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Alles Geschichte - Der History-Podcast

STADTLEBEN FRÜHER – Rebellion und Mitsprache

May 17, 2024
23:29

Die mittelalterliche Stadt hat zwei Gesichter: Sie bringt die Landesentwicklung voran, stärkt Handel und Gewerbe und schafft ganz neue Formen von Öffentlichkeit. Doch zugleich ist sie ein Brandbeschleuniger sozialer und politischer Konflikte. Zunftmitglieder und unterprivilegierte Schichten in der Stadt erzeugen im Lauf der Zeit rebellische Teilöffentlichkeiten. Immer selbstbewusster drängen sie auf Mitsprache. Das führt häufig zu schweren Erschütterungen, Unruhen und gewaltsamen Aufständen. Von Simon Demmelhuber und Volker Eklkofer (BR 2020)

Credits
Autoren: Simon Demmelhuber, Volker Eklkofer
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Julia Fischer, Stefan Wilkening
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Beatrix Schönewald, Dr. Marco Veronesi

Ein besonderer Linktipp der Redaktion:

hr (2024): KRIEG IM SCHATTEN. Warum starb Nikola Milicevic?

In der Nacht auf den 13. Januar 1980 kehrt der kroatischstämmige Emigrant Nikola Milićević nach einem Kneipenabend zu seiner Wohnung im Frankfurter Ostend zurück. Als er gegen 3 Uhr seinen Wagen auf dem Parkplatz vor seinem Wohnblock abstellt und aussteigt, treffen ihn sechs Kugeln. Erst am nächsten Morgen finden Nachbarn seine Leiche. Der 42-Jährige hinterlässt Frau und fünf Kinder. Es ist eine Abrechnung, so viel steht fest. Doch Nikola Milićević - mit dem Spitznamen Beban ist kein Kleinkrimineller. Auch persönliche Motive liegen nicht vor. Die verwendete Munition und die Art des Mordes lassen bei den Ermittlern stattdessen ganz andere Alarmglocken klingeln: Alles deutet auf den Jugoslawischen Geheimdienst hin. ZUM PODCAST
 
Linktipps:

BR (2018): Urbanes Leben als Motor der Gesellschaft

Die Städte des Mittelalters waren faszinierende Gebilde. Ganz im Gegensatz zum starren Ständesystem des Mittelalters war das soziale System einer Stadt sehr durchlässig. So konnte sich hier eine ganze eigene Dynamik entfalten. Doch wie wurde man zum Bürger einer Stadt? Und welche Rechte und Pflichten brachte das mit sich? Wer wohnte in einer mittelalterlichen Stadt und wer hatte dort das Sagen? JETZT ANHÖREN

SWR (2023): Mauern, Brunnen, Galgenstricke – Die Stadt im späten Mittelalter

Der Film gibt eine Vorstellung von den Zusammenhängen zwischen Recht, Ordnung und Pflicht, in die der Bürger einer mittelalterlichen Stadt eingebunden war. Herausgearbeitet werden diese Begriffe anhand der konkreten und symbolischen Bedeutung einzelner städtischer Anlagen: der Stadtmauer als sichtbarer Grenze des städtischen Wehr- und Rechtsbereichs, der Wasserversorgung als wichtiger Voraussetzung für das Städtewachstum und des Galgens als Zeichen der auf Abschreckung beruhenden mittelalterlichen Gerichtsbarkeit. Mit der Ausweitung des Stadtrechts erhalten die Städte eine eigene Gerichtsbarkeit, an deren Spitze der Stadtrat mit dem Bürgermeister steht. JETZT ANSEHEN

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER

Im September 1155 wird Pfalzgraf Otto von Wittelsbach zum Kriegshelden. Als Barbarossas Heer in einer Schlucht bei Verona in einen Hinterhalt gerät, erklimmt er mit seinen Männern die steilen Flanken, fällt dem Feind in den Rücken und rettet die Schlacht. 1180 streicht er den Lohn für sein Wagstück ein: Der Kaiser belehnt Otto mit dem Herzogtum Bayern, die Herrschaft der Wittelsbacher beginnt. 

