Alles Geschichte - Der History-Podcast

ARD
undefined
Mar 1, 2024 • 37min

WIE WAR DAS DAMALS? Als der Computer zu uns nach Hause kam

Moderner Alltag? Ist heute ohne Internet und Smartphone so gut wie unvorstellbar! Es gab aber eine Zeit, in der Computer noch Elektronengehirne hießen und höchstens in Großkonzernen, Universitäten und Forschungslabors standen. Kaum jemand hat diese ominösen Apparate damals verstanden. Vor ziemlich genau 40 Jahren hat sich das schlagartig geändert - als die Homecomputer den Markt eroberten und so zu uns nach Hause kamen. Und das ist nicht spurlos an Politik und Gesellschaft vorbeigegangen. Von Christian Schaaf und Michael Zametzer Credits Autoren dieser Folge: Christian Schaaf und Michael Zametzer Redaktion: Nicole Hirsch, Eva Kötting und Heike Simon  Linktipps: KONRAD ZUSE, JOHN VON NEUMANN UND CO. Der Computer hatte viele VäterZUM BEITRAG FRAUENGESCHICHTE - FRAUEN SCHREIBEN GESCHICHTE Stephanie Shirley wird Softwarepionierin ohne eigenen ComputerZUM BEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
undefined
Feb 26, 2024 • 22min

HITLER IN LANDSBERG - Festungshaft nach Skandalprozess

Nur 13 Monate dauerte Hitlers Haft in Landsberg nach dem Putschversuch vom November 1923. Dank einer Justiz, die den gescheiterten Putschisten und Hochverräter auffällig schont und einer Gefängnisleitung, die mit Hitler sympathisiert, kann Hitler seine Position als selbsternannter Führer der rechtsextremen Kräfte festigen. Während der Haft genießt er Privilegien und beginnt damit, den ersten Teil seines Buches "Mein Kampf" zu schreiben. Von Thies Marsen (BR 2015) Credits Autor: Thies Marsen Regie: Axel Wostry Es sprachen: Katja Amberger, Werner Härtler, Axel Wostry Technik: Siglinde Hermann Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Peter Fleischmann, Manfred Deiler, Erich Kuby Gesprächspartner: Prof. Dr. Peter Fleischmann Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte https://www.geschichte.phil.fau.de/person/fleischmann-peter/#sprungmarke2 Manfred Deiler Hier ein Nachruf auf den im November 2023 Verstorbenen: https://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/nachrichten/manfred-deiler-1952-2023/ Linktipps: ARD alpha (2023): Hitler vor Gericht 1924 fand vor dem Volksgericht München einer der folgenschwersten Prozesse der deutschen, ja der Weltgeschichte statt: der Hitler-Ludendorff-Prozess. Der Film in der ARD Mediathek zeichnet in aufwendigen Spielszenen den Prozessverlauf nach. JETZT ANSEHEN Alles Geschichte (2023): Der Hitlerputsch – Anfang vom Ende der Demokratie München, 9. November 1923. Vor der Münchner Feldherrnhalle scheitert Adolf Hitlers Putschversuch kläglich. Doch die Folgen sollten sich als drastisch erweisen - für Deutschland und die Welt. JETZT ANHÖREN ZDF (2023): Hitlers Macht – Der Aufsteiger "Der Aufsteiger" heißt die erste Folge der dreiteiligen ZDF-Dokumentation "Hitlers Macht", die das ZDF 90 Jahre nach Hitlers Regierungsübernahme am 30. Januar 1933 zeigt. Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:35 – Der Eindruck von Journalist Erich KubyTC 04:10 – Ein fragwürdiger GerichtsprozessTC 07:24 – Sonderrechte in der FestungshaftTC 11:07 – Die braune Schaltzentrale der NSDAPTC 14:31 – Vorzeitige Entlassung wegen „guter Führung“TC 17:57 – Der Ruf von LandsbergTC 22:02 - OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro ERZÄHLERINDas Vergangene ist vergangen, was geschehen ist, ist geschehen. Für Historiker ist die Frage, ‚Was wäre, wenn?‘ deshalb meist müßig. Doch genau diese Frage drängt sich selten so auf wie im Fall des Hitlerputsches von 1923 und dessen Folgen. ERZÄHLERWas wäre geschehen, wenn die bayerische Justiz damals nach Recht und Gesetz gehandelt hätte? Wenn Hitler eine angemessene Strafe erhalten hätte? Wenn man ihn daran gehindert hätte, von seiner Zelle aus die nationalsozialistische Bewegung neu aufzubauen? Was wäre der Menschheit dann eventuell alles erspart geblieben? ATMO Schuss ERZÄHLERINMit einem Pistolenschuss beginnt es. Abgefeuert am 8. November 1923 im Münchner Bürgerbräukeller. Gustav Ritter von Kahr, seit wenigen Wochen Generalkommissar für den Freistaat Bayern, will vor dem überfüllten Saal sein Regierungsprogramm vorstellen, als ein bewaffneter Stoßtrupp hereinstürmt, angeführt von einem gescheiterten Kunstmaler, Kriegsveteranen und Reichswehrspitzel: Adolf Hitler. Er schießt mit seiner Pistole in die Decke und erklärt die Reichsregierung für abgesetzt. Am nächsten Morgen stürmen Putschisten die Sitzung des Münchner Stadtrats und nehmen Bürgermeister und Stadträte der SPD fest, sie verhaften jüdische Münchner, verwüsten die Redaktion der SPD-Zeitung und stehlen kistenweise Inflationsgeld – 14.605 Billionen Reichsmark. 2.000 bewaffnete Männer marschieren schließlich Richtung Feldherrnhalle. Doch sie werden von der Landespolizei gestoppt. Ein kurzes Feuergefecht, dann ist der Putsch niedergeschlagen.ERZÄHLERDie Bilanz: 20 Tote – vier Polizisten, 15 Putschisten und ein Passant. Die Liste der Verbrechen der Putschisten ist lang: Mord, Totschlag, Hochverrat, Landfriedensbruch, Geiselnahme, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Raub. ERZÄHLERINHitler flieht nach Uffing am Staffelsee, in die Villa seines Förderers Ernst Hanfstaengl. Zwei Tage später wird er dort aufgespürt. Die Polizisten treffen ihn im Schlafanzug an, den linken Arm in einer Binde, denn er hat sich im Tumult vor der Feldherrnhalle den Arm ausgekugelt. TC 02:35 – Der Eindruck von Journalist Erich Kuby ERZÄHLERÜberhaupt ist er in einem jämmerlichen Zustand, erinnert sich der inzwischen verstorbene Journalist Erich Kuby. Kuby ist 13 Jahre alt, als er Hitler zum ersten Mal erlebt. Kurz vor dem Putsch nimmt ihn seine Tante mit in den Cirkus Krone, wo Hitler seit 1921 regelmäßig auftritt und die Massen begeistert. Nun, nach dem gescheiterten Aufstand, begegnet Kuby Hitler zum zweiten Mal, diesmal in Weilheim. Denn der Gefangenentransport mit Hitler macht im dortigen Bezirksamt kurz Station, wo ein Schutzhaftbefehl ausgestellt wird. O-Ton Erich KubyDer Bezirksamtmann hieß Feigel, und nomen est omen, der wollte mit diesem berühmten Herrn Hitler nicht allein sein und hat zu meinen Vater, der ein angesehener Deutsch-Nationaler in diesem Dorf war, gesagt, kommen Sie doch. Und mein Vater sagte zu mir: Komm mit. Und da habe ich eben Hitler erlebt in einem Zimmer des Landratsamtes oder Bezirksamtes hieß man das damals. Der Hitler wurde ja verhaftet von einem Polizeioffizier oder so was Ähnliches, der sich übrigens merkwürdigerweise mit Hitler duzte. Aber ich habe mir doch den Hitler sehr angesehen, denn es war ja derselbe Mann, den ich im Cirkus Krone in der völligen Pracht seiner Reden gehört hatte, und davon war nichts mehr übrig. Er saß bleich und der Hitler wurde dann nach Landsberg in die Festung da gebracht.TC 04:10 – Ein fragwürdiger Gerichtsprozess ERZÄHLERINAm 11. November 1923 um halb elf Uhr nachts wird Hitler in die Haftanstalt Landsberg eingeliefert, zunächst als sogenannter Schutzhäftling, erst zwei Tage später wird er offiziell in Untersuchungshaft genommen. ERZÄHLERHitler rechnet fest mit seiner Abschiebung nach Österreich oder gar der Hinrichtung, dem Amtsarzt erklärt er, dass er sich am liebsten erschießen würde. Doch er wird schnell wieder aufgepäppelt, sagt der Historiker Peter Fleischmann, Verfasser einer Quellenedition zu Hitlers Haftzeit: O-Ton Peter FleischmannEs hat ihn der Amtsarzt damals untersucht unmittelbar nach der Einlieferung. Hitler, der war 1,75 groß und hatte ein Gewicht von 72 Kilo glaube ich. Und er hat dann in den nächsten Tagen das Essen verweigert, also er war psychisch völlig demoralisiert, und erst Dietrich Eckart, sein Vertrauter, sein Mentor, und Anton Drexler scheinen ihn dann bewegt zu haben, also jetzt werd‘ wieder vernünftig und esse was. Und am Ende der Haftzeit, also ein Jahr später, kommt er fast gemästet wieder raus. Da wiegt er 78 Kilo. ERZÄHLERINDer junge Staatsanwalt Hans Ehard, nach 1945 erster frei gewählter bayerischer Ministerpräsident, übernimmt die Ermittlungen gegen die Putschisten. Er vernimmt Hitler am 13. Dezember 1923 in seiner Zelle: ZITATOREr war nicht dazu zu bringen, auf eine klare unzweideutige Frage eine klare, einfache und kurze Antwort zu geben. Mit großer Zähigkeit hält er endlose politische Vorträge. ERZÄHLERINZwei Monate später, am 26. Februar 1924, beginnt der Prozess gegen den „ledigen Schriftsteller Adolf Hitler“ – vor dem Volksgerichtshof in München, obwohl für einen Hochverräter eigentlich der Leipziger Reichsgerichtshof zuständig wäre. Doch Bayern will Hitler nicht ausliefern und die Reichsregierung scheut einen offenen Konflikt. ERZÄHLERDas Verfahren ist eine Farce. Richter Georg Neithardt sympathisiert offen mit den Verschwörern, er lässt den stundenlangen Monologen Hitlers freien Lauf. Bei den Beratungen des Gerichts ist stets ein Vertreter des Justizministeriums anwesend, der direkt Einfluss nimmt – zugunsten Hitlers. ERZÄHLERINAm 1. April 1924 fällt das Urteil: fünf Jahre Festungshaft. Obwohl Hitler wegen Landfriedensbruch bereits vorbestraft ist und noch unter Bewährung steht, wird ihm schon bei der Urteilsverkündung eine Haftentlassung nach sechs Monaten in Aussicht gestellt. Das Gericht wertet als strafmildernd: ZITATOR...dass die Angeklagten bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren. ERZÄHLERDie vier ermordeten Polizisten werden in dem Urteil gar nicht erwähnt, der schwerbewaffnete Marsch zur Feldherrnhalle wird als „unglücklich verlaufener Propagandazug“ bezeichnet, der Raub der Banknoten als „Beschlagnahmung“. Für den Münchner Rechtshistoriker Otto Gritschneder ist klar: ZITATORGegen die Richter des in vieler Hinsicht erstaunlich verfehlten Hochverrats-Urteils gegen Hitler vom 1. April 1924 muss der Vorwurf der Rechtsbeugung in aller Form erhoben werden.TC 07:24 – Sonderrechte in der Festungshaft ERZÄHLERINHitler wird zurück nach Landsberg gebracht – nun als Festungshäftling: O-Ton Peter FleischmannFestungshaft ist eine Art Ehrenhaft. Die Festungshäftlinge, die mussten mit Herr angesprochen werden, die hatten keinen Arbeitszwang, die durften mit Besteck und vom Teller essen, also nicht aus dem Blechnapf, die konnten sich selber zum Teil selber verköstigen. Sie konnten Besuch empfangen in größerem Umfang, sie konnten Korrespondenz schreiben, sie konnten lesen, mussten nicht arbeiten. ERZÄHLERINDie Putschisten werden in einem eigenen Trakt untergebracht, Hitler erhält eine Einzelzelle. In der eigens eingerichteten Festungsstube, einem Gemeinschaftsraum für die Putschisten, wird eine große eingeschmuggelte Hakenkreuzfahne aufgehängt. ERZÄHLERDie Festungshäftlinge dürfen Alkohol trinken. Hitler, so lässt es sich anhand der Einkaufslisten nachvollziehen, konsumiert täglich ein bis zwei Flaschen Bier. Selten gehen die Putschisten nüchtern ins Bett. Bedient werden sie von anderen Gefangenen, erzählt der Lokalhistoriker Manfred Deiler von der Bürgervereinigung „Landsberg im 20. Jahrhundert“: O-Ton Manfred DeilerDie haben die Toiletten geputzt, die haben die Böden gewischt und die haben sie bedient. Das war eine Vorzugstätigkeit für einen Haftgefangenen, dass er die Putschisten bedienen durfte. ERZÄHLERINZur gleichen Zeit gibt es in Bayern übrigens auch linke Festungshäftlinge, wie die Schriftsteller Erich Mühsam und Ernst Toller, die 1919 an der Münchner Räterepublik beteiligt waren und deshalb nun im schwäbischen Niederschönenfeld einsitzen. ERZÄHLERSie werden regelrecht terrorisiert mit Bett- und Hofentzug, der Verweigerung ärztlicher Betreuung, mit Zensur und Schikane. Die braunen Putschisten dagegen werden vom Landsberger Gefängnisdirektor Otto Leybold geradezu gehätschelt, so der Historiker Peter Fleischmann: O-Ton Peter FleischmannDas kann man nachweisen anhand der Besuchszeiten. Hitler hätte maximal sechs Stunden pro Woche Besuch empfangen dürfen. De facto hat er bis zu zehn, elf Stunden pro Woche Hof gehalten oder Hof halten dürfen. Und das hat Leybold gegenüber der Staatsanwaltschaft verborgen. Es gibt ja die Listen der Besucher Hitlers, circa 350 Personen, die wurden an die Staatsanwaltschaft München mitgeteilt. Was aber nicht mitgeteilt wurde: Dass die Besuchszeiten unverhältnismäßig ausgeweitet worden sind. Also normalerweise musste immer ein Wachtmeister mit anwesend sein, wenn Hitler Besuch empfangen hat. Es sind aber in sehr großem Umfang auch oft – Besprechungen haben stattgefunden, da heißt es dann: ohne Aufsicht. Also man war unter sich und hat dann zwei, drei, vier Stunden lang konferiert. ERZÄHLERINBesonders groß ist der Andrang am 20. April 1924, Hitlers 35. Geburtstag. 21 Gratulanten verzeichnet das Besucherbuch allein an diesem Tag. Unter den Hitler-Verehrern sind viele Frauen: O-Ton Peter FleischmannAuffällig immer zum Monatsanfang: Hermine Hoffmann, das berühmte Hitlermuttel, eine Studiendirektorenwitwe aus München, die ihm meines Erachtens immer Geld gebracht hat. Sie hat Hitler unter ihre Fittiche genommen, Manieren beigebracht, wie man in der Gesellschaft sich bewegt usw., also die kam sehr häufig. Dann junge Frauen auch – das ist eine einfache Korrespondentin aus Nürnberg und die schreibt: Sie hat Hitler mal im Circus Krone reden hören, die war dann entbrannt förmlich und diente sich ihm als Sekretärin an. Aber Hitler hat sie dann nach fünf Minuten wieder weggeschickt, wie so manche Verehrerinnen, mit denen er bloß kurz sprechen wollte.TC 11:07 – Die braune Schaltzentrale der NSDAP ERZÄHLERINDenn Hitler hat andere Prioritäten. Er versucht aus dem Gefängnis heraus weiter die Fäden zu ziehen – insbesondere vor den Reichstagswahlen im Mai 1924. Die NSDAP ist seit dem Putschversuch verboten, doch die Nationalsozialisten verbünden sich mit der Deutschvölkischen Freiheitspartei. Hitler nimmt von seiner Zelle aus direkt Einfluss auf die Kandidatenliste. ERZÄHLERDie NSDAP-Tarnliste schafft es auf immerhin 6,5 Prozent, zahlreiche Nationalsozialisten, wie der spätere Innenminister Wilhelm Frick oder SA-Führer Ernst Röhm werden in den Reichstag gewählt – sogar einer der Landsberger Häftlinge: der Offizier Hermann Kriebel, auch wenn der sein Mandat nicht antreten kann. O-Ton Manfred DeilerSie haben das Ganze in eine Art braune Schaltzentrale umgestaltet, wenn man das Besucherbuch sieht, so stellt man fest, das ist ein „Who is Who“ der späteren Größen des Nationalsozialismus. Da müsste man mal kurz einmal das Besucherbuch vielleicht zitieren und die Liste mal rausnehmen: Zum Beispiel gleich einmal am 12. April 1924 fällt mir also in die Augen General Ludendorff, Streicher, das ist der Julius Streicher, der Röhm, Dr. Kraus, praktischer Arzt, Landsberg – das war der erste Bürgermeister nach der Machtübernahme Hitlers. Und die haben sich alle dort schon 1924 mit Hitler getroffen. ERZÄHLERINTrotzdem werden die Nazis die Festungshaft später als Martyrium verklären – so etwa Hitlers Mithäftling Julius Schaub 1933: ZITATORVon Zeit zu Zeit wurde die Eintönigkeit unterbrochen durch das Laden der Gewehre beim Ablösen der Wache oder durch das Klappern der Schlüssel, wenn der Aufseher seine Runde macht. Und in dieser Welteinsamkeit, abgeschlossen von der übrigen Menschheit, nur umgeben von seinen getreuen Mitkämpfern und Mitgefangenen, schuf der Führer sein großes Werk „Mein Kampf“.ERZÄHLERINWie genau in Landsberg der erste Teil von „Mein Kampf“ entstand, ist unklar. Sicher ist: Hitler hat regelmäßig Vorträge im Gefängnis gehalten. O-Ton Manfred DeilerEs gibt ein Foto vom Besucherraum, da steht eine Tafel, heute würde man Flipchart sagen. Also es haben tatsächlich Diskussionen oder auch Monologe von Adolf Hitler stattgefunden. Es gibt ja auch Theorien, dass die Erstfassung von „Mein Kampf“ eine Aneinanderreihung von Reden ist, also dass es tatsächlich Reden sind, die Adolf Hitler gehalten hat im Gefängnis und die von anderen mitgeschrieben wurden. ERZÄHLERDie Gefängnisleitung muss gewusst haben, was im Festungstrakt vor sich geht, sagt Manfred Deiler von der Bürgervereinigung „Landsberg im 20. Jahrhundert“. Trotzdem lassen die Wachmannschaften Hitler und seine Leute gewähren: O-Ton Manfred DeilerSie haben z. B. auch den Auftrag gehabt, die Papierkörbe zu sichten, weil sie wussten, es wird geschrieben, aber dann, nach Sichtung, das Material aus den Papierkörben zu verbrennen. D. h. also, es war allen Beteiligten klar, dass dort etwas entsteht, was das nationalsozialistische zukünftige Parteiprogramm wird. Meine Frage ist: Wie kann es sein, wenn eine Gefängnisleitung weiß, dass solche Schriften entstehen, dass das an der Zensur vorbei kann. ERZÄHLERWie ungehindert die Putschisten vom Gefängnis aus mit der Außenwelt kommunizieren, wird im September 1924 offenbar – kurz bevor Hitler vorzeitig entlassen werden soll.TC 14:31 – Vorzeitige Entlassung wegen „guter Führung“ O-Ton Peter FleischmannDann passiert diese Kassiberaffäre: Der Sohn eines Mithäftlings, Kriebel, der war bei seinem Vater in Landsberg in Besuch Ende September, und nimmt einige Briefe an sich, acht Stück, von Kriebel, Weber und einen von Hitler und kommt in München in eine Polizeikontrolle. Dann entdeckt man bei dem jungen Mann Briefe, die aus Landsberg von den Putschisten, von den Festungshäftlingen stammen und die offensichtlich nicht der sehr weitmaschigen Zensur unterworfen waren. Und die Staatsanwaltschaft, der hat man es letztlich zu verdanken, dass sie sofort Veto eingelegt haben, dass Hitler zum Ende September, Anfang Oktober, wie vorgesehen, aus der Festungshaft frühzeitig entlassen wird. ERZÄHLERINDie Haftentlassung wird allerdings nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Hitler hat offensichtlich mächtige Gönner im bayerischen Justizministerium. Auch Gefängnisdirektor Leybold bescheinigt ihm „gute Führung“. Von seiner Zelle aus schmiedet Hitler detaillierte Zukunftspläne: O-Ton Peter FleischmannDas ist dieser berühmte Brief an Werlin, Mercedesvertreter in München in der Schellingstraße. Da schreibt dann Hitler Ende September, ja also er interessiert sich für diesen Mercedes 11-40, aber es gibt noch einen anderen, einen größeren, der ist stärker motorisiert, der hat aber 300 Umdrehungen mehr, ist das nicht schädlich für den Motor? Und Werlin soll sich in Mannheim erkundigen, ob es den noch gibt, den 11-40er, er möchte aber graue Speichenräder haben. Ja, da schlägt wieder der Größenwahn Hitlers durch. Er schreibt auch, er hat zur Zeit kein Einkommen, aber er wird bald etwas veröffentlichen und da wird er dann liquide sein und wird auch dieses Auto bezahlen können. Wobei man sich vor Augen halten muss: Der Wert eines großen Wagens in dieser Zeit entsprach dem Wert eines Einfamilienhauses. ERZÄHLERINAm 20. Dezember 1924 um 12 Uhr 15 wird Hitler entlassen – genau 3 Jahre, 333 Tage, 21 Stunden und 50 Minuten vor dem eigentlichen Strafende. Im Benz verlässt er die Stadt – am Landsberger Bayertor posiert er noch für ein Abschiedsfoto. ERZÄHLERBei seiner Ankunft in Landsberg im November 1923 war Hitler ein Häuflein Elend, bei seiner Entlassung im Dezember 1924 strotzt er wieder vor Selbstvertrauen. Acht Jahre später, im Januar 1933, wird er die Macht in Deutschland übernehmen, auf legalem Wege. O-Ton Peter FleischmannHitler ist bis 1924 ein Stück, ein Teil der bayerischen Geschichte, aber ab dem 20. Dezember ‘24, der Haftentlassung, der frühzeitigen Entlassung in die Freiheit und der Wiedergewinnung seiner politischen Möglichkeiten, wird Hitler zu einer Person letztlich der deutschen Geschichte. Hier ist er gefördert worden und hier hat man ihn mit Samthandschuhen angefasst. ERZÄHLERDas sieht Hitler übrigens genauso. O-Ton Adolf HitlerUnd so ist denn der größte Zusammenbruch in der Geschichte der Partei eigentlich der Beginn des größten Aufbruchs geworden. MUSIK: 71217190 102 (00‘20‘‘)TC 17:57 – Der Ruf von Landsberg ERZÄHLERINKnapp zehn Jahre nach seiner Haftentlassung kehrt Hitler nach Landsberg zurück. Der einstige Häftling ist nun Reichskanzler. O-Ton Manfred DeilerHitler kam 1934 am 8. Oktober (MUSIK ENDE) das erste Mal unangemeldet zu der Festungszelle mit ehemaligen Mitgefangenen und hat die nochmal angeschaut. Er ist anschließend in die Innenstadt gefahren, hat dieses Café Deible besucht. Und der Landsberger Stadtrat hat das mitbekommen natürlich, hat dann versucht, schnell aus Schuljugendlichen ein Spalier mit Fähnchen am Straßenrand zu bilden und wollte zum Café Deible, um dort die Ehrenbürgerurkunde zu übergeben, aber Hitler war schon weg. ERZÄHLERSchon bald entdeckt man in Landsberg das touristische Potential von Hitlers Festungshaft. Seine einstige Zelle wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, mit täglichen Öffnungszeiten, erzählt Lokalhistoriker Manfred Deiler: O-Ton Manfred DeilerMan hat dann speziell mit „Kraft durch Freude“, ich sag jetzt einmal ganz locker: dem Reiseunternehmen der NSDAP, schon ‘34/‘35 Besuchergruppen mit Sonderzügen mit 2.000 Personen, die Besucher für die Hitlerzelle gebracht haben. Und es ist damals dann Landsberg der Slogan gewesen: die Stadt des Führers, Landsberg – der Geburtsort der Ideen des Nationalsozialismus‘, Landsberg – die Hitlerstadt. Also in dieser Form war das Marketingkonzept. ERZÄHLERAuch die Reichsleitung des NSDAP und insbesondere Reichsjugendführer Baldur von Schirach erkennen den Propagandawert der Hitlerzelle – sie wollen Landsberg zum Wallfahrtsort der Hitler-Jugend machen. O-Ton Manfred DeilerMan hat beschlossen, 1937 das erste Mal im Abschluss an die Kundgebung am Reichsparteitag in Nürnberg, die Leute mit einem Sternmarsch über München nach Landsberg zu bringen, also Leute ist gemeint: Die Abordnungen der deutschen Jugend. ATMO Marschgeräusche O-Ton ReporterDas Erlebnis des Reichsparteitages in einem übervollen Herzen geht es nun zur letzten Station des langen Marsches, nach Landsberg, der Festung in der Adolf Hitler gefangen war. ATMO Glockenläuten O-Ton Manfred DeilerDort sind sie dann im Gefängnishof empfangen worden vor der Führerzelle und dort hat ihr dann Baldur von Schirach stellvertretend für die Abordnungen zu Hause das Buch „Mein Kampf“ ausgehändigt. ATMO Fanfaren O-Ton Manfred DeilerEs gab dann damals 1937 erstmals eine Abschlusskundgebung am Hauptplatz in Landsberg, mit Fackeln und Fahnen und da hat Baldur von Schirach dann geprägt: Landsberg ist nun die Stadt der deutschen Jugend, und ab dem Zeitpunkt sollte das regelmäßig jedes Jahr wiederholt werden.Der bayerische Justizminister wollte die gesamte Haftanstalt Landsberg dem Führer als Geschenk machen, da sollte die größte Jugendherberge Deutschlands draus werden. Es gab eine zweite Idee, es sollte ein Aufmarschstadion entstehen, das Stadion der Jugend. Es existiert ein Modell. Da wäre vom Bahnhof weg eine große Aufmarschallee entstanden. Man kann sich das Vorstellen dieses Modell ähnlich wie das Reichsparteitags-Gelände in Nürnberg. ERZÄHLERINDer Zweite Weltkrieg lässt alle Planungen zur Makulatur werden. Nach dem Krieg übernimmt die US-Army für einige Jahre das Gefängnis. Der Trakt mit der Hitlerzelle wird abgerissen, nie mehr soll hier eine Pilgerstätte entstehen. Stattdessen inhaftieren die Amerikaner in Landsberg über 1.500 NS-Kriegsverbrecher. Fast 300 von ihnen werden dort hingerichtet – darunter Massenmörder wie KZ-Kommandanten oder Einsatzgruppenführer. ERZÄHLERAn dem Ort, an dem Hitler seine verbrecherische Ideologie entwickelte und ungehindert zu Papier bringen konnte, werden nun diejenigen gerichtet, die diese Ideen in die Tat umgesetzt, die schrecklichste Menschheitsverbrechen verübt haben – Verbrechen, die es vielleicht nie gegeben hätte, wenn... ja, wenn die bayerische Justiz als es drauf ankam nach Recht und Gesetz gehandelt hätte.TC 22:02 - Outro
undefined
Feb 16, 2024 • 23min

