

Radiowissen
Bayerischer Rundfunk
Die ganze Welt des Wissens, gut recherchiert, spannend erzählt. Interessantes aus Geschichte und Archäologie, Literatur, Architektur, Film und Musik, Beiträge aus Philosophie und Psychologie. Wissenswertes über Natur, Biologie und Umwelt, Hintergründe zu Wirtschaft und Politik. Und immer ein sinnliches Hörerlebnis.
Episodes
Mentioned books

Sep 4, 2025 • 21min
Kumari - Nepals kindliche Göttin auf Zeit
Kumaris gelten in Nepal als kindliche Göttinnen auf Zeit und sind für eine Vielzahl religiöser Rituale zuständig. Mit dem ersten Tropfen Blut, den sie vergießen, müssen die Mädchen in ihre Familien zurückkehren und versuchen, sich wieder in die Realitäten der nepalesischen Gesellschaft einzufinden. Autorin: Margarete Blümel (BR 2024)
Credits Autorin dieser Folge: Margarete Blümel Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Katja Amberger, Hemma Michel, Peter Weiß Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview: Scott Berry, Lehrer und Autor einer Kumari-Biografie; Rashmila Shakya, Ex-Kumari; Prof. Axel Michaels, Indologe und Religionswissenschaftler; Prof. Horst Brinkhaus, Indologe Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:
Nepal - Vielfalt der Religionen HIER
Lebende Götter - Und das Wort ist Fleisch geworden HIER
Literaturtipps:
- Berry, Scott: From Goddess to Mortal: The True Life Story of a Former Kumari. Vajra Publications, Kathmandu 2005. Einfühlsames Porträt der ehemaligen Kumari Rashmila Shakya, die ihre Erfahrungen als Kindgöttin schildert und in den religiösen Kontext ihres Heimatlandes Nepal einordnet.
- A Study of Living Goddess Kumārī: The Source of Cultural Tourism in Nepal by Him Lal Ghimir.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN:
Auf einem mit Brokat überzogenen Stuhl sitzt ein kleines, sehr ernst blickendes Mädchen, das die Aufgabe hat, sein Land zu beschützen. Bei der nun folgenden, Stunden währenden, Tempelzeremonie wird ein Büffel sein Leben lassen, Trommler werden ihre Klangkörper bearbeiten und Gläubige ihre Köpfe bis zum Boden vor der kindlichen Göttin verneigen.
Musik hoch
ERZÄHLERIN:
Das Mädchen ist stark geschminkt und in ein bis zu den Knöcheln reichendes Gewand gehüllt, das von Goldfäden durchwirkt ist. Manchmal ist diese Berufsbekleidung der Kumari, Nepals ”kindlicher Göttin”, auch tiefrot. Und: Die Kumari trägt einen mit Diamanten versehenen, in allen Farben schimmernden Kopfputz dazu.
Eines aber ist immer gleich: Die lebende Göttin hat zwar das Gesicht eines Kindes. Doch ihre Würde und Bestimmtheit, die sie an den Tag legt, lassen sie um Jahre älter erscheinen.
Musik mit Atmo 1 Tempelzeremonie verbinden
O-TON 1: EX-KUMARI RASHMILA SHAKYA
At the age of four, I became a Kumari. At the age of twelve, I retired from the Kumari house.
VO-Sprecherin-weiblich:
Ich war vier, als ich zur Kumari erhoben wurde. Und zwölf, als ich wieder ins weltliche Leben zurückkehrte.
ERZÄHLERIN:
Heute ist Rashmila Shakya 37 Jahre alt. Als sie das Kumari-Amt innehatte, war der König noch das Staatsoberhaupt Nepals. Damals kniete der königliche Regent vor der vierjährigen Rashmila nieder, um aus ihrer Hand den sogenannten ‚Tika‘ zu empfangen.
O-TON 2: RASHMILA SHAKYA
It’s become used to for me, because every time the king came to get the bless ...I know that I used to give the Tika to the king. I feel proud.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich hatte mich schnell daran gewöhnt, meinen Aufgaben ruhig und besonnen nachzukommen. Auch dann, wenn ich dem König den Tika, das hinduistische Segenszeichen, auf die Stirn tupfte. Bis heute macht mich das immer noch ein wenig stolz.
ATMO 1 Tempelzeremonie
O-TON 3: PROF. HORST BRINKHAUS
Manchmal werden sie mit sechs Jahren erst geweiht oder eingeführt, manchmal auch schon mit zwei Jahren, das ist sehr unterschiedlich. Es ist ja an eine ganze Reihe von Kriterien geknüpft, wer Kumari sein kann.
ERZÄHLERIN:
… sagt der Indologe Professor Horst Brinkhaus.
O-TON 4: PROF. HORST BRINKHAUS
Da werden Tests gemacht und einiges auf die Beine gestellt, um festzustellen, wen hat sich die Göttin Durga - oder Taleju, wie sie in Nepal genannt wird – ausgesucht als Inkarnation? Das gilt es ja herauszufinden. Man macht ja keine Kumari, das ist nicht Menschenwerk, sondern die Göttin ist sozusagen übergegangen in einen Mädchenkörper.
ERZÄHLERIN:
Es gibt mehrere Kumaris in Nepal. Die bedeutendste unter ihnen ist die in Kathmandu lebende ‚Royal Kumari‘.
O-TON 5: PROF. HORST BRINKHAUS
Es wird selten über die weniger bekannten Kumaris berichtet. Berichtet wird fast immer nur über die Royal Kumari in Kathmandu und es gab auch einige Berichte über eine Bhaktapur-Kumari, die nämlich in Amerika war mit elf Jahren - als Kumari noch, wohlgemerkt, nicht erst danach.
MUSIK m03 (Holiya Mela, Traditional Nepal Folk Tunes, K:= Bharat Nepali, 0:34 Min)
ERZÄHLERIN:
Etwa zehnmal im Jahr verlässt die Royal Kumari den Palast, um religiösen Zeremonien beizuwohnen. Die inzwischen meist als ‚Kathmandu-Kumari‘ bezeichnete lebendige Göttin wird bei diesen Gelegenheiten stets in einer Sänfte befördert, da sie sonst Gefahr liefe, sich zu verunreinigen oder sich zu verletzen, sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels:
O-TON 6: PROF. AXEL MICHAELS
Es ist schon etwas schwieriger für die Kathmandu-Kumari, weil die eine so herausragende Stellung hat. Sie gab ja früher dem König den Tika und hat ihn gewissermaßen dadurch legitimiert für ein Jahr. Aber in Bhaktapur etwa ist die Kumari ja ein ganz normales Mädchen, die auch nicht so eine isolierte Stellung hat wie die Kathmandu-Kumari, die ja in einem eigenen Haus wohnt und eigentlich nicht auf die Straße darf. Sie kann nur getragen werden. Die auch nicht mit anderen Kindern einfach so spielen kann. Das gilt aber eigentlich nur für die Kathmandu-Kumari.
ERZÄHLERIN:
Aber selbst hier bestätigen Ausnahmen die Regel, weiß der Lehrer und Autor Scott Berry, der die Biografie der Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya geschrieben hat:
O-TON 7: SCOTT BERRY
We had two daughters who were eight and six at the time... And they got to be friends that way.
VO-SPRECHER-männlich:
Unsere Mädchen waren acht und sechs Jahre alt, als wir nur ein paar Straßen weit entfernt vom Tempelpalast wohnten, in dem die Kumari ihre Wohnstatt hatte. Meine Töchter waren fasziniert davon, dass ganz in ihrer Nähe ein Mädchen lebte, das eine Göttin war. Und sie gingen jeden Tag zu ihrem Haus und saßen im Hof. Eines Tages stand sie oben auf der Treppe und rief: „Ich habe einen Ball. Wollt ihr spielen?“- „Ja“, sagten meine Töchter. Aber natürlich durften sie nicht nach oben gehen, schon allein, weil sie keine Hindus sind. Und sie durfte nicht nach unten kommen. Also blieb sie oben auf der Treppe, und meine Töchter standen unten und warfen den Ball hin und her. So wurden sie zu Freundinnen.
MUSIK m04 (Rato Bhale, Traditional Nepal Folk Tunes , K:= Krishna Gurung, 1:15 Min)
ERZÄHLERIN:
Diese Erinnerung hat die ehemalige Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya in Scott Berrys „From Goddess to Mortal“ preisgegeben. Ebenso wie die Auswahlkriterien für die Kandidatinnen, die ihr noch heute leicht über die Lippen gehen: ein günstiges Horoskop, die körperliche Unversehrtheit der Kandidatinnen und die richtige Kaste.
O-TON 8: RASHMILA SHAKYA
Shakya caste, sacred Shakya. Yeah. And … are taken out from the Kumari house in the festival in a year.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Wir müssen aus der Shakya-Kaste kommen. Und unser Horoskop muss klar zeigen, dass wir gute Eigenschaften aufweisen und unserem Land nützlich sein können. Wenn Astrologen und Priester das herausgefunden haben, kommt die Frau aus der Familie, die mit der Kumari unter einem Dach lebt und sie betreut. Sie schaut sich den Körper und das Gesicht des Mädchens genau an und untersucht alles nach Wunden oder Kratzern. Wenn auch dieser Test bestanden ist, zieht das Mädchen als lebendige Göttin in den oberen Trakt des Kumari-Hauses ein, den sie nur verlässt, wenn sie zu Zeremonien und religiösen Festen abgeholt wird.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
ERZÄHLERIN:
Die Kumaris stammen aus den Reihen der Newars, einer vor allem im Kathmandu–Tal beheimateten Volksgemeinschaft. Die Newars pflegen eine weltweit einzigartige Sonderform des Buddhismus, den nach ihnen benannten ‚Newar-Buddhismus‘. Die lebende Göttin wiederum wird seit Langem als Reinkarnation einer Hindu-Gottheit betrachtet: Durga, die sich in Nepal als ‚Taleju‘ manifestiert hat. Taleju soll vor einigen Jahrhunderten ins Kathmandu-Tal gekommen sein und sogleich zur Schutzgöttin der nepalesischen Königsfamilien und des Landes aufgestiegen sein. Schließlich aber nahm Durga/Taleju die Gestalt eines kleinen Newarmädchens an. So entstand ein göttliches Amt, das seitdem von einer wechselnden Schar auserwählter Kumaris versehen wird.