SPRECHERIN

Rang und Würde haben sie, aber nun müssen die Wittelsbacher ihren Machtanspruch gegen trotzige Grafen und Bischöfe auch durchsetzen. Dazu brauchen sie Geld und strategisch gut gelegene befestigte Plätze. 

SPRECHER

Um ihre Herrschaft auszubauen, setzen die bayerischen Herzöge auf einen Trend, der Ende des 12. Jahrhunderts massiv anschiebt: Die Bevölkerung wächst, die Landwirtschaftserträge steigen, das Handwerk braucht Spezialisten. Wer kann, lässt sich im Umfeld von Burgen und alten Handelsflecken nieder. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entwickeln sich gut 80 dieser rasch wachsenden Siedlungskerne dank herzoglicher Privilegien zu Märkten und Städten. 

Den Wittelsbachern kommt diese Urbanisierungswelle äußerst gelegen: Städte verheißen nicht nur Steuern, sie sind auch militärische Machtzentren. 

Zsp 1 Veronesi

In den altbayerischen Städten ist es so, dass sich am Fuß der herrschaftlichen Burgen immer mehr Handwerker niederlassen, auch Kaufleute. Diese Siedlungen werden immer größer und so ungefähr darf man sich die Gründung einer Stadt vorstellen. Diese Siedlungen wurden dann geordnet, wurden befestigt, oft noch mit einem Palisadenwall, erst später mit einer Mauer.

SPRECHER

…erklärt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Marco Veronesi vom Haus der Bayerischen Geschichte.

SPRECHERIN

Mauern! Türme! Tore! Die Stadt des hohen und späten Mittelalters riegelt sich ab. Niemand betritt, niemand verlässt sie ungesehen. 

SPRECHER

Mauern wehren nicht nur ab. Der Raum, den sie umfassen, ist ein besonderer Rechtsbezirk: Die Stadt setzt sich die Regeln des Zusammenlebens selbst, sie hat Gerichtsgewalt, ist als Bürgergemeinde siegel- und rechtsfähig. 

SPRECHERIN

Vor allem aber schafft die Mauer einen klar umgrenzten Friedensrahmen. Wer hier lebt, verzichtet darauf, Konflikte gewaltsam auszutragen. Waffen sind gar nicht oder nur eingeschränkt gestattet. 

Sogar die Länge mitgeführter Messer ist vorgeschrieben. Zudem bewahrt die Stadt ihre Bewohner und Gäste vor auswärtigen Zugriffen oder Forderungen und gewährt sicheres Geleit.

Musik 02   (Fight and chase –  0´21 min)

 SPRECHER

Außerhalb der Mauern regiert Gewalt. Dort herrscht die Fehde, eine Art legaler bewaffneter Selbstjustiz adliger Herren, die Rechtshändel direkt untereinander klären. Die Bauern tragen die Hauptlast der Kriegszüge. Ihre Felder werden verwüstet, ihre Ställe geplündert, ihre Dörfer und Hüten niedergebrannt, um den Gegner zu schwächen und seine Lebensgrundlage zu vernichten. König, Kirche und Herzöge versuchen die ausufernden Feindseligkeiten einzudämmen. Auf dem Land richten sie dabei wenig aus. Nur die Stadt mit ihrem strikten Fehdeverbot schafft Inseln der Sicherheit. Warum gerade das die Stadt so modern und attraktiv macht, erläutert Beatrix Schönewald, die Leiterin des Stadtmuseums und Stadtarchivs Ingolstadt.

