know how to hunt. I didn't know how to trap.” OVERVOICE OTON 4„Als es soweit war, dass sie jagen sollte, sahen die Männer sie an: sie war indigen, sie erwarteten also, dass sie jagen konnte. Aber sie sagte: Ich bin in einer Missionsschule erzogen worden. Ich musste meine Inuit Kultur verlassen. Ich weiß nicht, wie man jagt. Ich weiß nicht, wie man Fallen aufstellt.“ SPRECHERDie Männer lassen sie Ende Januar 1923 dennoch zurück und Ada Blackjack, die eine Riesenangst vor Polarbären hat, muss mitten im Eis so schnell wie möglich den Umgang mit Waffen und das Stellen von Tierfallen lernen. Ergiebige Beute wie Bären oder Walrosse macht sie nicht. Zum Überleben bleiben für sie und ihren Patienten vornehmlich ab und an getroffene Enten, Fischöl und das - gerade für einen Kranken - schwer verdauliche Fleisch von Füchsen. In ihrem Tagebuch berichtet Ada Blackjack von ihren ersten Versuchen, einen Fuchs zu fangen. Sie versteckt eine Falle im Schnee - und wartet dann tagelang vergeblich auf Beute, während ihr Patient zusehends hungriger und schwächer wird. ZITATOR ADA“I guess I covered them to much and that is the reason why I didn’t get any fox, then I baited it again end just left it on top of the snow didn’t cover it up at all. The next morning I got up and looked out and I saw a fox (….). That was the first one I had caught , and that was on the 22nd of February, 1923. (…) (( In killing them I would take a stick and hit them on the head until I stunned them then I would bend their heads back until I brocke there heck. Then I would take them home and skin them.)) Later in the spring, around April the fox got very scarce, and I couldn’t trap and more at all. After I couldn’t get any more fox, Knight became worse he got very faint every time he moved.” OVERVOICE ADA“Ich glaube, ich habe sie zu stark abgedeckt und das ist der Grund warum ich keine Füchse gefangen habe, dann habe ich nochmal einen Köder hineingelegt und ließ die Falle oben auf dem Schnee, ohne sie überhaupt abzudecken. Am nächsten Morgen stand ich auf und sah hinaus und ich sah einen Fuchs. Das war der erste, den ich gefangen habe, und das war am 22. Februar 1923. Später im Frühjahr, ungefähr im April, wurden die Füchse knapp, und ich konnte keine mehr fangen. Als ich keine mehr fangen konnte, ging es Knight schlechter, jede kleinste Bewegung schwächte ihn.“ MUSIK SPRECHERIm späten Frühjahr 1923 gibt es auf der Insel kaum mehr jagbare Tiere. Der kranke Lorne Knight kommt mit seiner wachsenden Todesangst und seiner Abhängigkeit von der jungen Frau schlecht zurecht. Immer wieder, so beschreibt Ada Blackjack es in ihrem Tagebuch, beschimpft er sie wüst und macht ihr ungerechte Vorwürfe. SPRECHERAuch Ada Blackjack selbst beginnt die Folgen der Mangelernährung zu spüren. Am 2. April 1923 schreibt sie: ZITATOR ADA“(…) Knight wants me to go out to the traps but my eye is very ach so I cannot go out when my eye is that way because in evening I could barly stand the ache of my eye and one side of head. If anything happens to me and my death is known (…) I wish if you please take everything to Bennett that is belong to me. I don’t know how mach I would be glad to get home to folks.” OVERVOICE ADA“Knight will, dass ich zu den Fallen gehe, aber mein Auge tut sehr weh. Ich kann nicht rausgehen, wenn mein Auge so ist, am Abend konnte ich kaum mehr stehen, weil mein Auge und eine Seite von meinem Kopf so wehgetan haben. Wenn mir etwas zustößt und mein Tod bekannt wird, dann wünsche ich, dass bitte alles, was mir gehört, zu Bennett gebracht wird. Ich wäre so sehr froh, wenn ich zu meinen Leuten nach Hause kommen könnte.“TC 13:11 – Alles für mein Kind SPRECHERDass wir ihre damaligen Gedanken in dieser verzweifelten Lage heute erfahren und Ada Blackjacks einzigartige Geschichte dadurch ein Stück weit nacherleben können, ist ihrem Tagebuch zu verdanken. Mit dem Schreiben beginnt sie erst, nachdem die drei Männer das Camp verlassen haben – und die Schreibmaschine von Milton Galle, die sie schon länger fasziniert zu haben scheint, unbenutzt herumsteht. Was bringt sie dazu, ein Tagebuch zu führen? OTON 5“After those three men left I just think she wanted the presence of herself. (…) And she had a typewriter before her and she had tried to peck on it once. And (…) he wouldn't let her use it. So once he was gone to Siberia, she went to that typewriter and started pecking, to see how these different letters could make the words that she wanted to make. (…) So that was very difficult when you've never typed on a typewriter before and you have this language that is not really yours - English language - and you have to put it on paper.” OVERVOICE OTON 5“Nachdem die drei Männer fort waren, denke ich, wollte sie ihre eigene Gegenwart spüren. Und sie hatte da eine Schreibmaschine vor sich stehen. Sie hatte darauf schon einmal versucht, einen Buchstaben zu tippen und er hatte sie nicht gelassen. Also ging sie jetzt, als er auf dem Weg nach Sibirien war, hin und begann zu tippen, um zu sehen, wie diese verschiedenen Buchstaben zu den Worten wurden, die sie schreiben wollte. Das ist sehr schwierig, wenn Du zuvor noch nie auf einer Schreibmaschine geschrieben hast und dann noch in einer Sprache, die nicht wirklich deine ist – englisch – schreibst.“ SPRECHERAda Blackjacks Tagebücher sind teils schwer zu lesen, wegen vieler Tipp- und Schreibfehler – englisch war schließlich nicht ihre Muttersprache, sondern Iñupiaq. Großteils beschreibt sie in knappen, fast teilnahmslos wirkenden Sätzen die erledigten Tätigkeiten und Vorfälle des Tages. Was sie gegessen, genäht, gejagt hat. Wie es dem kranken Lorne Knight ergeht. Ihre fatalistische Sachlichkeit ist für sie wohl auch eine Überlebensstrategie. Das Tagebuch gibt noch weitere Hinweise, wie sie die Einsamkeit und das Ausgeliefertsein im Eis überstehen konnte. Je bedrohlicher die Situation für sie, desto häufiger erwähnt sie ihren Sohn Bennett. Ihn will sie retten, für ihn lohnt es sich, durchzuhalten. Zudem drückt sie im Tagebuch gerade in besonders aussichtslosen Situationen ihren Glauben an Gott aus. Die rückblickend hoch problematische Christianisierung indigener Kinder in den Missionsschulen Nordamerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist auch Ada Blackjack widerfahren. Auf Wrangel Island bietet ihr ihr Glauben an Gott jedoch Rückhalt – so sieht es Diane Glancy, die selbst indigene Cherokee-Wurzeln und über Blackjacks Überleben viel nachgedacht hat. OTON 6“I think her faith helped her quite a bit (…) and she was native (…). There's something.. survival through hardship is sort of built in to the native, I think, and especially in the north, where the conditions are so harsh, there is a built in survival mode, or a will to survive through hardship. That maybe the men who had had more comfort in their lives, could not tolerate the suffering of the end (…) It was just the strength of Ada. (…) She was a survivor.” OVERVOICE OTON 6“Ich denke, dass ihr Glauben ihr ziemlich viel geholfen hat…. und sie war indigen. Da gibt es sowas…. Extreme Lagen überstehen zu können ist den Ureinwohnern besonders zueigen, gerade im Norden, wo die Bedingungen so hart sind. Es ist wie ein Überlebensmodus, oder ein Wille, große Bedrängnis zu überstehen. Ich denke, vielleicht konnten die Männer, die mehr Komfort in ihrem Leben gewohnt waren, das Leiden am Ende nicht ertragen. Es lag einfach an Adas Stärke. Sie war eine Überlebenskünsterlin.“TC 16:13 – Eine glückliche Wendung MUSIK SPRECHERDie drei Männer, die sich nach Sibirien hatten retten wollen, bleiben auf immer spurlos im Eis verschwunden. Wir wissen nicht, wie weit sie gekommen und woran sie gestorben sind. Es gibt bis heute keinen eindeutigen Hinweis zu ihrem Verbleib. Der skorbutkranke Lorne Knight verbringt über vier Monate, ohne sich auch nur aus seinem Schlafsack bewegen zu können. Zuletzt verliert er seine Zähne und die Fähigkeit zu schlucken. Er stirbt, nur noch Haut und Knochen, am 22. Juni 1923. Auch Ada Blackjack ist zu diesem Zeitpunkt stark geschwächt. Sie vermag es nicht, den bald gefrorenen Leichnam zu bewegen. Die sterblichen Überreste des Lorne Knigth bleiben im Schlafsack liegen, sie selbst zieht in ein anderes Zelt um. Jetzt ist sie ganz alleine. SPRECHERDrei Tage später erlegt sie mit glücklicher Hand einen Seehund – es ist das erste frische Fleisch, das sie in Wochen zu essen bekommt. Es rettet ihr vermutlich das Leben. Langsam bricht der Sommer an, jetzt steigt auch die Zahl der jagbaren Tiere auf der Insel, Ada Blackjack kommt wieder zu Kräften. Mit