O-TON 9: PROF. HORST BRINKHAUS
Die Kumari wird von Buddhisten wie auch von Hindus verehrt, übrigens nicht nur von Newars, sondern natürlich auch von den Nepalisprechern.
Sie ist auch ein - wie der König ja auch in der Vergangenheit war - ein Integrationsfaktor. Nepal ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt ungeheuer viele Sprachen in Nepal, ethnische Gruppen, von Tal zu Tal sozusagen häufig verschiedene Gruppen. Und irgendwo muss ja eine Klammer sein, die eine gemeinsame Identität begründet.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
O-TON 10: SCOTT BERRY
The main thing it does, it symbolizes the unity, or at least...And Kumari comes from a Newar caste.
VO-SPRECHER-männlich:
Das Kumari-System symbolisiert, wenn nicht die Einheit, so zumindest doch die nicht vorhandene Feindschaft zwischen den Buddhisten und Hindus in Nepal. Die Newars sind die ursprünglichen Bewohner von Kathmandu. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bräuche. Und die Kumari stammt eben aus einer Newar-Kaste.
ERZÄHLERIN:
… betont Scott Berry. Der Lehrer und Verfasser der Lebensgeschichte Rashmila Shakyas, von „From Goddess to Mortal“, hat mit Frau und Kindern viele Jahre im Nachbarhaus von Rashmilas Eltern gelebt. So konnte Scott Berry nicht nur den Werdegang der Ex-Kumari, sondern auch die Bedeutung der Kumari-Tradition verfolgen.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
O-TON 11: SCOTT BERRY
The Newars actually share temples. They're divided between buddhists and hindus... she's a buddhist girl who becomes a hindu goddess.
VO-SPRECHER-männlich:
In der Tat nutzen die Newars Tempel, die von Buddhisten und Hindus gleichermaßen aufgesucht werden. In einer dieser nepalesischen Kultstätten wird zum Beispiel eine Inkarnation Shivas von Hindus verehrt, während Buddhisten am selben Ort Lokeshwar anbeten, einen spirituell sehr fortgeschrittenen Bodhisattva. Und, zurück zur Kumari: Sie stellt ein wichtiges Symbol für all das dar, weil sie ein buddhistisches Mädchen ist, das zu einer hinduistischen Göttin wird.
Atmo 2 Tempel Kathmandu bitte in Kreuzblende mit Atmo 3 Durga Sloka verbinden
ERZÄHLERIN:
Im Vielvölkerstaat Nepal werden Kultur und Politik seit jeher von der
Religion mitbestimmt. Literatur, Kunst, Sitten und Gebräuche, alle Abläufe des täglichen Lebens, sind von den religiösen Überzeugungen der Nepalesen durchdrungen. Und umgekehrt: Die wechselvolle politische Geschichte des Kathmandu-Tals hat entscheidend auch die Religion beeinflusst und so eine ureigene Beziehung zwischen Buddhismus und Hinduismus im Lande bewirkt.
Atmo 3: Durga-Sloka
ERZÄHLERIN:
Im nur in Nepal praktizierten Newar-Buddhismus vereinen sich verschiedene Richtungen des Buddhismus: Die Newar streben zwar nach Erlösung, stellen aber ihre Suche nach dem Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten hintan, um anderen, bedürftigen Lebewesen zur Seite zu stehen. Zusätzlich betreiben sie magische Rituale, die ihnen auf ihrem spirituellen Weg weiterhelfen sollen.
O-TON 12: PROF. HORST BRINKHAUS
Wenn man sich Nepal mal jetzt als diesen Streifen von Ost nach West vorstellt – der Norden ist sehr stark buddhistisch geprägt, aber nicht newarbuddhistisch, sondern lamaistisch. Der Süden, insbesondere das Terai-Gebiet, der Teil, der zum Gangesflachland gehört, ist sehr stark hinduistisch geprägt. Da gibt es auch Muslime und wirkt ja sowieso ganz indisch, ganz nordindisch.
MUSIK m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:24 Min)
ERZÄHLERIN:
In diesem Schmelztiegel der Religionen, in einem Land, dessen Könige als Wiedergeburt des Hindu-Gottes Vishnu galten, besteht inzwischen ein Parlamentarisches Mehrparteiensystem.
Doch obwohl die Monarchie seit Mitte des Jahres 2008 der Vergangenheit angehört, und obschon die Maoisten im politischen Gefüge eine große Rolle spielen und Kritik an einigen Traditionen laut wird – religiöse Bräuche wie die der Verehrung der Kumari bestehen fort. Auch die Voraussetzungen für das Ausscheiden der „kommissarischen Göttinnen“ aus ihrem Amt sind nahezu unverändert geblieben. Um ausgeschlossen zu werden, genügen ein paar Tropfen Blut: Sobald die Kumari blutet, sei es im Zuge einer Verletzung oder durch Einsetzen ihrer Periode, muss die Kindgöttin das Zepter an ein anderes Mädchen abgeben.
O-TON 13: PROF. AXEL MICHAELS
Der Jungfrauenkult ist natürlich auch in Indien immer wieder einmal da gewesen - also die Verehrung einer Jungfrau als Göttin.
ERZÄHLERIN:
… sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels. Aber ….
O-TON 14: PROF. AXEL MICHAELS
Aber es ist sehr spezifisch im Grunde genommen bei den Newars. Sowohl in Kathmandu wie auch in anderen Orten des Kathmandu Tals. Weil die daraus einen regelrechten Kult gemacht haben, mit eigenen Ritualen, mit eigenen Häusern und der Notwendigkeit, dass die Kumari bestimmte Rituale eröffnen muss oder dabei sein muss oder Leute segnen muss.
Atmo 4 Ritual
ERZÄHLERIN:
Am Durbar Square, im Zentrum Kathmandus, steht ein blutüberströmter Omnibus. Dach, Fenster, Türen und die Front des alten Vehikels, dessen Reifen kurz davor sind, mit den Felgen eins zu werden, sind mit dem Blut einer soeben geschlachteten Ziege beschmiert. Die Sitze des Busses sind aufgerissen, die Fenster sind längst den Weg alles Irdischen gegangen. Im Fahrerraum prangt unter einem Wirrwarr von Girlanden eine Darstellung der Durga. Sie vollführt einen Kriegstanz, schwingt Lanzen und Schwerter in ihren vielen Armen. Ihr Gesicht ist zu einer Grimasse grausamen Triumphs erstarrt. Zu ihren Füßen liegt der Büffel-Dämon Mahisasura, den die große Göttin zertreten hat. Heute nimmt sie in Kathmandu ihr Festmahl.
Atmo 4 Ritual
ERZÄHLERIN:
Einmal im Jahr wird Durga-Puja, das große Opfer- und Erntefest, gefeiert. Busse, Lastwagen und Privatfahrzeuge werden mit frischem Tierblut geweiht, damit die Insassen in Zukunft nicht zu Schaden kommen mögen.
In Innenhöfen, Häusern, Gassen und in großen Festzelten sind für die Göttin Durga Altäre aufgebaut. Die Frauen haben besonderes Essen für den Anlass vorbereitet. Kinder werfen einander Luftballons zu und warten aufgeregt darauf, dass der Prozessionszug mit der Kumari, der lebendigen Vertreterin Durgas, endlich eintrifft. Dass die kindliche Göttin kommt, ihnen ein ernstes Lächeln schenkt und dem einen oder anderen vielleicht auch ein Segenszeichen auf die Stirn malt.
Atmo 4 Ritual
bitte kurz hoch, dann blenden
O-TON 15: PROF. HORST BRINKHAUS
Die Royal Kumari hängt ja stark mit dem Königtum zusammen. Sie wurde ermittelt, unter anderem von dem Astrologen und dem Familienpriester des Königs und anderen hohen Beamten. Die sind natürlich mit der Abschaffung des Königtums nun auch entfallen. Und das heißt, die Kumari muss immer wieder auf neue Grundlagen gestellt werden, wie man sie herausfindet, wer für sie eigentlich sorgt, wer zuständig ist für diese Institution.
ERZÄHLERIN:
Inzwischen gewährt der Staat den kommissarischen Göttinnen zumindest eine kleine Rente – und eine Schulausbildung.
O-TON 16: PROF. HORST BRINKHAUS
In der Vergangenheit war ja ein Problem, dass sie in keine Schule gehen konnte oder durfte, dass sie also nicht ausgebildet wurde. Immerhin ist man Kumari bis zum zwölften, dreizehnten Lebensjahr, je nachdem.
MUSIK m05 ( Yantra, Jens Buchert, 2:21Min)
O-TON 17: RASHMILA SHAKYA
I have to struggle so much in the normal life. Mostly in the study...At the age of twelve I started my school career.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich hatte anfangs wirklich schwer zu kämpfen. Vor allem mit dem Lernen, weil es zu meiner Zeit keine formale Bildung für Kumaris gab. Erst im Alter von zwölf Jahren habe ich meine Schullaufbahn begonnen.
ERZÄHLERIN:
Ihr Biograph Scott Berry erinnert sich noch sehr gut an das, was Rashmila damals durchgemacht hat.
O-TON 18: SCOTT BERRY
Well, this is something that's changed considerably since Rashmila’s time...and they're able to go to their proper grade when they stop.
