In der traditionellen japanischen Kunst werden Risse im Porzellan mit Gold verziert - um die Unvollkommenheit hervorzuheben. Die "Narben aus Gold" sind auch eine Metapher. Im richtigen Leben ist das weitaus schwieriger: Rissen in der Biografie etwas Wertvolles abzugewinnen, kann zum Kraftakt werden. Doch wenn es gelingt, kann ein Mensch über sich hinauswachsen. Von Karin Lamsfuß
Credits Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß Regie: Sabine Kienhöfer Es sprach: Carolin Ebner Technik: Christine Frey Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:Sandra Stelzner-Mürköster, hat früh ihren Mann verlorenPeter, spielsüchtig und verschuldetVerena König, TraumatherapeutinDr. Michael Schonnebeck, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter einer Tagesklinik
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Literatur:
Sandra Stelzner-Mürköster: Zurück ins Leben finden. Gütersloher Verlagshaus, 2024
Doris Wolf: Einen geliebten Menschen verlieren. Begleitung durch die Trauer. PAL Verlag 2001
Claus Eurich: Die heilende Kraft des Scheiterns. Ein Weg zu Wachstum, Aufbruch und Erneuerung. Vianova Verlag, 2006
Linktipps:
Website von Sandra Stelzner-Mürköster Come-Back-Life
Website von Verena König HIER
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘13“):
Ja, wir waren ein ganz glücklich-jung verheiratetes Paar, wir hatten zu der Zeit ein Baby und hatten uns auf unser erstes gemeinsames Weihnachten als kleine Familie gefreut. Und dann kam alles ganz anders.
O-Ton 2 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘06“):
Dieser Horror begann am 26. November, da ging mein Mann zum Laufen.
O-Ton 3 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘07“):
Ich wartete und wartete und hab das Essen fertig gemacht, und er kam und kam nicht.
O-Ton 4 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘13“):
Und irgendwann klingelte es, und unsere Nachbarin stand ziemlich aufgelöst vor unserer Tür und sagte nur, in der Waldstraße hätte man einen toten Jogger gefunden.
Erzählerin:
Am 26. November zieht sich ein tiefer Riss durch das Leben von Sandra Stelzner-Mürköster. Der Mensch, den sie liebt, den sie sicher an ihrer Seite glaubt, hat einen schweren Herzinfarkt. Er bricht im Wald zusammen und ist klinisch tot. Und obwohl er zunächst reanimiert wird, stirbt er einige Zeit später im Klinikum. Dabei hatten sie noch so viel miteinander vor.
O-Ton 5 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘06“):
Ich war eingefroren. Ich war wirklich eingefroren. In dem Moment, wo er gegangen ist, bin ich innerlich eingefroren.
Musik: Sad and heavy (reduziert) 0‘28
Erzählerin:
Die junge Mutter war plötzlich Witwe. Mit gerade mal 30 Jahren. Von einem Tag auf den anderen stand sie alleine da: mit ihrem Säugling, mit all ihren zerstörten Hoffnungen und Zukunftsplänen. Ein Absturz ins Nichts. Der Bruch bedeutete eine tiefe Zäsur in ihrem Leben.
O-Ton 6 Verena König (0‘10“):
Das Wort „Bruch“ deutet ja schon darauf hin, dass ein Ereignis eine so große Wirkung hat, dass man das Gefühl hat, danach ist das Leben, die Welt anders als zuvor.
Erzählerin:
Verena König ist Traumatherapeutin. In ihre Praxis kommen viele Menschen, die ähnlich schmerzhafte Einschnitte in ihr Leben erlebt haben wie die junge Mutter. Und diese schweren Brüche – so sagt sie, zeichnen sich auch dadurch aus, dass die bisherigen Fähigkeiten im Umgang mit Krisen nicht mehr funktionieren. Ein Absturz ins Nichts sozusagen. Ohne Netz und doppelten Boden.
O-Ton 7 Verena König (0‘20“):
Also die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten versagen zu sehen führt uns ja in Zustände der Hilflosigkeit und der Ohnmacht. Nichts ist mehr wie zuvor! Das ist wirklich so erschütternd und allumfassend, auch wenn es schwer greifbar ist. Weil wir eben nicht wissen, wie wir damit umgehen können oder wer uns dabei helfen könnte.
Erzählerin:
Während es natürlich auch positive tiefe Zäsuren im Leben gibt - etwa Heirat, die Geburt eines Kindes oder die erträumte Unternehmensgründung – fordern unfreiwillige Brüche den Menschen aufs Äußerste heraus. Das Fundament ist erschüttert – von jetzt auf gleich. Das kann die unerwartete Kündigung sein, die Trennung, eine schwere Krankheit, ein Unfall oder eben der Verlust des geliebten Menschen.
Musik Murder chronicles 0‘26
Erzählerin:
Sandra Stelzner-Mürköster verbrachte die Wochen und Monate nach dem Tod ihres Mannes als „Marionette in einer Seifenblase“ – wie sie es beschreibt. Als würde sie über der Erde schweben. Ohne Bodenhaftung. Einzig ihr kleiner Sohn hielt sie am Leben.