großer Geschicklichkeit findet sie sich im einsamen Alltag zurecht, baut sich etwa eine Plattform, von der aus sie die gefürchteten Polarbären früh erkennen kann. Und auch nach einem Rettungsschiff späht sie von dort aus. Denn der Sommer ist die Zeit, in der ein Schiff kommen kann – wenn es denn kommt. Genau beobachtet Ada Blackjack den Stand der Eisschollen um die Insel und notiert ihn mehrmals in ihr Tagebuch. Im August 1923 lebt sie beinahe schon zwei Monate lang völlig alleine auf der Insel, da fällt ihr etwas auf, was sie zuerst gar nicht ernst nehmen kann: ZITATOR ADA„I heard a funny noise like a boat whistle but thought it was a duck or something. It was foggy and I couldn’t see so I didn’t think any more about it until the next morning. I took my book after supper, (…) then I went to sleep. The next morning about six o’clock I heard that same noise again and it sounded more like a boat whistle this time so I grabbed my field glasses and went out on top of my raft, and sure enough there was a boat (…).” OVERVOICE ADA“Ich hörte ein seltsames Geräusch, wie das Signal von einem Schiff, aber ich dachte, es sei eine Ente oder sonstwas. Es war neblig und ich konnte nichts sehen, daher dachte ich nicht mehr daran. Am nächsten Morgen um circa sechs Uhr hörte ich das gleiche Geräusch wieder und jetzt klang es mehr nach einem Schiffssignal, also griff ich zu meinem Feldstecher und stieg auf mein Floß und tatsächlich, da war ein Schiff.“ MUSIK SPRECHERAm 20. August 1923, nach zwei Jahren in menschenfeindlicher, eisiger Ödnis wird Ada Blackjack gerettet. Sie hat den Kampf ums Überleben gewonnen. Die kleine Frau umarmt ihre Retter, die nach eigener Aussage überrascht darüber sind, in welch gutem Zustand sie Ada Blackjack antreffen. An Bord des Schiffes nimmt sie das erste Bad seit langer Zeit. Mit ihr zurück nach Nome in Alaska reisen Fotos der Expedition, die noch vorhandenen Tagebücher, einige Fuchsfelle und die offensichtlich außergewöhnlich zähe Expeditionskatze Victoria. Zu Hause angekommen, veröffentlicht der Kapitän des Rettungsschiffes, Harold Noice, einen Zeitungsartikel über Ada Blackjack, der einer Lobeshymne gleichkommt.  Als „weiblicher Robinson Crusoe“ wird die Iñupiaq von der Öffentlichkeit bald gefeiert. Sie selbst schweigt dazu, der Rummel liegt ihr nicht. Mit ihrem Expeditions-Honorar jedoch kann sie ihren Sohn, wie geplant, zu sich holen und seine Krankheit behandeln lassen. Es mag wie ein ‚Happy End‘ klingen, doch die Geschichte der Ada Blackjack muss ganz erzählt werden. Denn nach dem Ruhm folgen in Zeitungen Anklage und Verachtung. TC 19:57 – Zurück in die bittere Armut ZITATOR SCHLAGZEILE 1“Spurned Eskimo Woman Is Blamed For Arctic Death” OVERVOICE SCHLAGZEILE 1„Zurückgewiesene Eskimo Frau wird für Tod in der Arktis schuldig erklärt“ ZITATOR SCHLAGZEILE 2 (andere Stimme)„Though Man’s Body Was Wasted by Starvation, Ada Blackjack Was Healthy” OVERVOICE SCHLAGZEILE 2 (andere Stimme)“Während Männerleiche von Hunger verzehrt war, war Ada Blackjack gesund“ SPRECHERKapitän Noice hat bemerkt, dass Adas Geschichte Aufmerksamkeit und Geld bringt - und veröffentlicht im Februar 1924 noch einmal einen Artikel über sie, der eine Reihe sensationslüsterner Zeitungsberichte nach sich zieht. Noice hat sämtliche Tagebücher für sich behalten, und wirft ihr nun vor, der Tod des skorbutkranken Lorne Knight sei ihre ihre Schuld. Das ließe sich angeblich dessen Tagebüchern entnehmen. Sie habe ihn verhungern lassen, nachdem er sie nicht habe heiraten wollen. Sie selbst hingegen habe ihre Retter ja wohlgenährt empfangen. MUSIK Diese öffentliche Anklage bringt Ada Blackjack schließlich dazu, zu sprechen. Noice‘ Behauptungen will sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie fährt zur Los Angeles Times und bietet von sich aus ein Interview an. Sie schildert darin ihre Erinnerungen und erklärt auch die übers Jahr variierenden Ernährungszustände der Inselbewohner durch die Zu- und Abnahme des Jagdwildes. Als Harold Noice schließlich dazu gezwungen wird, die Tagebücher herauszugeben, fehlen in Knights Tagebuch Seiten, manche Stellen sind geschwärzt. Noice hat offenbar versucht, alles zu tilgen, was seine Anschuldigungen als Diffamierung offensichtlich macht. Die Eltern des Verstorbenen hatten