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Sep 8, 2025 • 23min
Die Befreiung vom Korsett - Frische Luft und neue Zwänge
Melanie Haller, Soziologin und Dozentin an der AMD Akademie Mode & Design in Hamburg, beleuchtet im Gespräch die historische Rolle des Korsetts und dessen anhaltenden Einfluss auf moderne Körperideale. Sie erklärt, wie Emile Flöge für die Freiheit in der Mode kämpfte und gesellschaftliche Normen in Frage stellte. Weiterhin wird die Entwicklung der Körperbilder im 20. Jahrhundert diskutiert, einschließlich der Abkehr vom Korsett und den Auswirkungen aktueller Fitnessbewegungen. Haller fordert eine Akzeptanz unterschiedlicher Körperformen und kritisiert den Druck, dem Frauen ausgesetzt sind.

Sep 8, 2025 • 23min
Nach der Zerstörung: Biotop - Lebensraum Steinbruch
Wunden in der Landschaft. Der erste Eindruck eines aufgelassenen Steinbruchs. Doch Naturschützer verwandeln die Mondlandschaften zu einem Refugium für seltene Tier- und Pflanzenarten. Aber die paradiesischen Orte sind auch nicht ganz unumstritten. Autorin: Katharina Hübel Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel Regie: Frank Halbach Es sprach: Hemma Michel Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:Pascal Bunk und Annika König, Biodiversitätsmanager:innen von Knauf;Tom Konopka, Regionalreferent für Mittelfranken BUND Naturschutz in Bayern e.V.; Dr. Andreas von Lindeiner, Artenschutzreferent und Landesfachbeauftragter des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Reportageszene
Reporterin: Wir stehen hier in so einer leichten Kuhle mitten im Gras…
Mann (empört): Das ist kein Gras!
Reporterin: Das ist kein Gras? Was isses denn?
Mann: Ein bisschen Gras ist dabei, aber wenn man so genau hinguckt, sieht man auch viele Kräuter. Also, das ist hier eine extrem artenreiche Wiese …
MUSIK „Clock Winder“; ZEIT: 00:57
Sprecherin
+ Atmo 01 im Hintergrund
Am Rande des südlichen Steigerwaldes. Im Landkreis Kitzingen, bei Iphofen, liegt Hellmitzheim. Ein kleines fränkisches Dorf. Pascal Bunk ist Ökologe und unterwegs, um den Zustand einer Wiese zu untersuchen.
02 Reportageszene
Wiesenlabkraut haben wir hier … sind fast schon kleine Büschel, die wachsen … - Und das, wo Sie gerade die Bestimmung machen? Das hat so ein bisschen größere, daumenlange Blätter - mal schauen …. Der Große Wiesenknopf wird das mal. - Es ist der, der dann so lila blüht, wie so ein knopfförmiger Blütenkopf ….
MUSIK ENDE
Sprecherin
+ Atmo 02 im Hintergrund (zu hören sind Protas und Reporterin, bitte ganz ganz niedrig ziehen, damit man den Eindruck hat: da ist jemand gemeinsam unterwegs, aber man hört nicht, was gesagt wird)
Annika König (Aussprache bitte hinten mit hartem k) ist eine Kollegin von Pascal Bunk und mit dabei auf der Suche nach seltenen Pflanzen und Tieren.
03 Reportageszene
Pascal, hast Du was gefunden? – Ja, das müsste die veronica spicata sein, der Ährige Ehrenpreis …
Sprecherin
+ Atmo 03 im Hintergrund
Pascal Bunk macht ein Foto von einer Staude und lädt es in seine Pflanzenbestimmungs-App hoch. Volltreffer: Veronica spicata. Kategorie: gefährdet. Eine Rote-Liste-Art. Lila-bläulich ragen ihre länglichen Blüten im Frühsommer zwischen den schmalen Blättern hervor. Ein Festmahl für Schmetterlinge.
OT 04 Pascal Bunk
Verschiedenste Bläulinge, Dickkopffalter, den Schwalbenschwanz habe ich hier auch schon gesehen. Bienen, Wildbienen jede Menge …. Also das ist halt ein Insektenparadies, so ne Wiese. (…)
OT 05 Pascal Bunk, leiser, etwas weiter entfernt, nähert sich an:
Auch sehr unscheinbar, das ist jetzt ein Hirschhaarstrang ….
Reporterin: Was ist das Besondere an dem?
Das es den hier eigentlich gar nicht mehr gibt in der Landschaft, nur noch in Naturschutzgebieten ist der zu finden, und wir haben ihn jetzt hier wieder auf dieser Renaturierungsfläche ansiedeln können.
Atmo 04 kurz freistehend, Schritte, die gehen, Vögel, die singen
MUSIK privat Take 017 Bio Diversity; Album: Green Planet; Label: 2008 UPPM RECORD; Interpret: James Kaleth; Komponist: James Kaleth; ZEIT: 00:21
Sprecherin
+ Atmo 04 im Hintergrund
Die Wiese war nicht immer so artenreich – über hundert verschiedene Pflanzen wachsen dort mittlerweile. Vor zwanzig Jahren war sie das Gegenteil. Pascal Bunk und Annika König sind nämlich keine üblichen Naturschützer: Sie sind Angestellte in der Rohstoffindustrie. Unterwegs im Auftrag einer Gipsfirma.
MUSIK ENDE
Atmo 05 Ziegen
Sprecherin
+ Atmo 07 im Hintergrund
Nicht weit entfernt umgibt ein hoher Metallzaun ein Areal. Die Grasfläche, auf der die Ziegen und zwei schottische Hochlandrinder weiden, endet bald und geht über in offene Erde. Klumpen bleiben an den Schuhen hängen.
08.2. Reportage Sequenz
Die Klüfte haben sich natürlich gebildet. Das Wasser fließt, schlängelt sich so durch, wir stehen hier auf so Erdstufen, würde ich es mal nennen.
Sprecherin
+ Atmo 07
Und dann: geht es senkrecht in die Tiefe. Eine Steilwand aus Erde und Steinen tut sich auf. Unten ein riesiges Loch, in dem sich Wasser sammelt. Ein bisschen Schilf ist in der Ferne zu sehen. Dahinter: Rapsfelder.
OT 09 Pascal Bunk
Wir sind jetzt im Steinbruch Hellmitzheim, der ist frisch stillgelegt, also vor drei Jahren wurde hier die letzte Tonne rausgeholt.
Sprecherin
+ Atmo 07
Ein Steinbruch der Firma Knauf, die sich auf den Abbau von Gips spezialisiert hat. Die Firma, bei der Pascal Bunk und Annika König angestellt sind.
OT 10 Pascal Bunk
Und der Teil, in dem wir jetzt stehen, der wird renaturiert. Also, der wird komplett sozusagen für den Naturschutz hergerichtet und soll ein so genanntes Ökokonto werden. Also hier sammeln wir sozusagen Naturschutzpunkte. Wir werten sozusagen die Landschaft auf.
Sprecherin
+ Atmo 07
Drei Hektar Land, die das Unternehmen einem Landwirt abkaufen konnte, bevor hier Steinbruch war. Der Steinbruch selbst war viel größer: zehn Hektar. Nicht alle Bauern wollten ihr Land verkaufen.
Manche verpachten nur für die Dauer des Abbaus. Am Horizont sieht man noch ein paar Steinhaufen.
OT 11 Pascal Bunk
Was hier abgebaut wird ist Naturgips, also wirklich Stein. Deswegen sieht man auch so diesen Höhenunterschied. Deswegen ist es wie ein Hügel da hinten, das ist das Massendefizit.
Sprecherin
Die Landschaft hat jetzt eine Delle, wo der Gips aus dem Boden herausgeholt worden ist. Gipsabbau gibt es in dieser Region schon seit dem Mittelalter. „Wein, Gips und Holz sind Iphofens Stolz“ steht auf der Homepage der Stadt, in der Knauf seinen Hauptsitz hat. Als das „weiße Gold Iphofens“ wird der Naturgips auch bezeichnet. Das Unternehmen ist mit diesem Rohstoff zum weltweiten Player geworden.
OT 12 Pascal Bunk
In der Regel sind wir nicht Eigentümer von diesen Flächen, die wir abbauen, sondern wir haben Abbauverträge mit den Eigentümern, weil Gips ein so genannter grundeigener Bodenschatz ist, das heißt, er gehört den Grundeigentümern. Das ist anders als zum Beispiel Kohle oder Metall. Die gehören dem Staat.
Sprecherin
Nach dem Abbau müssen Rohstoff-Firmen meistens wieder Ackerland herstellen, wenn die Bauer ihr Land wieder zurückwollen. In neunzig Prozent der Fälle ist das so, schätzt Pascal Bunk. Dafür trägt man den Oberboden extra vor dem Gipsabbau ab und lagert ihn ein. Dann kommt der Boden wieder aufs Land. ‚Rekultivieren‘ heißt das.
OT 13 Pascal Bunk
Das ist schon ziemlich tricky. Man hat ja das Bodengefüge zerstört, das auch durch Regenwürmer und so entstanden ist. Das dauert eine Weile, bis sich das wieder regeneriert hat. Man sagt: Zehn Jahre kann das dauern, bis die Ertragsfähigkeit der Böden wieder so ist wie vorher.