BLACK HISTORY - Erfolgsgeschichte Botswana

Botswana ist eine unerwartete Erfolgsgeschichte. Bei der Staatsgründung wirtschaftlich schwach und ohne nennenswerte Infrastruktur, gilt Botswana heute als eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder Afrikas. Das liegt nicht nur am überlegten Umgang mit Diamantenvorkommen. Wie hat Botswana das geschafft? Februar ist "Black History Month". Von Linus Lüring (BR 2022) Credits Autor: Linus Lüring Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Florian Schwarz Technik: Susanne Harasim Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Christian von Soest, Prof. Andreas Wimmer, Mogkweetsi Masisi Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Wo die Regierung die Medien selbst – Pressefreiheit in Botswana Botswana: Ein Land reich an Natur und mit stabiler Demokratie. Einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es jedoch nicht - die Regierung produziert Inhalte für Fernsehen, Radio und Zeitungen selbst. Wie passt das in das politische System? JETZT ANHÖREN SWR (2024): Afrika im Aufbruch – Digitaler Fortschritt ohne Ende In Afrika boomt die „FinTech“-Branche: Bezahlen per Smartphone-App gehört zum Alltag. Auch andere Finanzgeschäfte werden digital geregelt. Die Technologie vernetzt auch die Menschen auf dem Kontinent über Grenzen hinweg. Einige der afrikanischen Fintech-Entwicklungen werden inzwischen weltweit genutzt. Und diese Erfolgsgeschichten sind noch nicht auserzählt. Denn Experten sagen der Branche in Afrika weiter einen Boom voraus. ZUM HÖRBEITRAG Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 02:26 – Eine Reise nach Großbritannien TC 04:49 – Der Enkel des Königs TC 09:11 – Ein Umbruch durch Ausgleich und Verständigung TC 10:52 – Diamantensegen TC 16:22 – Kratzer im ‚afrikanischen Märchen‘ TC 22:18 – Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:TC 00:15 – Intro Musik: C1582570107 Der Maschinenbauer SPRECHERIN London, 6. September 1895. Drei Männer treffen in der Stadt an der Themse ein, noch etwas seekrank von der langen Reise. Zwei Wochen waren sie unterwegs. Es handelt sich um drei Herrscher aus Gebieten im südlichen Afrika. Schnell machen sie gegenüber hochrangigen Politikern ihr Ziel klar: Sie wollen erreichen, dass ihre Königreiche unter den Schutz der Britischen Krone kommen. Herrscher, die sich freiwillig einer Kolonialmacht unterwerfen? SPRECHER Was erstmal verwunderlich klingt, ist Strategie: Denn damals hatten es auch das Deutsche Reich mit der Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika und die Buren im Süden auf ihre Heimat abgesehen, erklärt Christian von Soest, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für globale und regionale Studien in Hamburg. 1 von Soest Herrschaft von außen, offensichtlich das war die Einschätzung, die unter den Häuptlingen eben vorherrschte, können wir nicht verhindern. Und da waren die Briten das kleinste Übel. Wenn man es denn schon nicht geschafft hat, diese Mächte von außen eben aus dem Land rauszuhalten. Und da eben diese Reise nach London, wo man um diesen Schutz eben gebeten hat. Musik: C1582570113 Auf der Müllkippe 0‘53 SPRECHERIN Die britische Öffentlichkeit ist fasziniert von den Besuchern aus dem fernen Afrika und ihrer Mission. “Ein Triumvirat aus drei dunkelhäutigen Königen”, heißt es bewundernd in der Presse damals. Als mächtigster von ihnen gilt Khama III. Ein Name, der später noch wichtig werden wird. Nach einem Gespräch mit Queen Victoria haben er und die beiden anderen ihr Ziel erreicht: Die Briten schließen ihre und benachbarte Reiche zum Protektorat Betschuanaland zusammen. Ein Gebiet, das zentral im südlichen Afrika liegt - etwa gleich weit von Pazifik und Atlantik entfernt. SPRECHER Diese Entscheidung und die Bemühungen der drei Herrscher haben Folgen, die bis heute spürbar sind. Aus Betschuanaland wird später die unabhängige Republik Botswana. Ein Staat der Schlagzeilen macht. TC 02:26 – Eine Reise nach Großbritannien C1351080001 Kalimba work song (a) 0‘17 Zitator “Eine Erfolgsgeschichte” “Das afrikanische Wunder” “Afrikas Oase der Stabilität und Demokratie” SPRECHERIN Das sind die Überschriften von Artikeln, die in den letzten Jahren über Botswana geschrieben wurden. Sie passen nicht zu dem Klischee, das viele Menschen in Deutschland noch immer im Kopf haben, wenn sie an Afrika denken. Krieg, Korruption, Armut. Ist Botswana wirklich eine Erfolgsgeschichte und möglicherweise ein Vorbild für andere Staaten? Was hat das Land anders gemacht? C1555160105 Water trops 0‘31 SPRECHER Die damalige Reise nach Großbritannien sehen viele als entscheidenden Ausgangspunkt für eine positive Entwicklung Botswanas. Nach der Errichtung des Protektorats Betschuanaland erfüllen sich die Hoffnungen der drei Herrscher, die gezielt britischen Schutz gesucht haben. Ihre Heimat bleibt von größeren kolonialen Einflüssen verschont und - wichtiger noch - ihre Macht bleibt mehr oder weniger unangetastet. SPRECHERIN Die Briten setzen auf indirekte Kontrolle und nutzen die traditionellen Herrschaftsstrukturen weiter, um das Land zu regieren. Für sie geht es in erster Linie darum zu verhindern, dass andere Staaten ihren Einfluss ausdehnen und etwa das Deutsche Reich noch größere Gebiete im Süden Afrikas kontrolliert. Ein konkretes Interesse an Betschuanaland selbst haben die Briten nicht, und das erscheint erstmal nachvollziehbar, erklärt Christian von Soest: Das Protektorat ist etwa so groß wie Frankreich, extrem dünn besiedelt und besteht zu einem großen Teil aus Wüste, der Kalahari. Größere Rohstoffvorkommen gibt es nicht. Die Bevölkerung lebt vor allem von der Viehzucht. 2 von Soest Das Wort, was am besten die Kolonialzeit zusammenfasst, ist eigentlich die Vernachlässigung. Man hat eigentlich gar keine, keine großen Investitionen gemacht. C1595860130 One world pattern (e) 0‘26 SPRECHER Weil das Protektorat unprofitabel ist, planen die Briten Betschuanaland an die südafrikanische Union zu übergeben, dem Vorläuferstaat des heutigen Südafrika. Nachdem dort Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings die Politik der Rassentrennung, die sogenannte Apartheid, eingeführt wurde, ging Großbritannien auf Abstand zu diesen Plänen. Betschuanaland soll stattdessen ein eigenständiger unabhängiger Staat werden. TC 04:49 – Der Enkel des Königs SPRECHERIN Dabei wird ein Mann eine wichtige Rolle spielen: Seretse Khama. Enkel von Khama III., also dem Mann, der den Schutz der Briten gesucht hatte. Seretse Khama ist nun designierter Herrscher der Bamangwato-Ethnie. Doch dieses Amt wird er nie ausüben. Zunächst geht er in den 1940er Jahren zum Studium nach Großbritannien. Musik: C1351080007 Shangaan lullaby (a) 0‘25 SPRECHER An einem Juniabend 1947 lernt er dort die junge Ruth kennen. Die beiden tanzen und verlieben sich. Ein afrikanischer Prinz und eine weiße Britin. Nur ein Jahr später planen die beiden zu heiraten. Ihre Liebe wird ein internationales Politikum. Seretse Khama schreibt einen langen Brief in die Heimat. SPRECHERIN Damals kennen Ruth und er sich seit etwa eineinhalb Jahren, erklärt er darin. Außerdem seien sie sich aller Schwierigkeiten bewusst, die sie jetzt erwarten. Aber Seretse Khama schreibt weiter, es würde keinen Sinn machen, sie von der Heirat abzubringen. Sie beide wollten den Schritt auf jeden Fall gehen. SPRECHER Die Reaktionen sind zunächst heftig. “Wenn er sie mitbringt, werde ich ihn töten”, soll Seretses Onkel angekündigt haben. Für die meisten in Betschuanaland waren Weiße in erster Linie Kolonialisten, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn haben. Gleichzeitig äußert auch das weiße Apartheidsregime im benachbarten Südafrika heftige Kritik an der Ehe. SPRECHERIN Aber Seretse und Ruth lassen sich nicht trennen. “Liebe kennt keine Hautfarbe”, erklärt er und verkündet schließlich seinen Verzicht auf den Thron. Einige Jahre später ziehen die beiden dann nach Betschuanaland. Mit seiner zurückhaltenden Art und seiner positiven Ausstrahlung gewinnt er die Herzen vieler Landsleute wieder. Auch Ruth wird in ihrer neuen Heimat immer beliebter. Musik: M0007510022 Afrikan dream 0‘22 SPRECHER In dieser Zeit, gegen Ende der 1950er Jahre, nehmen die Vorbereitungen für die Unabhängigkeit des Protektorats an Fahrt auf. Dass Seretse Khama dabei eine Schlüsselfigur wird, ist für Christian von Soest kein Zufall. 3 von Soest Khama Einmal war er Nachkomme des wichtigsten Stammes. Das heißt, er hatte ein hohes Maß an Legitimität und Autorität.  Er war politisch extrem gut verbunden. Er war in Großbritannien ausgebildet. Hatte also sehr gute Verbindungen auch zur früheren Kolonialmacht und war auch einer der größten Viehbesitzer. Das heißt, er hat zur Zeit der Unabhängigkeit die Unterstützung aller politisch wichtigen Gruppen in Botswana. Der ausgebildeten Elite, der traditionellen Autoritäten, der britischen Herrscher, der Viehzüchter und der ländlichen Bevölkerung. Musik: M0007510022 Afrikan dream 0‘30 SPRECHERIN Seretse Khama gründet die Botswana Democratic Party, kurz BDP, und gewinnt damit bei den ersten Wahlen die Mehrheit der Sitze im Parlament. Als Betschuanaland 1966 als Botswana die Unabhängigkeit erlangt, wird Seretse Khama der erste Staatspräsident. Beim Amtsantritt zeigt Khama sich demütig. SPRECHER Er erklärt, wie sehr er sich über das große Vertrauen der Bevölkerung Botswanas freue. Gleichzeitig spricht er aber auch von den großen Erwartungen, die auf ihm lasten würden. Er hofft, dass er die Versprechen erfüllen kann, die er den Menschen Botswanas gegeben hat. SPRECHERIN Die Startbedingungen sind auf den ersten Blick denkbar schlecht, wenn man sich die Fakten anschaut: 1966 hat Botswana gerade mal 12 Kilometer asphaltierte Straße, keinen direkten Meereszugang, im Land gibt es nur um die 20 Universitätsabsolventen und neun Schulen, die über die Grundschule hinausgehen. SPRECHER In anderen Staaten auf dem afrikanischen Kontinent ist die Ausgangslage komfortabler. Hier hatten die Kolonialmächte deutlich stärker investiert. Das hatte allerdings einen Preis. Denn dabei hatten sie den Kolonialgebieten auch eigene Machtstrukturen aufgezwungen. In Botswana waren die Herrschaftsverhältnisse auf lokaler Ebene dagegen unverändert geblieben. 5 von Soest Das war für die weitere Entwicklung des Landes sehr, sehr wichtig. Und wenn wir uns andere Länder anschauen, da hatten Regierungen einen revolutionären Anspruch, gegen diese Herrschaftsordnung aus der kolonialen Zeit und Besitzordnungen eben anzukämpfen. Und genau diesen revolutionären Anspruch – das finden Sie nicht in Botswana.  TC 09:11 – Ein Umbruch durch Ausgleich und Verständigung Musik: M0007510024 Happy plains 0‘20 SPRECHERIN Der Unabhängigkeitsprozess läuft deshalb sehr konsensual ab - ohne blutige Kämpfe. Generell basiert die Herrschaftskultur in den verschiedenen Königreichen und Ethnien des Landes schon immer auf Ausgleich und Verständigung. SPRECHER Für Seretse Khama geht es jetzt zunächst darum, Verwaltungsstrukturen für den jungen Staat aufzubauen. Britische Kolonialbeamte werden dabei nicht aus dem Land geworfen, sondern zunächst weiterbeschäftigt als Angestellte des Staates und nach und nach durch botswanische Angestellte ersetzt. Eine weise Entscheidung, erklärt Andreas Wimmer, Sozialwissenschaftler an der Columbia University in New York. 6 Wimmer Durch diese Geschichte des graduellen Übergangs von einer Kolonialverwaltung zu einer Selbstverwaltung erklärt sich, wieso das im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern die botswanische Verwaltung sehr effizient war. Korruption gibt’s auch auf sehr reduzierter Ebene. SPRECHERIN Auch Klientelismus wird von Anfang an in Botswana bekämpft. Dass Verwaltungsangestellte die eigene Ethnie bevorzugen, wenn es zum Beispiel um den Bau von Straßen oder Schulen geht, soll verhindert werden. Das gelingt weitgehend, auch weil Seretse Khama bei der Zusammensetzung der Regierung darauf achtet, dass die verschiedenen Ethnien des Landes in der Regierung vertreten sind. 7 Wimmer Und das war eigentlich von Anfang an der Fall. Heißt, dass keine der größeren Gruppen war eigentlich von der Macht ausgeschlossen. Es gab ein power-sharing arrangement, informelles power-sharing arrangement von Beginn an… TC 10:52 – Diamantensegen Musik: C1588530112 Green oasis 0‘47 SPRECHER Seretse Khama ist überzeugt von der Demokratie. Diese ist für ihn entscheidend für die Stabilität eines Landes Er soll sich sogar eine stärkere Opposition gewünscht haben. Diese hatte anfangs nur sieben von 34 Sitzen. Generell rechnet er damit, dass Staatsführer, die die Bevölkerung gewaltsam unterdrücken, irgendwann selbst mit Gewalt aus dem Amt gedrängt werden. SPRECHERIN Der Stil von Seretse Khama sorgt damals auch international für Aufsehen. In der New York Times erscheint kurz nach der Unabhängigkeit ein langer Artikel, der Botswana als erfreuliche Ausnahme zu anderen afrikanischen Staaten beschreibt. Das Wort „Erfolgsgeschichte“ wird hier bereits erwähnt. SPRECHER Es gibt allerdings ein Problem - dem jungen botswanischen Staat fehlen nach wie vor Einnahmen. Größter Wirtschaftszweig ist immer noch die Viehzucht. Das Land gilt Mitte der 1960er Jahre als eines der ärmsten der Welt, auch weil es eben keine nennenswerten Rohstoffvorkommen gibt. Musik: C1588530110 Call of the desert 0‘35 SPRECHERIN Dabei gibt es Hoffnung. In den Nachbarländern wurden schon vor Jahrzehnten große Diamantenvorkommen entdeckt. Und auch in Botswana laufen seit Mitte der 1950er Jahre Erkundungen. Nachdem zehn Jahre lang in unterschiedlichen Regionen Botswanas keine Edelsteine gefunden wurden, sollen die kostspieligen Bemühungen 1965 eingestellt werden. Der leitende Geologe kann allerdings eine Verlängerung um ein Jahr heraushandeln. SPRECHER Und nur zwei Monate vor Ablauf der Frist hat das Team Erfolg und findet tatsächlich erste Hinweise auf Diamantenvorkommen - unweit der Hauptstadt Gaborone. In der folgenden Zeit werden dann mehrere Diamantenvorkommen in verschiedenen Teilen des Landes entdeckt. Sie zählen bis heute zu den größten der Welt. Das Land kann jetzt mit enormen Einnahmen rechnen. Nun zeigt sich, dass es ein Glücksfall war, dass Botswanas staatliche Strukturen und die Verwaltung bereits weitestgehend aufgebaut waren, als der Diamantensegen über das Land hereinbrach. Andreas Wimmer: 8 Wimmer So ist es vielleicht zu erklären, dass eben im Unterschied zu anderen ressourcenreichen Ländern in Afrika, aber auch anderswo, dass der Diamantenreichtum nicht versickerte in den privaten Bankkonten von Politikern und hohen Funktionären und dass das Einkommen aus dem Diamantenabbau eben zur weiteren Verbesserung der Infrastruktur benutzt wurde, und nicht einfach, um politisch Stimmen zu kaufen oder eine Armee aufzubauen. Musik: M0007510021 Tribal conflict 0‘32 SPRECHERIN Länder, wie Angola oder auch Sambia verfügen einerseits über enorme Rohstoffvorkommen wie Kupfer oder Öl, sind andererseits aber politisch sehr instabil. Der Grund: Staatliche Strukturen sind oft schwach und daher versuchen verschiedene Kräfte, sich möglichst große Teile des Reichtums zu sichern. Immer wieder entstehen so blutige Konflikte. Als “Ressourcen-Fluch” wird dieser Teufelskreis bezeichnet. SPRECHER Dass Seretse Khama und seine Regierung es geschafft haben, diese Entwicklung zu verhindern, ist für den Soziologen Andreas Wimmer von der Columbia University eine entscheidende Entwicklung. Er hat ein Buch geschrieben über die Frage, warum manche Staaten scheitern und andere prosperieren. In Botswana sei es gelungen, Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und Straßen so zu verteilen, dass möglichst alle Teile der Bevölkerung davon profitieren. 9 Wimmer Das Argument ist, dass das dazu beigetragen hat, dass die Bürger unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, unabhängig von der Sprache, die sie sprechen die Regierung als gleichermaßen legitim erachten und die entsprechenden politischen Parteien auch unterstützen. SPRECHERIN Dies führte auch dazu, dass die Unterschiede der Volksgruppen im Land eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielen. Gewaltsame Konflikte entlang ethnischer Trennlinien, wie es sie in anderen instabilen Staaten immer wieder gibt, sind in Botswana nicht entstanden. SPRECHER Eine weitere visionäre Entscheidung half, diese günstigen Voraussetzungen dauerhaft zu sichern, betont der Politikwissenschaftler Christian von Soest. Die botswanische Staatsführung rund um Seretse Khama geht zur Diamantenförderung ein Joint Venture mit dem südafrikanischen Bergbaukonzern DeBeers ein. Die Einnahmen teilen sich zur Hälfte Staat und Konzern. 10 von Soest Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass man erstens eben die Expertise hat, dass aber auch der Zugriff auf die Einnahmen eben auch sehr viel kontrollierter vonstattenging als das in anderen Staaten der Fall war. SPRECHERIN Dieses Kooperationsmodell wird später auch von anderen Ländern kopiert, zum Beispiel im Nachbarland Namibia. Musik: C1582570117 Im Supermarkt 0‘34 SPRECHER Botswana erlebt in den 1970er Jahren dank der Diamantenförderung einen enormen Aufschwung. Das Land verzeichnet das höchste Wirtschaftswachstum weltweit. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen entwickelt sich zu einem der höchsten auf dem Kontinent. Die Gesundheitsversorgung wird weiter massiv ausgebaut und ist zum großen Teil kostenlos. Die internationalen Beobachter überbieten sich mit Lob für “die Schweiz Afrikas”, wie Botswana immer wieder genannt wird. TC 16:22 – Kratzer im ‚afrikanischen Märchen‘ SPRECHERIN Dabei steht das Land außenpolitisch vor großen Herausforderungen. Die zentrale Frage ist, wie sich Botswana gegenüber dem rassistischen Apartheidsregime im Nachbarland Südafrika verhält. Seretse Khama ist durch seine Ehe mit der weißen Ruth und seiner liberalen Einstellung der personifizierte Gegenentwurf zu einer Politik der Rassentrennung. SPRECHER Er weiß gleichzeitig, dass er seine Kritik vorsichtig formulieren muss, um den mächtigen Nachbarn nicht zu sehr zu reizen und die eigene Souveränität nicht zu gefährden. Anders als andere Staaten hat Botswana südafrikanische Freiheitsbewegungen wohl auch deshalb nie offen unterstützt. Musik: C1608480130 Toumani A 0‘42 SPRECHERIN 1980 kommt es zu einem Einschnitt in der Geschichte Botswanas. Staatspräsident Seretse Khama stirbt im Alter von nur 59 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Aber der Übergang zu seinen Nachfolgern vollzieht sich geräuschlos. Und auch die folgenden Parlamentswahlen laufen grundsätzlich demokratisch und frei ab. Viele Berichte beschreiben Botswana bis heute überschwänglich als ein afrikanisches Märchen. In den letzten Jahren hat diese Erzählung allerdings einige Kratzer bekommen. SPRECHER Ein Beispiel dafür sind Minderheitenrechte. Der sehr repressive Umgang mit einer indigenen Volksgruppe, den San, hat immer wieder für internationale Kritik gesorgt. Christian von Soest: 12 von Soest Die San leben als Nomaden, sind nicht wirklich sesshaft und das wurde als nicht modern von der Regierung aufgefasst. Ein sehr paternalistisches Verhältnis von Politik teilweise, das nicht ausgerichtet ist auf den Schutz von alternativen Lebensformen und -entwürfen. SPRECHERIN Die San wurden von der Wasserversorgung abgeschnitten und gezielt aus ihren gewohnten Lebensräumen vertrieben. Dabei hat sicher auch eine Rolle gespielt, dass in diesen Gebieten Diamantenvorkommen vermutet wurden. Und diesen Edelsteinen wird in Botswana nach wie vor alles untergeordnet. Sie sind der Garant für den Wohlstand des Landes. SPRECHER Dabei gibt es allerdings einen Haken. Denn trotz dieser Einnahmen steigt die Arbeitslosigkeit in Botswana in den letzten Jahren. Sie liegt bei rund 20 Prozent. 13 von Soest Der Abbau von Diamanten braucht nicht sehr viele Arbeitskräfte. Und das ist eben ein zentrales Problem. Die Einnahmen des Staates sind sehr hoch. Aber es ist eben nicht sehr breitenwirksam diese, diese, diese Einnahmequelle. Musik: M0007510021 Tribal conflict 0‘47 SPRECHERIN Eine Folge davon ist eine wachsende soziale Ungleichheit. Diese Entwicklung kann enorme gesellschaftliche Sprengkraft entwickeln. Ein Ziel ist deshalb seit langem eine Diversifizierung der Wirtschaft. Insbesondere weil die Diamantenvorkommen im Jahr 2050 etwa erschöpft sein sollen. Lange hat Botswana auf Luxustourismus gesetzt. Das Land verfügt über eine der größten Elefantenpopulationen weltweit und mit dem Okavango-Delta über ein Naturparadies. Seit wegen der Corona-Pandemie die Touristenströme ausblieben, zeigte sich allerdings, wie unsicher auch diese Strategie sein kann. SPRECHER Botswana hat außerdem mit einer im Vergleich zu anderen Ländern enorm hohen Zahl an HIV-Infizierten zu kämpfen. Auch der Klimawandel setzt dem Land zu. Schon seit Jahrzehnten gibt immer wieder Dürren, die große Teile Botswanas bedrohen. Nicht umsonst lautet das Staatsmotto Botswanas “Pula”, übersetzt etwa: “Möge Regen kommen!” Musik: C1595860103 Truth development inc (c) 0‘49 SPRECHERIN Bleibt noch die Demokratie, die ja Ausgangspunkt für die Entwicklung Botswanas ist und für die das Land gefeiert wird. Zwar gilt Botswana was freie Wahlen und Meinungsfreiheit angeht, noch immer als leuchtendes Vorbild - insbesondere in Afrika. Allerdings zeigen sich auch hier Probleme. Zwar gelten die Wahlen als frei und fair. Aber bislang hat jede Abstimmung die BDP gewonnen - die Partei, die Seretse Khama gegründet hatte. Es gibt Anzeichen für verkrustete Strukturen und Vetternwirtschaft innerhalb des Regierungsapparats. Die Entwicklung Botswanas wird in der Politikwissenschaft deshalb auch kontrovers diskutiert. 14 von Soest Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sagen den eigentlichen, ultimativen Test für eine Demokratie hat es noch nicht gegeben, nämlich ob ein Amtsinhaber eine Amtsinhaberin bereit ist, den Regierungssitz verlassen, wenn er oder sie bei der Wahl verloren hat und nicht mehr die Mehrheit der Stimmen hat. Das hat die BDP bisher nicht gehabt. Diese Herausforderung, dass es einen Machtwechsel gab. Jetzt lässt sich trefflich darüber streiten, ob sie bereit wäre, das zu tun. Das wissen wir letztendlich nicht. Ich würde sagen ja. SPRECHER 2018 wurde der BDP-Vertreter Mogkweetsi Masisi zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Bei seinem Amtsantritt hat er klargemacht, worauf es für ihn ankommt. 15 Mogweetsi Masisi We are committed to a modern Botswana, that is not only open but able to openly compete with the rest of the world while maintaining our founding principles that have united this nation through difficult times: Democracy, Self-Reliance, Development, Unity and Botho! ZITATOR / OV Wir streben nach einem modernen Botswana, das offen ist und in der Lage ist, mit dem Rest der Welt mitzuhalten. Dabei setzen wir auf unsere Grundwerte, die uns auch in schwierigen Zeiten geeint haben: Demokratie, Eigenständigkeit, Entwicklung, Einigkeit und Botho. Musik: C1595860130 One world pattern (e) 0‘42 SPRECHERIN Botho ist ein Begriff aus der Landessprache Setswana. Er bedeutet übersetzt etwa Menschlichkeit und gegenseitiger Respekt. Mit diesen Grundlagen hat es Botswana weit gebracht. Aber das Land steht an einer Weggabelung. Es ist unklar, ob es gelingt, die Wirtschaft breiter aufzustellen und neue Einnahmequellen zu erschließen. Entscheidend für das Bestehen der Demokratie wird sein, dass ethnische Konflikte weitgehend ausbleiben und die soziale Ungleichheit nicht noch größer wird. TC 22:18 – Outro
undefined
Feb 16, 2024 • 22min