VO-SPRECHER-männlich:
Nun, das ist etwas, das sich seit Rashmilas Zeit stark verändert hat. Sie hatte große Schwierigkeiten, ins normale Leben zurückzukehren. Sie musste in die erste Klasse gehen, obwohl sie schon zwölf Jahre alt war. Einmal hat sie versucht, wegzulaufen und ins Kumari-Haus zurückzukehren, aber da stand sie dann natürlich vor verschlossenen Türen. Doch schließlich hat sie es geschafft. Ihre Familie hat Rashmila bedingungslos unterstützt. Und heute ist es so, dass vor allem ihretwegen Kumaris lernen und studieren. Sie haben Tutoren und werden darauf vorbereitet, die zu ihnen passende Klasse zu besuchen, wenn es soweit ist.
ERZÄHLERIN:
Noch etwas kommt erschwerend hinzu, das über lange Zeit hinweg manchmal wie ein Fluch über den ins irdische Leben zurückkehrenden Mädchen lag: der alte Irrglaube, Kumaris fänden keinen Ehemann.
O-TON 19: RASHMILA SHAKYA
This is only a misconcept about the Kumari. And this misconcept.. Before that the guy had little bit hesitate ad to marry the ex Kumari.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Diesem Aberglauben nach soll ein Mann, der eine ehemalige Kumari zur Frau nimmt, eines unnatürlichen und viel zu frühen Todes sterben. Die jüngere Generation hat sich da inzwischen bewegt und schenkt dem keinen Glauben mehr. Aber ich erinnere mich noch der Zeiten, als Männer einer Verbindung zu einer Ex-Kumari deshalb ziemlich zurückhaltend gegenüberstanden.
O-TON 20: SCOTT BERRY
Traditionally, they're not supposed to get married. The husband's supposed to die... and they seem very happy together.
VO-SPRECHER-männlich:
Traditionell ist es nicht vorgesehen, dass sie heiraten. Und, ja, angeblich soll der Mann sogar innerhalb des ersten Jahres der Ehe sterben. Aber das ist völlig falsch. In der Vergangenheit gab es mehrere Kumaris, die geheiratet haben - und auch Rashmila ist den Bund der Ehe eingegangen. Wir waren sogar auf ihrer Hochzeit. Inzwischen hat sie einen Sohn, und sie scheinen sehr glücklich miteinander zu sein.
ATMO 5 Kumari-Ritual
O-TON 21: RASHMILA SHAKYA
Yeah, I have married before eight years. And I have one son and he is became a five years old.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Seit unserer Hochzeit sind acht Jahre vergangen. Und unser Sohn ist jetzt fünf Jahre alt.
Musik m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:40 Min)
Erzählerin:
Über dreißig Jahre liegen zwischen den fundamentalen Ereignissen, die das Leben der Ex-Kumari nachhaltig beeinflusst haben. Rashmila Shakya erinnert sich noch sehr genau daran, wie das damals war: Als sie als vierjähriges, sehr ernst dreinschauendes Mädchen auf einen Thron stieg, um als kindliche Göttin ihren König und ihr Land zu beschützen. Und dann, acht Jahre später, als die Zeit gekommen war, das Kumari-Haus zu verlassen ….
O-TON 22: RASHMILA SHAKYA
At the time? I became sad and happy. Also sad because that I have left the Kumari house and happy that I have returned to the own house and lived a normal life.
VO-SPRECHERIN-weiblich
Da war ich froh und bedrückt zugleich. Traurig, weil ich das Kumari-Haus hinter mir lassen musste. Und froh, weil ich nach Hause zurückkehren und ein normales Leben führen konnte.
Erzählerin:
Nichts von alldem möchte Rashmila missen. Wie viele andere Ex-Kumaris auch, mit denen sie gesprochen hat, ist da das nachhaltige Gefühl, ein Privileg genossen zu haben. Einen Lebensweg beschritten zu haben, der schwierig, steinig und ungemein erfüllend gewesen ist.
O-TON 23: RASHMILA SHAKYA
I got two life in one born. One is normal life and one is God. Is life.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich habe zwei Leben geführt. Das eine ist das normale, das irdische Leben und das andere ist mein Dasein mit Gott.

Sep 3, 2025 • 23min
Aids - Das (fast) vergessene HI-Virus
Dietmar Schranz, HIV-Schwerpunktarzt in Berlin, erinnert sich an die Anfänge der Aids-Epidemie und die schockierenden gesellschaftlichen Reaktionen. Er berichtet, wie die Krankheit von einem Todesurteil zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung wurde. Die bahnbrechende Einführung der Kombinationstherapie aus den 90ern hat das Leben von HIV-Patienten drastisch verbessert. Schranz thematisiert auch die Bedeutung von niederschwelligen HIV-Tests und die fortwährenden Herausforderungen im Gesundheitssystem, besonders im Kontext von Stigmatisierung.

Sep 3, 2025 • 21min
Staatenlosigkeit - Ohne Schutz und Rechte?
In dieser Folge wird die herausfordernde Realität der Staatenlosigkeit beleuchtet, dargestellt am Beispiel einer Frau, die beim Reisen auf Probleme stößt. Die bewegende Geschichte von Christiana Bukalo zeigt die rechtlichen und sozialen Diskriminierungen, mit denen Staatenlose kämpfen. Besonders in Kriegszeiten erleben viele Menschen massive Einbußen ihrer Rechte. Das Fehlen einer Staatsangehörigkeit bringt nicht nur praktische Schwierigkeiten, sondern wirft auch fundamentale Fragen zur Identität und Zugehörigkeit auf.

Sep 3, 2025 • 23min
Aquakulturen - Fluch oder Segen?
Die Aquakultur nimmt eine zentralen Platz in der Nahrungsmittelproduktion ein, besonders angesichts der stagnierenden Wildfischerei. Experten diskutieren die Herausforderungen der Futtermittelqualität und die Umstellung auf pflanzliche Proteine. Die Unterschiede zwischen Zucht- und Wildlachsen werfen Fragen zur genetischen Vielfalt auf. Zudem beleuchtet die Debatte über das Schmerzempfinden von Fischen das Tierwohl. Schließlich wird die Wahrnehmung der Konsumenten in Bezug auf Nachhaltigkeit und Fischzucht kritisch hinterfragt.

Sep 2, 2025 • 23min
Bergbauern - Nachhaltig aus Tradition
Der Podcast bietet faszinierende Einblicke in das Leben der Bergbauern und ihre verantwortungsvolle Weidewirtschaft. Dabei wird das über Generationen weitergegebene Wissen und die Bedeutung von Almkühen für die Biodiversität thematisiert. Besondere Herausforderungen durch Modernisierung und sich ändernde Vorschriften werden ebenfalls beleuchtet. Gespräche mit Landwirten zeigen innovative Ansätze zur nachhaltigen Entwicklung der Landwirtschaft in den Alpen auf. Zudem wird die Weitergabe traditioneller Praktiken an kommende Generationen thematisch behandelt.

Sep 2, 2025 • 21min
Vertragsarbeiter in der DDR - Fremd im Bruderstaat
Sie lebten abgeschottet von der restlichen Bevölkerung, denn eine dauerhafte Einwanderung war nicht erwünscht: Die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam, Mosambik, Angola, Polen oder Ungarn, die den Mangel an Arbeitskräften in der DDR ausgleichen sollten. Wie erging es ihnen nach der Wende? Autorin: Maike Brzoska
Credits Autorin dieser Folge: Maike Brzoska Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Dorothea Anzinger, Jerzy May Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:Ann-Judith Rabenschlag Karpe, Historikerin, Universität Stockholm;Birgit Weyhe, Illustratorin des Comic-Buches “Madgermanes”;Thach Nguyen, ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter;Tamara Hentschel, DDR-Wohnheim-Betreuerin, Bürgerrechtlerin
Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:
Max Frisch - Der Kampf ums IchJETZT ANHÖREN
Linktipps:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks. DAS KALENDERBLATT Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK Motivated work Z8034318 119 0.44 Min.
SPRECHERIN
Im April 1980 beschließen die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Sozialistischen Republik Vietnam einen Staatsvertrag.
ZITATOR
Geleitet vom Wunsch zur Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit (…) haben die Regierungen (…) folgendes vereinbart: Die Regierung der DDR gewährleistet vietnamesischen Facharbeitern (…) für die Dauer von jeweils vier Jahren die Aufnahme einer Beschäftigung in Betrieben (…) der Deutschen Demokratischen Republik.
SPRECHERIN
Der Grund ist einfach, sagt die Historikerin Ann-Judith Rabenschlag Karpe. Sie hat an der Universität Stockholm ihre Dissertation über Vertragsarbeit in der DDR geschrieben.
01 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Der Grund ist in der DDR genau derselbe wie in Westdeutschland und in ganz vielen anderen europäischen Staaten. Es besteht schlicht und ergreifend ein Arbeitskräftemangel.
SPRECHERIN
Aber anders als die Bundesrepublik, wo die Fachkräfte vor allem aus der Türkei und Italien kommen, wirbt die DDR Arbeitskräfte aus sozialistischen Staaten an.
02 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Die DDR schließt die ersten Verträge mit Polen und Ungarn. Und dann, im Laufe der 70er Jahre erweitert sich der geografische Fokus und man wirbt in Afrika, in Lateinamerika, in Asien an. Und dann die größten Gruppen kommen aus Mosambik und Vietnam.
MUSIK Königskinder Z8038689 103 0.55 Min.
SPRECHERIN
Anfangs sind es sehr wenige. Die große Mehrheit kommt erst in den 1980er Jahren in die DDR.
03 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Es beginnt mit sehr kleinen Zahlen Anfang der 60er Jahre mit ein paar 100 polnischen Arbeitern. Und Ende der 80er Jahre sind wir dann bei gut 90.000.
SPRECHERIN
Die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern übernehmen größtenteils unbeliebte Tätigkeiten in der DDR.