Sprecherin
Dann ist die Fläche zwar wieder grün, aber oft wachsen darauf eben nur bestimmte Nutzpflanzen. Auch die Tierarten, die dort vorkommen, sind überschaubar. Das, was Pascal Bunk als Ökologe erreichen möchte, ist ein anderer Zustand. Der geht aber nur, wenn die Bauern das Land verkaufen:
OT 14 Pascal Bunk
Das ist eine Renaturierung, weil wir halt weggehen von der vorherigen landwirtschaftlichen Nutzung … Und jetzt sehen wir einen kleinen See mit einer Insel und hier hinter uns werden wir Grünland entwickeln und Hecken pflanzen, das ist sozusagen Renaturierung, weil der Zustand der Natur näher ist als er vorher war.
OT 14.2.
Es ist immer der Fall, dass, wenn man in Deutschland was baut oder Rohstoffe gewinnt, muss man kompensieren, das ist im Bundesnaturschutzgesetz so geregelt.
MUSIK
OT 16 Pascal Bunk
Die Idee ist schon, dass man das als Rohbodenstandort erhält. Es gibt sehr viele Rohbodenpioniere oder Rohboden besiedelnde Arten, gerade diese Wildbienen als Beispiel. Die brauchen sowas, finden das aber in unserer Kulturlandschaft gar nicht mehr.
Sprecherin
+ Atmo07
Aus diesem Grund wird auch die Steilwand, die noch an den Gipsabbau erinnert, nicht verändert oder begrünt.
Sprecherin:
+ Atmo08
Störungsökologie ist der Fachbegriff.
Fortsetzung 16.2. Reportage Sequenz
Dynamische Lebensräume sind viel artenreicher als solche statischen Lebensräume. (…) Wenn jetzt so Spalten und Fugen entstehen, da können dann zum Beispiel Fledermäuse reingehen, die gerne auch in solchen Felswänden mal sitzen. Oder, wenn es ein größerer Abriss ist, könnte man sich auch vorstellen, dass da mal ein Uhu brütet.
OT 17 Pascal Bunk
Wir nehmen den Steinbruch selbst als Biotop.
Sprecherin
+ Atmo 07
Ein bisschen nachhelfen müssen die Ökologen allerdings schon, vor allem zu Beginn. Sie machen eine so genannte Geländemodellierung. Die Idee dahinter ist, möglichst viele verschiedene Strukturen in der Landschaft anzulegen. Das machen die Bagger vom Steinbruch.
OT 18 Pascal Bunk
Wir sagen, wir hätten gerne an der Stelle eine kleine Insel in dem See. Wir haben hier einen Flachuferbereich, da hab ich gesagt, den hätte ich gerne. Und dann machen sie das schon mit ihren Maschinen, dass das alles so passt. Ich brauche das Saatgut, ich brauche die Bäume, die Sträucher, ich brauche hier einen Steinhaufen. Ich brauche Totholz.
Sprecherin
+ Atmo 07
Verschiedene Strukturen in der Landschaft bedeuten: verschiedene Lebensräume für Spezialisten in der Tier- und Pflanzenwelt.
OT 19 Pascal Bunk
Da könnte sein, dass jetzt schon ein paar Rallen brüten, da unten sind verschiedene Amphibien, die Ringelnatter, die jagt in dem Uferbereich. Zauneidechsen hat man auch schon gesehen …
MUSIK „Clock Winder“; ZEIT: 00:40
und Atmo 09 als Übergang
Sprecherin
Hellmitzheim ist nicht der einzige ehemalige Steinbruch, den Pascal Bunk und Annika König betreuen.
Sprecherin
Rund 900 Steinbrüche und Kiesgruben sind derzeit in Bayern insgesamt in Betrieb, 860 Hektar Land pro Jahr werden dadurch von verschiedenen Firmen abgebaut. Das sind etwas über 0,01 Prozent der Landesfläche laut Angaben des Bayerischen Industrieverbands Baustoffe, Steine und Erden.
21 Reportageszene
Reporterin: Für mich sieht das aus wie eine Weide, da ist auch ein Weidezaun … Wo war denn der Steinbruch?
PB: Wir stehen direkt vor ihm. Wir gucken jetzt hier auf diese Infotafel, wir haben einen Rundwanderweg gemacht …
Das ist ein Vorzeigeprojekt, weil wir das gemeinsam mit dem Landesbund für Vogelschutz gemacht haben.
Sprecherin +Atmo 09
Willkommen im Steinbruch Markt Nordheim!
Das Logo des LBV ist auf der Infotafel der Firma Knauf gut zu sehen: ein weißer Eisvogel auf blauem Grund. Weiter den Wander-Weg entlang jedoch …
OT 22 Reporterin
Da sehen wir jetzt das Naturschutzgebiet: das grüne Dreieck mit dem Vogel drauf …
Sprecherin
+ Atmo 09
… hat noch ein Naturschutzverband seine Schilder aufgestellt. Nur der schmale Wanderweg trennt die beiden Grundstücke voneinander.
Sprecherin
Seit den 1960ern gehört das Nachbargrundstück schon dem BUND. Als Anfang der 2000er Jahre die Firma Knauf direkt angrenzend Gips abbaute, wurde das für das Unternehmen …
OT 24 Pascal Bunk
… einer der konfliktreichsten Abbauten, die wir jemals hatten. Da gab es richtig Demonstrationen und gerichtliche Auseinandersetzung.
OT 24.2.
Was jetzt das Besondere an der Fläche ist und auch das extreme Konfliktpotential hervorgerufen hat, ist das, was man hier oben sieht. Das sind die so genannten Sieben Buckel. Das ist ein Naturschutzgebiet, da hat sich eine bestimmte Vegetationsform entwickelt, die so genannte Gipssteppe, die wächst direkt auf Gips. Das ist sozusagen ein Relikt. Das gibt es nur noch an dieser Stelle und ein bisschen weiter, südlich in Kühlsheim gibt es das noch und in Sulzheim gibt es noch Gipssteppe. Ansonsten war es das, das ist in Bayern das letzte Stück Gipssteppe, was wir noch haben.
Sprecherin
Ein Relikt aus der Eiszeit. Eine einzigartige Tundravegetation. Pflanzen, die jede für sich genommen, auch wo anders wachsen könnten, aber in der Kombination miteinander nur auf Gips vorkommen. Beispielsweise der rauhaarige Alant, verschiedene Haarstrang-Arten, die Wildform der Katzenminze. Und:
OT 25 Pascal Bunk
Hier ist das Frühlingsadonisröschen, ein Highlight, wo dann wirklich die Freaks ankommen und sich das angucken. (…) Es ist eigentlich nur eine relativ unscheinbare Pflanze für den Laien. Der würde jetzt nicht sofort erkennen, dass das was Tolles ist, hat eine schöne Blüte, aber ansonsten ist es halt etwas tolles botanisch. Diese Steppenvegetation ist eigentlich ein Sammelsurium der seltensten und einzigartigsten Arten, die man sich vorstellen kann, europäisch streng geschützt. Es ist wirklich was Tolles, was Besonderes.
Sprecherin
Die Sieben Buckel und die Gipssteppe ließ die Rohstoff-Firma unangetastet. Aber der Bund Naturschutz befürchtete eine Grundwasserabsenkung, die sich auch auf die Sieben Buckel auswirkt – dadurch, dass Knauf direkt nebenan Gips aus dem Boden holte.
OT 26.3. Pascal Bunk
Das war auch Teil der Genehmigungsauflagen, dass wir hier ein dauerhaftes Grundwassermonitoring machen. Also wir gucken hier genau, in welcher Tiefe ist das Grundwasser, kommen wir mit unserem Gipsabbau irgendwie in die Gegend, dass wir Einfluss auf das Grundwasser haben. Aber ich kann gleich vorweg sagen: haben wir nicht.
Sprecherin
Der Bund Naturschutz hatte laut einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2008 selbst vorgehabt, das ehemalige Ackerland nebenan zu erwerben, auf dem Knauf dann Gips abbaute – und freizugeben für die Pflanzen der Gipssteppe. Tom Konopka war damals schon der zuständige Regionalreferent des BUND:
OT 27 Tom Konopka
Im Steinbruch ist der Gips jetzt abgebaut, er ist weg, man ist nahe am Grundwasser, damit ist natürlich auch das Potential weg, diesen Arten überhaupt noch zu helfen.
OT 26 Pascal Bunk
Wir haben Bereiche, wo wir den Gips abgebaut haben, wir haben Bereiche, wo wir hinterher aber wieder Gips aufgetragen haben, also Scherbenkiesstruktur und haben dann Bereiche mit Heusaat angesät.
OT 26.2.
Man muss ja dazu sagen, vorher war das Acker. Also jetzt hat man zumindest die Möglichkeit, die Chance, dass sich da was ansiedelt.
Sprecherin
Tom Konopka widerspricht.
OT 27.2. Tom Konopka
Unsere Prognosen sind eingetreten, dass es im Steinbruch keine Gipssteppenvegetation geben wird.
Sprecherin
Eine Zusammenarbeit mit rohstoffabbauenden Betrieben lehnt der BUND bis heute ab.