BLACK HISTORY - Die Benin-Bronzen

Sie sind nicht nur beeindruckende Kunstwerke, sie sind das Gedächtnis eines ganzen Volkes in Westafrika. Was sie genau zeigen, ist allerdings noch nicht vollständig entschlüsselt. Und nach einem Raubzug der britischen Kolonialmacht sind tausende Benin-Bronzen in der ganzen Welt verteilt. Wie soll die Rückgabe ablaufen?Februar ist "Black History Month". Von Linus Lüring (BR 2023) Credits Autor: Linus Lüring Regie: Martin Trauner Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Jerzy May, Katja Schild Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Dr. Stefan Eisenhofer, Dr. Oluwatoyin Sogbesan Linktipps: ARD Kultur (2022): Akte: Raubkunst? Warum stehen Museen in Deutschland voll mit Kulturschätzen aus Asien und Afrika? Wie sind sie hierhergekommen? In “Akte: Raubkunst?” erzählt Helen Fares die Geschichte von sechs Objekten - einige davon sind berühmt und umkämpft, andere noch kaum erforscht. Die Spuren führen in die Kolonialzeit, an Ausgrabungsstätten und in Auktionshäuser. Wir sprechen mit Menschen, die die Herkunft der Objekte erforschen und mit Menschen, die ihre Kulturschätze zurückfordern. “Akte: Raubkunst?” ist eine Produktion von Good Point Podcasts im Auftrag von ARD Kultur. ZUM PODCAST ARD Kultur (2022): Die gestohlene Seele – Raubkunst aus Afrika Brutal raubten Kolonialherren unzählige Kulturgüter aus Afrika - was soll damit geschehen? Nicht nur in Europa wird darüber kontrovers diskutiert. Auch in Afrika ist man sich uneins: vorbehaltlose Rückgabe oder nicht? Zum Film geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 02:11 – Raubrausch TC 04:53 – Die kolonialistische Haltung TC 08:50 – Geraubte Heiligtümer und Identität TC 11:57 – Die zähe Geschichte einer Rückgabe TC 17:49 – Immer noch Streit TC 21:47  - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK: „The vikins & Barons“ – Z8032889#109 (0:26) SPRECHER Die afrikanischen Verteidiger sind chancenlos gegen die gewaltige Armee, die sich Anfang des Jahres 1897 an der Westküste Afrikas formiert hat. Rund 1200 schwer bewaffnete britische Soldaten, Begleittruppen und hunderte Träger machen sich auf den Weg ins Landesinnere. Ihr Ziel: Das Königreich Benin und deren Hauptstadt, Benin-City. Als einziges Gebiet in der Region ist es noch nicht von einem europäischen Staat unterworfen und zur Kolonie erklärt worden.  MUSIK: „Masks on“ – Z8032448#119 (0:32) SPRECHERIN Zu groß ist die Übermacht der Europäer, die mit Maschinengewehren vorrücken. Nach zehn Tagen ist der Kampf vorbei und Benin-City wird eingenommen. Bevor die Briten die Stadt anschließend niederbrennen, durchsuchen sie systematisch den Palast des Oba, des Herrschers von Benin. Dabei machen sie einen überraschenden Fund. Der britische Marineoffizier Reginald Bacon erinnert sich später so: ZITATOR In den Lagerhäusern war jede Menge Krempel. Alte Uniformen oder hässliche Schirme. Aber in einem Haus befanden sich - bedeckt von Schmutz - einige hundert einzigartige Bronzeplatten - wahrscheinlich ägyptischen Ursprungs. Es waren wirklich hervorragende Güsse. Die Vielfalt der Details war fantastisch.  SPRECHER Zum damaligen Zeitpunkt ist den britischen Soldaten nicht wirklich klar, was sie da vor sich haben. Erstmal nehmen sie alles mit, was sie finden können. Mehrere tausend Kunstwerke werden verschleppt. Vor allem Platten und Güsse aus Bronze und anderen Legierungen, aber auch Schnitzereien aus Elfenbein oder Holz. Für all diese Stücke setzt sich der Sammelbegriff "Benin-Bronzen" durch. TC 02:11 – Raubrausch SPRECHERIN Als die ersten Stücke nach Europa kommen, lösen sie eine gewaltige Begeisterung aus. Vor allem unter den Museen beginnt ein Wettlauf um die Benin-Bronzen. Ein Mitarbeiter des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin telegraphiert an den deutschen Konsul in Westafrika, er solle von den erbeuteten Dingen “was immer erreichbar und ohne Rücksicht auf den Preis” kaufen. SPRECHER Etwas später kommen Bronzen auch nach Bayern. Die Münchner Neuesten Nachrichten melden im Dezember 1898: MUSIK: „Area codes“ – Z8020134#106 (0:18) ZITATOR Sämtliche größere Museen Europas, Amerikas, ja selbst Australiens sind alarmiert und haben sich teilweise arm gekauft. Auch in unserem Münchner Ethnographischen Museum ist eben die erste derartige Sendung eingetroffen und wird demnächst zur Ausstellung kommen. Atmo Treppenaufgang SPRECHER Mehr als 120 Jahre später geht der Ethnologe Stefan Eisenhofer die imposante Haupttreppe im Museum Fünf Kontinente nach oben, wie das Ethnographische Museum heute heißt. Er ist Leiter der Abteilungen Afrika und Nordamerika. Sein Ziel: Die ausgestellten Benin-Bronzen in der zweiten Etage. Er bleibt vor einer der Vitrinen stehen. Darin ein Kopf aus dunklem Metall, etwa 30 Zentimeter hoch… ZUSPIELUNG 1 (Eisenhofer Beschreibung Kopf) Also hier sehen wir so einen typischen Ahnen-Gedenkkopf wie er auf den Ahnen-Altären im Reich Benin gestanden ist. Das ist   ein menschlicher Kopf, sehr stark stilisiert, Sie sehen um den Hals  diese Ringe, sind Korallen, Ketten,  Perlenketten, die Ausweis der Majestät und des hohen Ranges des Königs waren. Und da oben auf dem Kopf, sehen Sie so diese Öffnung, da steckte ein Elefantenstoßzahn drin, der in der Regel dann eben noch beschnitzt war mit mythischen oder tatsächlichen Szenen aus der Vergangenheit des Reiches. SPRECHER Etwa 20 Objekte, die zu den Benin-Bronzen gezählt werden, umfasst die Sammlung im Münchner Museum. Ein vergleichsweise kleiner Bestand. Das Ethnologische Museum in Berlin verfügt über mehr als 500 Exponate. Die meisten Benin-Bronzen finden sich in britischen Museen. Und sie alle verbindet die Frage, die Stefan Eisenhofer stellt, als er vor dem kunstvoll gestalteten Kopf aus Bronze steht. ZUSPIELUNG 3 (Eisenhofer Frage) Ja, es ist tatsächlich die Frage – wo gehören diese Ahnen-Gedenkköpfe hin? In die Museen der Welt, in Museen in Nigeria, in den Königspalast in Benin City, in ein Nationalmuseum von Nigeria oder zu anderen Familien, die vielleicht auch solche Köpfe besessen haben? TC 04:53 – Die kolonialistische Haltung MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:40) SPRECHERIN Wie soll man umgehen mit den Benin-Bronzen, die zum großen Teil geraubt wurden und jetzt in Museen und privaten Sammlungen weltweit verteilt sind? Diese Debatte wird seit einigen Jahren hochemotional geführt. Vor allem in Nigeria, dem Staat, in dem sich das Gebiet des Königreich von Benin heute befindet - nicht zu verwechseln mit dem Staat Benin, der weiter westlich liegt. Die Nigerianerin Oluwatoyin Sogbesan ist Kunsthistorikerin und Spezialistin für Fragen des kulturellen Erbes Afrikas. Die Benin-Bronzen sind für sie nur ein Beispiel für ein größeres Problem. ZUSPIELUNG 4 (Toyin - Afrika ist von außen leichter zu studieren als von innen ) Overvoice weiblich Es ist leichter, afrikanische Kultur in Museen auf der ganzen Welt zu erleben, als in Afrika. Alles wurde geplündert. Wie sollen wir unsere Geschichte zusammenfügen und verstehen? Denn das sind ja eigentlich Dinge, die die Kreativität und Fähigkeiten unserer Vorfahren verdeutlichen. So wird klar, was wir waren und wer wir sind. SPRECHER Es geht also bei der Diskussion um die Benin-Bronzen darum, wie Unrecht aus der Kolonialzeit wieder gut gemacht werden kann und auch um die Frage, wie sehr kolonialistisch geprägtes Denken bis heute wirkt. Auf der Suche nach Antworten muss man erstmal zurück an den Anfang. SPRECHERIN Denn schon im Jahr 1897, kurz nach dem britischen Raubzug, sorgen die Benin-Bronzen für Diskussionen. So heißt es im Bericht der Münchner Neuesten Nachrichten damals weiter: ZITATOR [Es] wurden Bronzegüsse aufgedeckt in einer Größe und in einer Vollendung… SPRECHER … wie man sie den Schwarzen niemals zugetraut hätte. Die Kunstwerke stellen alte Gewissheiten in Frage. Ja sogar die Argumentation, die der Unterwerfung des afrikanischen Kontinentes zugrunde lag, gerät ins Wanken, als die Benin-Bronzen nach Europa kommen. ZUSPIELUNG 5 (Eisenhofer Kolonialkritik) Der Tenor war ja, wir müssen Afrika kolonisieren, um die an die höheren Weihen der Zivilisation heranzuführen. Und jetzt stieß man auf diese tollen Kunstwerke, und das brachte die Befürworter des Kolonialismus in Erklärungsnot. Und kolonialkritische Kreise hatten halt gesagt, ihr erzählt uns immer Afrikaner, sind ohne unsere kolonisierende Hand ja nicht fähig, großartige Sachen zu schaffen. Wie erklärt ihr uns das jetzt? Und es wurden dann sehr schnell Erklärungsmodelle geschaffen, indem es hieß ja, das ist ja auch nicht von Afrikanern geschaffen worden, sondern wahrscheinlich von Arabern, die irgendwie aus dem Norden da waren, oder vielleicht von Europäern, die dort an Land gingen und dort blieben. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:32) SPRECHER So erklärt sich auch die Deutung des britischen Offiziers Reginald Bacon. Er war schnell von ägyptischem Einfluss ausgegangen. Aber es werden nicht nur die Fähigkeiten der Künstler des Königreiches von Benin angezweifelt. Es wird auch verkündet, man müsse die Benin-Bronzen nach Europa bringen und damit “retten”. Würden sie vor Ort in Westafrika bleiben, wären sie bald zerstört und damit Kunst von Weltrang unwiederbringlich verloren. Eine Sichtweise, die überheblicher kaum sein könnte. SPRECHERIN Dass die Benin-Bronzen tatsächlich vor Ort hergestellt wurden, wird inzwischen von niemandem mehr angezweifelt. Die Kunst der Bronze-Guss-Technik wird bis heute in Benin-City in Handwerkerfamilien von Generation zu Generation weitergegeben. SPRECHER Während die Herstellung der Benin-Bronzen also sehr konkret beschrieben werden kann, ist die Antwort auf eine andere Frage komplexer  - nämlich warum die Kunstwerke geschaffen wurden. SPRECHERIN Dies ist eines der Schwerpunkte in der Forschung von Oluwatoyin Sogbesan. Die Kulturhistorikerin möchte dabei zuerst ein Missverständnis aufklären. TC 08:50 – Geraubte Heiligtümer und Identität ZUSPIELUNG (8 Toyin – mehr als Kunst) Overvoice weiblich Was oft als afrikanische Kunst bezeichnet wird, sind eigentlich Objekte, die eine wichtige Funktion haben. Sie werden genutzt für rituelle Zeremonien, für traditionelle Verehrung. Für die Menschen in Benin waren Sie ein Zeichen für die Macht des Oba, des Königs. Sie waren heilig, weil sie die früheren Könige ehrten. Viele der Benin-Bronzen stellen einen verstorbenen Oba dar. Sie galten als ein Medium, durch das der amtierende Oba mit seinen Vorfahren kommunizieren konnte. [Auch deshalb mussten sie so hochwertig ausgearbeitet werden.] Nochmal: Die Benin-Bronzen waren viel mehr als nur Kunstwerke. SPRECHERIN Die Benin-Bronzen sollten also vor allem durch ihre prunkvolle Gestaltung die Macht des Oba, also des Herrschers über das Königreich von Benin, symbolisieren. Aber die Objekte hatten noch eine zweite Funktion. Denn während in europäischen Kulturen Ereignisse seit Jahrhunderten schriftlich festgehalten wurden, gab es diese Tradition in den meisten afrikanischen Gesellschaften nicht. Daher spielen die Benin-Bronzen eine besonders wichtige Rolle, vor allem die Reliefplatten. ZUSPIELUNG (9 Toyin - historical recording) Overvoice weiblich Sie waren auch Objekte der Geschichtsschreibung. Das ist sozusagen die Art und Weise, wie Afrika schreibt. Jede Platte ist damit wie eine Seite in einem Geschichtsbuch. Man kann zum Beispiel Leoparden sehen, also Tiere mit denen die Menschen früher zu tun hatten. Die Benin-Bronzen waren also für die Menschen eine Möglichkeit, Ereignisse festzuhalten. SPRECHER Im Münchner Museum Fünf Kontinente erklärt Stefan Eisenhofer, der Kurator der Afrika-Abteilung, wie das konkret aussehen kann. Er zeigt im Ausstellungsraum einer dieser Bronzeplatten. Darauf sind unter anderem portugiesische Seefahrer zu sehen. ZUSPIELUNG 10 (Eisenhofer Portugiesen) Die Portugiesen erkennt man an diesen geraden Haaren, an diesen Schnittlauchhaaren und den sehr geraden Nasen. Also Europäer wurden von den Gießen in Benin sehr stereotyp dargestellt. Lange, glatte Schnittlauchhaare und eben sehr spitze, lange Nasen, während sie die Einheimischen mit sehr breiten Nasen dargestellt haben. Sie sehen hier auch zwei Würdenträger dargestellt auf dieser Benin-Platte. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:40) SPRECHERIN Die Erforschung der Benin-Bronzen ist enorm kompliziert. Es ist nicht nur oft schwer zu deuten, was genau auf den Platten zu sehen ist oder wen ein Ahnenkopf darstellen soll - auch eine genaue Datierung ist meist nicht möglich, weil eben weitere Erklärungen oder schriftliche Ergänzungen fehlen. Es wird davon ausgegangen, dass die ältesten Bronzen aus dem 12. Jahrhundert stammen. TC 11:57 – Die zähe Geschichte einer Rückgabe SPRECHER Dass so wenig bekannt ist, liegt auch daran, dass die Briten 1897 den Palast des Oba weitgehend zerstörten und auch viele Würdenträger ermordeten. Diese gaben oft historisches Wissen mündlich an folgende Generationen weiter. SPRECHERIN Die Folge ist für Oluwatoyin Sogbesan eine Wissenslücke zwischen den Generationen - bis heute. ZUSPIELUNG 12 (Toyin - Gap) Ohne Overvoice SPRECHERIN Gerade weil die Benin-Bronzen so zentral sind für die Geschichtsschreibung eines ganzen Volkes und damit auch für dessen Identität, wurde der Raubzug zu einem zentralen Beispiel für koloniales Unrecht. Die Debatten um eine Restitution, also die Rückgabe, wird international verfolgt. SPRECHER Ein Rückblick: In den 1930er Jahren fordert der Hof von Benin erstmals offiziell von der britischen Krone die Rückgabe der Kulturgüter. Der Erfolg ist gering. Doch der Wunsch bleibt bestehen. 1960 wird Nigeria 1960 unabhängig von Großbritannien. Das Königreich von Benin ist nun Teil dieses neuen Staates. Der traditionelle Herrscher, der Oba, übt wieder großen Einfluss aus. SPRECHERIN 1972 wird in Benin-City ein Museum geplant, in dem auch Benin-Bronzen ausgestellt werden sollen. Nigerianische Diplomaten bitten darum, einige Stücke als Dauerleihgaben aus Deutschland zu bekommen. Sie stützen sich damals auf den Internationalen Museumsrat. Das Gremium hat empfohlen, geraubte Kulturgüter den noch jungen afrikanischen Staaten zurückzugeben. So soll ihnen ein besserer Zugang zur eigenen Kultur ermöglicht werden. SPRECHER Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin lehnt die Anfrage aus Nigeria damals allerdings umgehend ab. Sie besitzt die zweitgrößte Sammlung von Benin-Bronzen weltweit. Das Land habe keinen „moralischen Anspruch“ auf die Objekte und die Erwerbungen der Berliner Museen seien “von jedem Makel frei”. SPRECHERIN An dieser Haltung wird sich in den folgenden Jahren wenig ändern. Es entsteht das, was die Kunsthistorikerin Benedicte Savoy eine “Sperrmauer der Institutionen” nennt. Währenddessen blüht der internationale Markt für die Benin-Bronzen weiter. SPRECHER Noch 2007 ersteigert ein privater Bieter beim Auktionshaus Sotheby`s einen bronzenen Kopf aus Benin für fast fünf Millionen Dollar. Eine Versteigerung ähnlicher Stücke einige Jahre später muss dann allerdings gestoppt werden. Die öffentliche Kritik ist zu groß geworden. MUSIK: „Area codes“ – Z8020134#106 (0:34) SPRECHERIN Auch auf Ebene der Wissenschaft tut sich etwas. 2010 wird in Deutschland die Benin-Dialogue-Group gegründet. Es geht um eine engere Zusammenarbeit zwischen deutschen, britischen oder niederländischen Museen, die Benin-Bronzen besitzen, und Einrichtungen in Nigeria. Die Restitution ist dabei erstmal kein Thema. Stattdessen soll der Austausch von Informationen zu Sammlungen oder einzelnen Objekten intensiviert werden. SPRECHER Nach und nach tritt auch die nigerianische Seite deutlicher auf. Sie bittet nicht mehr. Oluwatoyin Sogbesan und andere fordern die Rückgabe mit Nachdruck ein. ZUSPIELUNG 14 (Toyin Fliegen) Overvoice weiblich Menschen machen sich von Nigeria aus auf den Weg, um die Benin-Bronzen in Museen überall in der Welt zu sehen. Warum können nicht Menschen aus aller Welt nach Nigeria reisen? Ihr könnt ja Kopien haben. Und wenn ihr das Original sehen wollt, dann müsst ihr eben nach Nigeria kommen. Lasst uns den Spieß umdrehen! SPRECHERIN Eine Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Ende 2017 beschleunigt dann die Entwicklung. In seiner fast zweistündigen Rede vor Studierenden in Burkina Faso verkündet er ein Umdenken: ZUSPIELUNG 15 (Rede Macron) Overvoice männlich Ich kann nicht hinnehmen, dass sich ein Großteil des kulturellen Erbes vieler afrikanischer Staaten in Frankreich befindet. Es gibt historische Erklärungen dafür, aber keine wirkliche Rechtfertigung. Das Erbe Afrika darf nicht nur in privaten Sammlungen und europäischen Museen zu finden sein. SPRECHER Damit kündigt Macron wohl so deutlich wie kein anderer europäischer Staatschef vor ihm die Rückgabe von Kulturgütern an. Ein Schritt, der auch Museen und Politik in Deutschland unter Druck setzt. Wie soll man weiter mit den Benin-Bronzen umgehen? SPRECHERIN Zur Erinnerung: Jahrzehntelang waren Forderungen aus Nigeria nicht ernst genommen und abgelehnt worden. Anfang der 1970er Jahre hieß es noch, Nigeria habe keinen Anspruch auf die Benin-Bronzen. Auf einmal geht es dann schnell: Im Juli 2022 unterzeichnen die deutsche Bundesregierung und die Regierung Nigerias eine gemeinsame Erklärung. Darin heißt es gleich am Anfang: ZITATOR Wir bekräftigen das Ziel, die Benin-Bronzen ohne Bedingungen an Nigeria zurückzugeben. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (1:10) SPRECHER Und wenige Monate später werden in Nigeria die ersten Objekte feierlich übergeben. Mehrere hundert weitere sollen folgen. Teilweise sollen aber auch Bronzen als Dauerleihgaben in deutschen Museen bleiben - mit dem Hinweis auf die neuen Eigentümer. In allen Erklärungen und Vereinbarungen schwingt die Hoffnung mit, dass mit diesen Regelungen die jahrzehntelangen Debatten beendet werden können. TC 17:49 – Immer noch Streit SPRECHERIN Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Innerhalb Nigerias entwickelt sich eine neue Kontroverse um die Benin-Bronzen. Wem sollen sie gehören? Wer soll sich um die Aufbewahrung und Ausstellung kümmern? Und da wird es kompliziert. Dem Staat Nigeria wurden die Bronzen offiziell übergeben. Aber auch der amtierende Oba, der traditionelle Herrscher über das Königreich von Benin, hat Ansprüche angemeldet. SPRECHER Mit Erfolg: Der frühere nigerianische Staatspräsident Buhari hat die Bronzen inzwischen dem Oba übergeben. Die Begründung: Er sei der rechtmäßige Eigentümer, weil seine Vorgänger die meisten Werke in Auftrag gegeben und im Königspalast aufgestellt hatten. Allerdings ist die Sorge vieler Beobachter, dass die Bronzen nun dort verschwinden und nicht mehr in einem öffentlichen Museum gezeigt würden. So war es eigentlich geplant. SPRECHERIN Und eine weitere Partei hat sich eingeschaltet. Denn ein weiterer Aspekt gehört zu den Benin-Bronzen: Ihre Herstellung wurde auch durch einen florierenden Sklavenhandel finanziert. Dieser wiederum wurde vom Königshaus von Benin durch aggressive Eroberungskriege am Laufen gehalten. Die Nachfahren dieser Sklaven bezeichnen die Benin-Bronzen deshalb als “Blut-Metalle” und kritisieren die pauschale Rückgabe an Nigeria. Sie sehen die Kunstwerke auch als Teil des eigenen kulturellen Erbes und möchten mitbestimmen, was mit ihnen passiert. SPRECHER Stefan Eisenhofer vom Münchner Museum Fünf Kontinente wirbt für, eine ruhige Auseinandersetzung. ZUSPIELUNG 16 (Eisenhofer überhastet) Also ich würde allen Parteien eigentlich wünschen, dass man sich nicht von der Politik her treiben lässt, wie das zum Teil im Moment so der Fall ist. Also ich würde mir wünschen, dass man sich viel mehr Zeit nimmt, um Gespräche zu führen mit unterschiedlichen Akteuren in Nigeria, auch um um einfach , ja, zu sehen, die angemessenste Lösungen zu finden, wie man damit umgeht, also so, wie es im Moment so stattfindet, möglichst schnell zurückgeben, um irgendwie Schuld gutzumachen. Und dann haben wir unsere Ruhe - also das ist in meiner Sicht nicht der richtige Weg. SPRECHERIN Oluwatoyin Sogbesan warnt allerdings vor einer weiteren Einmischung. Sie betont, dass die Rückgabe bedingungslos erfolgt sei. Was mit den Bronzen weiter passiere, sei allein eine Angelegenheit Nigerias. ZUSPIELUNG 17 (Toyin in dein Haus kommen) Overvoice weiblich Es ist, als würde ich in dein Haus kommen, ohne zu fragen, die Tür öffnen und dann sage ich, was du mit deinen eigenen Sachen machen sollst. Die Debatte ist zum Teil immer noch nicht an einem Punkt angelangt, wo wir eine gemeinsame Grundlage haben. SPRECHER Es sind also trotz jahrzehntelangen Debatten immer noch zentrale Aspekte ungeklärt. Ein Rätsel konnte aber gelöst werden - mit überraschendem Ergebnis. Es ging dabei um die Frage, woher das Metall kam, das für den Guss der Benin-Bronzen verwendet wurde. Schon länger war vermutet worden, dass es aus einer einzigen Region stammt. SPRECHERIN Wissenschaftler aus Bochum konnten das bestätigen und mit chemischen Analysen nachweisen, dass das Metall für die Benin-Bronzen vor allem aus Deutschland stammt. Genauer aus der Region zwischen Köln und Aachen. Das Messing, das dort hergestellt wurde, war vor allem wegen seiner besonderen Fließfähigkeit begehrt bei Gießern in Benin. MUSIK: „A Wolfs Ghost“ – Z8032448#118 (0:30) SPRECHER Auch wenn die Benin-Bronzen damit eine deutlich größere Verbindung zu Deutschland haben als lange bekannt war - die Restitutionsdebatte verändert die Erkenntnis nicht. Denn ein legitimer Anspruch auf die Kunstgüter lässt sich daraus nicht ableiten. TC 21:47  - Outro
undefined
Feb 16, 2024 • 24min