04 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Das sind Arbeiten, die physisch anstrengend sind, im Schichtdienst, mit Nachtdiensten verbunden, am Fließband, Arbeitsplätze, an denen man Lärm ausgesetzt ist, unangenehmen Gerüchen, und so weiter. Also alle Arbeitsfelder, die für jemanden, der sich zwischen mehreren Jobs entscheiden kann, nicht die erste Wahl sind.
SPRECHERIN
Die vielen unbesetzten Stellen sind ein Problem für die Planwirtschaft der DDR. Die Maschinen sind nicht ausgelastet, die Norm kann nicht erfüllt werden. Eigentlich hätte in vielen Betrieben Tag und Nacht gearbeitet werden müssen, aber die Leute fehlen.
05 O-TON (Hentschel)
Am Anfang hat man versucht, die DDR-Bürger für das Schichtsystem zu gewinnen, das ist aber nicht so gelaufen, wie man sich das vorgestellt hat, so dass man dann Arbeitskräfte in den sozialistischen Bruderländern angeworben hat.
SPRECHERIN
Tamara Hentschel betreut damals Arbeitskräfte aus Vietnam. Sie erklärt, wie alles funktioniert und hilft bei Sprachproblemen.
MUSIK Work in progress red 2 Z803431827 0.31 Min.
SPRECHERIN
Viele der vietnamesischen Arbeitskräfte, insbesondere die Frauen, arbeiten in der Textilindustrie. Hentschels Vietnamesinnen zum Beispiel im Betrieb „Herrenbekleidung Fortschritt“. Im Akkord schneidern sie Hosen und Hemden.
06 O-TON (Hentschel)
Wo man nicht mit gerechnet hatte, war, dass die Vietnamesen sehr geschickt sind und auch die Norm gebrochen haben, dadurch gab es dann auch sehr viele Konflikte, also in der Textilindustrie war das so, sehr viele Konflikte mit den deutschen Arbeitskräften.
SPRECHERIN
Denn wer die Norm übererfüllt, also ein Normbrecher ist, setzt die Kollegen unter Druck, ebenfalls schneller zu arbeiten. Anders als die Frauen werden die Männer aus Vietnam oft auf dem Bau eingesetzt. Hier kommt es ebenfalls zu Problemen.
07 O-TON (Hentschel)
Im Baugewerbe gab´s ganz viele Unfälle, weil die Vietnamesen im Gegensatz zu deutschen Bauarbeitern und mosambikanischen Bauarbeitern sehr klein und schmächtig waren, und da gab es sehr viele Unfälle, die darauf zurückzuführen waren, dass die Arbeit einfach mal viel zu schwer war.
MUSIK Needle and twin Z8019017 122 1.11 Min.
SPRECHERIN
Schwere Arbeit, von der sie sich kaum erholen können, denn die Wohnverhältnisse sind beengt. Die Vertragsarbeiter leben, nach Geschlechtern getrennt, in Wohnheimen.
08 O-TON (Hentschel)
Zum Beispiel ne Dreiraumwohnung mit neun Personen in drei verschiedenen Schichten mit einer Küche und einem Bad. Und, ich weiß nicht, ob das im Westteil so bekannt ist, diese Badzellen, hat man dazu gesagt, das waren so ungefähr fünf Quadratmeter: ne Badewanne, ein Waschbecken, ne Toilette. Es gab keine Waschmaschine, also für die neun Personen musste alles mit der Hand gewaschen werden und dann in der Wohnung auch getrocknet werden. Und die Küche war meistens ein Durchgangszimmer zu einem anderen Zimmer, wo andere wiederum geschlafen hatten, weil sie Nachtschicht hatten. Und dann wurde versucht, mit zusätzlichen Kochplatten in den Zimmern dann zu kochen, was verboten war, und das war so meine Tätigkeit, aufzupassen wegen Brandschutz und Hygiene und so weiter.
SPRECHERIN
Das Leben in den Wohnheimen ist streng geregelt.
MUSIK Dark Tunnel Z8023930 109 0.30 Min.
ZITATOR
Heimordnung für das Betriebswohnheim „Insel“ des VEB Papierfabrik Dreiwerden. (…) Zur konsequenten Durchsetzung der Prinzipien von Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin sind nachstehend aufgeführte Festlegungen einzuhalten. Die Zimmerzuweisung wird durch den Gruppenleiter getroffen. Ein selbständiges Umziehen in andere Zimmer (…) ist nicht statthaft. Es ist nicht gestattet, die Zimmereinrichtung auszuwechseln.
SPRECHERIN
Um 22 Uhr werden die Wohnheime geschlossen. Nur Schichtarbeitende dürfen dann noch ein- und ausgehen. Übernachtungen müssen genehmigt werden. Das gilt auch für Ehepaare. Denn die leben meist nicht zusammen, sondern sind ebenfalls nach Geschlecht getrennt untergebracht. Auch Kontakte zur deutschen Bevölkerung sind nicht erwünscht.
09 O-TON (Hentschel)
Also erstmal waren sie ja im Wohnheim isoliert, die Bevölkerung rundrum war nicht informiert über den Einsatz. Warum sind die hier? Wer sind die überhaupt? Und persönliche Kontakte, wenn die nicht im Arbeitsprozess erfolgt sind, haben die eigentlich nicht stattgefunden.
MUSIK Motivated Work Z8034318 119 0.50 Min.
SPRECHERIN
Integration ist ohnehin nicht vorgesehen. Die Arbeitskräfte sollen vier oder fünf Jahre in der DDR bleiben, um zu arbeiten, und dann in ihr Heimatland zurückkehren. Dennoch kommt es immer wieder zu Kontakten zur DDR-Bevölkerung, auch zu Freundschaften und Liebesbeziehungen. Und mancherorts entsteht ein Austausch, der einträglich ist für beide Seiten. Hentschels Vietnamesinnen und Vietnamesen etwa schneidern bald Kleidung für DDR-Bürgerinnen und Bürger. Ein inoffizieller Nebenjob.
10 O-TON (Hentschel)
Die wollten die fünf Jahre nutzen, um so viel wie möglich Geld zu verdienen, damit sie ihre Familien zuhause unterstützen konnten. Und nach und nach haben Vietnamesen in den Wohnheimen dann pro Bettenplatz dann eine Nähmaschine aufgestellt und haben für die DDR-Bevölkerung Jeanshosen, Jacken, Röcke und so weiter genäht, alles nach Maß.
MUSIK People of Iraq M0007510 036 0.32 Min.
SPRECHERIN
In Vietnam kommt damals jede Hilfe recht. 1975 war der Vietnam-Krieg zu Ende gegangen, nach mehr als 20 Jahren Gräueltaten und Verwüstungen. Das Land ist traumatisiert. Die Wirtschaft liegt am Boden. Geld können die Vertragsarbeiter nicht überweisen, denn die DDR-Mark ist nicht konvertibel, kann also nicht in andere Währungen umgetauscht werden. Deshalb schicken sie Waren nach Hause, erinnert sich der ehemalige Vertragsarbeiter Thach Nguyen.
11 O-TON (Nguyen)
Also Zucker, Seife, Ersatzteile für Fahrräder, für Motorräder, Kakao und gute Bekleidungen.
SPRECHERIN
Vor allem Fahrräder sind sehr beliebt. Die sind in der DDR allerdings Mangelware.
12 O-TON (Nguyen)
Ich hab nie in der DDR ein Fahrrad kaufen können. Wenn Fahrrad da ist, ist sofort weg. Wenn irgendwas da ist, dann sind schon so viele Vietnamesen da vor dem Laden.
MUSIK Needle and twin Z8019017 122 0.58 Min.
SPRECHERIN
Thach Nguyen hatte sich in Vietnam für die Vertragsarbeit bewerben müssen. Nur die Besten dürfen in die DDR. Für ihn war es deshalb eine Auszeichnung, ausgewählt zu werden. Es gilt den Sozialismus aufzubauen, zuhause und in den Bruderländern.
13 O-TON (Nguyen)
Man arbeitete für die Sache des Sozialismus, das ist so zu dieser Zeit, und die DDR stand damals an der Spitze, so muss man sagen. Also jeder ist stolz und freut sich, in die DDR kommen zu dürfen.
SPRECHERIN
Er kannte die DDR bereits, weil er in den 1970ern an der TU Dresden studiert hatte. Danach war er nach Vietnam zurückgekehrt, um in einem Forschungsinstitut für Bauwesen zu arbeiten. Ende der 1980er kommt er als Vertragsarbeiter dann erneut in die DDR. Er wird Gruppenleiter und Dolmetscher auf dem Bau, weil er bereits gut Deutsch spricht. Anders als seine Kollegen, die kaum Zeit haben und Gelegenheit bekommen, die deutsche Sprache zu lernen.
14 O-TON (Nguyen)
Bei uns durfte jeder nur acht Wochen Deutsch lernen, danach gleich arbeiten. Einige bekamen zwar Ausbildung, aber wenige. Wir waren eine Gruppe von 200, nur 15 bekommen eine Ausbildung als Schweißer, die anderen müssen sofort arbeiten.
MUSIK Dark Tunnel Z8023930 109 0.32 Min.
SPRECHERIN
Das erzeugt viel Frust. Statt neue Fähigkeiten zu erwerben, müssen viele einfache Hilfstätigkeiten übernehmen. Sie schleppen Dachziegel oder sortieren Schrauben am Fließband. Und das, obwohl viele von ihnen top ausgebildet sind. Thach Nguyen bekommt als Gruppenleiter den Frust deutlich zu spüren.
15 O-TON (Nguyen)
Manche Leute stellen auch Fragen wie: Warum bin ich hier als ungelernte Arbeitskraft, warum bekomme ich Lohnstufe vier, obwohl ich Bauingenieur bin zum Beispiel. Das bedeutet, zuhause hat man ihnen nicht gut genug erklärt.
MUSIK Success means work © Z8034319 118 0.38 Min.