OT 28 Tom Konopka
Wir unterscheiden uns in wenigen Punkten als Bund Naturschutz in Bayern vom Landesbund für Vogelschutz. Das ist allerdings einer, wo wir uns ganz stark unterscheiden. Für uns sind die Eingriffe, die hier in Natur und Landschaft stattfinden, Eingriffe in Primärlebensräume. Und das, was daraus entsteht, sind Sekundärlebensräume, die oftmals nur ein schwacher Abglanz dessen sind, was entweder vorher da war oder was als Potenzial noch vorhanden war.
Sprecherin
Nachhaltiger wäre es für Tom Konopka, über Recycling von Rohstoffen nachzudenken, anstatt immer neue aus dem Boden zu holen. Und sich darüber Gedanken zu machen, wie man seltenen Tieren und Pflanzen allgemein mehr Freiraum zurückgeben kann.
OT 29 Tom Konopka
Normalerweise würden diese Arten an Flüssen vorkommen, die noch frei mäandrieren können (…). Das ist klar: Solange die Flüsse alle versteint sind und festgelegt sind in ihrem Lauf, kommen keine solchen Strukturen mehr vor. Zum Zweiten haben wir in einer konventionellen Landwirtschaft, die alles mit Pestiziden behandelt und mit Kunstdünger zumüllt, auch keinen Platz für sehr viele Arten, die weniger nährstoffreiche Böden brauchen.
Sprecherin
Dass die Rohstoffbetriebe die gesetzliche Auflage haben, wieder ein Stückchen Natur herzustellen, hält Tom Konopka für wenig nachhaltig und das Mindeste.
OT 30 Tom Konopka
Es ist eine kleine Auflage für einen gigantischen Eingriff, den sie gemacht haben.
OT 30.2. Tom Konopka
Die Sekundärstandorte nach dem Abbau sind oftmals nicht stabil. Das heißt, hier muss alle paar Jahre eingegriffen werden, um für die Pionierarten stabilen Verhältnisse zu sorgen. Die Firmen, die die Auflage haben, nach ihrem Abbau eine naturschutzgemäße Fläche zu hinterlassen, ziehen sich dann zurück und ziehen sich aus der Verantwortung. Dann muss der Steuerzahler ran und alle paar Jahre dort Maßnahmen durchführen. Oder die Umweltverbände.
OT 30.3. Tom Konopka
Es ist vor allem Greenwashing für die Bauindustrie, die sich keine Gedanken macht, wie sie eigentlich den Raubbau beenden könnte. Denn davon leben sie.
Sprecherin
Andreas von Lindeiner vom Landesbund für Vogelschutz sieht das etwas anders.
OT 31 Andreas von Lindeiner
Ich habe überhaupt kein Problem damit, mit der Industrie zu reden. Die Industrie hat sich zu Anfang unserer Kooperation auch selber als der Drecksack gesehen, der da alles nur kaputtmacht und wurde auch so tituliert. Wir haben mittlerweile einen ganz anderen Umgang. Es ist ja nicht nur, dass wir an einem Standort Partner gewonnen haben, mit dem wir zusammen Gelbbauchunken schützen, sondern wir gewinnen gemeinsam Verständnis für die Belange des anderen.
Sprecherin
Der LBV berät Unternehmen, wie sie während des Abbaus die Natur möglichst schonen können und auch, wie sie danach am besten renaturieren. Rund 280 Pflanzen- und Tierarten, darunter einige Rote-Liste-Arten, leben in ehemaligen bayerischen Steinbrüchen, informiert der Industrieverband Baustoffe, Steine und Erden. In vielen ehemaligen Steinbrüchen sind auch Gewässer angelegt. Gewässer, die in der Natur eben immer seltener vorkommen.
OT 32 Andreas von Lindeiner
Sodass wir einfach feststellen müssen: Arten wie die Kreuzkröte, die Wechselkröte, die Gelbbauchunke sind zu einem so hohen Bestandteil ihrer Gesamtpopulation auf Rohstoffgewinnungsstätten angewiesen, dass hier tatsächlich wohl keine Alternative besteht, ihr Fortkommen auch zu sichern.
MUSIK
Atmo 10 Aussteigen aus dem Auto
35 Reportageszene
Wollen wir mal ein bisschen weiter, ein bisschen tiefer, da brauchen wir ein bisschen Trittsicherheit …
Das ist auch bewusst angelegt hier so ein schattiges Geröllfeld, mit Sicherheit sind da Fledermäuse drin, da sind so Spalten und kleine Ritzen als Höhlen … Die mögen es so ein bisschen geschützt, schattig, feucht. Als Ruhequartier ist das auf jeden Fall gut geeignet.
36 Reportageszene
Hier ist jetzt wieder so ein Flachuferbereich, der sich auch ständig verändert. Wir haben ja ne natürlich Dynamik drin. Dass es einfach, je nach Niederschlägen, ein bisschen überfluteter ist und mal wieder weniger und dadurch auch ein spezieller Lebensraum entsteht. Hier wird jetzt zum Beispiel Tausendgüldenkraut wachsen …. (…)
Sprecherin
+ Atmo 16
Das Geröllfeld und der Tümpel drohen bereits von Wald zugewuchert zu werden. Hier müsste jetzt eigentlich der Mensch bald nachhelfen und Bäume entfernen, um das Refugium für Fledermäuse und Amphibien zu sichern. Wenn nicht wenn nicht bereits ein Biber Einzug gehalten hätte. Er könnte es schaffen, den Sumpfbereich von allzu vielen Bäumen freizuhalten. Ein natürlicher Helfer für die Kommune, die sich mittlerweile um die Fläche kümmern muss: Der Rohstoffbetrieb ist aus der Verantwortung und Pflege raus. Pascal Bunk verschafft sich trotzdem manchmal einen Eindruck davon, wie es mit dem Gebiet weitergeht.
MUSIK „Clock Winder“; ZEIT: 00:59
OT 40 Pascal Bunk
Wir haben hier durch diesen Wanderweg natürlich schon gewissen Druck durch Menschen. Ich hab das auch schon oft beobachtet, dass hier Leute baden oder grillen, das ist jetzt natürlich nicht so dolle. Das wird ja auch eine touristische Marke dadurch, dass man halt den Wanderweg da hingelegt hat, dass man das als Naturschauplatz Steigerwald ausgezeichnet hat. Man findet es im Internet. Da hinten ist auch ein Geocash, das find ich auch nicht so prickelnd …
(…) Da war ja ein Schild, dass bestimmte Sachen nicht erlaubt sind, aber wer will es kontrollieren? Dann müsste rund um die Uhr jemand stehen und aufpassen ….
Reporterin: Hier habe ich jetzt eine Flasche gefunden, hat jemand liegen lassen …
(entfernt:) Das Ding gehört hier auch nicht hin….

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Credits Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner Regie: Anja Scheifinger Es sprachen: Stefan Merki, Christopher Mann, Rahel Comtesse, Hemma Michel Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:Prof. Dr. Natascha Mehler, Archäologin (Universität Tübingen);Attila Dészi, Archäologe (Universität Tübingen);Klaus Neumann, geboren und aufgewachsen in Nueva Germania;Dr. Daniela Kraus, Historikerin und Journalistin (Wien);Ruth Alison Benitez, Cheftechnikerin der Abteilung für Archäologie des Nationalen Kultursekretariats in Paraguay
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Literaturtipps:
Ben Macintyre: „Vergessenes Vaterland. Auf den Spuren der Elisabeth Nietzsche“. Reclam Leipzig 1994.
Daniela Kraus: „Bernhard und Elisabeth Försters Nueva Germania in Paraguay. Eine antisemitische Utopie“. Doktorarbeit. Universität Wien, 1999.
Julius Klingbeil: „Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster'sche Ansiedelung Neu-Germanien in Paraguay“. Leipzig 1889 (antiquarisch).
Elisabeth Förster-Nietzsche: „Dr. Bernhard Försters Kolonie Neu-Germania in Paraguay“. Berlin 1891 (antiquarisch).
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Plaza früh
SPRECHER
Ein abgelegener Ort in den Weiten Südamerikas. Es ist nur wenig los auf den Straßen. Vereinzelt ziehen Rinder über die Wege, rot leuchtet der sandige Boden. Schon um neun Uhr morgens brennt die Sonne vom Himmel über Paraguay. Ein Tag wie jeder andere für Don Alfonso – wäre da nicht die Ausgrabung auf seinem Grundstück. Kritisch blickt er jeden Tag hinüber zu den Archäologen. Die Forscher wissen, er will das Ganze endlich hinter sich haben. Es geht ihm nicht nur um sein Gemüse, das dort wächst. Es ist die Vergangenheit, die dem Ort mit dem eigentümlichen Namen zu schaffen macht: Nueva Germania [sprich: Nueva Chermania]. Seine Bewohner wollen nicht länger als Nazis gelten, nur weil etliche von ihnen deutsche Vorfahren haben. Der 72-jährige Klaus Neumann etwa.
ZUSP_01
Uns, die hier geboren sind, von deutscher Abstammung, es wird uns immer wieder gefragt über Nazis. Ich habe als Kind nie, nie eine Hakenkreuzfahne gesehen. Ich glaube, ich bin nicht der einzige aus Nueva Germania. Meiner Ansicht nach ist es gewissermaßen ungerecht.