ohnehin nie an Ada Blackjacks Schuld geglaubt. SPRECHERNach diesem Vorfall verfällt Ada Blackjack wieder in Schweigen. Sie führt ein Leben in bitterer Armut, reiht Gelegenheitsjob an Gelegenheitsjob. In hohem Alter wird sie von einer Zeitung noch einmal zu ihren Erinnerungen befragt. Kein Tag vergehe, antwortet sie, ohne dass sie von ihren schlimmen Erlebnissen auf Wrangel Island verfolgt würde. OTON 7“She lived to be 85 years old and the last parts of her life were very grim. She washed dishes in Nome, Alaska. She did whatever she could to survive. She did not have a happy life. But you don't pay attention to happiness, when you're in Alaska and a native, you just keep going.” OVERVOICE OTON 7“Sie wurde 85 Jahre alt und die letzten Jahrzehnte ihres Lebens waren sehr düster. Sie wusch Teller in Nome, Alaska… Sie tat was auch immer, um zu überleben. Sie hatte kein glückliches Leben. Aber Glück ist keine Kategorie, wenn du als Indigene in Alaska lebst. Du machst einfach weiter.“ MUSIK SPRECHERAndere schlagen aus Ada Blackjacks Erlebnissen hingegen Profit. Ihre Geschichte wird mehrfach erzählt und verkauft. Manch einer verdient daran, Ada nicht. Sie erhält lediglich 500 Dollar für ihr Tagebuch – das bald in den Archiven verschwindet. Bis heute findet es kaum Beachtung. TC 22:48 - Outro
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Mar 8, 2024 • 20min

LEBEN IN GEFAHR ? Susanna Daucher, Täuferin um 1500

Eine Frau aus dem 16. Jahrhundert geht wegen einer einzigen mutigen Aktion in die Augsburger Stadtgeschichte ein: Susanna Daucher war Anhängerin der Glaubensgemeinschaft der Täufer. Als vermeintlich sozialrevolutionäre Keimzelle werden die Mitglieder der Täuferbewegung verfolgt und bestraft. Dennoch versammelt Susanna Daucher am Ostersonntag des Jahres 1528 ihre Glaubensbrüder und -schwestern in ihrem Haus - mit weitreichenden Folgen für sich, ihre Familie und alle Anwesenden. Am 8.3. ist Internationaler #frauentag 2024. Credits Autorin: Ulrike Beck Regie: Martin Trauner Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Beate Himmelstoß Technik: Susanne Herzig Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Veronika Schmeer, Dr. Barbara Kink Linktipps: ZDF (2018): So lebten Frauen im Mittelalter  Ob Adelige oder Bäuerin, ob Nonne oder Gattin und Mutter: Frauen müssen sich im Mittelalter den Männern unterordnen. Zum Film geht es HIER. Deutschlandfunk (2019): Die Täuferbewegung – Vorbilder der Toleranz Vor 500 Jahren wurden Täufer verfolgt und ermordet. Heute werden sie zumindest oft noch schief angeschaut. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann plädiert für einen neuen Blick auf die Täufer: Sie seien Vorkämpfer moderner Werte und könnten auch Vorbild einer zukunftsfähigen Kirche sein. JETZT ANHÖREN BR (2023): Das Bayerische Jahrtausend – 16. Jahrhundert: Augsburg Augsburg ist im 16. Jahrhundert Schauplatz grundlegender sozialer und religiöser Umwälzungen. Die verarmten Weber proben den Aufstand - und Luthers Reformation führt erst zur Kirchenspaltung und 1555 zum Augsburger Religionsfrieden. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 - Intro MUSIK ErzählerDie Geschichte Susanna Dauchers beginnt um das Jahr 1495 in Augsburg, wo sie als Tochter der Familie Spitzmacher zur Welt kommt und gemeinsam mit ihrer Schwester Maxentia aufwächst. Hinein in die Zeit des gigantischen Umbruchs durch die Reformation. MUSIK ErzählerinMit ungefähr zwanzig Jahren heiratet sie Hans Adolf Daucher, einen gebürtigen Stuttgarter, der sich als Bildhauer einen Namen gemacht hat und in Augsburg zu-sammen mit seinem Vater eine Werkstatt betreibt. Susanna ist als Ehefrau des Adolf Daucher zu ihrer Zeit in Augsburg ein Begriff: Sie ist die Adolfin von Augsburg. Atmo: Plätschern am Lechkanal ErzählerDas Ehepaar bekommt zwei Kinder und wohnt in einem ansehnlichen Haus mitten im Lechquartier - im Bürgergässchen. Hier kümmert sich Susanna Daucher nicht nur um ihre Kinder, sondern hilft auch tatkräftig im Handwerksbetrieb mit. Sie ist dafür zuständig, dass für die Gesellen und Lehrlinge immer genug zu essen auf dem Tisch steht. MUSIK aus ErzählerinDoch was macht Susanna so besonders, dass es 500 Jahre später einen Wikipe-dia-Eintrag über sie gibt? Und an ihrem früheren Wohnhaus mittlerweile