SPRECHERIN
Die hohen Erwartungen kamen nicht von ungefähr. Denn die SED, also die Einheitspartei der DDR, hatte die Vertragsarbeit nach außen hin anders dargestellt.
16 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Wir bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem sozialistischen Ausland die Möglichkeit, sich hier bei uns weiter zu qualifizieren. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, in einer hochindustrialisierten Gesellschaft auch technische Fähigkeiten zu erlernen und sich aber auch ideologisch weiterzuentwickeln. Und dann, so ist der Gedanke, dann können die Arbeiter zurückkehren in ihre Heimatländer und dort beim Aufbau junger Industrien helfen und auch den Geist des Sozialismus verbreiten. Das ist sozusagen die offizielle Sprechweise der SED.
MUSIK Structure ryhtme M0010659 003 0.18 Min.
SPRECHERIN
Frustriert sind nicht nur vietnamesische Arbeitskräfte, sondern auch viele Arbeitskräfte aus Mosambik. Sie waren nach den Vietnamesen die zweitgrößte Gruppe Vertragsarbeiter. Einen von ihnen lernt die Illustratorin Birgit Weyhe eher zufällig kennen. Auch er ist tief enttäuscht.
17 O-TON (Weyhe)
Weil er eben dachte, er bekommt eine Ausbildung in der DDR und dann aber kein Mitspracherecht hatte, sondern in Karl-Marx-Stadt an der Stanzmaschine in der Fabrik stand über Jahre. Und als er eben zurück musste nach der Wende auch damit nichts anfangen konnte, weil es eben Industrie in der Form gar nicht gab, wo er diese eine Handbewegung, die er an der Stanzmaschine gemacht hat, hätte nutzen können. Er war sehr frustriert, dass auch die Familie enttäuscht war, dass er nichts mitgebracht hat.
MUSIK Structure ryhtme M0010659 003 0.27 Min.
SPRECHERIN
Birgit Weyhe lebt heute in Hamburg, ist aber in Ostafrika aufgewachsen, und hat oft ihren Bruder in Mosambik besucht – sie kennt also Land und Leute. Sie war überrascht und auch ein wenig beschämt, dass sie nichts wusste von den mosambikanischen Arbeitskräften in der DDR. Sie beginnt zu recherchieren und spricht in Mosambik mit insgesamt 20 ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern.
18 O-TON (Weyhe)
Was alle einheitlich gesagt haben, ist, dass es hieß, sie könnten eben in die DDR, könnten da arbeiten und würden eine Ausbildung kriegen. Und das hat sich für die wenigsten erfüllt. Also manche konnten dann wenigstens einen Führerschein machen, was ihnen ein bisschen was gebracht hat. Aber das waren wirklich Ausnahmen.
SPRECHERIN
Birgit Weyhe zeichnet einen Comic. Das Buch erscheint 2016 und heißt „Madgermanes“. So nennen sich die mosambikanischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die in der Hauptstadt Maputo auf die Straße gehen und protestieren.
MUSIK Anxious Z8037642 105 0.19 Min.
SPRECHERIN
Denn während ihres Aufenthaltes in der DDR bekamen sie nur einen Teil der Löhne ausgezahlt. Der Rest wurde einbehalten.
20 O-TON (Weyhe)
Manchmal waren es 60 Prozent, manchmal 50, die ihnen abgezogen wurde, weil es hieß, das Geld bekommt ihr, wenn ihr zurückkommt. Das kommt auf ein Konto, und wenn ihr zurück nach Mosambik kommt, dann habt ihr dieses ganze Geld und könnt damit dann euch ein neues Leben aufbauen und profitiert davon und eure Familien.
SPRECHERIN
Eine schöne Vorstellung – die sich für die meisten allerdings nicht erfüllte.
MUSIK Needle and twin Z8019017 122 0.27 Min.
21 O-TON (Weyhe)
Was die Vertragsarbeiter nicht wussten, ist, dass die beiden Länder untereinander einen Deal geschlossen hatten, dass mit diesen Löhnen die Devisen-Schulden Mosambiks abgezahlt werden. Das heißt, Mosambik hat eben Waffen eingekauft bei der DDR gegen Devisen und konnte diese Schulden nicht zurückzahlen, weil es eben ein Land war, was gerade unabhängig geworden ist und direkt in den Bürgerkrieg gegangen ist, woher sollten die Devisen kommen.
SPRECHERIN
Einen solchen Deal hatte die DDR nicht nur mit Mosambik, sondern auch mit anderen sozialistischen Staaten.
22 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Viele der Entsendestaaten waren bei der DDR verschuldet. Und diese Abkommen waren dann eine Möglichkeit, diese Schulden teilweise zu tilgen. Also jeder Arbeiter, der beispielsweise dann aus Mosambik nach Berlin geschickt wurde, um dort in einem volkseigenen Betrieb zu arbeiten, dessen Arbeitsleistung wurde teils in Form eines Gehaltes an den Arbeiter ausgezahlt und teils lief das Geld direkt in die Kasse der DDR zur Tilgung der Staatsschulden, was natürlich das individuelle Gehalt des Arbeitnehmers runtergedrückt hat.
SPRECHERIN
Neben dem eher niedrigen Verdienst erlebten viele Mosambikaner auch Anfeindungen. Bekannt sind heute vor allem die rechtsextremen Anschläge in den 1990ern, also nach der Wende. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen. Aber auch schon vor der Wende gab es Übergriffe.
24 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Wir wissen aus Stasiakten und Polizeiakten, dass es auch schon lange vor dem Mauerfall in der DDR zu rassistischen Übergriffen kam, also gewalttätigen Übergriffen. Die wurden aber totgeschwiegen und tabuisiert. Das hat natürlich mit dem ideologischen Hintergrund zu tun. Laut SED-Regime war Rassismus ein Symptom kapitalistischer Systeme.
MUSIK Motivated work red 2 Z8034318 121 0.35 Mon.
SPRECHERIN
Das sind die Schattenseiten der Vertragsarbeit in der DDR. Und dennoch berichten viele auch von positiven Erfahrungen. Vom Zusammenhalt untereinander und in den Betrieben. Und von langanhaltenden Freundschaften und Menschen, die in der DDR eine Art Ersatzfamilie waren.
25 O-TON (Weyhe)
Ich habe mit einer gesprochen, die hat immer noch zu Omi und Opi Kontakt. Das war ein Ehepaar, was sie ganz am Anfang kennengelernt hat und die sie jede Woche eingeladen hat zu Kaffee und Kuchen und die so ihr Anker waren. Die waren wirklich wie Omi und Opi für sie. Und die telefonieren immer noch und sind ganz eng.
SPRECHERIN
Auch Thach Ngyuen erinnert sich im Großen und Ganzen gerne an die Zeit.
MUSIK Buddelkastenfreunde Z8038689 116 0.55 Min.
26 O-TON (Ngyuen)
Wenn man sich heute trifft, also die ehemaligen Vertragsarbeiter, die erzählen immer noch von dem schönen Leben damals in der DDR. Denn sie müssen sich vorstellen, in Vietnam waren wir sehr arm, haben nicht genug zu essen, auf einmal haben sie genug zu essen, also Hühner, Brot, Fleisch, ein sauberes Bett, Warmwasser zum Beispiel.
SPRECHERIN
Und, was ihm ganz wichtig ist: Viele Familien profitieren, auch seine eigene.
27 O-TON (Nguyen)
Man muss auch so sagen: Mit den Abkommen hat man auch sehr vielen Familien in Vietnam geholfen. Die Leute, die hier waren, die können Waren nach Hause schicken, die können ihre Familien zuhause unterstützen. Und nach der Wende, die die hiergeblieben sind oder die hinzugekommen sind, die dürfen dann ihre Familie herholen, wie ich zum Beispiel.
SPRECHERIN
Seine Tochter hat in Deutschland mit einem Notendurchschnitt von 1,0 Abitur gemacht und anschließend promoviert. Sein Sohn studiert Musik in der Schweiz.
28 O-TON (Nguyen)
Das ist das, was ich diesem Land zu verdanken habe.
MUSIK Anxious Z8037642 102 0.31 Min.
SPRECHERIN
Das ist die heutige Perspektive, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende. 1989, also nach dem Mauerfall, beginnt erst einmal eine sehr schwierige Zeit für die Vertragsarbeiter. Vor allem, weil ihr rechtlicher Status unklar ist.
29 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Die Arbeitsmigranten befinden sich in einem juristischen Vakuum, weil ihre Aufenthaltsgenehmigung an den Arbeitsvertrag geknüpft gewesen war. Und dieser Arbeitsvertrag war aber vom Staat der DDR geschlossen worden. Und den gab es ja nun nicht mehr. Also war der Arbeitsvertrag nicht mehr gültig. Damit also auch die Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr.
SPRECHERIN
Einige Herkunftsländer holen ihre Arbeitskräfte deshalb bald nach Hause.
30 O-TON (Hentschel)
Wie zum Beispiel Kuba, Nordkorea, China. Aber Mosambik, Angola, Vietnam haben ihre Leute nicht zurückgeholt. In Afrika war Bürgerkrieg und Vietnam stand kurz vor dem wirtschaftlichen Aus.
MUSIK Königskinder Z8038689 103 0.43 Min
SPRECHERIN
Rund 90.000 Vertragsarbeiter leben zur Zeit des Mauerfalls in der DDR. Die Mehrheit kommt aus Vietnam. Teilweise sind sie erst ein paar Monate zuvor eingereist. Ein Großteil der Vertragskräfte kehrt zur Wendezeit in die Heimat zurück – einige bekommen eine ordentliche Abfindung, andere werden massiv zur Ausreise gedrängt. In Deutschland bleiben letztlich
rund 20.000 Menschen aus Vietnam, 3000 aus Mosambik und 200 aus Angola. Ihre Situation ist oft äußerst prekär: Viele sprechen erst wenig deutsch und in den Wohnheimen können sie häufig nicht bleiben.