BLACK HISTORY - Afrikas Ausverkauf auf der Berliner Konferenz

Wer sich die Staatsgrenzen afrikanischer Staaten auf der Landkarte anschaut, sieht, dass manche von ihnen wie mit dem Lineal gezogen wirken. - Und genauso war es auch. Auf der sogenannten Berliner Konferenz oder Kongo-Konferenz von 1884/85 fand der koloniale Ausverkauf Afrikas statt. Februar ist "Black History Month". Von Gerda Kuhn (BR 2009) Credits Autorin: Gerda Kuhn Regie: Dorit Kreissl Es sprachen: Christiane Roßbach, Rainer Buck Technik: Lydia Schön Redaktion: Brigitte Reimer Im Interview: Dr. Thomas Reinhardt Linktipps:Deutschlandfunk Kultur (2020): Europas koloniales Erbe in Afrika Europas Kolonialismus hat den afrikanischen Kontinent geprägt und tut das bis heute. Höchste Zeit, dass Europa sich dekolonisiert, sagen Experten. Dabei geht es um Wirtschaftsbeziehungen ebenso wie um Kultur. JETZT ANHÖREN ARD alpha (2024): Die Erfindung des Rassismus in FarbeEine Pioniertat prägt in jahrzehntelang das Bild von Afrika und den Afrikanern und legt ab dem Jahr 1907 die fotografischen Grundlagen des Rassismus: die Reise des jungen Fotografen Robert Lohmeyer (1879-1959) aus dem westfälischen Gütersloh in die deutschen Kolonien Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) und Deutsch-Ostafrika (heute Tansania). Er soll die Kolonien auf dem Höhepunkt des Imperialismus in Farbe fotografieren, um die Begeisterung der Bevölkerung für die fernen Besitzungen anzuregen. Es handelt sich um eine akribisch geplante PR-Aktion des Kaiserreichs. Es ist auch die "Erfindung" Afrikas und des Rassismus in Farbe, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 03:06 - Geiz und Prestige der europäischen Herrscher TC 05:05 - Mit Stift und Lineal TC 12:26 - Über alle Köpfe hinweg TC 15:35 - Die Flagge folgt dem Handel: Das deutsche Kolonialvorgehen TC 18:53 - Plünderung, Sklaverei und Gräueltaten TC 23:03 – OutroLesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: 00:15 – Intro Musik    (Pathetisch, patriotisch, getragen) ZITATOR [„Im Namen des Allmächtigen Gottes (…)“] ERZÄHLERIN „Artikel 6: Bestimmungen hinsichtlich des Schutzes der Eingeborenen, der Missionare und Reisenden, sowie hinsichtlich der religiösen Freiheit“: ZITATOR „Alle Mächte, welche in den gedachten Gebieten Souveränitätsrechte oder einen Einfluß ausüben, verpflichten sich, die Erhaltung der eingeborenen Bevölkerung und die Verbesserung ihrer sittlichen und materiellen Lebenslage zu überwachen und an der Unterdrückung der Sklaverei mitzuwirken.” ERZÄHLER: So pompös und vermeintlich nächstenliebend gibt sich die Präambel im Schlussdokument der Berliner Afrika-Konferenz 1885 - einer Zusammenkunft, die über das Schicksal von Millionen Menschen gleichsam am Pokertisch entscheidet. Mit dabei sind Deutschland, die USA, das Osmanische Reich sowie Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Portugal, Russland, Spanien und Schweden-Norwegen. Sie alle wollen den Eindruck erwecken, in göttlichem oder doch zumindest in christlichem Auftrag zu handeln. Tatsächlich aber verfolgen sie ausschließlich strategische und wirtschaftliche Eigeninteressen. So ist das eben im ausgehenden 19. Jahrhundert: den Mächtigen dieser Welt fällt es relativ leicht, sich und ihre Staaten als das Zentrum von Kultur und Zivilisation zu sehen, von dem aus der Rest der Welt huldvoll zu beglücken ist – notfalls auch mit Gewalt. Und natürlich im Namen Gottes. MUSIKAKZENT schrill, schräg, anklagend ERZÄHLERIN: Äußerer Anstoß für die Berliner Afrika-Konferenz – oder Kongo-Konferenz - ist die Frage, wer das Kongo-Becken ausbeuten darf: ein riesiges Gebiet entlang des zweitlängsten und wasserreichsten Flusses in Afrika. Europäer halten sich zu diesem Zeitpunkt allenfalls in den afrikanischen Küstenregionen auf; ins Landesinnere stoßen die wenigsten vor. Der Ethnologe Thomas Reinhardt von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität: O-Ton Reinhardt: „Die Kolonisierung hat begonnen kurz nach der Entdeckung des Chinins und der Malaria hemmenden Wirkung des Chinins. Davor war Afrika einfach dieses „Grab des weißen Mannes“.“ TC 03:06 – Geiz und Prestige der europäischen Herrscher ERZÄHLER: Das Interesse am Kongo wird durch den britischen Journalisten und Abenteurer Henry Morton Stanley geweckt. Als Reporter erhält er den Auftrag, den verschollenen Missionar und Afrika-Forscher David Livingstone zu finden. Er entdeckt ihn schließlich halbverhungert am Tanganijka-See. In den folgenden Jahren durchquert Stanley Afrika von Osten nach Westen. Er wird zum selbsternannten Kongoforscher; braucht dafür aber Geldgeber. MUSIK afrikanisch, rhythmisch ERZÄHLERIN: Als sein Heimatland England kein Interesse zeigt, schafft Stanley es, Leopold II. für seine Idee zu begeistern. Der belgische Monarch aus dem deutschen Adelsgeschlecht Sachsen-Coburg und Gotha ist seit langem auf der Suche nach Möglichkeiten, sein Selbstwertgefühl und seine finanziellen Mittel zu vergrößern. Das Kongogebiet, reich an Bodenschätzen, Anbauflächen und wilden Tieren, verspricht ansehnlichen Profit. Doch Leopold ist clever genug, seine kolonialen Gelüste zunächst hinter vermeintlich noblen Zielen zu verstecken. Er wolle zur Erforschung Afrikas und zum Kampf gegen die Sklaverei beitragen, lässt er erklären. ZITATOR: „Es geht darum, den einzigen Teil des Globus, den die Zivilisation noch nicht durchdringen konnte, für sie zu öffnen und die Finsternis zu durchbrechen, die noch ganze Völkerschaften umgibt. Man muss einen Kreuzzug führen, der diesem Jahrhundert des Fortschritts würdig ist.“ ERZÄHLER: Im „Namen des Fortschritts“ wird die Unterjochung der Völker Afrikas vorbereitet. Dem schwarzen, dunklen – sprich: unzivilisierten – Kontinent soll das Licht des aufgeklärten Europa gebracht werden. Soweit die offizielle Lesart. Doch wie so oft in der Geschichte sind Lippenbekenntnisse das eine, Realpolitik das andere. Beim großen Run auf Kolonien geht es vor allem um das Machtgleichgewicht in Europa. Als man in Deutschland beginnt, an ein Kolonialreich zu denken, ist die Welt eigentlich schon vergeben. Engländer, Spanier, Portugiesen und Franzosen haben in Afrika, Asien, Australien und Amerika bereits riesige Gebiete unter ihr Protektorat gestellt. Deutschland, die „späte Nation“, schafft erst 1871 die Reichsgründung, jetzt erst beginnt man in Berlin darüber nachzudenken, wie auch die Deutschen „einen Platz an der Sonne“ – sprich: ein Kolonialreich - ergattern könnten. ERZÄHLERIN: Dabei ist Bismarck, der große Jongleur der Macht, zunächst nicht an Kolonien interessiert. Er zweifelt an ihrer Wirtschaftlichkeit und ihrem strategischen Wert. Aber die weltweite britische Kolonial-Vorherrschaft verfolgt auch er mit Unbehagen. Die alte Seemacht England hat schon früh ihre Einfluss-Zonen gesichert. Vor allem das britische Kolonialreich in Indien weckt den Neid der europäischen Konkurrenten. Der indische Subkontinent gilt als das „schönste Juwel in der britischen Krone“. Kein Wunder, dass sich auch in anderen Ländern gekrönte und ungekrönte Häupter mit derartigen Juwelen schmücken wollen. ERZÄHLER: Über Bismarcks wahre Motive bei der Kongo-Konferenz ist viel spekuliert worden. Immerhin schreibt er in verblüffender Ehrlichkeit an den Rand einer Passage in der Konferenzvorlage das Wort „Schwindel“. Doch 1884 stehen Wahlen vor der Tür und Bismarck muss Rücksicht nehmen auf die mit ihm verbündete Nationalliberale Partei, die bereits deutlich vom „Kolonialfieber“ infiziert ist. Immerhin ist der Besitz von Kolonien inzwischen in ganz Europa zu einer Frage des nationalen Prestiges geworden. TC 06:50 – Mit Stift und Lineal ERZÄHLERIN: Am 15. November 1884 ist es dann soweit: Die Herren treffen erstmals im Reichskanzlerpalais in der Berliner Wilhelmstraße 77 zusammen. Leopold II. hat die Konferenz eingefädelt, bleibt aber selbst im Hintergrund. Der Monarch schickt seinen Vertrauten vor, Baron Gerson Bleichröder, der auch für Bismarck als Bankier und Berater in internationalen Finanzfragen tätig ist. Leopold will den Reichtum des Kongo für sich, sozusagen als private Schatztruhe. Der Ethnologe Thomas Reinhardt: O-Ton Reinhardt: „Leopold II., König von Belgien, ist eine der zentralen Figuren bei dieser Konferenz, obwohl er selbst überhaupt nicht da war. Leopold hat in den 1870er Jahren eng zusammengearbeitet mit Henry Morten Stanley, der den Kongo überhaupt erst einmal kartographiert hatte; es war ja lange Zeit völlig unbekannt, wo der Kongo entspringt, und Leopold hatte vor, so eine Art Privatreich einzurichten im Kongobecken, und das war einer der Punkte, der verhandelt werden sollte: Wie soll mit diesem Riesengebiet umgegangen werden? Soll es in eine Freihandelszone umgewandelt werden? Stanley hat tatsächlich im Auftrag Leopolds an dieser Konferenz teilgenommen.“ ERZÄHLER: Als eher unbedeutender Staat braucht Belgien für seine Kongo-Pläne die Zustimmung oder zumindest die Duldung der großen europäischen Mächte. Immerhin erhebt inzwischen Portugal Anspruch auf die Kongo-Mündung. Dem deutschen Reichskanzler wird die Afrika-Konferenz durch das Versprechen schmackhaft gemacht, er könne sich als „ehrlicher Makler“ profilieren. Welcher Politiker verzichtet schon gerne auf die Chance, das eigene Image kräftig aufzupolieren? Musikakzent: Afrikanische Trommeln ERZÄHLERIN: Die „Kongo-Konferenz“ wird in Berlin wochenlang angekündigt. An vielen Plätzen der Stadt hängen Plakate, die für „Völkerschauen“ mit afrikanischen Tänzern im Berliner Zoo werben. Kitschige Postkarten mit kolonialen Motiven sind in Mode. Auch ideologisch wird in der Presse und in öffentlichen Diskussionen das Terrain bereitet. Die Propaganda behauptet, in Afrika gäbe es noch „Niemandsland“ zu verteilen, sogenannte „weiße Flecken“. Diese müssten vermessen und besiedelt werden. Die einheimische afrikanische Bevölkerung gehört dieser Logik zufolge zur Kategorie „niemand“. ERZÄHLER: Die Delegierten, die drei Monate lang in Berlin konferieren werden, haben wenig Ahnung von Afrika, dafür aber relativ genaue Vorstellungen, welchen Gewinn sie sich für ihr eigenes Land erhoffen. Allerdings macht sich kein Staatsoberhaupt die Mühe, extra zu der Konferenz nach Berlin zu reisen. Thomas Reinhardt: O-Ton Reinhardt: „Es lief wohl so ab, dass das Botschaftspersonal, das in Berlin ohnehin versammelt war, an dieser Konferenz teilnahm. Das war also keineswegs die erste Garde der jeweiligen Diplomatie, sondern es waren die Vertreter der einzelnen Nationen in Deutschland, zum Teil auch durchaus untergeordnetes Botschaftspersonal.“ ERZÄHLERIN: Der Konferenzsaal wird von einer fünf Meter hohen Afrika-Karte dominiert. Zwar fehlt darauf das eine oder andere geographische Detail, doch allzu sehr wollen sich die Versammelten ohnehin nicht in Einzelheiten verlieren. Lord Salisbury, der britische Delegationsleiter, gibt später in einem Interview mit der London Times zu: ZITATOR: „Wir haben Linien auf Karten eingetragen, in Gegenden, die noch nie ein Weißer betreten hat; wir haben uns gegenseitig Berge und Flüsse und Seen zugesprochen, mit dem einzigen kleinen Schönheitsfehler, dass wir niemals genau wussten, wo diese Berge und Flüsse und Seen lagen.“ ERZÄHLERIN: Es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, … O-TON Thomas Reinhardt: … dass die meisten Delegierten der Konferenz von Afrika nicht mehr wussten als auf den Servietten abgedruckt war – nämlich eine Umrisskarte des Kontinents. ERZÄHLER: Doch solche „Schönheitsfehler“ halten die Europäer nicht auf. Vom großen Kuchen Afrika wollen sich alle ein Stück abschneiden. Zwar fallen auf der Konferenz noch keine Entscheidungen über den Verlauf der künftigen Grenzen, aber die Modalitäten für den Ausverkauf Afrikas werden festgelegt. Später wird es auf der Landkarte aussehen, als seien in Afrika manche Ländergrenzen schnurgerade wie mit dem Lineal gezogen worden - quer zu den Lebensräumen der afrikanischen Bevölkerungsgruppen. Zusammengehörende Völker werden auseinandergerissen, verfeindete Gruppen in einem neuen Kunststaat zusammengepfercht. Die Grundlage vieler ethnischer Konflikte, die den afrikanischen Kontinent bis heute erschüttern, ist gelegt. O-TON Thomas Reinhardt: „Es gibt bestimmt Fälle, in denen eine dieser kerzengeraden Grenzen mitten durch das Siedlungsgebiet einer Ethnie verläuft. Ich glaube aber, das viel, viel größere Problem ist, welche Gesellschaften wurden gezwungen, innerhalb von Staatsgrenzen zusammen zu leben. Nehmen wir ein Land wie Nigeria, ein Land, in dem 250 radikal verschiedene Sprachen gesprochen werden, wo es traditionell eine Reihe größerer Staatsgebiete gab, die durch die koloniale Grenzziehung plötzlich gezwungen waren, so etwas wie eine nationale Identität aufzubauen, und das hat ja in den wenigsten Fällen geklappt.“ TC 12:26 – Über alle Köpfe hinweg ERZÄHLERIN: Welche hehren Worte die Vertreter der 14 Konferenz-Teilnehmerstaaten auch offiziell für ihr Vorhaben finden – besonders beliebt ist das Argument, man wolle die Sklaverei bekämpfen – eine Tatsache ist nicht zu übersehen: Kein einziger Afrikaner sitzt am Berliner Konferenztisch. Die, über deren Schicksal entschieden wird, sind nicht präsent. Der britische Botschafter, Sir Edward Malet, in seiner Eröffnungsrede: ZITATOR: „Ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass in unserem Kreis keine Eingeborenen vertreten sind, und dass die Beschlüsse der Konferenz dennoch von größter Wichtigkeit für sie sein werden." MUSIK afrikanisch, rhythmisch ERZÄHLER: Von größter Bedeutung werden die Entscheidungen für die afrikanische Bevölkerung in der Tat sein. Sie sind der Startschuss für die rasche und umfassende Kolonialisierung Afrikas. O-Ton Thomas Reinhardt: „Mitte der 1870er Jahre waren etwa zehn Prozent Afrikas von Europäern offiziell in Besitz genommen, 25 Jahre später war es praktisch der gesamte Kontinent.“ ERZÄHLER: Mit den Kolonialherren kommen die Kolonialsprachen. Ihre Beherrschung ist Voraussetzung für alle, die in Staat und Verwaltung arbeiten wollen. Und natürlich dominieren sie auch an den Schulen – an denen vor allem Geschichte und Kultur der jeweiligen Kolonialmacht vermittelt werden. So lernen Generationen von jungen Afrikanern alles über Shakespeare, ohne jemals auch nur eine einzige Zeile eines einheimischen Schriftstellers gelesen zu haben. Ähnliches gilt für den französischsprachigen Raum: O-Ton Thomas Reinhardt „Aus den französischen Kolonien kennen wir diese Geschichten von den Schulbüchern, den Lesefibeln, die beginnen mit Ausführungen über „Unsere Vorfahren, die Gallier“ – was natürlich absurd ist, wenn man es im Senegal liest oder in Kamerun.“ MUSIK afrikanisch, rhythmisch ERZÄHLERIN: Lange Zeit überlässt die deutsche Politik in Sachen Kolonialismus den Kaufleuten das Feld – auch wenn sich beide Seiten insgeheim die Bälle zuspielen. Reisende und Abenteurer machen die deutsche Regierung auf vermeintlich „herrenlose“ afrikanische Gebiete aufmerksam. Wo immer ein Stück Land entdeckt wird, auf das keine andere Kolonialmacht Anspruch erhebt, wird die eigene Fahne gehisst. ERZÄHLER: Ein auch bei den Deutschen beliebtes Verfahren ist es, mit afrikanischen Stammesführern sogenannte „Schutzverträge“ abzuschließen. Die einheimischen Clanchefs, die meist weder lesen noch schreiben können, wissen in der Regel gar nicht, was sie unterschreiben. Was es beispielsweise bedeutet, sich „unter den Schutz des deutschen Reiches“ zu stellen. Eine der folgenreichsten Klauseln lautet: ZITATOR: "… dass alle Arbeiten, Verbesserungen oder Expeditionen, welche die genannte Association zu irgendwelcher Zeit in irgendeinem Teil dieser Gebiete veranlassen wird, durch Arbeitskräfte oder auf andere Weise unterstützt werden." ERZÄHLERIN: Den Kolonialmächten dienen derartige Formulierungen später als Rechtfertigung, die afrikanische Bevölkerung zur Zwangsarbeit zu verpflichten. TC 15:35 – Die Flagge folgt dem Handel: Das deutsche Kolonialvorgehen ERZÄHLER: Auch der berüchtigte Abenteurer Carl Peters schließt nach diesem Muster einen angeblichen "Vertrag", der ihm weite Gebiete Ostafrikas zugesteht - "für ein paar Flinten", wie Otto von Bismarck spottet. Peters tut sich besonders als Propagandist für ein deutsches Kolonialreich hervor: ZITATOR: „Genau wie Deutschland nach der aktiven, so ist Ostafrika kolonisationsbedürftig nach der passiven Seite hin. Die üppigen Landschaften, verödet durch jahrhundertelange Sklavenjagden, liegen da wie die Obstbäume der Frau Holle und harren der Hand, die bereit ist, den reichen Segen zu ernten. Selbst in den Schwarzen dämmert die Erkenntnis auf, dass es besser mit ihnen werden wird, wenn Weiße als Herren des Landes unter ihnen wohnen.“ (….) MUSIK ERZÄHLERIN: Peters erwirbt in Ostafrika Gebiete ohne offizielle Genehmigung der deutschen Regierung. Für 2000 Reichsmark kauft er ein Gebiet so groß wie ganz Süddeutschland. 1884 gründet er die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“, die deutsche Siedler zur Auswanderung nach Afrika ermuntern soll. In Berlin verhält man sich zunächst abwartend. Doch als Peters droht, mit dem belgischen König Leopold II. zu verhandeln, gerät man unter Druck. O-Ton Reinhardt: „Meine Vermutung wäre, dass doch die Initiative zunächst von privaten Kaufleuten ausging. Also die Gesellschaft für deutsche Kolonien etwa, die relativ große Landgebiete in Afrika schon erworben hatte und die einfach auch geschützt wissen wollte, in militärischer Weise, durch eine offizielle Kolonisierungspolitik.“ MUSIK   preußisch, militärisch ERZÄHLER: Aus Berlin gibt es nun "kaiserliche Schutzbriefe" für die okkupierten Gebiete. Mit Bismarcks berühmtem Telegramm an den deutschen Generalkonsul in Kapstadt am 24. April 1884 beginnt die deutsche Kolonialgeschichte. Er stellt darin die Erwerbungen von Adolf Lüderitz in Angra Pequena, dem heutigen Lüderitzbucht in Namibia, unter den Schutz des Deutschen Reiches. Das Gebiet umfasst 580 000 Quadratkilometer mit rund 200 000 Einwohnern. Die deutsche Herrschaft in der späteren Kolonie Deutsch-Südwestafrika wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Massenmord an den Herero und Nama zu trauriger Berühmtheit gelangen. ERZÄHLERIN: Peters wird übrigens auch später noch Schlagzeilen machen: So erschließt er den Kilimandscharo mit Waffengewalt für Deutschland und empfiehlt dem Auswärtigen Amt, die dort ansässigen Warombo … ZITATOR: … „auszurotten wie die Rothäute Amerikas, um ihr breites und fruchtbares Gebiet der deutschen Kultivation zu gewinnen“. Musikakzent bitter, anklagend ERZÄHLERIN: Bismarck, der an der Kongo-Konferenz lediglich zu Beginn und zum Abschluss teilnimmt, tritt dafür ein, dass Afrika zur Freihandelszone wird. Im Klartext bedeutet das: Es soll keine Hindernisse geben für die Ausbeutung von Rohstoffen und Bodenschätzen. Der Hunger nach diesen Gütern ist durch die Industrialisierung in Europa immens gewachsen. TC 18:53 – Plünderung, Sklaverei und Gräueltaten  ERZÄHLER: Am Ende der Konferenz - man schreibt inzwischen den 26. Februar 1885 – haben sich die 14 Teilnehmerstaaten weitgehend geeinigt: O-Ton Thomas Reinhardt „In politischer Hinsicht das wichtigste Ergebnis war, das wirklich festgelegt wurde, auf welche Weise kann, darf, soll die Kolonisierung Afrikas künftig erfolgen? Das war durchaus ein dringendes Bedürfnis, denn in den späten 1870er, frühen 1880er Jahren begann die Kolonisierung im großen Stil. Hier war es einfach nötig – um Konflikte in Europa zu vermeiden - sich zu überlegen: welche Kriterien sind nötig, um ein britisches Kolonialreich zu etablieren, was gehört zum französischen Kolonialismus dazu, wie können wir das schaffen, dass dieser Wettlauf um Afrika vonstatten gehen kann, ohne dass es in Europa zu einem Krieg zwischen den beteiligten Nationen kommt.“ ERZÄHLER: Darüber hinaus wird vereinbart: O-Ton Thomas Reinhardt „Handelsfreiheit war das zweite, große Ergebnis. Man hat sich darauf verständigt, zwischen dem 5. Breitengrad nördlich und dem Sambesi ein riesiges Freihandelsgebiet einzurichten, in dem prinzipiell natürlich die Vertreter aller Nationen Handel betreiben durften.“ ERZÄHLERIN: Zudem wird Afrika für die christliche Mission freigegeben. Auch wenn sich nicht wenige Geistliche aus Idealismus zu ihrem Einsatz entschließen, so ist ihre Anwesenheit doch auch eine Demonstration des kolonialen Machtanspruchs der Weißen. ERZÄHLER: Großbritannien erhält in der Folge die wichtigsten Teile Ost- und Südafrikas sowie Ghana und vor allem das bedeutende Nigeria. Frankreich kann künftig über einen nahezu geschlossenen Raum verfügen, der die Sahara, die Sahelzone und Teile des Kongos umfasst. Deutschland wird Kolonialmacht und bekommt Togo und Kamerun, Südwestafrika, Tanganjika und die Insel Sansibar. Letztere tauscht es später gegen Helgoland ein. Auch Gebiete in Asien und Ozeanien werden den Deutschen zugesprochen. ERZÄHLERIN: Vor allem aber wird der Kongo-Freistaat, die private Kolonie des belgischen Königs Leopold II., von den europäischen Mächten anerkannt. Der Ethnologe Thomas Reinhardt: O-Ton Reinhardt „Der Kongo war reich, unglaublich reich an Bodenschätzen, das gilt ja heute nach wie vor, und es war offenbar ein Gebiet, auf das niemand Anspruch erhob. Das Erstaunliche ist ja auch, dass die Besitzansprüche Leopolds im Rahmen dieser Konferenz weitgehend anerkannt wurden. Man verständigte sich zwar darauf, dass der Kongo eine Freihandelszone sein solle, dass also Angehörige anderer Nationen ebenfalls den Fluss dort befahren dürfen, und Handel betreiben dürfen, aber letztendlich hat man Leopold dieses riesige Gebiet – vermutlich in Unkenntnis dessen, was für ein enormer Reichtum dort zu finden ist - einfach überlassen.“ MUSIK   düster, moll ERZÄHLER: Der Monarch hat damit sein ursprüngliches Ziel erreicht. Er hat nun freie Hand, um durch den Verkauf von Elfenbein, Palmöl und Kautschuk den größtmöglichen Profit herauszuschlagen, ein Handel, der auf Blut gegründet ist. Denn Leopold wird in seiner Privatkolonie ein Regiment führen, das an Grausamkeit kaum zu überbieten ist. Die Einheimischen werden versklavt, um Kautschuk im Urwald zu zapfen. Ist die Ausbeute der Arbeiter zu gering, werden ihnen die Hände abgeschlagen. Männer, Frauen, Kinder, werden verschleppt, verstümmelt, ermordet. Unter Leopold II. wird der Kongo zum Schlachthaus. Historiker schätzen, dass während der belgischen Kolonialherrschaft rund zehn Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner gewaltsam den Tod finden. Musikakzent moll ERZÄHLERIN: Die Kongo-Konferenz macht den Weg frei für die ungehemmte Plünderung Afrikas. Was die Europäer als vermeintlich selbstlose Mission im Namen von Fortschritt und Humanität ausgeben, wird sich in den kommenden Jahrzehnten als Albtraum für den gesamten Kontinent erweisen. TC 23:03 - Outro
undefined
Jan 27, 2024 • 22min