eine Ge-denktafel an sie erinnert? Beides würde nicht existieren, wenn sie sich 1527 nicht der Augsburger Täufergemeinde angeschlossen hätte. Musikakzent: dramatisch, heimlich, dynamisch TC 01:55 – Die Täufergemeinde in Augsburg ErzählerWas für eine Glaubensgemeinschaft sind die Täufer, die als Splittergruppe aus der Reformation hervorgehen? Eine Bewegung mit unterschiedlichen Flügeln, die aber dennoch ein gemeinsames Credo haben, wie Barbara Kink, Historikerin am Museum Fürstenfeldbruck erklärt: 1.O-Ton: ( Kink ab 0:19)Die Täuferbewegung hat als kleinsten gemeinsamen Nenner die Ablehnung der Säuglingstaufe. (…) Es beginnt in der Schweiz im Umkreis um Huldrych Zwingli. Die erste Erwachsenentaufe findet da im Januar 1525 statt. Und (…) es greift re-lativ rasch um sich diese Täuferbewegung. (…) Die wollten wirklich die evangeli-schen Grundsätze (…) auch im diesseitigen Leben schon verwirklichen. Die hatten sehr pazifistische Grundsätze teilweise, sie wollten keinen Wehrdienst leisten, kei-nen Eid leisten, aber sie wollten wirklich eine Verbesserung ihrer Lebenswelten durch ein gemeinschaftliches Leben, durch Hilfe auch finanzieller Art, durch einen gemeinen Kasten, durch Gütergemeinschaft. ErzählerinWie Susanna Daucher mit der Bewegung in Berührung gekommen ist, ist nicht überliefert. Aber offenbar hat es sie angesprochen, das Evangelium nach urchrist-lichem Vorbild zu leben. Denn im November 1527 lässt sie sich taufen.Im Hause der Nestlerin, wie sie später in ihrem Prozess aussagt. Veronika Sch-meer, Kunsthistorikerin im Haus der Bayerischen Geschichte, hat die Verneh-mungsprotokolle studiert: 2.O-Ton: Veronika Schmeer ab 4:30 Die Nestlerin am Roßmarkt ist eigentlich keine Person, die man jetzt so konkret greifen kann. Susanna Daucher sagt eben aus, dass sie sich dort habe taufen lassen. Angeblich aber sowohl in Abwesenheit des Nestlers, des Ehemannes, aber auch der Nestlerin. Und sie verschweigt auch, wer sonst noch mit dabei ge-wesen sein soll - außer ihrer Schwester Maxentia Wisinger, die sich auch in die-sem Zusammenhang habe taufen lassen. ErzählerSusanna Daucher wird aktives Mitglied der Augsburger Täufergemeinde. Sie ver-anstaltet Treffen für Frauen, bei denen sie aus der Bibel lesen. Sie besucht Ver-sammlungen außerhalb der Stadt und beginnt, sich auch im diakonischen Bereich zu engagieren, indem sie sich um arme Menschen kümmert.  ErzählerinSie ist zwar keine Führungspersönlichkeit in der Täuferbewegung - diese Rolle ist den Männern vorbehalten -  aber eine der vielen Frauen, ohne die die Gemein-schaft nicht existieren könnte: 3.O-Ton: (Veronika Schmeer ab 5:10)Die Frauen spielen eine ziemlich große Rolle in dieser ganzen Täufer-Bewegung. Man sollte das aber vielleicht auch nicht zu sehr aus dem heutigen Blick sich anschauen. Dass es irgendwie eine emanzipatorische Bewegung gewesen wäre, sondern man kann sich eher vorstellen, dass es daran liegt, dass die Täufer sich immer zu Hause treffen. (…) Die Frauen kümmern sich zum Beispiel darum, dass Wein und Getränke vorhanden sind, dass es etwas zu essen gibt, dass es eine Herberge auch für die Täufer gibt, die von außen in die Stadt kommen. TC 04:55 – Verfolgung, Folter und Todesstrafe ErzählerEine Gastfreundschaft, die gefährlich ist, denn Täufer gelten spätestens nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes als sozialrevolutionäre Keimzelle, deren Anhänger verfolgt und bestraft werden. Barbara Kink: 4.O-Ton: Barbara Kink:Die Täufer wurden von Beginn an verfolgt. ( ..)(weiter ab: 14:29) Also die bayrischen Herzöge haben sich ganz früh schon entschieden,(…) Wir müssen jeden reformatorischen Aufbruch bekämpfen, denn durch die Lutherischen kommt schließlich auch der Bauernkrieg und die Revolution und die Unruhe und Empörung. (…) Die bayerischen Herzöge haben einen Inquisitor eingesetzt. (15:16) Die Behörden haben relativ rasch und effektiv und effizient gearbeitet, um diese Verfolgung auch effektiv zu gestalten. Das bayerische Täufermandat ist eines der frühesten. Schon 1527 gibt's ein Mandat mit Androhung der Todesstrafe.  ErzählerinAls Freie Reichsstadt gehört Augsburg nicht zum Herzogtum Bayern und nimmt es bis zum Herbst 1527 mit der Verfolgung der Täufer nicht ganz so genau. Damit strömen immer mehr Anhänger der Bewegung in die Stadt oder lassen sich in der Umgebung nieder. Augsburg ist bald das Zentrum der süddeutschen Täuferbewegung. 