Zsp 2 Schönewald

Frieden ist die essenzielle Voraussetzung für Handel und Gewerbe, für Verkehrssicherheit, für das Miteinander. Die Stadt mit ihrer Friedenspflicht, mit ihrer Friedensverpflichtung, steht am Anfang einer Entwicklung, die bis heute hinaufreicht, ohne Frieden kein Fortschritt.

SPRECHERIN

Die Stadt bedeutet auch Rechtssicherheit. Vom Rat erlassene Gesetze regeln den Alltag. Dass Erb- und Kaufgänge klar geordnet sind, dass Besitz und Schuldverschreibungen besonderen Rechtsschutz genießen, entpuppt sich als entscheidender städtischer Entwicklungsimpuls.

SPRECHER

Ordnung, die auf Recht und Sicherheit gründet, die Chance, durch Handwerk, Handel oder Dienstleistung ein Auskommen zu finden, das ist etwas Neues, etwas, das in die Zukunft weist. Diese Modernität mit ihrem Erneuerungspotenzial spricht Menschen unterschiedlichster Herkunft und gesellschaftlicher Stellung an. Von Gleichheit und schrankenloser Freiheit für alle kann jedoch keine Rede sein.

Zuspielung 3 Schönewald

Wir haben als Bewohner in der Stadt die Bürger mit den vollen Bürgerrechten, die den Rat der Stadt wählen, wir haben in der Stadt Bürger, die arm oder reich sind mit ihren Rechten, wir haben Minderbürger, die zwar einige Rechte haben, aber keine Pflichten, wir haben Inwohner, die keine Rechte und keine Pflichten haben, das sind die Tagelöhner, die Knechte, Mägde, alles, was zum Betrieb eines Hauses gehört. Dann haben wir Sonderrechte, wie zum Beispiel die Juden, dann die Kleriker, Frauen haben auch eine besondere Rechtsstellung.

SPRECHERIN

Die Stadt ist vielschichtig und vielstimmig. Das Sagen hat indes nur eine dünne Oberschicht. Sie erlässt Gesetze und Verordnungen, lenkt das soziale, politische und religiöse Leben. Wie sich diese Elite herausbildet, ist unter Historikern umstritten. Gewiss ist nur eins: Besitz, Ehrbarkeit und lange Ansässigkeit sind eine wesentliche Grundvoraussetzung. Klar ist auch: Die gezielte Herstellung von Öffentlichkeit ist eines der wichtigsten Steuerungs- und Herrschaftsinstrumente des Stadtregiments.

SPRECHER

Öffentlichkeit ist allerdings kein Dauerzustand der mittelalterlichen Stadt. 

Sie wird bewusst von oben geschaffen, um Herrschaftsansprüche durchzusetzen und das Gemeinwohl zu organisieren. Das geschieht durch Aushänge und Ausrufer, aber auch durch Rituale und Zeichenhandlungen auf Straßen und Plätzen, auf dem Markt und in der Kirche. 

Atmo: Glockengeläut

SPRECHER

Glocken sind das mächtigste Mittel, um die Stadtgemeinde zu versammeln. Glocken rufen zum Gebet, zur Verteidigung, zum Löschen bei Bränden, zur Ratssitzung, zur Bekanntgabe neuer Verordnungen, zur Vollstreckung von Urteilen. Wann immer eine Glocke läutet, passiert etwas Wichtiges. Etwas, das alle betrifft. 

Atmo: Feierliches Glockengeläut

SPRECHERIN

Ein besonderes Ereignis steht an: Der Rat wird gewählt. Kein öffentlicher Anlass ist wichtiger, keiner bringt mehr Menschen auf die Beine. 

SPRECHER

Der Tag beginnt früh. Am Morgen ziehen die festlich gekleideten Ratsherrn in die Hauptpfarrkirche. Nach der Messe schreiten die Herren durch eine dicht gedrängte Menschenmasse zur Wahl im Rathaus. Die Allgemeinheit hat dabei keinen Zutritt, das machen die ratsfähigen Bürger unter sich aus. 