HOLOCAUST-GEDENKTAG - Anita Lasker-Wallfisch, die Cellistin von Auschwitz

Ihr Überleben verdankte Anita Lasker-Wallfisch wohl nur der Tatsache, dass sie Cello spielen konnte. Als Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz überlebte sie das NS-Vernichtungslager. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Carola Zinner (BR 2014) Credits Autor/in dieser Folge: Carola Zinner Regie: Martin Trauner Es sprachen: Christoph Jablonka, Caroline Ebner, Peter Weiß, Anita Lasker-Wallfisch Technik: Cordula Wanschura, Monika Gsänger Redaktion: Thomas Morawetz Linktipps: ARD alpha: Zeuge der Zeit Was bleibt, wenn die letzten Zeitzeuginnen und -zeugen nicht mehr am Leben sind? Wie können ihre Erlebnisse der Nachwelt zugänglich gemacht werden? Die Porträtreihe "Zeuge der Zeit" versteht sich als filmisches Gedächtnis. In den intensiven Interviews der Filmschaffenden Andreas Bönte und Michaela Wilhelm-Fischer im Sinne einer "Oral History" berichten Zeitzeugen teilweise zum ersten Mal ausführlich über ihr Leben und machen auf diese Art Geschichte begreifbar. JETZT ANSEHEN BR2 (2023): Die Quellen sprechen Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von Tätern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ergänzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv für die Dokumente, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUM PODCAST BR: Die Rückkehr der Namen Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15: IntroTC 02:46 – Klopapierrollen statt CellobogenTC 06:24 – Mit dem Gesetz im KonfliktTC 08:30 – Deportation nach AusschwitzTC 09:55 – Musik ist MusikTC 14:40 – Ein Abschied für immerTC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erbenTC 20:36 – Brücken bauen zwischen VerschiedenheitenTC 21:19 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15: Intro MUSIK CD 018520 W01Benjamin Britten Simple Symphony English Chamber Orchestra ERZÄHLERDie „Simple Symphony“ von Benjamin Britten. In dieser Aufnahme aus dem Jahr 1968 dirigiert der Komponist selbst das English Chamber Orchestra, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet.  MUSIK hoch ERZÄHLERZum Orchester gehören mehrere Frauen - das ist für ein Spitzenensemble in jener Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch gehört sogar zu den Gründern des Londoner Orchesters, das Ende der 40er-Jahre entstand. Zu dieser Zeit hatte die gebürtige Deutsche bereits ein bewegtes Schicksal hinter sich: Sie hatte das Konzentrationslager überlebt - als Mitglied des „Mädchenorchesters von Auschwitz“.   MUSIK hoch und wegMUSIK CD 701140 003 (Gerichtsaussage nach Protokoll:) ZITATOR (= Col Backhouse)Ihren vollen Namen, bitte. ZITATORIN (= Anita Lasker)Anita Lasker. ZITATORWo haben Sie bis zu Ihrer Verhaftung gewohnt? ZITATORINIn Breslau, Straße der SA 69. ZITATORWann gingen Sie nach Auschwitz? ZITATORINIch war eineinhalb Jahre im Gefängnis und ging von da im Dezember 1943nach Auschwitz. ZITATORIn welchem Block lebten Sie, als Sie nach Auschwitz kamen? ZITATORINIch lebte in Block 12, mit der Kapelle. ERZÄHLERLüneburg, 1. Oktober 1945 - Tag 13 im ersten Gerichtsverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher. Mangels geeigneter Räume hat das britische Militärgericht eine Turnhalle zum Gerichtssaal umfunktioniert. Hier macht die 20-jährige Anita Lasker nun ihre Zeugenaussage. (wie oben) ZITATORHaben Sie Selektionen für die Gaskammer gesehen? GERÄUSCH beginnt unter nachfolgendem Text ZITATORINJa, ich habe viele Selektionen gesehen. Ich spielte im Lagerorchester, und wir mussten am Tor spielen. Das Tor lag genau gegenüber der Eisenbahnstation. Dort kamen die Transporte an, und wir konnten alles beobachten. Der Transport kam an, die SS führte die Selektionen durch, und wir waren nur knapp 50 Meter entfernt. MUSIK/GERÄUSCH GEHT UNTER ZUSPIELUNG 1 ZU ENDE ZUSPIELUNG  1„Man hat sozusagen in einen Abgrund geschaut, wo nicht alle Leute reinschauen. Wir sind da in einer Welt gewesen, die nicht hierher gehört im Grunde, nicht wahr.“ TC 02:46 – Klopapierrollen statt Cellobogen ERZÄHLERLondon im Herbst 2013. Anita Lasker-Wallfisch sitzt im Wohnzimmer ihres Reihenhauses im Stadtteil Kensal Rise. Ein gemütlicher Raum, etwas abgewohnt:  Auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher und ein halbleeres Päckchen Zigaretten, an der Wand Fotos aus längst vergangenen Zeiten: Schwarz-weiße Illustrationen zur Geschichte, die Anita Lasker-Wallfisch erzählt. Es ist keine schöne Geschichte, denn sie führt zurück ins Deutschland der 30er- und 40er-Jahre, wo Menschen jüdischer Herkunft beschimpft, bedroht, angegriffen, weggesperrt, gequält und umgebracht wurden - darunter auch Anitas Familie. ZUSPIELUNG 2„Der Tod war immer um die Ecke. Ich habe immer gehofft, dass ich es überleben werde irgendwie.“ ERZÄHLERAnita, Jahrgang 1925, wuchs in Breslau auf. Der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter eine talentierte Musikerin. Die Familie führte ein gutbürgerliches Leben - ein glückliches Leben, wie sich Anita und ihre beiden Schwestern später erinnern. Doch ab 1933 wurde alles anders: Die staatlich verordnete Drangsalierung von Menschen jüdischer Herkunft nahm immer mehr zu. Der Mob bekam freie Hand für Gemeinheiten aller Art. MUSIK – und unter nachfolgendem Text zu Ende CD 921900 005 ERZÄHLERAnita, die begeistert Cello spielt, findet im Jahr 1938 in ganz Breslau keinen Lehrer mehr, der sie unterrichten darf oder will. So schicken die Eltern ihre begabte Jüngste nach Berlin zum berühmten Cellisten Leo Rostal. Anita ist glücklich in Berlin - doch als die organisierte Gewalt gegen Juden mit den November-Pogromen einen ersten Höhepunkt erreicht, kehrt sie zurück zur Familie nach Breslau. Die älteste Schwester, Marianne, ist zu diesem Zeitpunkt bereits nach England emigriert, wo die überzeugte Zionistin nun auf die Weiterreise nach Palästina wartet. Währenddessen bemüht sich der Vater zuhause verzweifelt darum, auch den Rest der Familie im sicheren Ausland unterzubringen. ZUSPIELUNG 3 *„Man fragt immer, warum seid ihr nicht früher weggegangen - man kann sich nicht vorstellen wie schwierig das war, auszuwandern. Man hat gemeint, man geht irgendwo hin auf ein Konsulat, man holt sich… - es war eine große Schwierigkeit – und wer will schon von Flüchtlingen überrannt werden, nicht wahr? England, Amerika, da gab’s eine Quote - es ist uns nicht gelungen. Wir sind einfach steckengeblieben.“ ERZÄHLER1941 beendet Anita die Schule und wird zusammen mit ihrer Schwester Renate zum Arbeitsdienst in eine Papierfabrik beordert. Seite an Seite mit Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern aus Polen und Frankreich steht die 16-Jährige nun von morgens bis abends an der Werkbank. ZITATORINIch entwickelte eine geradezu märchenhafte Geschwindigkeit im Etikettenkleben. Später durfte ich auch an der Maschine arbeiten. Ich habe wohl Millionen von Klopapierrollen fabriziert. ERZÄHLERSo schreibt Anita Lasker-Wallfisch in ihrer 1996 erschienenen Autobiographie, wo sich neben den eigenen Erinnerungen auch die ihrer Schwester Renate finden, dazu amtliche Schreiben und Auszüge der Briefe, mit denen die Familie die in England lebende Schwester so lange wie möglich auf dem Laufenden hielt. Hier ist nachzulesen, wie die Eltern im April 1942 abtransportiert wurden, wie die beiden Mädchen allein in der Wohnung zurückblieben - und mit welcher Energie und Tapferkeit sie den Kampf ums Überleben antraten.TC 06:24 – Mit dem Gesetz im Konflikt ZUSPIELUNG 4 * „Wir waren ziemlich freche Kinder, meine Schwester und ich. Ich meine, es hat uns nie gepasst, dazusitzen und zu warten bis uns jemand abholt und ermordet, wissen Sie, das war kein sehr angenehmer Gedanke. Wir haben immer versucht irgendwas zu machen, nicht einfach zu sitzen und zu warten.“ ERZÄHLEREines der Verbote, gegen die die Mädchen sich auflehnen, betrifft den Kontakt zwischen den jüdischen Arbeitern und den Franzosen, die in der Papierfabrik arbeiten. ZUSPIELUNG 5 *„In der Wand von der jüdischen Toilette war ein Loch, und auf der anderen Seite war der Aufenthaltsraum von den französischen Kriegsgefangenen, und dieses Loch war sozusagen unser Briefkasten.“ERZÄHLERNeben kleinen Botschaften wandern durch dieses Loch bald auch amtlich aussehende Formulare: Die Lasker-Schwestern haben begonnen, Urlaubsscheine zu fälschen und verhelfen damit einigen der Franzosen zur Freiheit. ZUSPIELUNG 6 *„Aber ich bin wahrscheinlich zu oft auf die Toilette gegangen, denn eines Tages war dieses Loch zugemauert. Wir haben gewusst, dass man uns auf der Spur ist. Und dann haben wir, Kinder wie wir waren, gesagt, jetzt laufen wir weg. Und haben auch mit gefälschten Papieren versucht, in die unbesetzte Zone von Frankreich zu gelangen. Das war natürlich eine, wenn ich jetzt zurückdenke, eine vollkommen wahnsinnige Idee - aber alles war besser als zu sitzen und zu warten, bis so ein Mistkerl kommt und einen verhaftet, nicht wahr?“ ERZÄHLERNoch auf dem Bahnsteig - die Koffer sind bereits im Zug nach Paris - werden die beiden verhaftet und festgesetzt. Dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, wird sich im Nachhinein als Glück erweisen. ZUSPIELUNG 7 *„Wenn wir einfach als Juden geschnappt worden wären, wären wir sofort durch den Schornstein gegangen. Aber wir waren dann quasi Verbrecher: Urkundenfälschung, Feindesbeihilfe und Fluchtversuch.“ ERZÄHLERDas heißt: Gefängnis statt Konzentrationslager. Und es heißt: Justiz statt Gestapo. ZUSPIELUNG 8 *„Zu unserem Glück war eine schlechte Atmosphäre zwischen diesen beiden Instanzen, und das ist uns offensichtlich zum Glück geworden. Wir wollten eine lange, lange Strafe haben, wenn möglich. Das klingt wahnsinnig… Es war nicht angenehm im Gefängnis, aber wenigstens wird man nicht ermordet.“ TC 08:30 – Deportation nach Ausschwitz ERZÄHLERMit dem Urteilsspruch jedoch ist die Zeit in der Untersuchungshaft zu Ende. Die beiden Mädchen werden getrennt voneinander und ohne vom Schicksal der anderen zu wissen ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Allerdings nicht, wie sonst üblich, im Rahmen eines Sammeltransportes, sondern in einem Gefängniszug speziell für Straftäter.   ZUSPIELUNG 9„Das hieß auch, dass wir nicht mit so einem Riesentransport von Juden angekommen sind. Wir sind einfach direkt ins Lager rein mit anderen Verbrechern. Wir haben keine Selektion gehabt.“ MUSIK CD 701140 002 ERZÄHLERDie üblichen entwürdigenden Aufnahmezeremonien aber werden auch ihnen nicht erspart. Ausziehen, Rasur, Tätowierung. ZITATORINIch weiß heute nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, dem Mädchen, das mich tätowierte, zu erzählen, dass ich Cello spielte. Unter den vorherrschenden Bedingungen schien das nicht gerade von welterschütternder Bedeutung zu sein. Die Reaktion war umso erstaunlicher: „Das ist ja phantastisch. Stell dich abseits, bleib dort stehen und warte. Du wirst gerettet werden!“ Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, tat aber, was sie mir sagte, stellte mich abseits von allen anderen und wartete - ohne Vorstellung, worauf ich eigentlich wartete.Endlich kam die Erklärung, und zwar in Gestalt einer gutaussehenden Dame in Kamelhaarmantel und Kopftuch. Sie begrüßte mich und stellte sich vor. Alma Rosé.MUSIK geht unter Zuspielung 10 zu EndeTC 09:55 – Musik ist Musik ZUSPIELUNG 10 *„Das war die Tochter von Arnold Rosé, der war jahrelang Konzertmeister bei den Wiener Philharmonikern gewesen. Und ihr Onkel war Gustav Mahler, ich meine, die kam aus einem musikalischen Background, der geradezu kolossal war, nicht wahr.“ ERZÄHLERAlma Rosé hatte sich in den 20er- und 30er-Jahren als Geigerin einen Namen gemacht und ein Damenorchester gegründet und geleitet. Nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager war das bald publik geworden. Prompt spannten Aufseherinnen die „Neue“ für ihre Zwecke ein. ZUSPIELUNG 11 *„Was ich erst viel später gelernt habe, dass es in jedem Lager ein - man kann es nicht Orchester nennen - eine Kapelle gab. Außer im Frauenlager. Das war anscheinend so eine Art „Competition“ zwischen den Lagern: Wir wollen auch Musike haben! Die haben Musik, wir wollen auch, verstehen Sie. So war das ein bisschen.“ MUSIK – setzt unter den letzten Worten des nachfolgenden Textes einC 500008 W02 ERZÄHLERAlma Rosé übernahm im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau die Leitung des Orchesters, das kurz zuvor „auf Befehl von oben“ gegründet worden war. ZITATORINEines Tages kam ein SS-Offizier in den Block und rief nach der „Cellistin“. Er brachte mich zum Orchester-Block, und da sah ich Alma Rosé wieder - und neben ihr viele Leute, alle mit Instrumenten in der Hand. Meine Aufnahmeprüfung begann. Alma gab mir ein Cello und sagte: „Spiel mir was vor.“ Es war ungefähr zwei Jahre her, seit ich zuletzt ein Cello in der Hand gehabt hatte! Ich übte also ein paar Minuten - und spielte… MUSIK hoch – und unter nachfolgendem Text zu Ende …oder besser: versuchte, den langsamen Satz aus dem Boccherini-Konzert zu spielen. Nachdem ich das hinter mir hatte, wurde ich Mitglied des Orchesters. Eigentlich hat keinerlei Gefahr bestanden, nicht aufgenommen zu werden. Bis zu meiner Ankunft bestand das Orchester aus nichts als Sopran-Instrumenten. Da gab es einige Geigen, Mandolinen, Gitarren, Flöten und zwei Akkordeons. ZUSPIELUNG 12„Das war mein großes Glück, denn ich war einzigartig im Lager. Wenn da schon jemand gewesen wäre, der Cello spielt, hätte man mich nicht unbedingt gebraucht, nicht wahr. Man konnte mich nicht entbehren, denn dann hätte man wieder keine tiefen Noten gehabt, nicht wahr.“ MUSIK Militärmarsch Schubert D-Dur, Bearbeitung für Orchester  E 0002140 004  (Aufnahme von 1955) ZITATORINAlma war begeistert. Endlich hatte sie einen Bass im Orchester. So fing meine „Karriere“ als die einzige Cellistin des Lager-Orchesters an - oder richtiger: der „Kapelle“. Und zugleich mein Leben in dieser kleinen Gemeinschaft, in der rührende Kameradschaftlichkeit, bleibende Freundschaften und giftiger Hass in gleichem Maße nebeneinander gediehen. ZUSPIELUNG 13 *„Es war ein vollkommen verrücktes Orchester, war das natürlich, aber immerhin: Es hat existiert.“ ZITATORINEin typischer Tag in unserem „Kommando“ - wie man es nannte - sah wie folgt aus: Wir standen eine Stunde vor Tagesanbruch auf, und einige von uns hatten die Aufgabe, Notenständer und Stühle „nach vorne“ zu tragen. Wenn wir alle wieder im Block waren, kam der Zählappell. Danach gab es etwas zu trinken; man aß, was einem gelungen war, sich vom vorigen Abend aufzusparen. Dann marschierten wir zum Tor und spielten. Denn unsere Hauptaufgabe war es, uns jeden Morgen und jeden Abend am Haupteingang aufzustellen und Märsche für die Tausende von Häftlingen zu spielen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. (ironisch) Natürlich war es von allergrößter Wichtigkeit, dass diese Kolonnen fein säuberlich und im Gleichschritt ausmarschierten! Dafür lieferten wir die Musik. Wir saßen da, unzulänglich bekleidet, manchmal bei Temperaturen unter null, und spielten. Danach wurden Stühle und Ständer zurückgebracht und wir fingen im Block mit unseren Proben an. Unser Repertoire bildeten deutsche Schlager, die gerade in Mode waren, verschiedene Stücke aus Operetten, „An der schönen blauen Donau“, und so weiter. MUSIK „Das gibt’s nur einmal…“ 7705707 000 ZUSPIELUNG 14„Die Alma, glaub ich, hat nie realisiert, oder nie gezeigt, dass sie weiß, wo sie eigentlich sich befindet. Man hat das Gefühl gehabt, dass sie das ignoriert. Hier wird Musik gemacht, nicht wahr. Und wir haben sie nicht besonders geliebt, sie war irrsinnig streng. Aber viele Jahre nachher haben wir alle kapiert, dass eigentlich die Alma die wichtigste Person war in unserem Leben. Denn mit ihrer Disziplin hat sie uns sozusagen auf einem Niveau gehalten, das gar nichts damit zu tun gehabt hat, was da eigentlich los war in dem Lager, nicht wahr…Und sie hat immer von ihrem Vater gesprochen, von dem Arnold, die haben eine sehr enge Beziehung gehabt, und ihr größtes Lob war: „Das könnten wir meinem Vater vorspielen!“ Sie war also vollkommen fixiert auf ihren Vater, und dass man hier anständig Musik macht. Weil Musik ist Musik und das lassen wir uns nicht kaputtmachen. Das war so ihre Methode.“ MUSIK hoch und unter dem Anfang des nachfolgenden Textes zu EndeTC 14:40 – Ein Abschied für immer ERZÄHLERDer kurze Höhenflug des Orchesters endete mit dem plötzlichen Tod von Alma Rosé im April 1944. Bis heute sind die Umstände umstritten. War es eine Infektion? Hatte eine Neiderin sie vergiftet? Oder handelte es sich um eine Lebensmittelvergiftung? MUSIK CD 701140 001 ZITATORINWelche Sonderstellung Alma im Lager innehatte, zeigte sich an der Tatsache, dass wir nach ihrem Tod ins Revier gerufen wurden, wo wir an ihrem auf einem weißen Tuch aufgebahrten Leichnam vorbeidefilierten. Selbst die SS schien über diesen Verlust erschüttert. MUSIK geht unter nachfolgendem Text zu Ende ERZÄHLERIm Oktober 1944 löste sich das Orchester auf - die Häftlinge wurden von Auschwitz nach Bergen-Belsen transportiert. Anita gelingt es, mit ihrer Schwester Renate zusammenzubleiben, die sie im Lager wiedergetroffen hat - zu zweit, wissen die Mädchen, haben sie eine deutlich bessere Chance, den Winter zu überstehen. Und tatsächlich gelingt es ihnen, unter unmenschlichen Bedingungen.  Am 15. April 1945 endet der Alptraum: Britische Truppen rücken in Bergen- Belsen ein und befreien die halb verhungerten Gefangenen.  Ein halbes Jahr später macht Anita ihre Aussage vor dem britischen Tribunal in Lüneburg. Dann verlässt sie Deutschland. Es soll, so nimmt sie sich vor, ein Abschied für immer sein: von allem, was deutsch ist.  TC 16:12 – Ihr sollt die Wahrheit erben ZUSPIELUNG 15„Ja, wir waren sehr kritisch, meine Schwester und ich. Ich erinnere mich noch, wir haben über Leute sofort irgendwie… ‚Ach, der würde sich sehr schlecht benehmen – und der wäre ok‘ und so weiter. Wir haben sozusagen einen 6. Sinn bekommen für Menschen. Aber das haben wir uns bald abgewöhnt, denn das ist eine sehr negative - man kann nicht so kritisch sich alle Leute anschauen.“ ERZÄHLERTrotz der bitteren Erfahrungen gelingt es Anita, sich in England ein neues Leben aufzubauen, zu dem neben der Gründung einer Familie auch die Karriere im English Chamber Orchestra gehört. ZUSPIELUNG 16„Das war Glückssache alles: Als ich nach England gekommen bin, hab ich bald viele Leute kennengelernt, und Musiker kennengelernt; und dann bin ich in das gleiche Haus gezogen, wo Musiker waren. Es ist alles so von alleine irgendwie passiert, per Zufall, yes. Ich mein, ich hab verpasst, acht Jahre verpasst, die man im Grunde braucht. Also, ich hab viel Glück gehabt hier in England. Sozusagen ich bin zufällig am richtigen Platz gewesen.“ ERZÄHLERAus der in den 50er-Jahren geschlossenen Ehe mit dem Pianisten Peter Wallfisch gingen zwei Kinder hervor, eine Tochter und ein Sohn, Raffael Wallfisch, heute selbst ein namhafter Cellist. Raffael war es auch, der in den 90er-Jahren den Anstoß gab, dass seine Mutter die Erinnerungen an die Vergangenheit schriftlich festhielt.  ZUSPIELUNG 17„Denn eines Tages hat sich herausgestellt, dass wir eigentlich nie über diese Zeit gesprochen haben. So ist das entstanden. Dann hab ich das für meine Kinder gemacht - und habe also sehr amateurhaft etwas zusammengestellt. Und die Geschichte war so, dass jemand von der BBC ist zu mir gekommen ist, die ein Programm über Theresienstadt gemacht hat. Und die hat gemeint, dass ich ihr dabei helfen kann. Ja, nein, das kann ich nicht, denn ich war nicht dort, aber ich habe für meine Kinder blablabla Auschwitz, Belsen und so weiter. Da hat sie das mitgenommen und sich‘s angesehen und hat gesagt, weißt du, wenn du nichts dagegen hast, könnten wir das vielleicht in 20 Minuten einteilen und du liest das dann im Radio. Und das ist auch geschehen - so fing das Ganze an.“ ERZÄHLER1994 veröffentlichte Anita Lasker-Wallfisch ihr Buch „Inherit the Truth“, das zwei Jahre später unter dem Titel „Ihr sollt die Wahrheit erben“ auf Deutsch erschien. Mit der schriftlichen Aufarbeitung des Geschehenen wird es ihr langsam wieder möglich, Kontakt zu Deutschland aufzunehmen -  und zu ihrer Muttersprache zurückzukehren, von der sie einst schwor, sie nie mehr zu verwenden. Weil sie erleben musste, wie in dieser Sprache Unmenschliches ausgesprochen, angeordnet und akzeptiert wurde.  ZUSPIELUNG 18„Zum Beispiel, als meine Eltern abgeholt worden sind, hat man versiegelt alles, einen Kuckuck draufgemacht, ja, auf alles, inklusive Kopfkissen. Und wir konnten keine Schublade mehr aufmachen und nichts. Dann bin ich zur Gestapo gegangen, unverschämt wie ich war. Und ich hab also einen Brief hier - die haben nicht mal eine Schreibmaschine: ‚Ungebeten kommt Anita Sarah Lasker auf die Gestapo, Beruf Arbeiterin, und bittet, dass man eine Schublade aufmacht. Abgelehnt!‘ Der Clou war - diese Wohnung ist also dann einem Deutschen gegeben worden: Wir waren im Gefängnis, alle waren weg, und der zieht in die Wohnung ein und der Koch-Ofen ist nicht mehr da. Da ist doch die Gestapo zu mir ins Gefängnis gekommen, und hat mich verhört: Was mit dem Ofen passiert ist!? Sag ich, mein Vater hat ihn nicht abmontiert und sich auf dem Rücken geschnallt und ist deportiert worden mit dem Ofen. Das wollten die wissen. Der Ofen gehört… Aber die ganze Idee: Dass also alles, was uns gehört hat, gehört jetzt mir. Und das war akzeptiert. Ich meine, es ist sehr schwer das heute nachzuvollziehen, was das für eine Mentalität war.“ ERZÄHLERUmso wichtiger ist es ihr, davon zu berichten - vor Schulklassen, in Seminaren, in Fernseh- und Radiosendungen wie in der dokumentarischen BR-Produktion "Die Quellen sprechen", aus der auch in dieser Sendung einige Ausschnitte zu hören waren. Die Menschen sollen daran erinnert werden, wozu der Mensch fähig ist - nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.   MUSIK CD 70114 002 TC 20:36 – Brücken bauen zwischen Verschiedenheiten ZUSPIELUNG 19„Ich meine, die Welt sieht nicht so wunderbar aus, auch heute, nicht wahr, man stürzt sich wieder auf andere Gruppen und so weiter. Was ich den Leuten mitgeben will: Dass es wichtig ist, wichtiger denn je, Brücken zu bauen zwischen den Verschiedenheiten, die wir haben als Menschen. Es ist ja geradezu eine irrsinnige Idee - wenn wir alle gleich wären, wäre es ja furchtbar langweilig, nicht. Wir sind nun mal sehr verschiedene Menschen. Da gibt es Juden, da gibt es Türken, da gibt es Deutsche - bevor sie sich totschlagen, sollen sie miteinander Kaffee trinken gehen. (Lacht) Das erzähle ich der Jugend, verstehen Sie?“ MUSIK hoch, bis Ende ZUSPIELUNG 20„Jetzt mach ich Ihnen eine Tasse Kaffee, ja? Wenn Sie wirklich fertig sind mit…“ (Schritte)TC 21:19 - Outro
undefined
Jan 27, 2024 • 21min