SPRECHER
Einst gedacht als Zuflucht für eine sogenannte Arische Rasse, hat Nueva Germania den Menschen dort den Ruf von Urwaldgermanen eingebracht. Verschlägt es Besucher hierher, dann oft genau deshalb. Und auch weil es irgendwie kurios ist, so abgelegen auf deutsche Sprache zu stoßen, in einem Land, wo sonst ohne Spanisch rein gar nichts geht. Und nun sind auch noch Archäologen da und spüren dieser Vergangenheit nach.
TRENNER (ab hier Musik düster)
SPRECHER
Nueva Germania 1886, also lange bevor es in Deutschland Nationalsozialisten gab: In diesem Jahr gründet Bernhard Förster die sehr spezielle Siedlung gründet. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester von Philosoph Friedrich Nietzsche. In einer zeitgenössischen Werbeschrift lässt das Ehepaar wissen:
ZITATOR 1
Wir werden eine arische Herrenrasse züchten, hier in den Wäldern Südamerikas. Unser Neu-Germanien wird ewig dauern.
SPRECHER
Schon drei Jahre zuvor hat der glühende Antisemit Förster dafür Paraguay erkundet. Dass er nach einer passenden Gegend für ihre Pläne sucht, hatte man sogar in England registriert. Im Februar 1883 heißt es in der Zeitung „The Times“:
ZITATOR 1
Herr Doktor Förster, einer der Anführer der antisemitischen Bewegung in Deutschland, schüttelte den Staub eines undankbaren Landes von seinen Füßen und verließ mit einer kleinen, aber ergebenen Gruppe von Anhängern Berlin, um sich nach Paraguay einzuschiffen, wo sie ein „neues Deutschland“ gründen wollen, unbeschmutzt von irgendwelchen Nachkommen Abrahams.
SPRECHER
Die österreichische Historikerin und Journalistin Daniela Kraus hat sich intensiv mit Nueva Germania und ihren Gründern beschäftigt. Die Wurzeln für Försters krude Ideen sieht sie in seiner Biographie:
ZUSP_02
Bernhard Förster war ein Gymnasiallehrer, der sich zunehmend radikalisiert hat und hat handgreifliche Streitigkeiten angefangen auch gegen jüdische Mitbürger, was dazu geführt hat, dass er seinen Schuldienst quittieren musste. Das heißt, der war ein bisschen eine gescheiterte Existenz.
SPRECHER
Gleichzeitig kennt und verehrt Förster den Komponisten Richard Wagner – und lernt so auch seine spätere Frau Elisabeth Nietzsche kennen. Die war über ihren innig geliebten Bruder Friedrich, einen engen Freund des Komponisten, in den Kreis der Wagners gerückt:
ZUSP_03
Elisabeth führte ihrem Bruder den Haushalt und ging mit ihm mit, hat den Wagners in Bayreuth eine Zeit lang den Haushalt geführt und hat damit einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg durchgemacht. Und dann begegnet sie diesem ein bisschen versponnenen Bernhard Förster, der mit seinen Ideen und seinen Idealen ihr offensichtlich gefallen hat.
SPRECHER
Ideen, die sich auch aus antisemitischen Gedanken von Wagner speisen. Etwa, dass man das reine Deutschland eigentlich nur irgendwo im Urwald wieder herstellen könne. Förster nimmt das wörtlich: Er und seine Frau locken mit der Aussicht auf paradiesische Zustände in Paraguay. In den Bayreuther Blättern schreibt Elisabeth:
ZITATORIN
Dann sitzen wir im Garten; vor dem Haus und blicken ins Weite. Wiesen von der Abendsonne röthlich vergoldet an beiden Seiten des Flüsschen, von brüllenden Rinderheerden durchzogen, welche zögernd der Viehhürde zuschreiten. Welch friedliches, glückliches Bild bietet das Ganze dar, nichts Fremdartiges, nein, alles deutsch und heimathlich!
SPRECHER
Diese Aussichten fallen in Deutschland auf fruchtbaren Boden.
ZUSP_04
Es gab 1873 den Börsenkrach, es gab Leute, die insgesamt mit der politischen und sozialen Situation unzufrieden waren. Leute, die verarmt waren, die keine ökonomischen Perspektiven in Deutschland sahen und die sich dazu verleiten ließen, Scharlatanen zu glauben, die ihnen dann ein besseres Leben andernorts versprachen.
SPRECHER
Dass das ausgerechnet in Paraguay warten sollte, hatte seinen Grund. Das Land hatte gerade sechs Jahre blutige Kämpfe gegen seine Nachbarn Argentinien, Brasilien und Uruguay hinter sich und stand vor einem Desaster. Paraguay hatte den sogenannten Triple-Allianz-Krieg verloren, und im Zuge dessen mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung.
ZUSP_05
Danach war die Idee, man braucht wieder Leute, man braucht Einwanderer. Deswegen hat Paraguay sehr stark gefördert, die Einwanderung einerseits durch Anwerbungen in Europa und sehr stark auch in Deutschland. und andererseits auch durch den Verkauf von günstigem Land und verschiedene steuerliche Begünstigungen.
SPRECHER
Die Werbung wirkt. Auch deshalb können die Försters schließlich rund 200 deutsche Auswanderer für ihre antisemitischen Kolonialträume mobilisieren.
ZUSP_06
Das waren schon Leute, die diese Ideologie zumindest sympathisch fanden, die auch Aussteiger waren, die Arbeiter waren und Arbeitsplätze verloren haben durch die Industrialisierung. Und die gesagt haben, wir müssen ein neues Leben führen, dass man zurück zum Ursprung muss. Dieser Ursprung impliziert eine völkische Reinheit. Diese Mischung dürfte auf manche Leute sehr attraktiv gewirkt haben.
SPRECHER
Das Problem: Keiner von ihnen kennt sich damit aus, eine solche Kolonie aufzubauen. Kaum einer versteht etwas von Landwirtschaft. Schnell holt die Kolonisten die Realität ein. Ihr neues Zuhause Nueva Germania entpuppt sich als ein von tropischen Krankheiten und Hunger geplagtes Dorf, beschwerliche acht Tagesreisen mit dem Boot flussaufwärts von Asuncion, der Hauptstadt von Paraguay.
ZUSP_07
Dort war im Prinzip Urwald. Das heißt, die mussten dort wirklich das Land urbar machen, die ganze Infrastruktur herstellen. Es war das Klima nicht gut. Es waren wahnsinnig viele Moskitos. Es gab Sandflöhe, es gab Ungeziefer, das die Ernten zerstört hat. Es gab nicht ausreichend sauberes Trinkwasser. Das heißt, die Leute wurden relativ schnell krank. Es war wahnsinnig schwierig.
SPRECHER
Den Försters fällt es zunehmend schwerer, die desaströsen Zustände in Nueva Germania zu verheimlichen – vor neuen Interessenten und ebenso vor Geldgebern. Einer ihrer lautesten Kritiker ist Julius Klingbeil, der 1888 selbst als Auswanderer nach Nueva Germania gekommen ist. Ein Jahr später macht er seinem Ärger über die Zustände vor Ort Luft. Er veröffentlicht ein Buch, das andere warnen soll:
ZITATOR 1
Mögen sich Förster und Genossen noch so sehr abmühen, das Klima Paraguays als ein überaus herrliches zu preisen, jeder redliche Mensch wird mit mir bekennen, dass derartige Behauptungen nur Unwahrheiten und Mittel zum Zwecke sind. Der Doctor Förster führt mit seinen Genossen in Paraguay ein recht bequemes Leben. Seine Arbeit besteht im Nichtsthun, im Abfangen von einwandernden Deutschen in Asuncion und darin, daß er zündende Berichte für Vertrauensselige verfasst.
SPRECHER
Die Folge: Schon nach sieben Jahren, im Jahr 1893, ist das antisemitische Projekt wieder zu Ende: Förster hat längst Selbstmord begangen, seine Frau flieht zurück nach Deutschland.
TRENNER
SPRECHER
Man könnte das Geschichte sein lassen, ein kurzes dunkles Kapitel deutscher Auswanderer. Nur: Der Ort existiert bis heute; und er hadert mit seinen Wurzeln. Ein Ort, wo Menschen wie Don Alfonso die Vergangenheit von Nueva Germania endlich hinter sich lassen wollen. Und wo zugleich die Farben Schwarz-Rot-Gold selbst Mülltonnen und T-Shirts zieren. Warum ist das Dorf damals nicht schnell wieder verschwunden? Ein Ort, dessen kleine Gemeinschaft einst ideologisch darauf basiert hat, sich abzuschotten. Genau das interessiert auch ein Team von Archäologen aus Deutschland, Argentinien und Paraguay.
ZUSP_08
Wieso wandert da jemand im späten 19. Jahrhundert aus nach Paraguay, ohne wirklich da mal gewesen zu sein und ohne wirklich zu wissen, was sie erwartet? Man denkt natürlich immer gleich mal an Überlebensstrategien und Siedlungsbewegungen vor Ort, und das hat mich alles unheimlich fasziniert.
SPRECHER
sagt Projektleiterin Natascha Mehler von der Universität Tübingen.