SPRECHERIN

Ein Standardverfahren gibt es dabei nicht. Wann und wie sich der Rat erneuert, ob komplett oder teilweise, ob per Losentscheid, per Abstimmung oder Berufung, unterscheidet sich von Stadt zu Stadt. 

Das häufigste Verfahren ist die Kooptation, also die Ergänzungs- oder Zuwahl.

 ( Musikbeginn) Dabei bestimmen die scheidenden Mitglieder selbst, wer sie ersetzt und wer nachrückt. 

Musik 03  (Pavane a 8 von Hans Hake; Musica Fiata, Roland Wilson – 

                    0´50 min)

SPRECHER

Der Rat ist gewählt. Die Herren ziehen zum Dankgottesdienst erneut in die Kirche. Stadtknechte oder Jungbürger halten die Menge auf Distanz. Trommler, Pfeifer, Fahnen oder Fackeln begleiten den Zug, einflussreiche Bürger schließen sich an, die Menge zur Linken und Rechten des Ehrenspaliers johlt. 

SPRECHERIN

Spannend ist das alles nicht, das Verfahren lässt keine Überraschungen zu, die Wenigsten haben ein Mitspracherecht. Aber ein Spektakel, eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei ist der prächtige Auftritt allemal. Die Ratswahl ist ein Massenevent, das wie noch heute der Oktoberfesteinzug oder der Besuch gekrönter Häupter Schaulustige in rauen Mengen anlockt.

SPRECHER

Ganz gleich, ob die Herren ihren Eid auf die Gesetze der Stadt noch in der Ratsstube, vor dem Rathaus, auf den Kirchenstufen oder vor dem Altar abgelegt haben, nun ist es Zeit für den Schlussakt eines langen Wahltags. Die Honorablen ziehen in feierlicher Prozession zum gemeinsamen Mahl zurück ins Rathaus. In den folgenden Tagen stehen weitere Umzüge an, mit denen sich der Rat präsentiert, seinen Herrschaftsbereich abschreitet und den Einwohnern das Erlebnis einer tiefen Zusammengehörigkeit vermittelt – wir alle sind Stadt!

SPRECHERIN

Schöne Bilder. Bunt, laut, mittelalterlich. Aber leider nur eine Rekonstruktion, montiert aus zeitlich und räumlich verstreuten Belegen für die spätmittelalterliche Ratswahl. 

SPRECHER

Trotzdem: Nichts könnte den Aufbau der Gesellschaft, das Machtgefüge und die Funktion von Öffentlichkeit in der Stadt des Spätmittelalters besser veranschaulichen. Denn die Rituale der Ratserneuerung verknüpfen wichtige Räume, Gruppen und Schichten der Stadt miteinander. Sie sind eine bewusste Inszenierung, eine vielschichtige politische Choreografie, die zentrale Fragen des Zusammenlebens klärt: Wie ist Herrschaft begründet, wie wird sie weitergetragen? Wer schafft an? Wer handelt, wer schaut zu? 

SPRECHERIN

Obwohl in der Stadt nur eine kleine Elite regiert, braucht sie die Bestätigung der Stadtgemeinde. Erst die Öffentlichkeit beglaubigt den rechtmäßigen Machtwechsel und damit den Fortbestand der Ratsherrschaft. Blieben die Stadtbewohner dem Umzug fern, sprächen sie ein stummes, aber deutliches Misstrauensvotum aus. Ohne den Rückhalt der Öffentlichkeit hätte der Magistrat ein handfestes Legitimationsproblem.

Atmo: Handglocke , Marktgeräusche

SPRECHER

Die Marktglocke! Sobald sie morgens erklingt, darf so lange gekauft und verkauft werden, bis sie am Abend das Ende der Marktzeit verkündet. 

Zsp 4 Veronesi

Der Markt ist der öffentliche Raum per se, der Markt ist ja schließlich auch Urgrund, Entstehungsgrund der Stadt als solcher. Dort, wo eine Stadt entstand, befand sich eben meistens schon ein Markt.