HOLOCAUST-GEDENKTAG - Das Tagebuch der Anne Frank

Das Tagebuch der Anne Frank hat Millionen Menschen bewegt. Mit 13 Jahren beginnt das Mädchen unter dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung seine Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen. Trotz aller Ängste lässt sie sich ihre Neugier gegenüber dem Leben nicht rauben. Doch zwei Jahre später wird ihr Versteck entdeckt. Anne Frank stirbt mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2022) Credits Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn Regie: Axel Wostry Es sprachen: Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse, Adela Florow, Ilse Neubauer Redaktion: Hildegard Hartmann Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2022): Die Deutschen waren erschüttert – aber ohne Schuldgefühle Mitte der Fünfziger begann die Erfolgsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank. Eine populäre Theaterumsetzung sorgte dafür, dass sich die Deutschen mit dem Buch beschäftigten. Doch von echter Vergangenheitsbewältigung konnte noch keine Rede sein. JETZT ANHÖREN BR2 (2023): Die Quellen sprechen Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von Tätern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ergänzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv für die Dokumente, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. ZUM PODCAST BR: Die Rückkehr der Namen Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 02:51 – Liebe Kitty: Anfänge des weltbekannten TagebuchesTC 05:24 – Das Leben im VerborgenenTC 08:07 – Zwischen Todesangst und DepressionTC 09:57 – Ein Mädchen voller Inspiration, Träume und HoffnungTC 11:44 – Wie wird man in einem Versteck erwachsen?TC 14:25 – Glaube ist stärkerTC 16:08 – Das Vermächtnis von Anne FrankTC 19:10 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro SPRECHER: Freitag, 4. August 1944. In der Amsterdamer Firma "Opekta" an der Prinsengracht 263 beginnt ein ganz normaler Arbeitstag. Gerade hat die Sekretärin Miep Gies ihr Büro betreten. Aber sie setzt sich nicht sofort an den Schreibtisch. Sie schiebt ein Regal beiseite und öffnet die Tür, die sich dahinter verbirgt. Hinter dieser Tür leben acht Menschen, von denen niemand wissen darf. Es sind Juden. Und Juden werden von der deutschen Besatzungsmacht verfolgt, in Konzentrationslager getrieben, umgebracht. SPRECHERIN: Die Jüngste der acht heißt Anne Frank. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Ihr Vater Otto Frank war früher der Chef der Firma. Seine Mitarbeiter beschützen und versorgen die Versteckten, riskieren ihr Leben für sie. Miep Gies ist eine von den Helfern. SPRECHER: An jenem Freitagmorgen wartet Anne schon ungeduldig auf sie. Besuch ist ihre einzige Abwechslung. Miep erinnert sich:   ZITATORIN Miep: „Anne hatte wie üblich unzählige Fragen auf Lager und drängte mich, ein bisschen mit ihr zu reden. Wenn ich am Nachmittag die Lebensmittel heraufbrächte, bliebe ich zu einem ausführlichen, gemütlichen Schwatz, versprach ich. Bis dahin müsse sie sich gedulden. Ich ging zurück ins Büro und fing an zu arbeiten." SPRECHERIN: Miep und Anne begegnen sich hier zum letzten Mal. Denn wenig später steht ein Gestapo-Beamter vor Mieps Schreibtisch – mit gezückter Pistole. SPRECHER: Irgendjemand hat der Polizei das Versteck verraten. Und nun geht alles sehr schnell: Die Gestapo-Leute treiben die Menschen aus ihren Zimmern. Wenig später werden sie in einem Auto abtransportiert. SPRECHERIN: Miep bleibt zurück. Fassungslos steht sie in den verwüsteten Räumen.  ZITATORIN Miep:"Sie hatten wie die Wandalen gehaust. [...] Auf dem Fußboden, inmitten von Papierbergen und Büchern, entdeckte ich einen rot-orange-grau karierten Leineneinband – Annes Tagebuch, das sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte." SPRECHERIN:Miep weiß auch, was den Verhafteten bevorsteht. Trotzdem hofft sie, Anne einmal wiederzusehen. Sie legt das Tagebuch ungelesen in eine Schublade und schließt sie ab. ZITATORIN Miep:  "Ich werde alles sicher aufbewahren für Anne, bis sie zurückkommt." SPRECHER:Anne kam nie zurück. Von den acht Untergetauchten überlebte nur der Vater Otto Frank. Das Tagebuch seines toten Kindes überwältigte ihn. Er habe, so sagte er nach dem Krieg, keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt. TC 02:51 – Liebe Kitty: Anfänge des weltbekannten Tagebuches SPRECHERIN:  Wie sollte er auch. Das Tagebuch war Annes eigene Welt. Erwachsene hatten hier keinen Zutritt. Anne redete in ihrem Tagebuch mit Kitty, einer Freundin, die nur in ihrer Fantasie existierte. ZITATORIN Anne:"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe.“ SPRECHER:So beginnt Annes Tagebuch am 12. Juni 1942, Annes dreizehntem Geburtstag. Anne ist ein ganz normales Mädchen: hübsch, gesellig, fröhlich. Sie liebt Schwatzen, Geheimnisse und Filmstars. Aber ihr Leben steht von Anfang an unter dem Schatten der Verfolgung. Anne erzählt: ZITATORIN Anne:"Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich je getroffen habe, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging dann mein Vater 1933 in die Niederlande."SPRECHER: Amsterdam, das bedeutet unbeschwerte Kinderjahre: bis die Nazis im Mai 1940 auch die Niederlande besetzen. Die Schlinge zieht sich zu für die Juden dort. Eine antisemitische Verordnung jagt die andere. Anne beobachtet die Situation genau: ZITATORIN Anne: "Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3-5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach 8 Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. So ging unser Leben weiter, und wir durften dies nicht und das nicht." SPRECHER: Auch das Tragen eines gelben Sterns mit der Aufschrift "Jude" wird zur Pflicht. Immer häufiger treibt die SS große Gruppen von Menschen mit dem gelben Stern an der Kleidung durch Amsterdams Straßen. Es sind Kinder darunter, alte Menschen, schwangere Frauen. Ihr Weg führt zum Bahnhof, wo die Waggons der Deutschen Reichsbahn stehen: bereitgestellt, um Menschen in den Tod zu fahren. TC 05:24 – Das Leben im Verborgenen SPRECHERIN: Als auch Margot, Annes Schwester, den Befehl zum Abtransport in ein Konzentrationslager erhält, flieht die Familie in ihr Versteck, zusammen mit dem Ehepaar van Daan und deren sechzehnjährigen Sohn Peter. Später kommt noch der Zahnarzt Dr. Albert Dussel dazu. Anne hat die Namen erfunden. Die van Daans heißen eigentlich van Pels. Und Dussel heißt in Wirklichkeit Fritz Pfeffer. SPRECHER: Doktor Dussel und Anne müssen sich ein Zimmer teilen. Das Pseudonym spricht Bände: Die quirlige Dreizehnjährige hat für den strengen, einsamen älteren Herrn wenig übrig. ZITATORIN Anne: "Ich glaube, bei Herrn Albert Dussel zu Hause ist alles, was er sagt, Gesetz. Aber Anne Frank passt solches ganz und gar nicht!" SPRECHERIN:Sie vermisst ihre Freundinnen und ihre Flirts mit Jungen. Sie darf nie nach draußen und muss tagsüber, solange der Bürobetrieb im Vorderhaus läuft, ganz leise sein. Aber Anne ist abenteuerlustig, und am Anfang nimmt sie die neue Lebenslage nicht allzu schwer. ZITATORIN Anne: "Ich fühle mich wie in einer sehr eigenartigen Pension, in der ich Ferien mache. Eine ziemlich verrückte Auffassung vom Untertauchen, aber es ist nun mal nicht anders. Das Hinterhaus ist ein ideales Versteck. Obwohl es feucht und ein bisschen schief ist, wird man wohl in ganz Amsterdam, ja in ganz Holland, kein so bequem eingerichtetes Versteck finden." SPRECHER: Anne hat Recht. Rund 27.000 der 140.000 in den Niederlanden lebenden Juden sind untergetaucht. Viele hausen in winzigen Dachkammern, in feuchten Kellern. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist sehr groß. Rund ein Drittel aller untergetauchten Juden werden von ihren Landsleuten verraten. Die Deutschen zahlen für jeden entdeckten Juden eine Belohnung. SPRECHERIN: Aber auch im Hinterhaus ist es bedrückend eng. Ständig gibt es Streit. Für die aufmüpfige Jüngste hagelt es Standpauken von allen Seiten. Anne will sich abgrenzen, besonders von der Mutter. Auf Edith Frank lasten die quälenden Sorgen am meisten, während Anne vorlaut und selbstbewusst einer strahlenden Zukunft entgegen träumt ZITATORIN Anne:„Ich bin keinesfalls auf ein solche beschränktes Leben aus wie Mutter und Margot sich das wünschen. Ich will was sehen und was erleben von der Welt“ SPRECHER:Doch Anne macht das Leben im Hinterhaus auch leichter – mit ihrem Humor. ZITATORIN Anne: "Peter kann ab und zu recht witzig sein. Eine Vorliebe, die alle zum Lachen bringt, hat er jedenfalls mit mir gemeinsam, und zwar Verkleiden. Er in einem sehr engen Kleid seiner Mutter, ich in seinem Anzug, so erschienen wir, mit Hut und Mütze geschmückt. Die Erwachsenen bogen sich vor Lachen, und wir hatten nicht weniger Spaß." TC 08:07 – Zwischen Todesangst und Depression SPRECHERIN: Aber die Todesangst ist allgegenwärtig. Wenn nachts die Bomber über Amsterdam fliegen, kriecht Anne außer sich vor Panik in Vaters Bett. Otto Frank nimmt sie dann in den Arm, erzählt ihr Geschichten. Mehr kann er nicht tun. Miep Gies erinnert sich: ZITATORIN Miep: "Sie konnten nirgends hin, es gab für sie kein Entkommen. Die ohrenbetäubenden Detonationen erschienen viel näher, als sie es tatsächlich waren. Das steigerte den Horror derart, dass sie sich tagelang nicht davon erholen konnten.“ SPRECHER:Außerdem ist ganz Amsterdam gelähmt vom Lärm der nächtlichen Razzien. Nachts werden die Juden aus den Wohnungen geholt. Miep hat es miterlebt.ZITATORIN Miep: "Durch die ganze Gegend hallten die durchdringenden Trillerpfeifen, und dann dröhnten schwere Stiefelschritte die Treppen hinauf, Gewehrkolben hämmerten an die Türen, schrilles, endloses Klingeln, die raue, Furcht einflößende deutsche Stimme, die befahl: 'Aufmachen! Beeilung! Beeilung!' " SPRECHER: Anne weiß, was in den Lagern geschieht. ZITATORIN Anne: "Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben." SPRECHER: Der erste Winter im Hinterhaus ist eine Zeit schwerer Depression. Anne schluckt Baldriantabletten zur Beruhigung, aber sie helfen nicht viel. ZITATORIN Anne "Ich irre von einem Zimmer zum anderen, die Treppe hinunter und wieder hinauf, und habe ein Gefühl wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen worden sind und der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe eines engen Käfigs fliegt. 'Nach draußen, Luft und Lachen!' schreit es in mir. Ich antworte nicht mal mehr, lege mich auf die Couch und schlafe, um die Zeit, die Stille und auch die schreckliche Angst abzukürzen, denn abzutöten sind sie nicht." TC 09:57 – Ein Mädchen voller Inspiration, Träume und Hoffnung SPRECHER: Aber Anne will leben. Sie gibt nicht auf. Wenn sie an ihrem Tagebuch schreibt, spürt sie ihre schöpferische Begabung. Unermüdlich feilt sie an ihren Formulierungen, verbessert ihren Stil. Nach dem Krieg will sie ein Buch über das Hinterhaus herausgeben. Ihr Tagebuch soll die Grundlage sein. Im Fluss des Schreibens hält sie die Hoffnung auf Zukunft lebendig. ZITATORIN Anne "Ich will fortleben nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir bei meiner Geburt schon eine Möglichkeit mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist." SPRECHER:Anne will später als Schriftstellerin arbeiten. Oder als Journalistin. Sie freut sich darauf, eine Frau zu werden. Die Nazis wollen ihren Tod, aber ihr Körper ist jung und lebendig. ZITATORIN Anne "Ich finde es so sonderbar, was da mit mir passiert, und nicht nur das, was äußerlich an meinem Körper zu sehen ist, sondern das, was sich innen vollzieht. [...] Immer, wenn ich meine Periode habe, (...), habe ich das Gefühl, dass ich trotz der Schmerzen, des Unangenehmen und des Ekligen ein süßes Geheimnis in mir trage. Deshalb, auch wenn es mir immer nur Schwierigkeiten macht, freue ich mich in gewisser Hinsicht immer wieder auf diese Zeit, in der ich es wieder fühle." SPRECHERIN: Miep spürt, wie schwer es für Anne ist, mit all diesen Gefühlen allein zu sein. SPRECHER:Die Helfer besuchen das Versteck täglich. Das gibt den Eingeschlossenen Sicherheit. Auch ein geregelter Tagesplan ist wichtig. Für Anne, Margot und Peter stehen alle Schulfächer auf dem Programm. Anne lernt gern – es vertreibt die Zeit. TC 11:44 – Wie wird man in einem Versteck erwachsen? SPRECHERIN: Auch der Schlaf gibt neue Kraft, und helle Träume spenden Trost. Anne träumt von ihrer Kinderliebe, einem Jungen namens Peter Schiff. Der Traum fasst ihre Sehnsucht nach Nähe in zarte, erotische Bilder. ZITATORIN Anne "Und dann fühlte ich seine weiche, o so kühle und wohl tuende Wange an meiner, und alles war so gut, so gut ...." SPRECHERIN: Anne wünscht sich die Nähe eines Jungen, der ihr nah sein, der sie berühren will. Das macht ihr der Traum bewusst. Aber Peter Schiff ist nicht da. SPRECHER: Peter van Daan aber schon. Er ist ein stiller Junge, und eigentlich findet Anne ihn langweilig. Ermutigt durch ihren Traum, beginnt sie, genauer hinzusehen. Sie wirbt um sein Vertrauen. Ein Abenteuer beginnt. ZITATORIN Anne "Mir wurde ganz seltsam zumute, als ich in seine dunkelblauen Augen schaute und sah, wie verlegen er bei dem ungewohnten Besuch war. Ich konnte an allem sein Inneres ablesen, ich sah in seinem Gesicht noch die Hilflosigkeit und die Unsicherheit, wie er sich verhalten sollte, und gleichzeitig einen Hauch vom Bewusstsein seiner Männlichkeit. Ich sah seine Verlegenheit und wurde ganz weich von innen." SPRECHERIN:Die beiden beginnen sich zu mögen. Erst wie Freunde, dann wird mehr daraus. Sie sprechen über Sexualität, über ihre Sehnsüchte, über ihre Zukunftshoffnungen. Sie liegen einander in den Armen. ZITATORIN Anne:"Er ruhte nicht eher, bis mein Kopf auf seiner Schulter lag und der seine darauf. Als ich mich nach ungefähr fünf Minuten etwas aufrichtete, nahm er meinen Kopf in seine Hände und zog ihn wieder an sich. Oh, es war so herrlich! Ich konnte nicht sprechen, der Genuss war zu groß. ... Das Gefühl, das mich dabei durchströmte, kann ich dir nicht beschreiben, Kitty. Ich war überglücklich, und ich glaube, er auch." SPRECHERIN: Annes zarter, magerer Körper, geschwächt durch Bewegungsmangel, schlechte Ernährung und ständige Angst, in den Armen eines liebevollen Jungen: Das war eine überwältigende Erfahrung für sie. Aber das Glück flaut bald ab. Mit dem, was Anne alles auf dem Herzen hat, ist Peter einfach überfordert. Nur schmusen, das reicht ihr nicht. Langsam und vorsichtig löst sie sich von Peter. Aber sie gibt ihm keine Schuld und versucht nicht, ihn zu verändern. Die beiden bleiben Freunde.TC 14:25 – Glaube ist stärkerSPRECHERIN:Anne weiß, dass sie ihr Schicksal allein bestehen muss. Sie entdeckt Kraftquellen, die ihr Unabhängigkeit geben: die Natur zum Beispiel, die draußen grünt und blüht, ohne sich um Krieg und Vernichtung zu kümmern. Einmal, die Nacht ist sehr dunkel, riskieren es die Eingeschlossenen, ein Fenster zu öffnen, und Anne schaut bezaubert ins Freie: ZITATORIN Anne:"Der dunkle, regnerische Abend, der Sturm, die jagenden Wolken hielten mich gefangen. Nach anderthalb Jahren hatte ich zum ersten Mal wieder die Nacht von Angesicht zu Angesicht gesehen." SPRECHER: Wenn sie in den Himmel sieht, spürt sie, dass Gott auf ihrer Seite steht. Annes Gott stiftet Beziehung und Leben, er ist eine Quelle des Glücks. ZITATORIN Anne:"Abends, wenn ich im Bett liege und mein Gebet mit den Worten beende: Ich danke dir für all das Gute und Liebe und Schöne, dann jubelt es in mir. Dann denke ich an das Gute: das Verstecken, meine Gesundheit, mein ganzes Selbst.“ SPRECHER: Annes Gott ist nicht weit weg. Er ist in das Seiende eingesenkt, in die Natur und in die menschliche Seele. Anne findet ihn in sich selbst, im Zentrum ihrer eigenen Kraft. Mit ihrer Gottesbeziehung wächst auch ihr Stolz auf ihr jüdisches Erbe, ihr Vertrauen in die Stärke ihres Volkes und in seine historische Mission. ZITATORIN Anne "Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, und es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet. [...]“ TC 16:08 – Das Vermächtnis von Anne Frank SPRECHERIN:Bis zuletzt empfindet Anne das Untertauchen als Abenteuer und als Herausforderung, die Metamorphose zum Guten an sich selbst zu vollziehen. Eine schwere Aufgabe für ein so junges Mädchen. Aber Anne gewinnt ihre inneren Kämpfe. ZITATORIN Anne: "Ich weiß, was ich will, habe ein Ziel, habe eine eigene Meinung, habe einen Glauben und eine Liebe. [..] Ich weiß, dass ich eine Frau bin, eine Frau mit innerer Stärke und viel Mut!" SPRECHER: Doch in den Lagern Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen hat sie keine Chance mehr. Wir wissen nicht, ob ihr der Himmel über Auschwitz noch Trost spenden konnte. Ob sie, die rauchenden Schlote der Krematorien vor Augen, Gott noch gesucht hat. Es gibt nur bruchstückhafte Erinnerungen Überlebender, die Anne flüchtig begegnet sind: Bruchstücke, die sich zusammenfügen zu einem Bild, das schwärzer ist als der schwärzeste Traum. SPRECHERIN: Annes letzter Blick zum Vater, der auf der Rampe von Auschwitz von seiner Familie getrennt wird. Anne, die sieht, wie Kinder vor der Gaskammer auf ihr Ende warten. Anne und Margot im Oktober 1943 auf dem Transport nach Bergen-Belsen: drei Tage im überfüllten Viehwaggon, fast ohne Wasser und Essen, ohne ihre Eltern. Edith Frank stirbt einige Wochen nach der Trennung von ihren Töchtern in Auschwitz. SPRECHER: Gaskammern gibt es in Bergen Belsen nicht. Aber die Zustände in dem überfüllten Lager sind mörderisch genug. Hunger, Kälte und Regen begünstigen den Ausbruch von Seuchen unter den geschwächten Gefangenen. Auch Margot und Anne erkranken an Typhus. Margot stirbt zuerst, kurz danach Anne. SPRECHERIN: Es ist April 1945, kurz vor Kriegsende. Als man die Leichen der Mädchen in einem Massengrab verscharrt, ist Otto Frank in Auschwitz bereits befreit worden. Anne wusste nicht, dass ihr Vater noch lebte und nach ihr suchte. Und sie ahnte auch nicht, dass ihr Tagebuch sicher in Mieps Schublade lag und ihr den schriftstellerischen Ruhm sichern würde, den sie sich immer gewünscht hat. SPRECHER:Nach dem Krieg sorgte Otto Frank für die Veröffentlichung. Anne Franks Stimme eroberte die Welt. Ihr Buch hat sich bis heute ungefähr sechzehn Millionen Mal verkauft. Fast eine halbe Million Menschen besuchen jährlich das Hinterhaus in Amsterdam, das heute von einer Stiftung unterhalten wird. SPRECHER: Miep Gies ist heute eine alte Frau. Sie beschließt ihre Erinnerungen an Anne mit folgenden Worten: ZITATORIN Miep: "Doch immer, an jedem Tag meines Lebens, habe ich mir gewünscht, dass es anders gekommen wäre. Dass Anne und die anderen wie durch ein Wunder gerettet worden wären, auch wenn dann Annes Tagebuch der Welt verloren gegangen wäre. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um sie trauere."TC 19:10 - Outro
undefined
Jan 27, 2024 • 23min