Bereits 2022 hat sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen dafür anhand alter Pläne die Lage vor Ort sondiert. Ausschau gehalten nach Resten vom angeblich recht herrschaftlichen Hof der Försters:
ZUSP_09
Da gab es in diesem Plan eine klare Fläche, die da eingezeichnet war, und als wir dort vor Ort waren auf diesem großen Grundstück sind wir ihn erst mal abgelaufen. Und haben aber überhaupt nichts davon entdeckt. Und es hat uns doch sehr verwundert, weil die Zeit ist ja noch nicht so weit fortgeschritten zwischen Aufgabe dieses Hofs und heute, also vielleicht 100 Jahre. Und man müsste eigentlich doch noch irgendetwas finden.
SPRECHER
Eine Senke im Terrain, einen Brunnen, einen Ziegelhaufen vielleicht. Hat das Haus der Försters vielleicht doch auf einer ganz anderen Fläche gestanden? Zum Beispiel im alten Ortskern von Nueva Germania, an der sogenannten Plaza?
ZUSP_10
Die Bewohner von Nueva Germania, die erzählen uns, dass hier der Försterhof war, also die sagen es ganz anders, als auf der Karte eingezeichnet ist. Und da gibt es tatsächlich eine Bauruine, da kann man noch Brunnenreste sehen.
TRENNER
ATMO Ausgrabung + Urwald
SPRECHER
Frühjahr 2023. Pinsel legen rote und weiße Fußbodenfliesen frei. Maurerkellen kratzen an Erdprofilen im roten Boden von Paraguay. Die Archäologen ringen sie seit Wochen mühsam der Vegetation und den Moskitoschwärmen ab. Doch sie müssen sich beeilen. Es ist neun Uhr, und die Sonne drückt. Ab Mittag wird es zu heiß sein – oder plötzlich wie aus Eimern regnen. Es herrscht Regenzeit. Und nicht nur das macht den Forschern zu schaffen:
ZUSP_11
Wir müssen die Grabungsmethode anpassen vor Ort, zum einen an die Vorgaben des Grundstücksbesitzers. Er möchte nicht, dass wir seine Ernte hier gefährden. Dann haben wir keine große Technik dabei, weil das mit dem Zoll sich wirklich zu schwierig gestaltet hätte.
SPRECHER
Kein Hightech mit Tachymeter und Laserscan. Stattdessen Ausgraben wie vor Jahrzehnten, mit Nivelliergerät, Maßband und Zeichenblock. Und immer den wachsamen Blick Don Alfonsos im Rücken. Dennoch sind die Wissenschaftler weit gekommen.
ZUSP_12
Wir hatten keine Ahnung, wie groß das wird. Und jetzt stehen wir vor knapp 30 Metern Gebäude mit mehreren Adaptionen und Ergänzungen. Das ist deutlich mehr, als wir erwartet haben von der Größe her.
SPRECHER
sagt Attila Dészi [sprich: Deeschi (sch stimmlos)] von der Universität Tübingen über das, was von dem einstigen Haus noch erhalten ist. Er schwärmt, auch wenn neben ihm ein tiefes Loch in der Erde klafft, das nicht von den Archäologen stammt.
ZUSP_13
Leute denken, dass es hier Gold gäbe, weil einige vermuten, das sei das Haus vom Försterhof gewesen und waren reich natürlich. Entsprechend sieht es aus. Ich weiß nicht, wie groß das ist. Drei Meter?
SPRECHER
Das Haus der Försters? Bislang haben die Archäologen nichts gefunden, was diesen Verdacht weiter erhärtet. Gerade verschafft sich Natascha Mehler einen Überblick über die Fortschritte:
ZUSP_14
Das ist das Haus von einem Herrn Freitag, den wir in den Schriftquellen gut fassen können, der auch eine wichtige Position innehatte hier im Ort. Das sieht man im Prinzip ja auch, dass es ein stattliches Haus ist, mitten an der Plaza.
SPRECHER
Georg Freitag kümmert sich damals um die Küche. Er versorgt Neuankömmlinge in ihren ersten Tagen in der Siedlung. Er ist eine der ersten Anlaufstellen für all die, die ihr Glück fortan in Nueva Germania suchen. Genau das macht die Arbeit hier für Attila Deszi so spannend:
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Wir wissen ja gar nicht, ob alle, die da mitgekommen sind, das Ganze auch ideologisch unterstützt haben oder einfach gesehen haben, einen neuen Anfang auf der anderen Seite der Welt zu starten.
ZUSP_16
VOICEOVER
Ziel des Projekts ist es, die erste Generation von Menschen aus Deutschland zu verstehen; wie sie sich an den Ort anpassten, die Beziehung zu den Menschen hier in Paraguay
SPRECHER
sagt Ruth Alison Benitez [Aussprache-wav in Digas]. Sie ist archäologische Cheftechnikerin des Nationalen Kultursekretariats in Paraguay. Wie stark haben sich die ersten Siedler an den Ort, die lokale Bevölkerung angepasst? Wie abgegrenzt, oder das gepflegt, was sie für besonders deutsch hielten? So etwas soll die Ausgrabung zeigen. Doch um die erste Siedlungsphase zu erkennen, braucht es Funde, die diese Zeit bestätigen. Bisher haben die Archäologen fast nur Reste späterer Zeit gefunden: Patronenhülsen, Bonbonfolie, Schuhsohlen aus Kunststoff, ein Bild von Papst Johannes Paul II. Entmutigen lassen sich die Wissenschaftler davon aber nicht. Denn verglichen mit Vorgeschichtsforschern haben sie einen Vorteil: Sie erforschen Zeiten, in denen sie ihre Ausgrabung mit Schriftquellen abgleichen und ergänzen können. Und nicht nur das:
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Jetzt sind wir im späten 19. Jahrhundert, frühen 20. Jahrhundert. Und da haben wir die Chance, dass wir mit der 3., 4. Generation besprechen können, was hier passiert, und das ist auch ein wichtiger Teil der historischen Archäologie.
SPRECHER
Historische Archäologie bezieht Zeitzeugen mit ein. Eine Quelle, von der andere Archäologen in der Regel nur träumen können. Vor einigen Tagen etwa hat eine ältere Dame die Ausgrabung besucht. Sie kannte das einstige Gebäude noch aus ihrer Kindheit, als Georg Freitag hier nicht mehr gewohnt hat, sagt Attila Deszi:
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Außerhalb ihres Zimmers und des Hauses war ein Gebäude vorgelagert, wo die Tiere geschlachtet worden sind. Und das sei ein Backsteinboden gewesen in diesem Schlachtraum. Und das hat sie sehr verstört, diese Tiere zu hören, wie die geschlachtet werden, direkt neben ihr. Daran hat sie sich sehr, sehr gut erinnert. Auf der anderen Seite vom Haus war das Zimmer von ihrem Vater, da durfte sie nicht rein. Aber sie hat ein paar Mal gesehen, dass der andere Fliesen hatte, nämlich die sechseckigen Fliesen. Und das passt ganz gut zu dem, was wir haben.
SPRECHER
Es sind Details aus dem Alltag, über die die Archäologen sonst nur mutmaßen können. Details, die den Forschern auch helfen, ihre Grabungsflächen gezielter anzulegen. Aber die Arbeit mit Zeitzeugen bringt auch Probleme mit sich. Zum einen sind sie häufig sehr alt, ihre Erinnerung verblasst. Zum anderen müssen sie sich hier einer Vorgeschichte stellen, die ihnen bisweilen den Ruf als Erben von Försters Arier-Fantasien beschert hat, mit Büchern auf denen Hakenkreuze prangen. Etliche der Deutschstämmigen in Nueva Germania reagieren daher freundlich-zurückhaltend. Wollen die Ausgrabung besuchen, und kommen dann doch nie. Einzelne sind aber auch neugierig und erzählen. So der 72-jährige Klaus Neumann:
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An dieser Plaza gab es früher keine Kirche. Dieses Haus, das war eigentlich das größte Haus hier in einem Stadtplatz und etwas weiter da wohnte die Familie Wolf und daneben die Küchenmeisters. Das waren die Familien hier am Stadtplatz.
SPRECHER
Klaus Neumann wohnt nicht mehr im Ort. Er ist aber hier geboren und aufgewachsen. Sein Urgroßvater war einer der ersten Siedler hier. Was er aus seiner Kindheit erzählt, weist darauf hin, dass vielleicht nicht alle, die mit dem Gründer-Ehepaar ausgewandert sind, ihre Ideologie teilten – oder sie zumindest vor Ort weniger wichtig war, als die Försters in Europa glauben machen wollten:
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Dass es antisemitische Stimmung gab in Nueva Germania ist Blödsinn. Die erste Heirat in Nueva Germania war zwischen Fanny Schubert und Max Stern, und Max war Jude.
SPRECHER
Ein wichtiges Puzzlestück in der Geschichte des Ortes und für das Verhältnis seiner heutigen Einwohner zu ihr. Und vielleicht hilft Klaus Neumanns Erinnerung ja auch, dem Försterhof auf die Spur zu kommen?
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Wir wissen ja leider nicht, von wann diese Karte ist und ob das nur ein eine Planskizze ist oder ob das wirklich so jemals gebaut wurde. Und Förster hat hier oben ein großes Grundstück, ein großes Gebäude und hier unten, hier in der Stadt auch noch ein Grundstück. Und wir sind hier, Freitag, wir haben hier die Plaza. Und ich habe mich gewundert, dass jemand wie Doktor Bernhard Förster, wenn er sozusagen Gründer der Kolonie ist, sich nicht ein Haus an der Plaza baut, sondern doch etwas weiter weg. - No, no, ich glaube, dieser Platz ist korrekt. Dieser Brunnen ist unheimlich groß und stabil. Ich habe so einen Brunnen woanders hier nicht gesehen.