31 O-TON (Hentschel)
Weil die Unterbringung war nicht für Arbeitslose, weil die ja alle arbeitslos geworden sind. Die wenigen Wohnheime, die es noch gab, haben gleich nach der Wende 120 D-Mark gekostet, also für ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank.
SPRECHERIN
Geld, das erst mal verdient werden muss. Manche verkaufen Zigaretten auf der Straße, andere gründen kleine Imbisse oder Blumenläden. Oft im rechtlichen Graubereich. Denn ihr Status ist lange unklar und sie müssen jederzeit damit rechnen, abgeschoben zu werden. Oft wissen auch die Behörden nicht so genau, wie mit ihnen verfahren werden soll. Tamara Hentschel gründet deshalb eine Beratungsstelle für ehemalige Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter.
32 O-TON (Hentschel)
Als wir dann als Beratungsstelle angefangen haben, war für uns erst mal wichtig, sie zu informieren über ihre Rechte. Dass sie Leistungen beziehen dürfen und Arbeitserlaubnis kriegen müssen und so weiter.
SPRECHERIN
Sie engagiert sich mit anderen, dass der rechtliche Status endlich geregelt wird. Sieben Jahre dauert das, dann gibt es Klarheit.
MUSIK Motivated work Z8034318 119 0.32 Min.
33 O-TON (Rabenschlag Karpe)
1997 wird es dann möglich für diese ehemaligen Arbeitsmigranten, sich formal um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik zu bewerben.
SPRECHERIN
Was bei den meisten auch genehmigt wird. Aus den ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern, die im Rahmen der sozialistischen Bruderhilfe in die DDR kamen, werden nun also Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Sep 1, 2025 • 26min
Ordnung in die Natur! Der schwedische Forscher Carl von Linné
Der schwedische Naturforscher Carl von Linné erfasste im 18.Jahrhundert die damals bekannte Tier- und Pflanzenwelt und brachte sie in eine logische Ordnung. Dazu führte er die binäre Benennung der Organismen ein. Dieses System ermöglicht es Wissenschaftlern, sich über Arten in einer präzisen und standardisierten Sprache auszutauschen.
Autorin: Susanne Hofmann (BR 2023)
Credits Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Hemma Michel, Peter Weiß Technik: Tim Höfer Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:Kärin Nickelsen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München;Gerhard Haszprunar, Professor em. für Zoologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, früherer Direktor der Zoologischen Staatssammlung München; Renate Hudak, Dipl.-Ingenieurin für Gartenbau, Botanischer Garten Augsburg
Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:
Neophyten, die eingeschleppten Pflanzen - Alles NaturJETZT ANHÖREN
Die wundersame Welt der Gräser - Alles Natur!JETZT ANHÖREN
Was macht Moore so wertvoll? - Alles NaturJETZT ANHÖREN
Linktipp:
Marei. Das Geschäft mit der LiebeARD Audiothek | HörspielZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Das musste ihm erst mal einer nachmachen!
ZITATOR1
Kein Naturwissenschaftler hat mehr Beobachtungen in der Natur angestellt. Keiner hat einen solideren Einblick in alle drei Reiche der Natur zugleich gehabt. Keiner war ein größerer Botaniker oder Zoologe.
ERZÄHLER
Ein Superlativ reiht sich an den nächsten.
ZITATOR1
Keiner hat mehr Werke geschrieben, besser, ordentlicher, aus eigener Erfahrung. Keiner so völlig eine ganze Wissenschaft reformiert und eine neue Epoche eingeleitet. Keiner hat eine so über alle Welt ausgedehnte Korrespondenz gehabt. [langsam ausblenden]
ERZÄHLER
Keine Frage: Nach dieser Einschätzung ist der so Gepriesene eine Ausnahmeerscheinung, eine überragende Figur in der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts: der schwedische Naturforscher Carl von Linné. Randnotiz zum Schmunzeln – das überschwängliche Lob stammt aus Linnés eigener Feder. An Selbstbewusstsein mangelte es dem Schweden nicht. Seine Lebensleistung: Er entwickelte ein umfassendes, schlüssiges hierarchisches System der biologischen Klassifizierung. Alle damals bekannten Tiere und Pflanzen ordnete er in Kategorien wie Klassen, Ordnungen und Gattungen ein. Dafür rühmten ihn auch andere Geistesgrößen, der Philosoph Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel:
ZITATOR 2
Für mich gibt es keinen Größeren auf Erden.
ERZÄHLER
Und Goethe bekannte, dass Linnés Hauptwerk „Philosophia naturae“ sein steter Begleiter war und
ZITATOR 3
dass nach Shakespeare und Spinoza auf mich die größte Wirkung von Linné ausgegangen ist
ERZÄHLER
Sein größtes Verdienst bringt Linné selbst so auf den Punkt:
ZITATOR 1
Gott schuf, Linné ordnete
ERZÄHLER
Carl von Linné, oder Carl Linnaeus [Linnäus], wie er die ersten 50 Jahre seines Lebens hieß, revolutionierte die Biologie, indem er in der Natur „aufräumte“. Oder vielmehr: sich auf die Suche nach dem geheimen Plan machte, welcher der göttlichen Schöpfung nach seiner Vorstellung innewohnte - erklärt der österreichische Zoologe Gerhard Haszprunar, langjähriger Leiter der Zoologischen Staatssammlung in München und Zoologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München:
1. ZUSPIELUNG Haszprunar 6:14
„Er war hundert Jahre vor Darwin, also von Evolution gab es noch gar keine Rede. Und daher war für ihn diese Ordnung göttlich vorgegeben. Punkt. Also er hat gar nicht versucht, diese Ordnung in irgendeiner Form durch einen Mechanismus zu erklären, sondern das war die göttliche Schöpfung, die ist hierarchisch geordnet, offensichtlich, und die Aufgabe des Wissenschaftlers ist jetzt, diese göttliche Ordnung in allen Details zu erkennen und zu beschreiben. Das war sein Programm, und das hat er knallhart durchgezogen.“
ERZÄHLER
Linné war ein begnadeter Beobachter. Was er sah – seien es nun Mineralien, Tiere oder Pflanzen – sortierte er. Sein Ordnungssystem sorgt noch heute für Übersicht in der Botanik und in der Zoologie – und das, obwohl wir in den über 250 Jahren seit seinem Tod im Jahr 1778 viele neue Erkenntnisse gewonnen und unzählige weitere Pflanzen und Tiere entdeckt haben. Die Tierwelt ordnete Linné folgendermaßen: Er unterteilte die Tiere in sechs grobe Gruppen – Säugetiere, Vögel, Amphibien, Fische, Insekten und Würmer. Diese sechs Kategorien wiederum untergliederte er weiter – in Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien und Gattungen. Der Zoologe Gerhard Haszprunar:
2. ZUSPIELUNG Haszprunar 8:11
„Also wir haben Begriffe wie etwa jetzt die Säugetiere. In den Säugetieren haben wir die Huftiere. In den Huftieren haben wir jetzt zwei Gruppen: Paarhufer und Unpaarhufer. In den Paarhufern haben wir jetzt Hornträger und Geweihträger und so weiter und so fort. Also, das ist so ineinander geschachtelt wie eine russische Puppe, aber vielfach, nicht bloß ein paar, sondern 30, 40 solcher Kategorien.“
MUSIK m02 (Z8028537114, Rework it, Artisan crafts, Sponticcia, Martin, 0:53 Min)
ERZÄHLER
Linnés besonderes Interesse galt indes der Welt der Pflanzen, der Botanik. Schon als Kind, Anfang des 18. Jahrhunderts, tummelte er sich gern im Garten seines Vaters. Der hatte einen besonders schönen, selbst angelegten Lustgarten, in dem er auch seltene Pflanzen anbaute, darunter mediterrane Kräuter wie Thymian oder Rosmarin. Der junge Carl durfte bald seine eigenen Beete beharken und lernte die Namen der Pflanzen kennen. Was die Benennung von Pflanzen betraf, herrschte damals Wildwuchs…
ZITATOR 2 oder 3
„…da dreißig oder vierzig Botaniker ein und derselben Pflanze ebenso viele verschiedene Namen beilegten. Auf diese Weise war die ganze Botanik zu einem wahren Chaos, zu einem allgemeinen Babel geworden, wo niemand mehr seinen Nachbarn verstehen konnte.“
ERZÄHLER
So beschrieb der französische Naturforscher und Geologe Georges Cuvier die Begriffsverwirrung, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die damals herrschte. Für die Botaniker der Zeit eine kaum noch zu beherrschende Herausforderung, meint Kärin Nickelsen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht zur Geschichte der Biologie, insbesondere zur Geschichte der Botanik.
3. ZUSPIELUNG Nickelsen 4:12
„Zu der Zeit, als Linné lebte, gab es natürlich sehr viele andere Systeme bereits, aber diese Systeme waren nicht einheitlich, und die Arten und Gattungen hießen auch unterschiedlich, je nachdem, welches System man anlegte. Also es gab eine große Verwirrung, und die wurde umso ein beschwerlicher und auch wirklich hinderlicher, als ja viele neue Arten nach Europa kamen, also durch die Expansionsbestrebungen, die Kolonialunternehmen der europäischen Mächte, kamen sehr viele neue Pflanzenarten auch Tierarten - aber bleiben wir mal bei den Pflanzen,… nach Europa. Die musste man neu benennen, und sie bekamen häufig ganz unterschiedliche Namen, je nachdem, wer sie gerade in seinem System benannt hat. So, jetzt kam Linné und wollte ein einheitliches System schaffen.“
ERZÄHLER
Dieses einheitliche System der Benennung ist eine von Linnés Errungenschaften als Naturforscher. Doch ehe wir dazu kommen – rasch ein Abstecher in seine Biographie.