SPRECHERIN

Der Markt ist die Lebensgrundlage der Stadt, ihr wirtschaftlicher Kern, ein Umschlagplatz für Güter und Informationen. Hier stellen Handwerker ihre Waren aus, Bauern verkaufen Getreide, Vieh, Gemüse und Milch, Fernhändler bieten Luxusgüter wie Spezereien, Pelze oder kostbare Tuche feil, Tagelöhner ihre Dienste an, Klatsch, Tratsch und Neuigkeiten machen die Runde.

Zsp 5 Veronesi

Natürlich war der Markt ein öffentlicher Raum, aber ein streng, ein hoch regulierter öffentlicher Raum. Reguliert wurde zunächst einmal, wer überhaupt Zugang hatte zum Markt. Das waren zunächst einmal die Bürger, nicht gesagt war, dass Ortsfremde, so genannte Gäste, überhaupt Zutritt hatten und ihre Waren dort verkaufen durften. Wir hatten die Lebensmittelpolizei in modernen Begriffen, die vor allem den Wein kontrolliert hat, aber auch andere Sachen. 

SPRECHER

Die umfassende Kontrolle ist eine Notwendigkeit.  (Musikbeginn) Indem die Stadt gewährleistet, dass Nahrung nicht nur erhältlich, sondern erschwinglich und einwandfrei ist, dass Maße, Gewichte, Qualität und Preise stimmen, beugt sie Unruhen vor. 

Musik 04   (Saltarello 01 – 0´38)

SPRECHERIN

Die Stadt kontrolliert freilich nicht nur den Markt. Sie greift auf alle Lebensbereiche durch, entfaltet einen Kontrollfuror, der sich nahezu überall und in alles einmischt. 

Zsp 6 Schönewald

Reglementieren ist ein Synonym für Stadt: Alles, was das enge Zusammenleben fördert, wird reglementiert. Das betrifft die Kleiderordnungen, das betrifft Vorgaben fürs Tanzhaus, Vorgaben für das nächtliche Schwärmen, Vorgaben, dass man bei Taufen, Hochzeiten, Begräbnissen nicht zu viel Gäste einlädt, da gibt es dann die Festlegung, wie viel -, immer unter dem Aspekt, sich nicht zu verschulden.

SPRECHERIN

Die Bürger sollen nicht protzen, der Schmuck darf nicht zu kostbar sein, die Kleidung nicht zu aufwendig, die Feste nicht zu üppig. Die Abwehr ruinöser Verschwendung ist jedoch nur ein Auslöser der Vorschriftenflut. Im Kern geht es ums große Ganze, um soziale Differenzierung und Disziplinierung.

SPRECHER

Handwerker, die sich wie reiche Kaufleute und Bürger, die sich wie Adlige kleiden? Ein absolutes No Go! 

SPRECHERIN

Kleidung ist immer ein sozialer Indikator, ein sichtbares Zeichen, das auf Anhieb zeigt, welcher Schicht der Träger angehört und wo oben und unten ist. Gott hat die Menschen in ihren Stand gesetzt - und dabei soll es auch bleiben! Jeder auf seinem Platz, zum Besten der Allgemeinheit.

SPRECHER

Der Bannstrahl des rigiden Kleiderregiments trifft auffällige Haartrachten, Kopftücher und Hutverzierungen genauso wie eng geschnürte Mieder, tiefe Ausschnitte, nackte Schultern, aber auch Schnabelschuhe, allzu kurze, kniefreie Männerröcke oder üppiges Schminken.  Sogar der Rosenkranz ist betroffen: Er darf nicht zu teuer sein und  „uber den ars sol man ihn niht tragen, man sol in vorn an der seiten tragn als man von alter her getan hat". 