SPRECHER
Ein neuer Hinweis, der Natascha Mehler noch einmal Hoffnung macht. Doch immer noch fehlen Funde, die die Theorie bestätigen. Schlimmer noch: Auch unabhängig vom Försterhof tun sich die Forscher schwer, die erste Siedlungsphase zu erkennen. Nur eine einzige Verfärbung im Boden, die auf ein älteres Gebäude hinweist. Entsprechendes Fundmaterial? Bisher Fehlanzeige, sagt Attila Deszi:
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Wir haben sehr, sehr wenig Funde und materielle Kultur von den allerersten Siedlern. Das einzige, was wir bisher hatten, war ein Knopf der Produktionstechnik 1850er bis 1880er und Murmeln.
SPRECHER
Murmeln und ein einzelner Knopf. Und das auch noch aus dem Gang einer alten Baumwurzel – zum Datieren unbrauchbar. Graben die Archäologen an der falschen Stelle? Lässt sich der Wandel der Kolonie vielleicht doch nicht archäologisch fassen? Es wird noch bis kurz vor Ende der Ausgrabungen dauern, bis das Team schließlich auf eine weitere markante Struktur im Boden stößt – und eine Glasperle darin eine frühe Siedlungsphase bestätigt. Für Natascha Mehler endlich ein archäologisches Indiz, dass die ersten Siedler früh Kontakt zur lokalen Bevölkerung gesucht haben:
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Wir können das ganz gut sehen, denke ich in diesem ersten frühen Pfostenbau, den wir ja jetzt noch am Ende der Kampagne entdeckt haben. Diese Pfostenlöcher, die unter dem späteren größeren Haus liegen, das sind die Reste von einer recht einfachen Unterkunft, aber in einer Bauweise konstruiert, die wir von den Guarani kennen. Also die haben ganz schnell eine provisorische Unterkunft gebaut, die im Prinzip den Baustil der Guarani entspricht.
SPRECHER
Der Grund, warum Nueva Germania seine kritische Anfangsphase überlebt hat? Die Forscherin glaubt, weil ideologische Gedanken der Auswanderer pragmatischen Entscheidungen weichen mussten:
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Die haben sicherlich früh schmerzhaft erfahren, dass das nicht umsetzbar ist, was die sich ursprünglich vorgenommen hatten, sondern dass sie sich ganz schnell auch anpassen mussten an die Gegebenheiten vor Ort.
SPRECHER
Das heißt: Im Fall von Nueva Germania ist die Ideologie also offenbar gescheitert. Und so wie Ruth Alison einen wesentlichen Teil der Forschungen hier zusammenfasst, sogar ziemlich gründlich:
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VOICEOVER
Wir haben festgestellt, dass viele Menschen hier in Nueva Germania nichts über diese entfernteren, älteren Aspekte dessen wussten, was wirklich hier war, über die Bedeutung dieser ersten deutschen Gemeinschaft, die hier war, warum sie Nachkommen von Deutschen sind, warum sie diesen Nachnamen haben, woher sie kommen.
SPRECHER
Gerade deshalb findet Klaus Neumann die Ausgrabung in seinem Heimatort wichtig. Er hofft, dass sie hilft, den Blick auf Nueva Germania und seine Geschichte zu verändern. Auch er ist überzeugt: Ohne gute Kontakte zur lokalen Bevölkerung hätte die Kolonie nie überlebt. Die Archäologen möchten noch tiefer graben. Weiter nach Strukturen und Funden suchen, die zeigen, ob das Arier-Projekt vor Ort überhaupt jemals einer gelebten Wirklichkeit entsprach.
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Ich hoffe, dass die Arbeit jetzt zumindest auch hier ein bisschen Interesse an dieser eigenen Vergangenheit generiert und nicht nur so eine Ablehnungshaltung, vielleicht auch ne Art von Wertschätzung dazu kommt für die Leute hier vor Ort.
ATMO Ausgrabung und Urwald
SPRECHER
Immerhin: Mit der Zeit kommen mehr Menschen aus dem Ort, wollen sich die Ausgrabung zeigen und erklären lassen. Trotzdem haben die Forscher noch Arbeit vor sich: Don Alfonso, der Grundstücksbesitzer ist nach wie vor froh, wenn er die Grabungsfläche bald umpflügen und mit Gemüse bebauen kann.

Sep 4, 2025 • 21min
Kumari - Nepals kindliche Göttin auf Zeit
Kumaris gelten in Nepal als kindliche Göttinnen auf Zeit und sind für eine Vielzahl religiöser Rituale zuständig. Mit dem ersten Tropfen Blut, den sie vergießen, müssen die Mädchen in ihre Familien zurückkehren und versuchen, sich wieder in die Realitäten der nepalesischen Gesellschaft einzufinden. Autorin: Margarete Blümel (BR 2024)
Credits Autorin dieser Folge: Margarete Blümel Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Katja Amberger, Hemma Michel, Peter Weiß Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview: Scott Berry, Lehrer und Autor einer Kumari-Biografie; Rashmila Shakya, Ex-Kumari; Prof. Axel Michaels, Indologe und Religionswissenschaftler; Prof. Horst Brinkhaus, Indologe Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:
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Literaturtipps:
- Berry, Scott: From Goddess to Mortal: The True Life Story of a Former Kumari. Vajra Publications, Kathmandu 2005. Einfühlsames Porträt der ehemaligen Kumari Rashmila Shakya, die ihre Erfahrungen als Kindgöttin schildert und in den religiösen Kontext ihres Heimatlandes Nepal einordnet.
- A Study of Living Goddess Kumārī: The Source of Cultural Tourism in Nepal by Him Lal Ghimir.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN:
Auf einem mit Brokat überzogenen Stuhl sitzt ein kleines, sehr ernst blickendes Mädchen, das die Aufgabe hat, sein Land zu beschützen. Bei der nun folgenden, Stunden währenden, Tempelzeremonie wird ein Büffel sein Leben lassen, Trommler werden ihre Klangkörper bearbeiten und Gläubige ihre Köpfe bis zum Boden vor der kindlichen Göttin verneigen.
Musik hoch
ERZÄHLERIN:
Das Mädchen ist stark geschminkt und in ein bis zu den Knöcheln reichendes Gewand gehüllt, das von Goldfäden durchwirkt ist. Manchmal ist diese Berufsbekleidung der Kumari, Nepals ”kindlicher Göttin”, auch tiefrot. Und: Die Kumari trägt einen mit Diamanten versehenen, in allen Farben schimmernden Kopfputz dazu.
Eines aber ist immer gleich: Die lebende Göttin hat zwar das Gesicht eines Kindes. Doch ihre Würde und Bestimmtheit, die sie an den Tag legt, lassen sie um Jahre älter erscheinen.
Musik mit Atmo 1 Tempelzeremonie verbinden
O-TON 1: EX-KUMARI RASHMILA SHAKYA
At the age of four, I became a Kumari. At the age of twelve, I retired from the Kumari house.
VO-Sprecherin-weiblich:
Ich war vier, als ich zur Kumari erhoben wurde. Und zwölf, als ich wieder ins weltliche Leben zurückkehrte.
ERZÄHLERIN:
Heute ist Rashmila Shakya 37 Jahre alt. Als sie das Kumari-Amt innehatte, war der König noch das Staatsoberhaupt Nepals. Damals kniete der königliche Regent vor der vierjährigen Rashmila nieder, um aus ihrer Hand den sogenannten ‚Tika‘ zu empfangen.
O-TON 2: RASHMILA SHAKYA
It’s become used to for me, because every time the king came to get the bless ...I know that I used to give the Tika to the king. I feel proud.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich hatte mich schnell daran gewöhnt, meinen Aufgaben ruhig und besonnen nachzukommen. Auch dann, wenn ich dem König den Tika, das hinduistische Segenszeichen, auf die Stirn tupfte. Bis heute macht mich das immer noch ein wenig stolz.
ATMO 1 Tempelzeremonie
O-TON 3: PROF. HORST BRINKHAUS
Manchmal werden sie mit sechs Jahren erst geweiht oder eingeführt, manchmal auch schon mit zwei Jahren, das ist sehr unterschiedlich. Es ist ja an eine ganze Reihe von Kriterien geknüpft, wer Kumari sein kann.
ERZÄHLERIN:
… sagt der Indologe Professor Horst Brinkhaus.
O-TON 4: PROF. HORST BRINKHAUS
Da werden Tests gemacht und einiges auf die Beine gestellt, um festzustellen, wen hat sich die Göttin Durga - oder Taleju, wie sie in Nepal genannt wird – ausgesucht als Inkarnation? Das gilt es ja herauszufinden. Man macht ja keine Kumari, das ist nicht Menschenwerk, sondern die Göttin ist sozusagen übergegangen in einen Mädchenkörper.
ERZÄHLERIN:
Es gibt mehrere Kumaris in Nepal. Die bedeutendste unter ihnen ist die in Kathmandu lebende ‚Royal Kumari‘.