MUSIK m03 C1480470016, Tempelfeste, Melancholie - Music for film, Proksch, Michael, 0:49 Min)
ERZÄHLER
Name:
ZITATOR 1
Carl Linnaeus
ERZÄHLER
Art
ZITATOR 1
Homo sapiens
ERZÄHLER
Unterart
ZITATOR 1
Naturforscher, Botaniker, Arzt
ERZÄHLER
Herkunft:
ZITATOR 1
Småland [smoland], Provinz in Südschweden
ERZÄHLER
Lebenszeit:
ZITATOR 1
1707 bis 1778
ERZÄHLER
Aussehen - nach seiner eigenen Beschreibung:
ZITATOR 1
„Der Kopf groß, mit gewölbtem Hinterhaupt, … Die Augen braun, lebhaft, äußerst scharf, von hervorragender Sehkraft. … Ein entschlossener Charakter, leicht zu Zorn, Freude, Trauer geneigt, schnell zu besänftigen; frohgemut in der Jugend und auch nicht stumpfsinnig im Alter; seinen Obliegenheiten voll und ganz hingegeben“
ERZÄHLER
Carl Linnaeus wuchs als Sohn eines protestantischen Pastors in Südschweden auf dem Land auf. Eigentlich sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten – allein: Er gehörte in den dafür maßgeblichen Fächern Theologie, Griechisch und Hebräisch zu den schlechtesten Schülern. Dafür überragte er seine Mitschüler in Mathe und Physik. Ein Lehrer erkannte seine Begabung und unterrichtete ihn privat bei sich zuhause. Linnaeus schloss das Gymnasium ab und begann das Studium der Medizin zunächst in Lund, später in der Universitätsstadt Uppsala [Uppsála]. Vor allem interessierte er sich dort aber für das Studienfach Botanik, er erforschte den Botanischen Garten der Uni und tat sich durch seine Sachkunde derart hervor, dass man ihm bald einen Lehrauftrag erteilte.
MUSIK m04 (CD701240020, The song of Iivana Onoila. Traditiona, Authentic Scandinavia 3, Kontio, Matti (Bearb.), 0:45 Min)
Mit 23 wurde er auf eine abenteuerliche Forschungsreise ins weithin unbekannte Lappland entsandt, dessen Flora und Fauna, Landschaften und Bewohner er genau beschrieb und mit Zeichnungen illustrierte.
ZITATOR 1
Hier war es, als würde ich in eine neue Welt hinausgeführt, und als ich in die Berge kam, wusste ich nicht, ob ich in Afrika oder Asien war, denn sowohl das Erdreich als auch die Lage und die Pflanzen waren mir vollkommen unbekannt.
ERZÄHLER
Nach seiner Rückkehr schrieb er an seinen ersten Werken zur Systematik der Pflanzen. Schließlich promovierte er in Medizin, ließ sich zunächst als Arzt nieder und bekam später eine Professur am Lehrstuhl für Botanik. Mit 50 wurde Carl Linnaeus in den Adelsstand erhoben und durfte sich fortan Carl von Linné nennen. Die Wissenschaftshistorikerin Kärin Nickelsen:
4. ZUSPIELUNG Nickelsen 8:18
„Linné war sehr, sehr erfolgreich darin, an seiner Karriere zu arbeiten, wenn man so möchte. Er studierte in Schweden, das war auch damals eher von den Zentren der Wissenschaft weit entfernt, und es gelang ihm aber dann, auf der damals üblichen großen Europa-Tour Kontakte zu knüpfen zu den besten Botanikern der Zeit, also in den Zentren wie vor allen Dingen Paris, was sehr wichtig war für die Wissenschaft der Zeit, aber auch in den Niederlanden, wo ganz wichtige Naturforscher ihre botanischen Gärten hatten, also für die Botanik vor allen Dingen oder in der Medizin. Durch diese Kontakte wurde es ihm ermöglicht, die Manuskripte, die er bereits mitbrachte, an angesehenen Druckereien drucken zu lassen. Er publizierte die Werke und sorgte dann dafür, dass diese auch breit gelesen und eben verkauft wurden.“
ERZÄHLER
Linné war ein unermüdlicher Arbeiter, er veröffentlichte rund 20 Bücher, die er in Neuauflagen immer wieder korrigierte und erweiterte, er korrespondierte mit anderen Wissenschaftlern und er hielt Vorlesungen. Die Studenten kamen aus ganz Europa, um von ihm zu lernen. Als Professor veranstaltete er regelmäßige Exkursionen rund um Uppsala, um mit den angehenden Forschern die heimische Flora und Fauna zu studieren. Diesen wissenschaftlichen Erkundungen der Natur schlossen sich manchmal bis zu 200 Teilnehmer an.
Mitzunehmen waren: Linnés Buch „Systema naturae“ über die Systematik der Lebewesen, Lupe, Messer, Botanisierbüchse zum Umhängen für die Funde. Alle 30 Minuten wurden die gefundenen Exemplare nach Gattung, Art, Standort, Nutzen und Besonderheiten besprochen. Fand jemand eine Seltenheit, wurde das Waldhorn geblasen.
Waldhorn-Atmo?
ERZÄHLER
In seiner Autobiographie erinnert sich Linné:
ZITATOR 1
„Und nachdem sie von morgens sieben bis abends neun Uhr mittwochs und sonnabends botanisiert hatten, kamen sie in die Stadt zurück mit Blumen auf den Hüten, begleiteten auch ihren Anführer mit Pauken und Waldhörnern durch die ganze Stadt bis zu dem Garten.“
ERZÄHLER
Zum Abschluss der Exkursion riefen die Teilnehmer laut:
MEHRERE (junge, männliche) STIMMEN?
Vivat Linnaeus!
MUSIK m07 (Z8033060122, New hope, Ice Word, Kreuzer, Anselm, 0:35 Min)
ERZÄHLER
Zu den wissenschaftlichen Verdiensten Linnés gehörte nicht nur sein Ordnungssystem für Lebewesen. Er führte auch eindeutige wissenschaftliche Namen für Pflanzen und Tiere ein. Insbesondere in der Botanik ein Meilenstein. Dazu reduzierte er die oft langatmigen Bezeichnungen von Pflanzen auf zwei Bestandteile.
Jede Pflanze erhielt sozusagen einen Vor- und einen Nachnamen – auf Latein. Der erste Teil des Namens bezeichnete die Gattung, der zweite die Art innerhalb der Gattung. Die binäre Nomenklatur war geboren – und damit unter anderem der Begriff Homo sapiens, den Linné ebenfalls prägte. Diese Systematik erwies sich im, bis dahin völlig unüberschaubaren, Pflanzenreich als besonders hilfreich.
Ein Beispiel: Während einst den Schwalbenwurz-Enzian ein wahres Wortungetüm bezeichnete
ZITATOR 2 oder 3
Gantiana foliis avato-lanceolatis floribus campanulatis in alis sessilibus – zu Deutsch: Enzian mit eiförmig-lanzettenartigen Blättern und glockenförmigen Blüten in sitzenden Flügeln
ERZÄHLER
So machte Linné daraus schlicht eine
ZITATOR 1
Gentiana asclepiadea – zu Deutsch also: Schwalbenwurz-Enzian
ERZÄHLER
Der Vorteil dieser knappen, eindeutigen Benennung liegt noch heute auf der Hand - nicht nur für Wissenschaftler, sondern für alle, die mit Pflanzen zu tun haben, wie Renate Hudak vom Botanischen Garten Augsburg:
5. ZUSPIELUNG Hudak 0:16
„Damit kann ich mir immer sicher sein, dass, wenn ich mit jemandem anderen spreche, wir dieselbe Pflanze meinen.“
ERZÄHLER
Noch heute tragen Pflanzen im alltäglichen Sprachgebrauch oft regional unterschiedliche deutsche Namen. Um Missverständnisse auszuschließen, hilft der Rückgriff auf die Linnéschen lateinischen Bezeichnungen weiter.
Linné führte nicht nur diese zweiteilige Nomenklatur ein, er entwickelte eine ganz neue Fachsprache und legte Methoden zur Erforschung der Pflanzen fest. Das alles in seinem Werk „Philosophia Botanica“.
7. ZUSPIELUNG Nickelsen 16.38
„Und was dieses Werk auch auszeichnet, ist, es ist nicht ein trockenes Lehrbuch der Botanik, sondern das ist eingeteilt in unterschiedliche Aphorismen könnte man sagen, in Sätze und dann Erläuterung, und es ist unglaublich witzig zum Teil, also geistreich. Bei den Namen zum Beispiel … sagt er etwa: Namen sind nicht zulässig, wenn sie anstrengend auszusprechen sind, wenn sie ekelhaft sind oder wenn sie länger sind als anderthalb Fuß. Und das erläutert er dann weiter und sagt, länger als eineinhalb Fuß ist ein Name, der mehr als zwölf Buchstaben hat.“
ERZÄHLER
Linné ging bei seiner wissenschaftlichen Arbeit pragmatisch zu Werk und orientierte sich am praktischen Nutzen.
Die Botanik war seinerzeit dem „gottgegebenen“ System der Pflanzen auf der Spur, das es zu erkennen galt.
8. ZUSPIELUNG Nickelsen 5.10
„Aber Linné war sehr davon überzeugt, dass das zwar ein Ziel war, dass wir dies aber nicht erreichen können. Und dass wir … Kategorien brauchen, die wir nach unserem Gutdünken definieren, also dass wir Gruppen schaffen, mit denen wir gut arbeiten können… Das gelang ihm sehr, sehr gut. Hier hat er Klassen definiert und Ordnungen, also große Gruppen nach den sogenannten Sexual-Organen der Pflanzen. Das war schon bekannt, dass man so etwas wie eine sexuelle Fortpflanzung hat bei Pflanzen, und man musste dann … für diese übergeordneten Gruppen nur noch zählen. Also man musste zählen, wie viele Staubblätter und wie viele Stempel und Narben eine Pflanze hatte und konnte sie dann ins System einsortieren.“
ERZÄHLER
Linnés systematischer Ansatz ermöglichte ihm eine geradezu enzyklopädische Leistung. Im Laufe seines Lebens beschrieb und benannte er schätzungsweise 16.000 Pflanzen- und Tierarten, viele davon Neuentdeckungen. Das tat er nicht eigenhändig, er konnte sich dabei auf ein weltumspannendes Netzwerk an Korrespondenten stützen.