SPRECHERIN

Was heute Schmunzeln oder Kopfschütteln auslöst, hat in der mittelalterlichen Stadt eine ernste, Ordnung stiftende und stabilisierende Bedeutung. Das wird umso wichtiger, je mehr der wirtschaftliche und politische Aufstieg neuer Gruppierungen die Standesgrenzen verwischt. Zur Sorge um den Bestand der weltlichen Ordnung kommt die Furcht vor dem Strafgericht Gottes. Denn hinter Kleiderprunk und Putzsucht lauern Stolz, Hochmut, Eitelkeit. Hochmut aber ist die Ursünde der Menschheit, die Wurzel alles Bösen, eine Kränkung des Schöpfers, der die Lästerung durch Erdbeben, Krankheiten, Missernten, Krieg und Plagen vergilt. Das muss eine verantwortungsvolle Obrigkeit verhindern, zum Wohle aller. 

SPRECHER

Herrje, wie mittelalterlich! Doch ganz so weit ist es mit unserer modernen Aufgeklärtheit nun auch nicht her. Dass wir Gesinnungen und Menschen nach der Kleidung taxieren, hat sich seit 1000 Jahren nicht wirklich geändert. Und noch heute können Textilien ausgesprochen starke Reaktionen entfachen.

SPRECHERIN

Als Mitte der 1960er Jahre der Minirock aufkommt, läuft das Establishment Sturm. Der Mini provoziert. Ist er respektlos? Oder ein Statement eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins? Der kniefreie Affront ruft die Hüter von Moral und  Tradition auf die Barrikaden.  Das Abendland, die Menschheit, die Ordnung, die Moral scheinen in Gefahr.

SPRECHER 

Vieles vermeintlich Mittelalterliche hat überdauert, anderes hat sich grundlegend geändert: Während wir den Justizvollzug hinter Mauern verbannen, rückt ihn das Mittelalter in die Mitte der Gesellschaft.

Atmo: Totenglocke

SPRECHERIN

Die Armesünderglocke. Ein zum Tode Verurteilter tritt den letzten Gang an. Sein Schicksal vollendet sich am hellen Tag, sichtbar für alle, ein abschreckendes Exempel, das Öffentlichkeit sucht und braucht. 

Zsp 8 Schönewald

Justiz, vor allem der Strafvollzug war öffentlich, weil es zum einen ein politisches Statement abgegeben hat, ein Delinquent, der gegen die Stadtordnung, gegen die Landesordnung verstoßen hat, wurde öffentlich gerichtet. Und es war zweitens auch ein Statement für eine Frühform der Erziehung: Wenn ich Böses tue, dann werde ich öffentlich hingerichtet. Und das war neben dem Vollzug der Todesstrafe natürlich auch ein soziales Element in Form der Demütigung, die es auch im zivilen Recht gab, sprich an den Pranger stellen.

Musik 05  (Glorificemus filium – 0´20)

SPRECHER

In der Rückschau erscheint die Stadt des Spätmittelalters als wohlgeordneter Kosmos mit festen Regeln, klaren Hierarchien und statischer Ruhe. Aber der Schein trügt. Gerade hier gerät das politische und soziale Gefüge zuerst ins Wanken. Mit steigendem Wohlstand drängen neue Schichten nach oben und fordern Einfluss auf Finanzkontrolle und Gesetzgebung. 

SPRECHERIN

Nach mehr Macht streben vor allem die Handwerker, die sich in größeren Orten in Zünften zusammenschließen. In den Versammlungshäusern, den Trinkstuben und Handwerkerquartieren rumort es. Selbstbewusste Zunftvertreter stellen Ratsbeschlüsse und die Allmacht der Obrigkeit auf die Probe. Im 14. Jahrhundert verlangen manche der mächtig gewordenen Lobbyverbände Sitz und Stimme im Rat. ( Musikbeginn) Dabei kommen sie nicht nur mit dem Stadtregiment, sondern oft auch mit dem Landesherrn in Konflikt. 