O-TON 5: PROF. HORST BRINKHAUS
Es wird selten über die weniger bekannten Kumaris berichtet. Berichtet wird fast immer nur über die Royal Kumari in Kathmandu und es gab auch einige Berichte über eine Bhaktapur-Kumari, die nämlich in Amerika war mit elf Jahren - als Kumari noch, wohlgemerkt, nicht erst danach.
MUSIK m03 (Holiya Mela, Traditional Nepal Folk Tunes, K:= Bharat Nepali, 0:34 Min)
ERZÄHLERIN:
Etwa zehnmal im Jahr verlässt die Royal Kumari den Palast, um religiösen Zeremonien beizuwohnen. Die inzwischen meist als ‚Kathmandu-Kumari‘ bezeichnete lebendige Göttin wird bei diesen Gelegenheiten stets in einer Sänfte befördert, da sie sonst Gefahr liefe, sich zu verunreinigen oder sich zu verletzen, sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels:
O-TON 6: PROF. AXEL MICHAELS
Es ist schon etwas schwieriger für die Kathmandu-Kumari, weil die eine so herausragende Stellung hat. Sie gab ja früher dem König den Tika und hat ihn gewissermaßen dadurch legitimiert für ein Jahr. Aber in Bhaktapur etwa ist die Kumari ja ein ganz normales Mädchen, die auch nicht so eine isolierte Stellung hat wie die Kathmandu-Kumari, die ja in einem eigenen Haus wohnt und eigentlich nicht auf die Straße darf. Sie kann nur getragen werden. Die auch nicht mit anderen Kindern einfach so spielen kann. Das gilt aber eigentlich nur für die Kathmandu-Kumari.
ERZÄHLERIN:
Aber selbst hier bestätigen Ausnahmen die Regel, weiß der Lehrer und Autor Scott Berry, der die Biografie der Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya geschrieben hat:
O-TON 7: SCOTT BERRY
We had two daughters who were eight and six at the time... And they got to be friends that way.
VO-SPRECHER-männlich:
Unsere Mädchen waren acht und sechs Jahre alt, als wir nur ein paar Straßen weit entfernt vom Tempelpalast wohnten, in dem die Kumari ihre Wohnstatt hatte. Meine Töchter waren fasziniert davon, dass ganz in ihrer Nähe ein Mädchen lebte, das eine Göttin war. Und sie gingen jeden Tag zu ihrem Haus und saßen im Hof. Eines Tages stand sie oben auf der Treppe und rief: „Ich habe einen Ball. Wollt ihr spielen?“- „Ja“, sagten meine Töchter. Aber natürlich durften sie nicht nach oben gehen, schon allein, weil sie keine Hindus sind. Und sie durfte nicht nach unten kommen. Also blieb sie oben auf der Treppe, und meine Töchter standen unten und warfen den Ball hin und her. So wurden sie zu Freundinnen.
MUSIK m04 (Rato Bhale, Traditional Nepal Folk Tunes , K:= Krishna Gurung, 1:15 Min)
ERZÄHLERIN:
Diese Erinnerung hat die ehemalige Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya in Scott Berrys „From Goddess to Mortal“ preisgegeben. Ebenso wie die Auswahlkriterien für die Kandidatinnen, die ihr noch heute leicht über die Lippen gehen: ein günstiges Horoskop, die körperliche Unversehrtheit der Kandidatinnen und die richtige Kaste.
O-TON 8: RASHMILA SHAKYA
Shakya caste, sacred Shakya. Yeah. And … are taken out from the Kumari house in the festival in a year.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Wir müssen aus der Shakya-Kaste kommen. Und unser Horoskop muss klar zeigen, dass wir gute Eigenschaften aufweisen und unserem Land nützlich sein können. Wenn Astrologen und Priester das herausgefunden haben, kommt die Frau aus der Familie, die mit der Kumari unter einem Dach lebt und sie betreut. Sie schaut sich den Körper und das Gesicht des Mädchens genau an und untersucht alles nach Wunden oder Kratzern. Wenn auch dieser Test bestanden ist, zieht das Mädchen als lebendige Göttin in den oberen Trakt des Kumari-Hauses ein, den sie nur verlässt, wenn sie zu Zeremonien und religiösen Festen abgeholt wird.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
ERZÄHLERIN:
Die Kumaris stammen aus den Reihen der Newars, einer vor allem im Kathmandu–Tal beheimateten Volksgemeinschaft. Die Newars pflegen eine weltweit einzigartige Sonderform des Buddhismus, den nach ihnen benannten ‚Newar-Buddhismus‘. Die lebende Göttin wiederum wird seit Langem als Reinkarnation einer Hindu-Gottheit betrachtet: Durga, die sich in Nepal als ‚Taleju‘ manifestiert hat. Taleju soll vor einigen Jahrhunderten ins Kathmandu-Tal gekommen sein und sogleich zur Schutzgöttin der nepalesischen Königsfamilien und des Landes aufgestiegen sein. Schließlich aber nahm Durga/Taleju die Gestalt eines kleinen Newarmädchens an. So entstand ein göttliches Amt, das seitdem von einer wechselnden Schar auserwählter Kumaris versehen wird.
O-TON 9: PROF. HORST BRINKHAUS
Die Kumari wird von Buddhisten wie auch von Hindus verehrt, übrigens nicht nur von Newars, sondern natürlich auch von den Nepalisprechern.
Sie ist auch ein - wie der König ja auch in der Vergangenheit war - ein Integrationsfaktor. Nepal ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt ungeheuer viele Sprachen in Nepal, ethnische Gruppen, von Tal zu Tal sozusagen häufig verschiedene Gruppen. Und irgendwo muss ja eine Klammer sein, die eine gemeinsame Identität begründet.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
O-TON 10: SCOTT BERRY
The main thing it does, it symbolizes the unity, or at least...And Kumari comes from a Newar caste.
VO-SPRECHER-männlich:
Das Kumari-System symbolisiert, wenn nicht die Einheit, so zumindest doch die nicht vorhandene Feindschaft zwischen den Buddhisten und Hindus in Nepal. Die Newars sind die ursprünglichen Bewohner von Kathmandu. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bräuche. Und die Kumari stammt eben aus einer Newar-Kaste.
ERZÄHLERIN:
… betont Scott Berry. Der Lehrer und Verfasser der Lebensgeschichte Rashmila Shakyas, von „From Goddess to Mortal“, hat mit Frau und Kindern viele Jahre im Nachbarhaus von Rashmilas Eltern gelebt. So konnte Scott Berry nicht nur den Werdegang der Ex-Kumari, sondern auch die Bedeutung der Kumari-Tradition verfolgen.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
O-TON 11: SCOTT BERRY
The Newars actually share temples. They're divided between buddhists and hindus... she's a buddhist girl who becomes a hindu goddess.
VO-SPRECHER-männlich:
In der Tat nutzen die Newars Tempel, die von Buddhisten und Hindus gleichermaßen aufgesucht werden. In einer dieser nepalesischen Kultstätten wird zum Beispiel eine Inkarnation Shivas von Hindus verehrt, während Buddhisten am selben Ort Lokeshwar anbeten, einen spirituell sehr fortgeschrittenen Bodhisattva. Und, zurück zur Kumari: Sie stellt ein wichtiges Symbol für all das dar, weil sie ein buddhistisches Mädchen ist, das zu einer hinduistischen Göttin wird.
Atmo 2 Tempel Kathmandu bitte in Kreuzblende mit Atmo 3 Durga Sloka verbinden
ERZÄHLERIN:
Im Vielvölkerstaat Nepal werden Kultur und Politik seit jeher von der
Religion mitbestimmt. Literatur, Kunst, Sitten und Gebräuche, alle Abläufe des täglichen Lebens, sind von den religiösen Überzeugungen der Nepalesen durchdrungen. Und umgekehrt: Die wechselvolle politische Geschichte des Kathmandu-Tals hat entscheidend auch die Religion beeinflusst und so eine ureigene Beziehung zwischen Buddhismus und Hinduismus im Lande bewirkt.
Atmo 3: Durga-Sloka
ERZÄHLERIN:
Im nur in Nepal praktizierten Newar-Buddhismus vereinen sich verschiedene Richtungen des Buddhismus: Die Newar streben zwar nach Erlösung, stellen aber ihre Suche nach dem Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten hintan, um anderen, bedürftigen Lebewesen zur Seite zu stehen. Zusätzlich betreiben sie magische Rituale, die ihnen auf ihrem spirituellen Weg weiterhelfen sollen.
O-TON 12: PROF. HORST BRINKHAUS
Wenn man sich Nepal mal jetzt als diesen Streifen von Ost nach West vorstellt – der Norden ist sehr stark buddhistisch geprägt, aber nicht newarbuddhistisch, sondern lamaistisch. Der Süden, insbesondere das Terai-Gebiet, der Teil, der zum Gangesflachland gehört, ist sehr stark hinduistisch geprägt. Da gibt es auch Muslime und wirkt ja sowieso ganz indisch, ganz nordindisch.
MUSIK m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:24 Min)
ERZÄHLERIN:
In diesem Schmelztiegel der Religionen, in einem Land, dessen Könige als Wiedergeburt des Hindu-Gottes Vishnu galten, besteht inzwischen ein Parlamentarisches Mehrparteiensystem.