HOLOCAUST-GEDENKTAG - Von der Entrechtung zur Ermordung

Es begann mit Diskriminierungen und endete in der Ermordung. Über Jahre hinweg betrieb das NS-Regime die Ausgrenzung der jüdischen Deutschen, isolierte sie gesellschaftlich, vernichtete sie wirtschaftlich, deportierte sie dann während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Osten und ermordete sie dort. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2021) Credits Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Katja Amberger, Burchard Dabinnus Technik: Daniela Röder Redaktion: Thomas MorawetzIm Interview: Ernst Grube (Zeitzeuge), Dr. Edith Raim (Historikerin) Linktipps: ARD alpha (2023): Was ist der Holocaust? Was ist der Holocaust und wie konnte es dazu kommen? JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2021): 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – „Eine einseitige Liebeserklärung“ Aus dem Jahr 321 stammt der erste Beleg für eine jüdische Gemeinde im heutigen Deutschland. Für Jüdinnen und Juden ist das ein Anlass zum Feiern und zum Erinnern. Ein Grund zum Jubeln sei das Jubiläum aber nicht: zu traurig sei die jüdisch-deutsche Geschichte – und oft auch die Gegenwart. ZUM BEITRAG BR: Die Rückkehr der Namen Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER. Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge:TC 00:15 – IntroTC 01:40 – Die Anfänge der RassenpolitikTC 04:30 – Raub der ExistenzgrundlageTC 06:48 – Das Schicksal vom Überlebenden Ernst GrubeTC 08:41 – Auftakt des HolocaustTC 10:46 – Ausgestoßen aus Gesellschaft und WirtschaftTC 11:47 – Das grausame SystemTC 18:55 – MassenmordeTC 22:48 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro MUSIK Nostalgia motif 1 M0010633 037 (0.50) O1 Ernst GrubeUnd die Grundsatzfrage war, werden wir uns wiedersehen. Immer wieder: Werden wir uns wiedersehen, ohne mehr zu wissen. Aber wir hatten natürlich über die Ausgrenzungserlebnisse schon erfahren, dass man uns nicht wollte. ERZÄHLERIN: Ernst Grube war 8 Jahre alt und lebte in einem jüdischen Kinderheim in München, als die nationalsozialistischen Machthaber 1941 begannen, jüdische Deutsche Richtung Osten zu verschleppen – in die Gebiete, die sie seit Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzt hatten. Aus München ging am 20. November die erste Deportation weg. Am Güterbahnhof im Stadtteil Milbertshofen wurden etwa 1000 Menschen unter dem Vorwand der "Evakuierung" in einem Zug abtransportiert. Unter ihnen auch Kinder aus dem jüdischen Kinderheim, Spielkameraden von Ernst Grube. O2 Ernst Grube Es war eine Zeit der der Trauer, und wir haben also nicht gewusst, wo es hingeht. Und wir haben nicht gewusst, ob wir uns wiedersehen werden, und wir haben nach dem Krieg erfahren, dass sie alle fünf Tage nach der Deportation in Kaunas, Litauen, umgebracht wurden. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.20) TC 01:40 – Die Anfänge der Rassenpolitik ERZÄHLERIN:Sofort nach der Machtübernahme 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Abschaffung der Weimarer Demokratie, der Errichtung von Konzentrationslagern, der Verfolgung von politisch Andersdenkenden und der Umsetzung ihrer Rassenpolitik. Über Zeitungen, Radio, Kinofilme propagierten sie das Feindbild der "jüdischen Rasse", des "niederträchtigen Juden", der die nichtjüdische, die sogenannte "arische Volksgemeinschaft" unterwandern, ausbeuten, zerstören wolle. Angehörige der jüdischen Gemeinden wurden per Volkszählung erfasst, jüdische Geschäftsleute durch Boykottaufrufe und Schlägertrupps der SS und SA terrorisiert, jüdische Beamte aus dem Staatsdienst gedrängt.  MUSIK Prisma CD847090 001 (0.27) SPRECHER: Juden, so hieß es in den Nürnberger Gesetzen von 1935, haben kein Stimmrecht mehr in politischen Angelegenheiten, dürfen keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, sie dürfen Nichtjuden nicht heiraten und auch keine sexuellen Beziehungen mit ihnen haben. ERZÄHLERIN:Die Nürnberger Gesetze lieferten eine diffuse Theorie, welche Menschen in der NS Ideologie als Juden galten. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Anzahl der jüdischen Großeltern. Die Betroffenen gerieten ins Visier der Nationalsozialisten als sogenannte Voll-, Dreiviertel-, Halb- oder Vierteljuden, Mischlinge 1. oder 2. Grades … Mit einer Vielzahl von antisemitischen Gesetzen und Verordnungen schufen die Nationalsozialisten eine pseudolegale Basis für die schrittweise Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus vielen Lebensbereichen. MUSIK Structor Part 1 C1524640 (1.00) ERZÄHLERINAuf immer mehr Parkbänken fanden sich Schilder "Nur für Arier" und an immer mehr Eingängen von Geschäften oder Restaurants: "Juden unerwünscht". Jüdische Kinder wurden aus öffentlichen Schulen rausgemobbt. Jüdischen Ärzten und Juristen die Berufsausübung erschwert. Jüdische Geschäftsleute wurden zum Billig-Verkauf ihrer Firmen gezwungen. Diese Verdrängung der jüdischen Bevölkerung nannte sich im NS-Jargon "Arisierung", abgeleitet von dem Begriff "Arier", und ging in der Regel einher mit materiellen Vorteilen für die nichtjüdischen Deutschen – so die Historikerin Edith Raim, die sich intensiv mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in NS-Deutschland auseinandergesetzt hat. O3 Edith RaimDas ist teilweise 'ne Maßnahme der Partei, teilweise ist's auch staatlich gelenkt, und teilweise geht es auch von privaten Initiativen im Grunde aus, also dass bestimmte, besonders attraktive Grundstücke oder Geschäfte oder sowas, dass da einfach die Juden unter Druck gesetzt werden, dass die diese Sachen verkaufen. TC 04:30 – Raub der Existenzgrundlage ERZÄHLERIN:Viele wanderten aus. Denjenigen, die blieben oder bleiben mussten, wurde Schritt für Schritt die Existenzgrundlage entzogen. Im April 1938 bereiteten die Nationalsozialisten mit der systematischen Erfassung der jüdischen Vermögen die späteren flächendeckenden Enteignungen vor. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.30) SPRECHER:Jeder Jude im Sinne der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz – also der sogenannten Nürnberger Gesetze – und ebenso sein nichtjüdischer Ehegatte habe sein gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden, hieß es in der "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden". Ausgenommen seien Gegenstände des persönlichen Gebrauches, die keine Luxusgüter seien. MUSIK Tango defect 1 C1482730 024 (0.40) ERZÄHLERIN:Anfang Juni 1938 riss die Baufirma Leonhard Moll die Münchner Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße im Stadtzentrum ab. Der neuromanische Prachtbau war Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. in der Nähe des Karlsplatzes errichtet worden. Offiziell wurde der Abbruch als städtebauliche Maßnahme begründet. Die jüdische Gemeinde musste die Synagoge und die angrenzenden Verwaltungs- und Wohngebäude gegen Zahlung einer Entschädigung der Stadt München überlassen. Allen Mietern der Wohngebäude wurde gekündigt. Sie mussten ausziehen. Auch Ernst Grube lebte mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in einem der Gebäude, die der jüdischen Gemeinde gehörten. O4 Ernst Grube Nur bei uns war das so, dass eben der Vater nicht gegangen ist, dass er sich um die Kündigung also nun nicht so gekümmert hat und gesagt hat, ich bleib drin, ich geh nicht raus, die sollen uns eine Wohnung geben, so dass wir nach wenigen Wochen die einzigen waren, die in diesen zwei Häusern noch gewohnt hatten. Wir hatten damals 'ne Drei- oder Vierzimmerwohnung und man hat uns dann Licht gesperrt, Gas gesperrt, Wasser gesperrt. Und diese Situation war natürlich nicht haltbar, so dass uns dann die Eltern in das Kinderheim in München Schwabing gebracht haben.TC 06:48 – Das Schicksal vom Überlebenden Ernst Grube ERZÄHLERIN:Ernst Grube war damals sechs Jahre, sein Bruder Werner acht und die kleine Ruth nur ein paar Monate alt. Der Vater kam aus Ostpreußen und war überzeugter Kommunist. Die Mutter stammte aus einer jüdischen Familie und arbeitete im jüdischen Krankenhaus in München – so dass das jüdische Kinderheim eine naheliegende Lösung für das Wohnproblem war. O5 Ernst Grube Es war ein schönes Heim mit einem Garten und mit einer guten Betreuung. Und das eigentlich wichtige ist das Kennenlernen jüdischen Lebens. Bei uns zuhause gab es das nicht. Die Mutter hat zwar gebetet, hat ihre Feste gefeiert und ihre Kerzen angezündet und wir standen so ein bisschen rum. Aber das war kein jüdisches Familienleben. Der Vater war von seiner Einstellung her Kommunist. Er hat das alles zwar sehr toleriert, aber jüdisches Leben, das war dann im Kinderheim. ERZÄHLERIN:Für die drei Geschwister begann eine schöne Zeit. Sie waren gut versorgt und lernten die jüdischen Feste kennen, Chanukka, Pessach, Purim, Laubhüttenfest. Und sie mochten ihre Betreuerinnen sehr gerne. O6 Ernst Grube Ich hab sie so positiv in Erinnerung, ohne dass ich jetzt die einzelnen Namen heute noch nennen kann, außer der Alice Bendix, der Leiterin,  und der Hedwig Jacobi. Sie waren einfach immer da und haben uns geholfen, als wir außerhalb des Heimes von Nachbarskindern öfters angepöbelt wurden, angeschrien wurden, als Judensau beschimpft. Sie haben das ganz super verstanden, uns darüber hinweg zu helfen. MUSIK Structor Part 1 C1524640 011 (0.40) TC 08:41 – Auftakt des Holocaust ERZÄHLERIN:Kurz nachdem Ernst Grube und seine Geschwister in das jüdische Kinderheim gekommen waren, brannten deutschlandweit Hunderte von Synagogen. Ende Oktober 1938 hatten die NS Machthaber polnische Juden aus dem Reichsgebiet abgeschoben, unter ihnen die Familie von Herschel Grynszpan, der daraufhin einen deutschen Diplomaten in Paris erschoss. Dieses Attentat diente als Vorwand für Gewaltaktionen im ganzen Land, organisiert von der NS Führung, getarnt als spontaner Ausbruch des Volkszorns gegen die jüdischen Nachbarn: In Zivil gekleidete Mitglieder von NS Organisationen zerstörten Synagogen, jüdische Geschäfte, Wohnungen, verprügelten die Bewohner, töteten viele und verschleppten Tausende in Konzentrationslager. Die Historikerin Edith Raim zur Bedeutung des inszenierten Gewaltausbruches. O7 Edith RaimDie Pogromnacht vom November 1938 ist der Auftakt eigentlich des Holocaust, weil es der Schritt in die Gewalt ist. Also vorher sind es Maßnahmen, Verordnungen, Gesetze, der Versuch, einfach die Juden aus Deutschland zu vertreiben. Es hat – das muss man auch sagen – bereits vorher natürlich gewalttätige Maßnahmen gegeben. Also es gibt, diese sogenannten Prangermärsche, wo zum Beispiel Juden, die Beziehungen zu nichtjüdischen Frauen, hatten durch den Ort geführt worden sind, geschlagen, bespuckt und verhaftet worden sind. Die Gewalt hat's natürlich vor 1938 auch gegeben, aber diese massive und umfassende Gewalt reichsweit – das ist wirklich was ganz ganz Neues gewesen. ERZÄHLERIN:Viele der jüdischen Männer, die in der Pogromnacht in Konzentrationslager gebracht wurden, überlebten die Haft nicht, andere kamen erst frei, nachdem sie eine Auswanderungserklärung unterschrieben hatten. Die Kosten für die Schäden der Novemberpogrome musste die jüdische Bevölkerung selbst übernehmen und eine Geldbuße in Höhe von einer Milliarde Reichsmark leisten. Die jüdischen Vermögen waren ja bereits im Frühjahr 1938 qua Gesetz erfasst worden. Nun mussten alle, die mehr als 5000 Reichsmark besaßen, 20 Prozent davon an ihr Finanzamt abführen. Wieder gab es eine Flut von diskriminierenden Regelungen. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.35) TC 10:46 – Ausgestoßen aus Gesellschaft und Wirtschaft SPRECHEREine der wichtigsten war die sogenannte "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938. Juden durften keinen Handel, kein Handwerk, kein Gewerbe mehr treiben. Sie durften keine Theater, Museen, Kinos, Freibäder und sonstige öffentliche Einrichtungen mehr betreten. Jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Juden durften keine Autos mehr besitzen und keinen Führerschein mehr haben. O8 Edith RaimUnd es gibt noch jede Menge Schikanen, die dann da kommen. Also die dürfen dann keine Fotoapparate mehr, keine Radio Apparate und so weiter, sogar Fahrräder, dürfen sie nicht mehr haben, Führerscheine nicht mehr haben. Und ab dem 1.1.1939 werden sie gezwungen, diese Zwangsvornamen anzunehmen, also Israel und Sarah, und das wird auch in die Pässe vermerkt. Also sie sind sozusagen damit als Juden gekennzeichnet. MUSIK Scarfaced C1568790 120 (1.05) TC 11:47 – Das grausame System ERZÄHLERIN:Anfang September 1939 begann die NS Diktatur mit dem Einmarsch in Polen den Zweiten Weltkrieg, einen rassenideologischen Vernichtungskrieg – mit dem Ziel, die osteuropäischen Gebiete bis zum Ural zu erobern, dort sogenannte "arische" Deutsche anzusiedeln, die einheimische slawische Bevölkerung teils zu vertreiben, teils zu versklaven oder zu töten und die jüdische Bevölkerung auszulöschen. Dazu wurde in Berlin das Reichssicherheitshauptamt gegründet, in dem nachrichten- und sicherheitsdienstliche Organisationen von SS, Gestapo und Kripo zusammengeführt wurden. Dieses RSHA stellte ideologisch geschulte Spezialeinheiten auf, sogenannte Einsatzgruppen, die in den besetzten Gebieten Führungseliten und Widerstandsgruppen verfolgten, die jüdische Bevölkerung in Ghettos zwangen und verantwortlich für Massenmorde waren. Währenddessen spitzte sich die Situation der jüdischen Deutschen im Reichsgebiet bedrohlich zu. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.25) SPRECHER:Für die in München noch ansässigen Juden würden zur Zeit in Milbertshofen Baracken gebaut, schrieb im Oktober 1941 der Münchner Stadtrat Harbers in einem Bericht betreffend "Umsiedlung der hiesigen Juden". Damit würden dann rund 300 Wohnungen frei, die an Wohnungssuchende vergeben werden könnten. ERZÄHLERIN:Bereits ab Mai 1939 hatten die Nationalsozialisten die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und Häusern gesetzlich vorbereitet und betrieben. NS Organisationen wie die Gestapo arbeiteten dabei eng mit den örtlichen Wohnungsämtern zusammen. Tausende Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen, in engen Sammelunterkünften hausen, ab Mitte September 1941 schließlich den Gelben Stern tragen. Zum Teil waren die Menschen in normalen Wohnhäusern zusammengepfercht, die im NS Verwaltungsapparat "Judenhäuser" hießen. Teilweise wurden auch größere Anlagen von jüdischen Gemeinden wie Altersheime oder Synagogen umfunktioniert und teilweise wurden auch Barackenlager wie im Münchner Stadtteil Milbertshofen gebaut. Die jüdische Bevölkerung war sozial völlig isoliert. Den Deportationen stand nichts mehr im Wege. Sie wurden zentral vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin organisiert. O9 Edith RaimUnd vor Ort ist es dann jeweils die Gestapo, die die Federführung bei den Deportationen hat. Gleichzeitig sind die Deportationen ein wahnsinnig arbeitsteiliger Prozess. Also, man kann nicht sagen: ja, die Gestapo organisiert jetzt alles, sondern das sind natürlich Dutzende von Ämtern beteiligt: Steuerbehörden, Finanzämter und teilweise natürlich auch der Zoll, die Reichsbahn. Also, es kommen sehr viele andere Behörden mit ins Spiel, die benötigt werden. ERZÄHLERIN:Auf Anweisung der Gestapo mussten die jüdischen Gemeinden Listen mit den Namen der Menschen erstellen, die unter dem Vorwand der "Evakuierung" oder "Umsiedlung" abtransportiert werden sollten – und die Betroffenen dann auch darüber informieren. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.45) SPRECHER:Unter dem Betreff "Evakuierung" informierte die Israelitische Kultusgemeinde München im Vorfeld der ersten Deportation im November 1941 die Betroffenen brieflich darüber, dass zufolge einer Anordnung der Geheimen Staatspolizei die Personen, die zum Transport eingeteilt worden sind, sich in ihren Unterkünften bereitzuhalten hätten. Jeder Versuch, sich der Umsiedlung zu widersetzen oder zu entziehen, sei zwecklos und könne für die Betroffenen schwere Folgen haben. Jeder Transportteilnehmer darf 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, Kleidung und Bedarfsgegenstände. Außerdem muss jeder ein ausgefülltes Vermögensverzeichnis mitbringen. ERZÄHLERIN:Das Barackenlager in Milbertshofen diente als Sammelunterkunft. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft der Siedlung am Hart, wurde unter Beteiligung von jüdischen Zwangsarbeitern errichtet, bestand aus zwölf großen und sechs kleinen Holzbaracken und war für etwa 800 Personen geplant, hatte aber zeitweise weit über 1000 Insassen. MUSIK Tango defect 2 C1482730 025 (1.10)  ERZÄHLERINWenige Wochen vor der ersten Deportation aus München wurden alle Betroffenen, die noch nicht im Lager waren, aus ihren Unterkünften nach Milbertshofen gebracht. Alle wurden bei Ankunft durchsucht, nicht erlaubte Gegenstände wurden abgenommen, ebenso Ausweispapiere und Lebensmittelmarken. Jeder musste 50 Reichsmark für die Transportkosten bar bezahlen. Der Rest des Bargeldes musste mit eventuell vorhandenen Wertpapieren, Depotscheinen abgegeben werden, ebenso Vermögenserklärungen, Formulare, in denen detailliert Auskunft über Vermögens- und Besitzverhältnisse verlangt wurde. Damit waren alle Unterlagen für eine spätere Enteignung komplett. Vom Güterbahnhof in Milbertshofen aus wurden dann in den frühen Morgenstunden des 20. November 1941 etwa tausend Menschen in die besetzten Ostgebiete gebracht – unter ihnen auch Kinder aus dem jüdischen Kinderheim in Schwabing. Sie wurden direkt mit dem Bus zum Bahnhof gebracht. Ernst Grube erinnert sich. O10 Ernst Grube In dem Heim waren etwa 40, 50 Kinder, Jugendliche, und davon sind, ich weiß nicht, wieviel, aber so ein gutes Drittel, wenn nicht mehr auf Transport gekommen. Wir wussten natürlich nicht, was das sollte und wohin das ging. Aber allein dieser Zwang der Trennung. Wir haben alle geweint. ERZÄHLERIN:"Verzogen, unbekannt wohin" vermerkten die Einwohnermeldeämter in den Akten der Deportierten. Mit dem Abtransport in die besetzten Ostgebiete wurde die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes wirksam. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.15) SPRECHER:Diese besagte: Juden verlieren die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn sie das Reichsgebiet verlassen. Eigentum und Vermögen fällt an das Deutsche Reich.  ERZÄHLERIN:Es waren die Oberfinanzpräsidien, die mit der „Verwaltung und Verwertung jüdischen Eigentums“ beauftragt wurden. So die Sprache der NS-Bürokratie. Alle Bankkonten und alle Wertpapierdepots wurden zugunsten des Reiches eingezogen ebenso Wertgegenstände wie Schmuck, Teppiche oder Gemälde, die dann bei öffentlichen Versteigerungen unters Volk gebracht wurden. Dazu Edith Raim. O11 Edith Raim 25''Also man hat dann zum Beispiel Mobiliar von Wohnungen genommen, und es wurde dann auf Auktionen versteigert, also der ganze Hausrat, also Töpfe und Geschirr, und was man sich alles an Trivialitäten noch vorstellen mag, das wurde alles versteigert zugunsten des Reiches, und das Interessante ist das natürlich, da viele viele Deutsche sich daran auch bereichert haben, also das war so ein bisschen 'ne Schnäppchenjagd. MUSIK Scarfaced C1568790 120 (0.55)TC 18:55 – Massenmorde ERZÄHLERIN:Die erste Deportation aus München sollte ins lettische Riga gehen, wurde aber kurzfristig umgeleitet in die litauische Stadt Kaunas. Dort hatte der SS-Standartenführer Karl Jäger als Führer des Einsatzkommandos 3 im Juli 1941 die sogenannten „sicherheitspolizeilichen Aufgaben“ übernommen. Mit Hilfe von einheimischen Kollaborateuren waren bis November 1941 bereits Tausende von litauischen Juden ermordet worden. Nach ihrer Ankunft mussten die aus München Deportierten in ein Fort aus der Zarenzeit marschieren, das etwas außerhalb der Stadt lag. Zwei Tage später wurden sie dort zusammen mit Deportierten aus Berlin und Frankfurt am Main von Angehörigen des Einsatzkommandos 3 ermordet. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.35) SPRECHER:Die Durchführung solcher Aktionen sei in erster Linie eine Organisationsfrage, schrieb SS Standartenführer Karl Jäger am 1. Dezember 1941 in seinem Abschlussbericht. Die Juden mussten an einem Ort gesammelt, Plätze für die erforderlichen Gruben ausgesucht und ausgehoben und die Juden an den Exekutionsplatz transportiert werden. ERZÄHLERIN:Auf sechs Seiten präsentierte Karl Jäger eine brutale Todesbilanz. Er listete alle Massenmorde tabellarisch auf: Datum, Ort, Anzahl der ermordeten Männer, Frauen und Kinder, schließlich Gesamtzahl der Ermordeten. Unter Monat November sind die Männer, Frauen und Kinder erfasst, die bei der ersten Deportation aus München verschleppt wurden. MUSIK Prisma CD847090 001 (0.25) SPRECHER: Am 25.11.41 sind unter Kaunas, Fort IX – 1159 Juden aufgeführt, 1600 Jüdinnen, 175 Judenkinder – insgesamt 2934 Umsiedler aus Berlin, München und Frankfurt am Main. ERZÄHLERIN:Die deutschen Besatzer bauten in den Ostgebieten ein dichtes Netz an Lagern auf: Ghettos, Arbeitslager, Durchgangslager, Vernichtungslager … Die meisten der deportierten Deutschen wurden bei Ankunft im Osten nicht sofort getötet, sondern kamen zuerst in Arbeitslager oder Ghettos, wo sie gemeinsam mit der ostjüdischen Bevölkerung und Deportierten aus ganz Europa auf engstem Raum eingesperrt waren. Wer die schlechten Lebensbedingungen überlebte, wurde später in Vernichtungslager gebracht wie Sobibor, Treblinka oder Auschwitz – und dort ermordet. Bei der zweiten Deportation aus München im April 1942 wurden 774 Menschen ins ostpolnische Piaski verschleppt, einem ehemaligen jüdischen Schtetl, das in ein Ghetto umfunktioniert worden war. Auch von ihnen hat keiner überlebt. Während der nächsten Jahre gingen noch 42 Deportationen aus München weg, die meisten von ihnen ins tschechische Theresienstadt. Ernst Grube und seine Geschwister blieben lange von der Deportation verschont. MUSIK Nostalgia motif 1 M0010633 037 (0.50) O12 Ernst Grube Der Vater als Nichtjude war für uns die Garantie, die vorläufige Garantie des Überlebens. Er hat sich nicht scheiden lassen. Er hat dem Druck standgehalten, den er immer wieder hatte, von der Gestapo durch Vorladung, sich doch von der Saujüdin scheiden zu lassen. Er hat das nicht gemacht. ERZÄHLERIN:Trotzdem wurden die Kinder mit ihrer Mutter im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert. Sie haben überlebt und kehrten nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach München zurück. TC 22:48 - Outro
undefined
Jan 17, 2024 • 37min

Wie war das damals? Als Deutschland eine Diktatur wurde

Kann eine Demokratie sich selbst zerstören? Genau das passierte im Laufe des Jahres 1933 in Deutschland, als Adolf Hitler erst Kanzler wurde und dann die Demokratie mit Terror, Gewalt, aber eben auch mit Verordnungen und Gesetzen zur Diktatur machte. Parteien, Verbände und Vereine, Kultur und Kunst wurden in kurzer Zeit auf die Linie der NSDAP gebracht. Wie konnte das passieren? Und: Kann das in Deutschland noch einmal geschehen? Dieser Frage geht diese Folge von "Wie war das damals?" nach. Von Christian Schaaf & Michael Zametzer Autoren dieser Folge: Christian Schaaf und Michael ZametzerInterviewpartner: Dr. Thomas Schlemmer, Institut für Zeitgeschichte MünchenRedaktion: Nicole Hirsch, Eva Kötting und Heike Simon Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN
undefined
Jan 12, 2024 • 24min