Musik 06  (Fight and chase – 0´33 min)

SPRECHERIN

1335 brechen Unruhen in Straubing aus, 1348/49 tobt der Nürnberger Handwerkeraufstand, 1397 reißen die Zünfte in München die Herrschaft an sich. Auch in Landshut kommt es Anfang des 15. Jahrhunderts zur Machtprobe. (Musikende) Während ein erbitterter Bruderzwist die Wittelsbacher lähmt, schafft sich die wohlhabende Handels- und Gewerbestadt neue Freiräume. Die Zünfte sichern sich Mitspracherechte, reiche Ratsherren wollen die Abgaben an die Herzöge schmälern. 

SPRECHER

Die Lage spitzt sich zu, als Herzog Heinrich 1404 die Macht in Niederbayern übernimmt. Der neue Herrscher ist habgierig, gewalttätig und jederzeit bereit, das Recht zu beugen.  (Musikbeginn) Das Autonomiestreben der Städte ist ihm ein Dorn im Auge. Er lässt sich Ratsbeschlüsse zur Genehmigung vorlegen, ernennt Ratsmitglieder selbst und verbietet Handwerkszünfte. 

Musik 07   ( Akkordmarsch 4 – 0´23 min)

SPRECHERIN

Der Streit schwelt vier Jahre. Dann lädt Heinrich am 24. August 1408 die Stadträte auf die Feste Trausnitz. Er lässt ein Mahl servieren - und die Gäste verhaften. Prozesse folgen. Einige Landshuter müssen den Rat verlassen, andere werden verbannt, ihr Vermögen saniert Heinrichs Staatskasse.

SPRECHER

Nach zwei Jahren trügerischer Ruhe kocht das Zerwürfnis erneut hoch. Handwerker und Gewerbetreibende rotten sich zusammen. Einer der Widerständler, Dietrich Röckl, stellt sein Haus als Treffpunkt zur Verfügung. Ob es sich tatsächlich um gewaltbereite Rebellen handelt oder ob nur ein paar Wutbürger randalieren, wissen wir nicht. 

Der Herzog jedenfalls fackelt nicht lange und lässt das vermeintliche Verschwörernest am Karfreitag 1410 ausheben. Noch in der Nacht werden mehrere Personen ermordet, Todesurteile folgen. Landshut muss sich Herzog Heinrich unterwerfen, die Selbstverwaltung ist passé.

Nicht nur in Landshut, auch in München, Ingolstadt und außerhalb Bayerns flackern Unruhen auf. Hier wie dort begehren Teile der Bevölkerung gegen ihre Ausbeutung und Stummschaltung auf. Vor allem aber wird Öffentlichkeit nun nicht mehr ausschließlich von oben hergestellt, sie formiert sich jetzt auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. 

Musik 08   ( Under der Linden – 0´40 min)

SPRECHERIN

Die Stadt ist weit mehr als nur ein Ort wirtschaftlicher und sozialer Erneuerungen. Sie ist ein vibrierender Umschlagplatz für neue Ideen mit hoher Sprengkraft. Wo die Gassen eng, die Wege kurz sind, wo man sich auf Plätzen und in Kneipen zwanglos austauscht und innovative Medien wie Buchdruck oder Flugblatt entstehen, wächst die geistige Unruhe. In diesen Druckkesseln zweifeln am Beginn der Neuzeit erst wenige, dann rasch immer mehr reformwillige Köpfe die religiöse und politische Ordnung an. Es sind Städte wie Basel, Mainz, Straßburg und Wittenberg, in denen die reformatorische Kritik an den Verhältnissen in Kirche und Staat zuerst aufflammt und Fuß fasst. Es sind die Städte, die Gärbottiche und Experimentierstuben der kulturellen Erneuerung, die das Mittelalter hinter sich lassen und die Zeitenwende der Reformation einläuten.


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