5.O-Ton (Kink ab  6:02) Aus unterschiedlichen Gründen. (…) Sehr viele der Ratsherren in Augsburg haben sich dem Luthertum angeschlossen, aber es gab eben auch z.B. den Eitelhans Langenmantel, der dezidierter Täuferanhänger war. Der Rat war gespalten (…) Die ersten Jahre hat man die Täufer in Augsburg durch Winkelpredigten sehr stark vertreten gesehen. (ab 7:19) Winkelpredigten sind eben nicht Predigten in der Kirche. Das ist etwas, was die Täuferbewegung auch auszeichnet, dass sie sehr oft unter freiem Himmel stattfinden, dass sie in Privathäusern stattfinden, in Wirtshäusern vor allem aber eben in städtischen Winkeln, (…) wo sich Prediger hinstellen und eine interessierte Gruppe um sich scharen. MUSIK ErzählerIm August 1527 füllt sich die Stadt mit auffällig vielen Führern der Täuferbewegung. Sie kommen aus ganz Süddeutschland, Österreich und der Schweiz und haben vom 20. bis zum 24. eine Synode anberaumt, auf der ein Konsens gefunden werden soll zwischen dem pazifistischen Schweizer Flügel und der militanten süddeutschen Gruppe um Hans Hut. ErzählerinHans Hut, ein Weggefährte Thomas Müntzers, der im Bauernaufstand den Einsatz von Gewalt durchaus befürwortet hat, leitet zwei der Versammlungen. Er ist längst zu einer der führenden Persönlichkeiten der Täuferbewegung im süddeutschen Raum geworden. 6.O-Ton: ( ab ca. 11:35)Ein wandernder Buchhändler, der offensichtlich sehr charismatisch war. (weiter ab 12:00) Hans Hut war davon überzeugt, dass er das Ende der Welt erleben wird und zwar auch aufgrund von biblischen Berechnungen. Er hat Johannes‘ Apokalypse berechnet und (…) hat berechnet, Pfingsten 1528 wird die Welt untergehen. (…) Er ist durch die Lande gezogen und hat es in Augsburg publik macht. Er wird 144 000 Fromme, Gerechte vor dem Weltende bewahren. Und wenn man sich so vorstellt, also diese Sündenangst. Dieses Bewusstsein, ich komme in die Hölle. Das hat gezogen. ErzählerDie Täufersynode wird als Augsburger Märtyrersynode bekannt, denn viele der Teilnehmer werden anschließend verfolgt und hingerichtet. Die Stadt beginnt von nun an, das Täufermandat konsequent umzusetzen und die Gemeinschaft drastisch zu verfolgen. Bereits im Herbst 1527 kommt es zu einer ersten großen Verhaftungswelle. MUSIK aus TC 08:31 – Ein verhängnisvoller Ostersonntag ErzählerinDas ist genau die Zeit, in der Susanna Daucher in der Bewegung aktiv wird. Ihr Mann Hans Adolf dürfte davon mäßig begeistert gewesen sein. Immerhin riskiert sie als Mutter von zwei Kindern nicht nur ihr Leben, sondern auch seine Existenz. ErzählerDas muss Susanna bewusst gewesen sein, aber sie hat offenbar bei den Täufern eine Gemeinschaft gefunden, die ihrem Glauben entspricht. Angesichts der Pro-phezeiung, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht, scheint sie im Dies-seits nichts mehr gefürchtet zu haben. 7. O-Ton (Kink ab 19:01)Dieses Heilsbedürfnis der Menschen in den frühen Jahrzehnten des16. Jahrhunderts darf man nicht unterschätzen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie wirklich ganz, ganz stark interessiert war an diesen Glaubensinhalten, dass sie sich Verbesserungen versprochen hat und Halt in der Gemeinde. Man war ja doch eine eingeschworene Gesellschaft. (…) Und sie war sicherlich davon überzeugt, dass sie das Richtige tut und dass sie diese Bewegung unterstützen möchte. Atmo Plätschern des Lechkanals, Geräusche von Schritten auf dem Pflaster, dramatischer Musikakzent ErzählerinAugsburg am 12.April 1528. Es ist der entscheidende Tag, durch den Susanna Daucher Eingang findet in die Stadtgeschichte. Der letzte Ostersonntag vor Huts prophezeiter Wiederkunft Christi. Hans Hut selbst ist mittlerweile nach Folter und Gefangenschaft qualvoll gestorben und gilt unter den Täufern als Märtyrer, was seine Prophezeiung noch bedeutender erscheinen lässt. ErzählerIn den frühen Morgenstunden versammeln sich im Hause Daucher in der Bürger-gasse an die 100 Menschen, um hier einen Gottesdienst abzuhalten. Der Haus-herr ist verreist. Susanna nutzt die Gelegenheit, um hier ihre Glaubensbrüder und -schwestern zu empfangen. ErzählerinSie weiß, dass es verboten ist, andere Mitglieder der Täuferbewegung aufzuneh-men