Sie alle arbeiteten schon bald nach seinem System.
10. ZUSPIELUNG Nickelsen 13.20
„Zum Teil waren das Schüler, zum Teil waren es auch Kollegen, mit denen er auf gutem Fuß stand, die durch die Welt reisten und ihm Pflanzen-Material zusandten, meistens als getrocknete Herbarexemplare, die er dann nutzte, um die neuen Pflanzennamen zu definieren und die dann in die nächste Auflage der Spezies Plantarum aufzunehmen. Das ist also ein Werk, das sehr häufig aufgelegt wurde, immer wieder überarbeitet und erweitert.“
ERZÄHLER
Diese Arbeitsweise war damals unter Botanikern üblich – es herrschte ein Geben und Nehmen, man tauschte Pflanzenmaterial aus und teilte sein Wissen. Wobei Linnaeus sich in der damaligen Botaniker-Gemeinschaft einen eher zweifelhaften Ruf erwarb, wie die Wissenschafts-Historikerin Kärin Nickelsen berichtet.
11. ZUSPIELUNG Nickelsen 20.48
„Denn es war bald bekannt, dass Linné zwar von allen Pflanzenmaterial, getrocknete Pflanzen oder auch eingelegtes Material, bekam und auch darum bat oder sogar anforderte, aber kaum jemals etwas wieder verschickte. Also ein Korrespondenzpartner bezeichnete ihn einmal sehr schön als die Spinne im Netz.“
ERZÄHLER
Dank dieser zentralen Stellung mit Verbindung in alle Welt gewann Linné in seinem abgelegenen Botanischen Zentrum im schwedischen Uppsala einen Überblick über die für Europa bekannte Flora der Zeit. Und aus dieser Position heraus definierte er, welche Pflanze wo in dem System ihren Platz erhielt und vergab entsprechende Namen.
12. ZUSPIELUNG Nickelsen 13.30
„Und Linné nutzte seine Position als Autorität, um auch Gunst zu vergeben. Also er konnte auch mit Pflanzennamen zum Beispiel Kollegen feiern, die er besonders lobenswert fand und erwähnenswert fand, also seinen verehrten Lehrer zum Beispiel, Rudbeck, den ehrte er durch die Rudbeckia, also den Sonnenhut, eine ganz besonders schöne Pflanze in dieser Zeit.“
ERZÄHLER
Kritiker seiner Arbeit dagegen konnte er schon einmal abstrafen durch seine Namensgebung.
13. ZUSPIELUNG Nickelsen 12.13
„Es gab einen Botaniker, der ihn besonders scharf kritisierte: Johann Georg Siegesbeck, und da hat Linné im Gegenzug etwas gemacht, was er auch häufiger machte, nämlich seine Position als Nomenklator, als derjenige, der Pflanzennamen vergab, ausgenutzt. Er hat also zu Ehren von Siegesbeck eine ganz besonders unscheinbare, unwichtige Pflanze Siegesbeckia genannt.“
ERZÄHLER
Und Kritiker hatte Linnaeus durchaus. Vor allem sein sogenanntes Sexualsystem der Pflanzen stieß einigen Zeitgenossen peinlich auf. Denn Linné gruppierte die Pflanzen anhand ihrer Fortpflanzungsorgane. In Analogie zum menschlichen Sexualleben sprach er von den „Hochzeiten der Pflanzen“ und war überzeugt, so die Umweltpädagogin Renate Hudak:
14. ZUSPIELUNG – Hudak 6:39
„Pflanzen haben eine Sexualität, und es gibt weibliche Blüten und männliche Blüten, und zum Teil wurde er dafür richtig angefeindet, weil das zu dieser Zeit eigentlich ein Unding war - zu sagen: das harmlose, friedliche Reich der Pflanzen wird jetzt auch noch damit verbunden.“
ERZÄHLER
Auch wenn seine Beobachtung völlig richtig war – bei der Fortpflanzung von Pflanzen spielen männliche und weibliche Blütenorgane eine große Rolle – geriet er mit seinen Begriffen und seinen Beschreibungen in Konflikt mit den Moralvorstellungen seiner Zeit, sagt Kärin Nickelsen. Indes:
15. ZUSPIELUNG Nickelsen 11:25
„Er hat es auch genossen. Er hat auch geschrieben darüber, wie etwa, wenn man eine Gruppe hatte, zum Beispiel mit einem Staubblatt und verschiedenen Narben oder Stempeln, dann nannte er dies Monandria, … und schrieb auch darüber, dass hier also ein Mann mit vielen Frauen ins Bett geht - das war durchaus bewusst als Provokation gesetzt und wurde auch so gelesen.“
ERZÄHLER
Gegen die gängigen Vorstellungen verstieß auch, dass er den Menschen in sein System der Tiere aufnahm, und zwar in eine Gruppe mit den Menschenaffen. Kärin Nickelsen:
16. ZUSPIELUNG Nickelsen 26:45
„Das war etwas, was den religiösen Gefühlen der Zeit vollständig entgegenstand. … Also den Menschen als Krone der Schöpfung auf eine Stufe zu stellen mit eben Affen - dafür wurde er sehr kritisiert und blieb aber, hielt daran fest und sagte, als Naturforscher sehe er eigentlich keinen Grund, der dem irgendwie entgegenstand.
ERZÄHLER
Linné war durch und durch Wissenschaftler. Er fühlte sich dem verpflichtet, was sich beobachten ließ. Sein System und die Vereinfachung der Namensgebung bewirkten,
17. ZUSPIELUNG Nickelsen:
„dass im 19. Jahrhundert etwa das Botanisieren etwas wurde, was ein verbreitetes Hobby war, also gerade für bürgerliche Familie in England ganz besonders, aber auch in anderen Teilen Europas, auch schicklich für junge Damen, … also mit ganz wenig Vorbildung konnte man auf diese Weise eben Pflanzen, die man fand, da konnte man zunächst einmal zählen: Wie viele Staubblätter gibt es, wie viel Stempel gibt es, und wo gehört es dann zunächst mal rein als Klasse und Ordnung und sich dann also einen Zeitvertreib aneignen, der zugleich also gerade in England auch aufgeladen war mit theologischen Vorstellungen. näher. Also man konnte auf diese Weise mehr darüber erfahren, wie Gott eben die Welt geordnet hat.“
ERZÄHLER
Vieles von dem, was Linné an Ideen schuf, hat noch heute Bestand.
Sein zweiteiliges System zur Benennung von Tieren und Pflanzen beispielsweise. Anderes dagegen war schon bald überholt. Dass die Arten gottgeschaffen und konstant seien, wirbelte spätestens Charles Darwins Evolutionstheorie Mitte des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinander.
Die Erkenntnis, dass sich Arten über die Generationen hinweg entwickeln, war unvereinbar mit Linnés künstlich definierten Kategorien.
Und: Längst ist klar, belegt auch durch die Genetik, dass morphologische Ähnlichkeiten eben nicht unbedingt Verwandtschaftsbeziehungen spiegeln.
MUSIK m01 (M0017672Z00, Into another dimension part 3, M0017672Z00, Rucker, Steve; Chase, Thomas Jones, 0:28 Min)
Carl von Linnés geniale Leistung bleibt dennoch zu würdigen: Es gelang ihm, Ordnung zu schaffen angesichts einer unübersichtlichen und geradezu explodierenden Wissensfülle.
Und was wäre eine Wissenschaft ohne Ordnung?!

Sep 1, 2025 • 23min
Schlafen - Wer bin ich in meinen Träumen?
Holger Brohm ist Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin und untersucht die tiefgreifende Bedeutung des Schlafs. Er spricht über die geheimnisvolle Beziehung zwischen Schlaf und Tod sowie die historische und kulturelle Wahrnehmung von Träumen. Brohm beleuchtet, wie Literatur und Folklore den Schlaf reflektieren, lasst uns an den Ängsten vor der Dunkelheit teilhaben und diskutiert emotionale Erlebnisse und Selbstoptimierungsmöglichkeiten im Schlaf. Eine spannende Reise in die Welt unserer nächtlichen Gedanken.

Aug 31, 2025 • 22min
Frieden - Persönliche Sehnsucht - Politische Utopie
Susanne Buckley-Zistel, Professorin für Konfliktforschung, und Christoph Quarch, Philosoph und Antikenkenner, diskutieren die vielschichtigen Dimensionen von Frieden. Sie beleuchten, dass Frieden mehr als nur die Abwesenheit von Konflikt ist und historische sowie philosophische Perspektiven hinzufügen. Themen wie die harmonische Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, die Idee der Transitional Justice sowie mythologische Ansätze zur Friedensdefinition werden thematisiert. Ein faszinierender Einblick in die komplexe Natur des Friedens!

Aug 31, 2025 • 23min
Deutschlands Weg in den Zweiten Weltkrieg - Der Anfang vom Ende
Der Überfall auf Polen markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die tiefen politischen Hintergründe und die Rolle traditioneller Eliten werden beleuchtet. Die aggressive Expansion Hitlers und seine ideologischen Grundlagen zeigen die Ambitionen des Nationalsozialismus. Ebenso wird seine strategische Rhetorik analysiert, die Friedensabsichten simuliert. Die Einflussnahme auf die Jugend durch die Hitlerjugend und die geopolitischen Spannungen der 1930er Jahre verdeutlichen die Schwere der Situation. Hitlers Außenpolitik eskaliert und führt zur Kriegserklärung.