O-Ton 8 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘18“):
Ich war total abgemagert, hab ja fast nicht mehr geschlafen. Ich konnte nichts essen. Aber es war auch nicht so, dass ich Schmerz empfunden habe. Ich hab einfach nichts empfunden. Ich wollte immer wissen: Wie kann ich denn jetzt mal trauern, damit wir weitergehen können? Aber dazu war ich am Anfang nicht in der Lage.
Erzählerin:
Diese Reaktion sei völlig normal, sagt Dr. Michael Schonnebeck, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet eine Tagesklinik für Psychosomatik. Fast alle Patienten, die dorthin kommen, haben tiefe Einschnitte erlebt.
Der Mediziner kennt die Phasen nach dem Riss im Leben. Und obwohl sie nie prototypisch und in genauer Reihenfolge verlaufen, beginnen sie bei den meisten Menschen mit dem Zustand der Betäubung. So als seien alle Gefühle ausgeschaltet.
O-Ton 9 Michael Schonnebeck (0‘19“):
Emotionales Numbing wird das genannt, Betäubung, ich krieg das alles erst mal gar nicht so mit, es fühlt sich an wie unter Zeitlupe oder unwirklich, und wichtig ist einfach Wärme, basale körperliche Fürsorge, unaufdringliche Anwesenheit, das reicht dann schon so.
Musik: Behind the curtain (reduced 2) 0‘30
Erzählerin:
In dieser Phase sind vertraute Menschen im Umfeld besonders wichtig. Menschen, die einfach da sind. Unaufdringlich und trotzdem präsent. Kochen einen Tee, bieten eine Decke an, bringen einen Topf warme Suppe vorbei. Das klingt nach wenig und ist dennoch viel. In einer Zeit, in der der Mensch, der unter Schock steht, keinen klaren Gedanken fassen kann. Sandra Stelzner-Mürköster war nicht allein. Familie und Freunde standen ihr zur Seite. Trotzdem schlief sie keine Nacht länger als zwei Stunden. Funktionierte nur für ihren kleinen Sohn.
O-Ton 10 Michael Schonnebeck (0‘37“):
Dann kommt die nächste Phase, und die kann dann ganz unterschiedlich aussehen von hektischer Betriebsamkeit bis emotionalem Zusammenbruch, langes Tränenfließen, und dann kommt der Moment der Besinnung, und der ist vielleicht der allerschwerste: Was fange ich mit meinem Restleben an? Jetzt liegt das in Trümmern, es tut schrecklich weh, meine Seele ist im Grunde völlig aufgerissen, wie unter einem Brennglas kommen da die Strahlen der Sonne ungehindert rein und verbrennen mich noch weiter, und da wäre die Idee, eine gewisse Aktivität zu entwickeln.
Erzählerin:
Was fange ich mit meinem Restleben an? Das ist schon eine große Frage. Die junge Mutter fragte sich vor allem: Wie kann ich überhaupt weiterleben? Eine Antwort darauf fand sie zunächst nicht. Ihrem Mann fühlte sie sich nach wie vor tief verbunden. Kommunizierte viel mit ihm. Irgendwie hatte sie das diffuse Gefühl, dass sie weitergehen sollte im Leben:
O-Ton 11 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘13“):
Es muss einen Sinn haben, auch wenn ich den noch nicht entziffern kann, und auch das Versprechen, das ich ihm am Sterbebett gegeben habe: „Wir lassen uns nicht unterkriegen. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, aber das werden wir schaffen!“
Erzählerin:
Der Wunsch, dem Schweren, dem zunächst Unerträglichen einen tieferen Sinn abringen, ist durchaus verständlich, sagt die Traumatherapeutin Verena König. Und gleichzeitig ist es etwas, das schnell überfordernd sein kann. Vor allem dann, wenn es nicht dem eigenen Bewusstsein entspringt, sondern von der Außenwelt herangetragen wird.
O-Ton 12 Verena König (0‘35“):
Ganz häufig wird Menschen vermittelt, dass das, was ihnen widerfahren ist, doch für sie irgendeinen höheren Sinn haben müsste. Manchmal wird ihnen sogar unterstellt, dass das was mit ihnen persönlich zu tun hat, was ihnen geschieht. Und Menschen werden natürlich sehr unter Druck gesetzt, wenn sie einerseits verantwortlich gemacht werden für das ‚Schicksal‘, ich nenne das jetzt einfach mal so, und wenn man ihnen dann die Aufgabe aufbürdet, sie wollten in dem, was ihnen geschehen ist, einen höheren Sinn erkennen, kann auch das sehr belastend sein.
Erzählerin:
„Krise als Chance“, „Krankheit als Chance“ - So lauten Buchtitel und Artikel-Schlagzeilen in Hochglanzmagazinen. Als läge darin ein Zwang zur Chance. Zu einer positiven Wendung.