MENSCH UND MEER - Geschichte der Hochseefischerei

Sie sind auf riesenhaften Fabrikschiffen auf allen Weltmeeren unterwegs: Hochseefischer, die in großem Stil Meerestiere auf offener See fangen. Mit der Dampfschifffahrt und der modernen Kühltechnik begann der Aufstieg dieses Metiers, das Fisch zum günstigen und stets verfügbaren Grundnahrungsmittel machte. Inzwischen ist es mitverantwortlich für die Überfischung der Meere. Autor: Lukas Grasberger (BR 2022) Credits Autor dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Thomas Birnstiel, Peter Vet, Karin Schumacher Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview:Ingo Heidbrink (Professor für Maritime History, Old Dominion University, Norfolk);Ole Sparenberg (Forscher am Karlsruher Institut für Technologie);Johanna Sackel (Forscherin an der Uni Paderborn);Celia Ojeda (Meeresbiologin bei Greenpeace) Linktipps: Deutschlandfunk Kultur (2023): Schutz der Hochsee – Kein Erfolg in SichtEs ist bereits das sechste Mal, dass die Vereinten Nationen versuchen, für die Hohe See eine Art Verfassung zu erarbeiten. Doch die Verhandlungen über das Meer außerhalb nationaler Gebiete drohen wieder zu scheitern:Schutz der Hochsee - Kein Erfolg in Sicht (deutschlandfunk.de) BR (2022): Was das Angeln über die Nachhaltigkeit lehrtAngeln hat Einfluss auf Gewässer und ihre Fischbestände. Wie weit Angler:innen tatsächlich nachhaltig in die Gewässerbewirtschaftung eingreifen, das erklärt der Fischereiwissenschaftler Prof. Dr. Robert Arlinghaus von der HU Berlin: Prof. Dr. Robert Arlinghaus, Fischereiwissenschaftler: Was das Angeln über die Nachhaltigkeit lehrt | Campus | ARD alpha | Fernsehen | BR.de Deutschlandfunk (2018): Ausbildung in der Fischerei – Knochenjob auf hoher SeeDie Zahl der Schiffe und Meeresfischer ist in den letzten Jahrzehnten stark gesunken: Schwankende Fangquoten und strenge Auflagen machen den Fischern das Leben schwer. Trotz der schwierigen Bedingungen entscheiden sich jedes Jahr junge Menschen für den Beruf auf hoher See: Ausbildung in der Fischerei - Knochenjob auf hoher See (deutschlandfunk.de) Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Timecodes (TC) zu dieser Folge: TC 00:15 – Intro TC 01:22 – Hunger treibt auf die See TC 03:31 – Wie Dampfmaschine und Urbanisierung die Fischerei beeinflussten TC 05:29 – Die Fisch Propaganda TC 09:12 – Deutschland wird wieder ‚Klar Schiff‘ TC 10:51 – Das Ende der Freiheit der Meere TC 14:56 – Spanische Fischergeschichte(n) TC 17:34 – Was der globale Heißhunger auf Fisch anrichtet TC 21:42 - Outro Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: TC 00:15 – Intro  Beginn mit MUSIK 1: Kat’s gut - C1537750103 – 50 Sek ATMO Fischerboot fährt ein, legt an SPRECHER Bedächtig schiebt sich die „Juanito Uno“ an die Mole im Hafen von Agaete auf Gran Canaria. Während seine Kollegen den Fischkutter vertäuen, schlingt Estebán ein Kunststoffseil um die meterbreite Schwanzflosse eines Thunfischs im Heck des blau-weißen Bootes.  ATMO Thunfisch wird an Seilwinde hochgezogen Alleine schafft es der schlaksige Fischer nicht, den silbriggrau glänzenden Raubfisch aus dem Boot zu hieven. Am Ende ziehen drei Männer in gelbem Ölzeug an der Seilwinde. Zentimeter für Zentimeter bewegt sich der mehrere hundert Kilo schwere Blauflossenthun nach oben, nach und nach offenbart sich das ganze Ausmaß des Fangs. O-TON 1 Estebán, Fischer im Hafen von Agete, span,  OVERVOICE männlich „Wir wissen mittlerweile, wo wir sie finden: Dazu brauchst du Erfahrung – und Gespür. Und du musst auch schon mal Seemeilen machen - weit raus auf hohe See. Manchmal fahren wir rüber bis nach La Gomera - oder wir fischen vor Fuerteventura.“  ATMO Schiff auf See TC 01:22 – Hunger treibt auf die See SPRECHER Seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden wagen sich Menschen wie Estebán hinaus auf die hohe See, auf der Jagd nach nahrhaftem Meerestier wie Thunfisch, Wal oder Kabeljau. Bereits vor 42.000 Jahren hätten sich die Bewohner von Timor zu Hochseefischern entwickelt, erklärt die australische Archäologin Sue O´Connor, die in einer Höhle von Ureinwohnern Thunfisch-Gräten entdeckte, in einer 2011 veröffentlichten Studie. Da es auf der Insel im indischen Ozean außer Ratten und Fledermäusen kein essbares Tier gegeben habe, seien sie gezwungenermaßen hinaus aufs offene Meer gefahren, um dort Thunfisch zu angeln.  MUSIK 2: THE DECISION TO TURN AROUND - C1108980 005 – 59 SEK SPRECHER Hochseefischerei als organisiertes Unterfangen und betrieben in großem Maßstab – die gibt es seit dem 15. Jahrhundert. Als erste stellten damals die Niederländer Fangflotten zusammen, die wochenlang auf See bleiben konnten. Versorgt wurden diese Fangboote von so genannten „Ventjagers“ - Frachtschiffen, die den Fisch übernahmen und in die Häfen transportierten. Die Fische und andere Meerestiere sammelten die niederländischen Fischfangflotten mit Hilfe langer Schleppnetze ein. Dieses Schleppnetzfischen gelangte aber erst im 19. Jahrhundert zu großer Blüte. Zusammen mit vor allem einer technischen Neuerung brachte der Fang mit Hilfe von Schleppnetzen die Entwicklung einer Hochseefischerei auf breiter Front voran, erklärt der Historiker Ole Sparenberg.  O-TON 2 Ole Sparenberg, Forscher am Karlsruher Institut für Technologie „Also es muss eine Reihe von technischen und anderen Innovationen zusammenkommen, erst mal natürlich der Einsatz der Dampfmaschine. Die ist natürlich schon länger bekannt, aber in der Fischerei begann der Einsatz von Dampfmaschinen tatsächlich erst in den 1880er Jahren.Eine andere technische Innovation, die auch schon ab den späten 1860 er Jahren so langsam begann, war die Lagerung von Fisch auf Eis. Dann das Grundschleppnetz: Das wurde vorher schon eine Zeit lang für Segelfahrzeuge eingesetzt, aber mit einem Dampfer-Fahrzeug kann mit viel mehr Geschwindigkeit und damit effizienter und auch wetterunabhängiger ein Netz über dem Boden schleppen und damit effizienter fischen. […]. Eine andere technische Innovation, die auch schon ab dem späten 1860er Jahren so langsam begann, war die Lagerung von Fisch auf Eis “ TC 03:31 – Wie Dampfmaschine und Urbanisierung die Fischerei beeinflussten SPRECHER Dampfantrieb und Eis-Kühlung in Kombination machten die Fischer also unabhängig von Zeit und Raum. Darin sieht Ingo Heidbrink, Professor für Maritime Geschichte, den eigentlichen Beginn der modernen Hochseefischerei.  O-TON 3 Ingo Heidbrink, Prof für Maritime History, Old Dominion University in Norfolk „In dem Moment, wenn Sie den Fisch bereits an Bord schlachten und auf Eis lagern, haben Sie natürlich eine größere See-Ausdauer. Sie können ungefähr Fahrzeiten bis zu drei Wochen nach dem ersten Fangtag damit erzielen und damit erhalten sie die Möglichkeit, auch einmal die Küstengewässer zu verlassen und weiter entfernte Fanggründe anzulaufen.“  ATMO Raddampfer-Fahrt SPRECHER Der Fischfang, sagt die Paderborner Geschichtswissenschaftlerin Johanna Sackel, wurde zudem von der Dynamik der Industrialisierung erfasst – und in diese eingebunden. Die Möglichkeit, große Mengen an Waren schnell über weite Strecken zu transportieren, veränderte die Fischerei grundlegend. O-TON 4 Johanna Sackel, Forscherin an der Uni Paderborn + Autorin „Wem gehört das Meer?“ „Durch die die Etablierung und den Ausbau der Eisenbahn wurde es letztlich möglich, den Seefisch dann eben auch im Binnenland zu vermarkten. Das heißt, die verderbliche Ware konnte nun schneller zu den Verbrauchern transportiert werden und war das dann einmal etabliert, mussten natürlich diese neue geschaffenen Absatzmärkte auch bedient werden.“ O-TON 5 Sparenberg Teil 1   „...da spielt natürlich das Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert eine große Rolle, und vor allem auch die Urbanisierung.“ SPRECHER ergänzt Ole Sparenberg. Die Arbeiterschaft in den wachsenden Industriestädten hungerte nach proteinreicher Nahrung. O-TON 5 Sparenberg Teil 2 „Aber eben dieser Massenmarkt in den Städten musste dazu kommen, um überhaupt wie die Nachfrage nach so einer Hochseefischerei im großen Stil zu schaffen.“ SPRECHER Es waren die ersten und wichtigsten Industrienationen Großbritannien und Deutschland, die auch den industriellen Fischfang vorantrieben. Ole Sparenberg, der am Karlsruher Institut für Technologie zur Umwelt- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts forscht, skizziert die Anfänge einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte. TC 05:29 – Die Fisch Propaganda  O-TON 6 Sparenberg „Der Durchbruch, was man so als Beginn der deutschen Hochseefischerei bezeichnet, war dann 1885, als der Fischhändler Friedrich Busse aus Geestemünde - das ist heute Bremerhaven - den ersten deutschen Fischdampfer, die Sagitta gebaut hat, das folgte britischen Vorbildern...  Das ging dann relativ schnell, also in Deutschland gab es dann um 1900 bereits über 100 Fischdampfer, und die wesentlichen Standorte, der diese Industrie waren, was heute Bremerhaven ist: also Geestemünde und dann Hamburg-Altona, und auch Cuxhaven.“ SPRECHER Der deutsche Verbraucher fremdelte anfangs mit dem auf hoher See gefangenen Kabeljau, Rotbarsch oder Seelachs. Zum einen hätten sowohl Fischhändler wie ihre Ware anfangs noch penetrant gestunken, weiß Sparenberg. Zum anderen waren viele nicht mit der Zubereitung, vor allem dem Ausnehmen der noch samt Innereien verkauften Meerestiers vertraut. O-TON 7 Sparenberg „Insofern gab sehr früh dann schon, ab den 1880er, 90er-Jahren, Werbemaßnahmen, Absatzförderung, sogenannte Seefisch-Propaganda: Man ist gezielt auf Großabnehmer wie Gefängnisse, Kasernen, Bergwerke und so weiter herangetreten, um damit den Absatz für den Fisch zu schaffen. Also, das war immer der wunde Punkt der deutschen Fischwirtschaft, dass es da Absatzprobleme gab, und das Ganze stark auf staatliche Förderung angewiesen war. Das hat dann im Kaiserreich auch natürlich damit zu tun, dass es vor dem Hintergrund stand von Marine-Begeisterung und Flottenrüstung. Die Fischerei war Teil der deutschen Seeinteressen, wie das hieß. Man sah auch immer die Hochseefischerei so als Rekrutierungsbüro für die deutsche Marine, deshalb genoss das eben auch eine staatliche Förderung.“ ATMO Kanonendonner, Schiffskrieg WW1 + MUSIK 3: The organ grinder – M0084185144 - 58 Sek SPRECHER Im Ersten Weltkrieg wurde in den Weiten der Nord- und Ostsee kaum gefischt. Vielmehr waren die Meere Schauplatz erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa zwischen den führenden Fischerei-Nationen Deutschland und Großbritannien.  Mit der kriegsbedingten, marinen Hochrüstung erfuhren viele Schiffe indes eine Modernisierung. Nach Ende des Ersten Weltkriegs verdoppelte sich die Zahl der Boote der deutschen Hochseeflotte nahezu – auf gut 400. Weiter befeuert wurde dieser Boom ab 1933 durch die Nationalsozialisten. Die NS-Diktatur, die unter einem Mangel an Devisen litt und einen Krieg vorbereitete, wollte möglichst unabhängig werden von Importen aus anderen Ländern, erklärt Ole Spargenberg. Der Historiker hat zu „Hochsee-Fischerei und Walfang im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik“ promoviert. O-TON 8 Sparenberg  „Schlagwörter der damaligen Zeit waren die Fett- und Eiweiß-Lücke: Fett- und Eiweißversorgung konnte die Landwirtschaft trotz politischer Förderung, trotz der sogenannten Erzeugungsschlacht... konnten die das nicht decken. Man konnte einfach keine Autarkie, keine Selbstversorgung bei Fett und Eiweiß herstellen. Spätestens ab 1936 bewarben Staat und Wirtschaft Fisch als ideale devisenfreie Ernährung“ SPRECHER Die Nationalsozialisten beschlagnahmten den überwiegenden Teil der deutschen Fischdampferflotte für den Dienst im Zweiten Weltkrieg. Etliche hochseetaugliche, zu Kriegsschiffen umgerüstete Fischereiboote wurden versenkt, nach Ende des Krieges standen nur noch 58 Schiffe für den Fischfang zur Verfügung. Die Auflagen der alliierten Besatzer für den Bau neuer Boote waren streng, bis 1949 war dieser ganz verboten. Doch danach konnte die deutsche Hochsee-Fischerei relativ nahtlos an die technischen Errungenschaften der Zwischenkriegszeit anknüpfen.  TC 09:12 – Deutschland wird wieder ‚Klar Schiff‘  O-TON 9 Heidbrink „Nach dem Zweiten Weltkrieg sehen wir wahrscheinlich die größten Veränderungen in der Hochseefischerei überhaupt“ SPRECHER ...betont Ingo Heidbrink. Die einstigen Fischdampfer fuhren nun mit Dieselmotoren. Dazu betrieben die Boote ihre Fischerei als Heckfänger: Das Netz wurde nun nicht mehr über die Seite, sondern über das Heck eingeholt. Damit konnte man bei schlechterem Wetter und mit weniger Personal fischen. So genannte Fang-Fabrikschiffe entstanden, die den Fisch an Bord schlachteten, verarbeiteten und kühlten – und damit theoretisch unbegrenzte Zeit auf offener See zubringen konnten, ohne dass der Fang verdarb. MUSIK Doku NWDR: 1955 Heringsfischerei in D (ca. 30 Sek)  Mit einer der modernsten Flotten Europas gingen die deutschen Hochseefischer so ab den 1950er-Jahren wieder auf große Fahrt – auch fern der Heimat. ZSP 1 aus Doku NWDR: 1955 Heringsfischerei in Deutschland (18 sek)  „In den ersten Maitagen heißt es wieder „Klar Schiff!“ Schließlich wollen wir Ende des Monats mit diesen Schiffen bis an die Shetlands, wo sich dann der Matjes aufhält. Da gibt’s noch ne Menge Arbeit! Wir deutschen Logger fischen da oben nicht allein: Beim Heringsfang trifft sich so ziemlich die gesamte seefahrende Bevölkerung Europas.“  SPRECHER Auch die DDR etablierte ab Ende der 1940er-Jahre eine eigene Hochseefischerei. Deren Boote gingen zunächst in der Ostsee, bald darauf aber wie ihre westdeutschen Konkurrenten in der ganzen Welt bis vor Argentinien oder im indischen Ozean auf Fangtour. Doch die „Freiheit der Meere“ sollte bald der Vergangenheit angehören, sagt der Meeresforscher Ingo Heidbrink. Dies liege in einer „völligen Umgestaltung der politischen Landkarte“ nach dem Zweiten Weltkrieg begründet. TC 10:51 – Das Ende der Freiheit der Meere O-TON 10 Heidbrink „Das heißt Island wird eine eigene, voll souveräne Nation. Grönland bleibt bei Dänemark oder geht zurück zu Dänemark, verlangt aber eine größere Autonomie in mehreren Schritten. Und als dritten Schritt Kanada - beziehungsweise vor allen Dingen Neufundland - ist nicht mehr ein britisches dominion, sondern wird Bestandteil von Kanada. Und damit haben wir innerhalb kürzester Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Nordatlantik nicht mehr eine Gruppe von Kolonien beziehungsweise teilweise kolonial abhängigen Staaten, sondern souveräne Staaten, die agieren.“  SPRECHER Denn es ist keineswegs so, dass die so genannte Hochseefischerei vorwiegend in den Weiten internationaler Gewässer stattfindet, wo sich die Fangschiffe nicht ins Gehege kommen, betont Ingo Heidbrink. Das Gros der globalen Fischbestände befinde sich innerhalb von 200 Meilen vor der Küste von Staaten – die diese Gebiete als „ausschließliche Wirtschaftszone“ nutzen dürfen. O-TON 11 Heidbrink „Hochseefischerei ist Küstenfischerei an fernen Küsten, eigentlich oder nicht an fernen Küsten, sondern vor fernen Küsten. Und damit haben sie natürlich eine Konkurrenzsituation zur lokalen Küstenfischerei.“ SPRECHER Ab Ende der 1950er-Jahre führte dies zu Konflikten zwischen den führenden Hochseefischerei-Nationen Großbritannien und Deutschland – und dem „Newcomer“ Island, der plötzlich eine Zone von mehreren Meilen vor seiner Küste ausschließlich für die eigenen Fischer beanspruchte.  ATMO Schiffssirene aus Doku „Cod Wars“ + ATMO Wellen SPRECHER Island schaffte es bis Mitte der Siebziger Jahre, seine Fischereigrenzen von vier auf zwölf, dann auf 50 und zuletzt auf 200 Seemeilen auszuweiten. Damit schuf der junge Inselstaat im Nordatlantik einen Präzedenzfall. Die Karten im Konkurrenzkampf um die ertragreichsten Fischereigründe wurden neu gemischt.  O-TON 12 Sparenberg „Und das hat natürlich für diese traditionellen Hochseefischereinationen wie Deutschland und Großbritannien ernste Auswirkungen gehabt, der deutschen Hochseefischerei brachen insofern ihre Fanggründe weg. Das hatte dann schwere wirtschaftliche soziale Auswirkungen an den Standorten der Hochseefischerei, also vor allem Bremerhaven und Cuxhaven, zumal die sonstiger wirtschaftliche Entwicklung Werften, Hafen und so weiter auch nicht gut lief.“ MUSIK 4: „Titelfolge“ aus „Der Seewolf“- C1164320 132 – 27 Sek SPRECHER Bestand die deutsche Hochseefisch-Flotte Mitte der 1970er-Jahre noch aus 66 Schiffen, so waren es zehn Jahre später nur noch 15. Die Politik konnte den Niedergang nicht stoppen: Sie setzte auf Hilfen, um ihn zumindest abzufedern – und auf viel Pathos, weiß Johanna Sackel, die schwerpunktmäßig zu maritimer Geschichte forscht.  O-TON 13 Sackel „Da hat man auch dieses Bild(...) kreiert, wo der Hochseefischer so als einen heroischer, blonder Mann dargestellt ist, der in die Ferne blickt und dem man ansieht, dass er einfach mit allen Wassern gewaschen, gewaschen ist. Der Hochseefischer wurde verbunden mit den Eigenschaften Tapferkeit und natürlich auch Heldenmut also, das waren so die beiden ja, Eigenschaften, die den die man dann auch in der Öffentlichkeit versucht hat bekannt zu machen und vor allen Dingen dann eben auch seitens der Politik das stark zu machen und somit auch zu rechtfertigen, warum diese Branche Unterstützung erfahren sollte.“ SPRECHER Tatsächlich schien und scheint der Beruf des Hochseefischers Mut zu erfordern: Er zählt laut einer 2016 veröffentlichten Auswertung des US-amerikanischen Amts für Arbeitsstatistik zu den gefährlichsten Berufen der Welt. Besonders der Thunfischfang führt zu etlichen, auch tödlichen Arbeitsunfällen auf hoher See: Immer wieder werden Fischer ins Meer oder auf die Planken geschleudert, wenn der mehrere hundert Kilo schwere Raubfisch im Todeskampf um sich schlägt.  MUSIK 5: „Kat’s gut“ – siehe Musik 1 – 19 Sek +  ATMO Hafen von Agaete Auch Estebán, der gerade vom Thunfischfang auf dem Atlantik ins kanarische Fischerdorf Agaete zurückgekehrt ist, kann dazu Geschichten erzählen.    TC 14:56 – Spanische Fischergeschichte(n) O-TON 14 Estebán OV OVERVOICE männlich „Es ist eine gefährliche Arbeit. Wir kämpfen ja mit dem Thunfisch quasi Mann gegen Mann, das kann Stunden dauern. Er hat scharfe Zähne und Flossen, über die du dir allerlei Verletzungen zuziehen kannst. Spannt sich die Fangleine, ist das wie ein Messer, durch das du Finger oder auch mal einen ganzen Arm verlierst.“ SPRECHER Der Rentner Yano, der das Gespräch auf seinem Plastikstuhl mit anhört, nickt versonnen. Der 89-jährige fischte seinerzeit selbst auf einem kleinen Fischkutter auf dem Atlantik. Als dann gegen Ende der 1960er-Jahre immer mehr Hochsee-Schiffe großer Unternehmen in den Hafen von las Palmas kamen, heuerte Yano an. O-TON 15 Yano, span. dt. OV „Wir haben vor allem vor der afrikanischen Küste gefischt, haben dort Thunfisch, aber auch andere Arten gefangen. Wir waren zwei Dutzend Seeleute, und 25 Tage auf See unterwegs!... es war eine harte, aber schöne Zeit.“ SPRECHER Während in den 60er und 70er-Jahren die deutsche Fischereiflotte schrumpfte, begann der unaufhaltsamer Aufstieg Spaniens zur wichtigsten europäischen Hochseefischerei-Nation. Diktator Francisco  Franco verfolgte das Ziel, sein Land zu einer globalen Fischerei-Macht zu machen – und steckte viel Geld in den Ausbau der heimischen Hochseefischerei. Spanien kam dabei lange zugute, dass es sich nicht mit souveränen Staaten herumschlagen musste, die auf ihre Fischerei-Zonen pochten – sondern mit der West-Sahara eine Kolonie besaß, vor deren Küste man reichhaltige Fischgründe ausbeuten konnte. Und nach Ende der Franco-Diktatur und dem Eintritt in die Europäische Union waren es vor allem spanische Hochseefischer, die von Fischerei-Abkommen profitierten, die die EU mit afrikanischen Küstenstaaten schloss. O-TON 16 Sackel „In Westafrika zum Beispiel sind das vor allem die EU-Staaten, die dort Lizenzen erworben haben. Was eben diese Lizenzvereinbarung vorsieht: Also wir bauen euren Fischereisektor mit auf und leisten Entwicklungshilfe und dafür dürfen wir eben in euren Gewässern fischen. (...) wie dann zum Beispiel die Spanier, die halt im Rahmen von diesem EU Abkommen dort fischen konnten und die dann auch maßgeblich dazu beigetragen haben, leider diese Bestände zu überfischen, weswegen dann letztlich die kleinen Fischer, die dort lebten, das Nachsehen hatten. Meistens waren das ja schon fast Raubzüge, könnte man sagen, die dort stattgefunden haben, die dann natürlich auch sehr viel weiter draußen stattfanden, wohin die kleinen Fischer mit ihren Booten überhaupt nicht konkurrieren konnten.“ MUSIK 6: „Sonar 1“ – M0007520 052 – 34 Sek  TC 17:34 – Was der globale Heißhunger auf Fisch anrichtet SPRECHER Dass vor allem die industriell betriebene Fischerei die Ressourcen der Meere massiv dezimierte – das wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich. Zwei Drittel der globalen Bestände sind mittlerweile überfischt, oder gar in ihrer Existenz bedroht. Es sei nicht nur die schiere Masse an Meerestieren, die die Trawler mit modernen Ortungssystemen wie Sonar punktgenau finden und mit riesigen Schleppnetzen aus dem Ozean holen, sagt der Meeresforscher Ingo Heidbrink. O-TON 17 Heidbrink „... sondern das Problem ist vor allen Dingen, dass die Fernfischerei agieren kann in dem Moment, wenn die lokale Fischerei nicht agieren kann. Heißt: Wenn wir durch Wetter oder See-Situation Bedingungen haben, dass die lokale Fischerei nicht agieren kann oder nur sehr küstennah agieren kann, dann kann etwas weiter draußen auf dem Fangplatz das Fabrikschiff völlig problemlos arbeiten.“ SPRECHER Wissenschaftlern und Umweltschützern zufolge sind nicht nur die hochtechnisierten Fangflotten für die Überfischung verantwortlich. Auch Akteure wie die EU sorgten mit ihrem laxen System der Fischerei-Quoten dafür, dass die industrielle Hochsee-Fischerei die Meere regelrecht ausplündere, sagt Celia Ojeda von der Umweltorganisation Greenpeace. Der Thunfisch stehe beispielhaft für das strukturelle Versagen des Instruments der Fischerei-Quoten. O-TON 18 Celia Ojeda. Meeresbiologin, Greenpeace span, dt. OV OVERVOICE weiblich „Der Thunfisch ist zwar die Fischart, bei der am genauesten kontrolliert wird, welche Menge welches Boot fangen darf. Die Internationale Kommission für die Erhaltung der Thunfischbestände im Atlantik, an deren Beschlüsse die EU gebunden ist, erlaubt aber stets deutlich höhere Fangmengen, als die Wissenschaft für notwendig hält. Noch gar nicht in diese Quoten eingerechnet ist dabei die beträchtliche Zahl an Thunfischen, die illegal gefangen werden.“ SPRECHER  Dies habe nicht nur ökologisch, sondern auch sozial gravierende Folgen, warnt die promovierte Meeresbiologin Ojeda. O-TON 19 Ojeda OV OVERVOICE weiblich “Die Wildwest-Methoden dieser industriellen Fischerei führen neben offensichtlicher Nahrungsknappheit in den Küstenregionen auch zu schweren sozialen Verwerfungen. Etliche Fischer sehen daher keine andere Möglichkeit, mit ihren Booten übers Meer nach Spanien, nach Europa zu flüchten“   SPRECHER  Paradoxerweise fördere die Politik global weiter solche Fischerei in großem Stil, um die wachsende Nachfrage der Weltbevölkerung nach Meerestieren zu stillen, klagt die Greenpeace-Aktivistin.  MUSIK 7: „DESOLATION B“ – C1609470 127 – 47 SEK Den globalen Heißhunger auf Fisch decken zunehmend Fabrikschiffe wie die Annelies: Der mit 144 Metern Länge und einer Verarbeitungskapazität von 350 Tonnen pro Tag größte Trawler der Welt ist indes durch illegale Fischerei vor der irischen Küste aufgefallen. Auch die derzeit wichtigste Hochseefischereination China macht regelmäßig durch Piratenfischerei Negativschlagzeilen.  Der Meereswissenschaftler Ingo Heidbrink ist angesichts solcher Entwicklungen pessimistisch, was den Willen und die Fähigkeit der Küstenstaaten sowie internationaler Organisationen angeht, legaler wie illegaler Überfischung Einhalt zu gebieten. O-TON 20 Heidbrink „Ich sehe keinerlei Anzeichen, dass diese Prozesse....dass wir auf der einen Seite eine Modernisierung der Fischerei haben, dass wir auf der anderen Seite steigende Nachfragen haben, irgendwo zum Ende kommen, in globaler Hinsicht.“ MUSIK 8: „Sonar 1 – siehe vorn – 47 Sek SPRECHER „There is always another fish available“, „Es gibt immer einen anderen Fisch“ lautet der Titel einer Studie von Ingo Heidbrink, in der dieser untersucht hat, wie deutsche Hochseefischer die Quoten zur Fischfang-Beschränkung übergingen. Heidbrinks Kollege Ole Sparenberg kann diese Erkenntnis aus historischer Erfahrung bestätigen.  O-TON 21 Sparenberg „Wenn man sich die Geschichte der deutschen Hochseefischerei anguckt, ist es oft die Geschichte von Expansion, also:  Man fängt ein Gebiet leer - und geht dann zum nächsten.“ TC 21:42 - Outro

The AI-powered Podcast Player

Save insights by tapping your headphones, chat with episodes, discover the best highlights - and more!
App store bannerPlay store banner
Get the app