und zu bewirten, aber sie hat dennoch Brot und Wein besorgt für alle, die in ihrem Haus nun zusammen in der Bibel lesen wollen. ErzählerVorsorglich hat sie an diesem Ostersonntag die Fenster mit Tüchern verhängt und als Erkennungszeichen für ihre Glaubensbrüder und -schwestern einen Ring an die Haustür gemalt. Damit niemand an der falschen Tür klopft. ErzählerinSie ist mit ihrem dritten Kind schwanger und sich bewusst, dass es drastische Konsequenzen hat, wenn die Versammlung auffliegt. Dennoch geht sie das Risiko ein. Ungeachtet der Warnungen, dass bereits die Stadtwache ihr Haus im Visier hat. MUSIK aus ErzählerWas in den frühen Morgenstunden des Ostersonntags im Hause Daucher genau passiert, das rekonstruiert Veronika Schmeer: 8.O-Ton (Interview 1. Teil ab 14:37 ff.)Man trifft sich schon am Vortag am Ostersamstag sozusagen in wahrscheinlich einer kleineren Runde und man beschließt, sich am Ostersonntag in der Früh (…) bei der Adolfin (…) zu treffen also bei Susanna Daucher. Und (…)  es ist so, dass sie wahrscheinlich schon im Vorfeld verraten werden. Denn es gibt Berichte darüber, dass schon irgendwelche Stadtschergen im Umfeld des Hauses sich auffällig positioniert haben und einige Leute sind davon abgeschreckt. (…) Die Stadt-Schergen (…) greifen dann ein und lösen die Versammlung auf und verhaften diese 88 Personen, von denen übrigens mehr als die Hälfte sind Frauen. MUSIK TC 12:03 – Verbannung ErzählerinIn Zweierreihen werden sie abgeführt und zum Rathaus gebracht. Diejenigen, die von auswärts kommen, werden zuerst verhört und müssen dann die Stadt verlas-sen. Sie müssen schwören, für einen Zeitraum von sechs Jahren das Stadtgebiet nicht mehr zu betreten. Wer sich nicht daran halten sollte, dem droht die Hinrich-tung. ErzählerDie Strafen für die Augsburger Gemeindemitglieder, die so genannten Einheimi-schen, fallen hingegen drastischer aus. Ihnen wird im April der Prozess gemacht, der für den Vorsteher der Täufergemeinde Hans Leupold mit einem Todesurteil endet. MUSIK aus 9. O-Ton: ( Interview Teil 2 ab ca. 18:15)Der Schneider wird dann eben hingerichtet. Das ist dann quasi die drastischste Strafe, die da passiert. Die meisten anderen bekommen die Strafe mit dem Ba-cken brennen. Was sehr grausam ist. Man bekommt mit einer Eisenstange die Backen durchgebrannt und ist somit auch für immer gekennzeichnet. Als Täufer oder ehemals Anhänger der Täufer Gemeinde. Das ist im Grunde genommen auch ein Ruin (…) Man kommt dann vielleicht auch nirgendwo mehr unter, be-kommt keine Arbeit mehr. Es hat definitiv Folgen. ErzählerinSusanna Daucher zeigt sich während ihres Prozesses unerschrocken. Wie den Vernehmungsprotokollen zu entnehmen ist, weicht sie den bohrenden Fragen des Stadtschreibers – und damals schon berühmten Humanisten - Konrad Peutinger geschickt aus. 10.O-Ton: ( Schmeer ab ca. 13:11) Er wollte ja wissen, wer ist noch beteiligt. Man wollte wirklich so ein Denunziantentum in diesen Verhören anstiften. Und da hält sie sich sehr bedeckt. Sie sagt immer nur: ich kenne keine Namen. Ich habe niemanden beherbergt. Ich habe nichts getan. Und sie wird ja zuerst nur befragt und dann wird ihr angedroht, dass sie ernstlich befragt wird. Eine Androhung einer Folter. (…) Und auch da sagt sie, sie wisse nicht was sie noch zu der Angelegenheit sagen soll. ErzählerDas Urteil fällt für Susanna Daucher vergleichsweise milde aus. Weil sie schwan-ger ist, wird sie am 21.April 1528 mit dem so genannten „Verruf“ aus der Stadt verbannt. Das bedeutet, dass es ihr fortan verboten ist, sich Augsburg in einem Umkreis von sechs Meilen zu nähern. MUSIK ErzählerinDie Verbannung durch den Rat der Stadt Augsburg hat für Susanna Daucher weit-reichende Konsequenzen. Noch am Tag der Urteilsverkündung wird sie an den Pranger gestellt und muss sofort danach die Stadt verlassen. ErzählerOhne ihre beiden Kinder, die sie nie wiedersehen wird. Susanna sucht zunächst in der näheren Umgebung Zuflucht und bringt dort ihr drittes Kind zur Welt. Das of-fenbar ihr Mann zu sich holt, nachdem er von seiner Reise zurückkehrt. Er wird jedenfalls später als Vater von drei Kindern erwähnt. MUSIK aus 11.O-Ton ( Veronika Schmeer ab ca. 22:00)Ich nehme an, sie werden weiterhin Kontakt gehabt haben, aber sie darf natürlich nicht in die Stadt