Doch obwohl die Monarchie seit Mitte des Jahres 2008 der Vergangenheit angehört, und obschon die Maoisten im politischen Gefüge eine große Rolle spielen und Kritik an einigen Traditionen laut wird – religiöse Bräuche wie die der Verehrung der Kumari bestehen fort. Auch die Voraussetzungen für das Ausscheiden der „kommissarischen Göttinnen“ aus ihrem Amt sind nahezu unverändert geblieben. Um ausgeschlossen zu werden, genügen ein paar Tropfen Blut: Sobald die Kumari blutet, sei es im Zuge einer Verletzung oder durch Einsetzen ihrer Periode, muss die Kindgöttin das Zepter an ein anderes Mädchen abgeben.
O-TON 13: PROF. AXEL MICHAELS
Der Jungfrauenkult ist natürlich auch in Indien immer wieder einmal da gewesen - also die Verehrung einer Jungfrau als Göttin.
ERZÄHLERIN:
… sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels. Aber ….
O-TON 14: PROF. AXEL MICHAELS
Aber es ist sehr spezifisch im Grunde genommen bei den Newars. Sowohl in Kathmandu wie auch in anderen Orten des Kathmandu Tals. Weil die daraus einen regelrechten Kult gemacht haben, mit eigenen Ritualen, mit eigenen Häusern und der Notwendigkeit, dass die Kumari bestimmte Rituale eröffnen muss oder dabei sein muss oder Leute segnen muss.
Atmo 4 Ritual
ERZÄHLERIN:
Am Durbar Square, im Zentrum Kathmandus, steht ein blutüberströmter Omnibus. Dach, Fenster, Türen und die Front des alten Vehikels, dessen Reifen kurz davor sind, mit den Felgen eins zu werden, sind mit dem Blut einer soeben geschlachteten Ziege beschmiert. Die Sitze des Busses sind aufgerissen, die Fenster sind längst den Weg alles Irdischen gegangen. Im Fahrerraum prangt unter einem Wirrwarr von Girlanden eine Darstellung der Durga. Sie vollführt einen Kriegstanz, schwingt Lanzen und Schwerter in ihren vielen Armen. Ihr Gesicht ist zu einer Grimasse grausamen Triumphs erstarrt. Zu ihren Füßen liegt der Büffel-Dämon Mahisasura, den die große Göttin zertreten hat. Heute nimmt sie in Kathmandu ihr Festmahl.
Atmo 4 Ritual
ERZÄHLERIN:
Einmal im Jahr wird Durga-Puja, das große Opfer- und Erntefest, gefeiert. Busse, Lastwagen und Privatfahrzeuge werden mit frischem Tierblut geweiht, damit die Insassen in Zukunft nicht zu Schaden kommen mögen.
In Innenhöfen, Häusern, Gassen und in großen Festzelten sind für die Göttin Durga Altäre aufgebaut. Die Frauen haben besonderes Essen für den Anlass vorbereitet. Kinder werfen einander Luftballons zu und warten aufgeregt darauf, dass der Prozessionszug mit der Kumari, der lebendigen Vertreterin Durgas, endlich eintrifft. Dass die kindliche Göttin kommt, ihnen ein ernstes Lächeln schenkt und dem einen oder anderen vielleicht auch ein Segenszeichen auf die Stirn malt.
Atmo 4 Ritual
bitte kurz hoch, dann blenden
O-TON 15: PROF. HORST BRINKHAUS
Die Royal Kumari hängt ja stark mit dem Königtum zusammen. Sie wurde ermittelt, unter anderem von dem Astrologen und dem Familienpriester des Königs und anderen hohen Beamten. Die sind natürlich mit der Abschaffung des Königtums nun auch entfallen. Und das heißt, die Kumari muss immer wieder auf neue Grundlagen gestellt werden, wie man sie herausfindet, wer für sie eigentlich sorgt, wer zuständig ist für diese Institution.
ERZÄHLERIN:
Inzwischen gewährt der Staat den kommissarischen Göttinnen zumindest eine kleine Rente – und eine Schulausbildung.
O-TON 16: PROF. HORST BRINKHAUS
In der Vergangenheit war ja ein Problem, dass sie in keine Schule gehen konnte oder durfte, dass sie also nicht ausgebildet wurde. Immerhin ist man Kumari bis zum zwölften, dreizehnten Lebensjahr, je nachdem.
MUSIK m05 ( Yantra, Jens Buchert, 2:21Min)
O-TON 17: RASHMILA SHAKYA
I have to struggle so much in the normal life. Mostly in the study...At the age of twelve I started my school career.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich hatte anfangs wirklich schwer zu kämpfen. Vor allem mit dem Lernen, weil es zu meiner Zeit keine formale Bildung für Kumaris gab. Erst im Alter von zwölf Jahren habe ich meine Schullaufbahn begonnen.
ERZÄHLERIN:
Ihr Biograph Scott Berry erinnert sich noch sehr gut an das, was Rashmila damals durchgemacht hat.
O-TON 18: SCOTT BERRY
Well, this is something that's changed considerably since Rashmila’s time...and they're able to go to their proper grade when they stop.
VO-SPRECHER-männlich:
Nun, das ist etwas, das sich seit Rashmilas Zeit stark verändert hat. Sie hatte große Schwierigkeiten, ins normale Leben zurückzukehren. Sie musste in die erste Klasse gehen, obwohl sie schon zwölf Jahre alt war. Einmal hat sie versucht, wegzulaufen und ins Kumari-Haus zurückzukehren, aber da stand sie dann natürlich vor verschlossenen Türen. Doch schließlich hat sie es geschafft. Ihre Familie hat Rashmila bedingungslos unterstützt. Und heute ist es so, dass vor allem ihretwegen Kumaris lernen und studieren. Sie haben Tutoren und werden darauf vorbereitet, die zu ihnen passende Klasse zu besuchen, wenn es soweit ist.
ERZÄHLERIN:
Noch etwas kommt erschwerend hinzu, das über lange Zeit hinweg manchmal wie ein Fluch über den ins irdische Leben zurückkehrenden Mädchen lag: der alte Irrglaube, Kumaris fänden keinen Ehemann.
O-TON 19: RASHMILA SHAKYA
This is only a misconcept about the Kumari. And this misconcept.. Before that the guy had little bit hesitate ad to marry the ex Kumari.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Diesem Aberglauben nach soll ein Mann, der eine ehemalige Kumari zur Frau nimmt, eines unnatürlichen und viel zu frühen Todes sterben. Die jüngere Generation hat sich da inzwischen bewegt und schenkt dem keinen Glauben mehr. Aber ich erinnere mich noch der Zeiten, als Männer einer Verbindung zu einer Ex-Kumari deshalb ziemlich zurückhaltend gegenüberstanden.
O-TON 20: SCOTT BERRY
Traditionally, they're not supposed to get married. The husband's supposed to die... and they seem very happy together.
VO-SPRECHER-männlich:
Traditionell ist es nicht vorgesehen, dass sie heiraten. Und, ja, angeblich soll der Mann sogar innerhalb des ersten Jahres der Ehe sterben. Aber das ist völlig falsch. In der Vergangenheit gab es mehrere Kumaris, die geheiratet haben - und auch Rashmila ist den Bund der Ehe eingegangen. Wir waren sogar auf ihrer Hochzeit. Inzwischen hat sie einen Sohn, und sie scheinen sehr glücklich miteinander zu sein.
ATMO 5 Kumari-Ritual
O-TON 21: RASHMILA SHAKYA
Yeah, I have married before eight years. And I have one son and he is became a five years old.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Seit unserer Hochzeit sind acht Jahre vergangen. Und unser Sohn ist jetzt fünf Jahre alt.
Musik m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:40 Min)
Erzählerin:
Über dreißig Jahre liegen zwischen den fundamentalen Ereignissen, die das Leben der Ex-Kumari nachhaltig beeinflusst haben. Rashmila Shakya erinnert sich noch sehr genau daran, wie das damals war: Als sie als vierjähriges, sehr ernst dreinschauendes Mädchen auf einen Thron stieg, um als kindliche Göttin ihren König und ihr Land zu beschützen. Und dann, acht Jahre später, als die Zeit gekommen war, das Kumari-Haus zu verlassen ….
O-TON 22: RASHMILA SHAKYA
At the time? I became sad and happy. Also sad because that I have left the Kumari house and happy that I have returned to the own house and lived a normal life.
VO-SPRECHERIN-weiblich
Da war ich froh und bedrückt zugleich. Traurig, weil ich das Kumari-Haus hinter mir lassen musste. Und froh, weil ich nach Hause zurückkehren und ein normales Leben führen konnte.
Erzählerin:
Nichts von alldem möchte Rashmila missen. Wie viele andere Ex-Kumaris auch, mit denen sie gesprochen hat, ist da das nachhaltige Gefühl, ein Privileg genossen zu haben. Einen Lebensweg beschritten zu haben, der schwierig, steinig und ungemein erfüllend gewesen ist.
O-TON 23: RASHMILA SHAKYA
I got two life in one born. One is normal life and one is God. Is life.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich habe zwei Leben geführt. Das eine ist das normale, das irdische Leben und das andere ist mein Dasein mit Gott.