kommen. (…) Er kann aber später dann auch für die Kinder selber nicht sorgen, sondern die sind dann auch in Pflegschaft alle drei. ErzählerinAuch Hans Daucher verliert mit der Verbannung seiner Frau alles, denn … 12.O-Ton ( ab ca. 6:00)Ohne seine Frau ist sein Unternehmen mit der Bildhauerei eigentlich dem Ruin geweiht, weil die Frau sich auch um die ganzen Gesellen und Lehrlinge kümmert. (…) Und ohne die Frau funktioniert diese Werkstatt nicht mehr (…) und es ist dann später bezeugt, dass der Hans Daucher eigentlich nur noch unter den Habenichtsen in den Steuerbüchern geführt wird und er kann ja auch nicht neu heiraten, denn seine Frau ist ja nicht tot. Er ist da irgendwie gefangen und kommt auch nicht mehr raus. TC 15:38 – Die falsche Prophezeiung ErzählerNach der Verhaftungswelle an jenem Osterfest 1528 beginnt die Täufergemeinde in Augsburg, sich aufzulösen. Nicht nur, weil es angesichts der drastischen Verfol-gung in der Stadt niemand mehr wagt, Versammlungen abzuhalten, sondern auch, weil Hans Huts Prophezeiung nicht eingetroffen ist. Barbara Kink: 13.O-Ton: (Kink ab ca. 25.20)Es war offensichtlich dann doch eine große Enttäuschung. Man hat Hans Hut geglaubt. Man hat sich versprochen von diesen Höllenqualen verschont zu werden. Und man sieht, dass diese Bewegung dann ja zum Teil zusammenbricht. Dann natürlich auch aufgrund der einsetzenden obrigkeitlichen Maßnahmen, man setzte dann doch nicht so gern sein Leben aufs Spiel. ErzählerinSchon Mitte August 1528 beschließt die Täufergemeinde, künftig nicht mehr zusammen zu kommen. ErzählerWer dennoch als Täufer seinen Glauben leben möchte, wandert ab. Entweder in die Schweiz, wo im Zollikon noch kleine Täufergemeinschaften existieren. ErzählerinOder nach Mähren an einen der Bruderhöfe, wo Täufer ein urchristlich-kommunistisches Gemeinschaftsleben praktizieren. Auf Initiative des Tirolers Jakob Hutter leben und arbeiten Familien hier völlig autark zusammen und teilen sich Hab und Gut. Die Bruderhöfe werden zum Zufluchtsort für viele Täufer: 14.O-Ton: Barbara Kink:Es gab sicherlich Leute, die dann nach Mähren gegangen sind. Das weiß man von vielen bayerischen Täufern. (…) Also wirklich ab 1530 verschwinden die Täufer von der Bildfläche. Im Herzogtum ist es so. Und die nächsten Täufermandate, die dann aus den 50er 60er und 70er Jahren des 16. Jahrhunderts sind, da geht es vor allem darum, dass man versucht diese Abwanderung in die Bruderhöfe nach Böhmen und Mähren zu verhindern. Man versucht also wirklich, da ein Riegel vorzuschieben, dass viele Leute an diesen täuferischen Idealen immer noch festhalte, abwenden. ErzählerDie Täufer werden auch nicht mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 als Glaubensgemeinschaft akzeptiert. Den Grund dafür sieht Barbara Kink in der Tatsache, dass sie als Glaubensgemeinschaft keine einflussreichen Fürsprecher haben: 15.O-Ton: Barbara KinkDie Täufer fallen zwischen alle Raster. Es sind die Lutheraner, es sind die Reformierten und die Katholiken, die davon profitieren. Die Täufer sind als reformatorische Splittergruppe oder als Wildwuchs der Reformation (…) nicht relevant dafür. Die haben einfach keine adlige Lobby. (…) Das ist wirklich (…) eine Revolution des Gemeinen Mannes. MUSIK ErzählerinDennoch bleibt die Sehnsucht nach religiöser Authentizität, nach Ursprünglichkeit, nach diesem Urchristentum bis heute lebendig. 16.O-Ton: Barbara KinkDie Täufer existieren ja heute noch in sehr vielgestaltiger Weise. Es gibt die Mennoniten in Amerika, es gibt die Hutterer immer noch, es gibt die Amish. Es gibt immer noch sehr viele Glaubensgemeinschaften vor allem freikirchliche Baptisten, die sich auch heute noch auf die Täufer wirklich als Ursprungsherd berufen. ErzählerWas Susanna Daucher 1528 nicht ahnen konnte ist, dass im 20.Jahrhundert eine mennonitische Gemeinde in Augsburg sehr aktiv ist. Dass es runde 500 Jahre nach ihrer Verbannung Menschen gibt, die nach den Glaubensgrundsätzen leben, für die sie damals alles riskiert hat. Und dafür nicht mehr verfolgt werden. ErzählerinSie konnte auch nicht wissen, dass mittlerweile an ihrem Haus am heutigen Hinteren Lech 2 eine Gedenktafel an sie und die Ereignisse des Ostersonntags 1528 erinnert. TC 19:28 – Outro

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