Für den Mediziner Michael Schonnebeck ist das Ringen um Sinn nicht selten allein das Bedürfnis eines überforderten Umfeldes:
O-Ton 13 Michael Schonnebeck (0‘18“):
Wenn man dem einen Sinn gibt, dann wird es plötzlich relativiert. Dann klingt ein bisschen mit: Wenn du dich dem zuwendest, hast du ja gute Chancen, damit umzugehen und ich kann mich zurückziehen. Das wäre eine Vermeidungsstrategie. Und da muss man kritisch sagen „Machst du es dir da nicht zu leicht?“
Musik: Was bleibt (reduced 1) 0‘24
Erzählerin:
Und dennoch: Irgendetwas muss dran sein. Die Frage: „Wer bin ich, wenn alle äußeren Sicherheiten wegbrechen“ fordert den Menschen aufs Tiefste heraus. Und führt manchmal auch zu innerem Wachstum.
Musik: Futen god oft he wind (b) 0‘36
Erzählerin:
Die Idee der tiefen Schönheit von Brüchen liegt dem japanischen ästhetischen Konzept des Wabi-Sabi zugrunde. Eine Philosophie, die die Schönheit in der Vergänglichkeit und dem Unvollständigen wertschätzt. Wabi- Sabi heißt sinngemäß übersetzt: Die Schönheit der Unvollkommenheit und der Vergänglichkeit. Ein zentraler Bestandteil von Wabi-Sabi ist die Akzeptanz von Brüchen. Gerade die Gebrochenheit ,kann eine tiefe Schönheit und Wahrheit offenbaren.
Erzählerin:
Peter, der nur seinen Vornamen nennen möchte, arbeitete im Vertrieb eines mittelständischen Unternehmens. Alles lief rund, er war erfolgreich. Innerlich ging es ihm schon lange nicht mehr gut. Statt sich dem zuzuwenden, machte er einfach weiter und verlor sich irgendwann.
O-Ton 14 Peter (0‘27“):
Ich hatte eine Angststörung, wusste nicht, woher das kam, diese Angststörungen und Panikattacken haben mich auf der Arbeit und Zuhause begleitet und dann kam es aber so, dass ein lieber Mensch gestorben war, ich fühlte mich etwas isoliert und alleine, und begann dann nach Kompensationsmechanismen zu suchen, und auf diesem Wege hatte ich mich dann in die Glücksspielsucht verloren, was meine Kompensation für meine Probleme war: also Roulette spielen, hab oft Kasinos besucht und hab natürlich auch sehr viel Geld investiert.
Musik: Murder of crows 0‘32
Erzählerin:
Der Riss durch Peters Leben ging tief und hatte mehrere Verästelungen: Diese zogen sich durch seinen Job, sein Privatleben, seine Seele. Und nicht zuletzt auch durch sein Bankkonto. Das Endergebnis seiner Spielsucht war ein höherer fünfstelliger Schuldenberg. Die Banken mahnten, Inkasso-Institute schalteten sich ein. Der Arbeitgeber durfte nichts von alledem wissen. Überhaupt niemand durfte davon erfahren!
Erzählerin:
Peter verlor sich selbst. Weil er dachte, sich seinem Umfeld nicht anvertrauen zu können in seiner inneren Not.
Musik: Futen god oft he wind (b) 0‘6
Musik: Sumiyoshi shrine 0‘17
Erzählerin:
Im weiteren Sinne betrachtet Wabi Sabi Brüche als natürlichen Bestandteil des Lebens, das seine eigene Ästhetik und Weisheit besitzt. Der Bruch selbst wird zu einem Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens und die Akzeptanz der Unvollkommenheit.
Erzählerin:
Die Schönheit in der Unvollkommenheit – sie erschloss sich Peter erst viel später. Noch befand er sich in einem tiefen Loch. Einsam und isoliert. Bis er eine neue Partnerin kennenlernte. In einer Zeit, in der er einen Antrag auf Privatinsolvenz gestellt hatte:
O-Ton 16 Peter (0‘33“):
Dass es mir finanziell schlecht ging, das hab ich die ersten Monate für mich behalten, weil ich das auch erst mal regeln wollte, das war meine Aufgabe. Da hatte ein neuer Mensch in meinem Leben nichts mit zu tun… Den absoluten Tiefpunkt hatte ich für mich wo ich wirklich die Buxe auf gut deutsch runterlassen musste im August, wo ich meiner Partnerin dann bekannt habe, so sieht’s mit mir aus, so ist meine Situation, da hab ich gedacht: ich weiß nicht, was mich erwartet, ich hab also ne super Reaktion erfahren und muss auch heute noch sagen: Hut ab!
Erzählerin: Für die Partnerin waren Peters Schuldenberg und seine Spielsucht kein Problem. Sie blieb – obwohl Peter große Angst hatte, sie deshalb zu verlieren.
Musik: Far our 0‘21
Erzählerin:
Durch die Risse in Peters Leben – seine Angststörung, seine Spielsucht und seine Insolvenz – öffnete sich ein neues Fenster in seinem Leben. Er machte zum ersten Mal eine ganz neue Erfahrung: Er wurde akzeptiert – trotz seines vermeintlichen Scheiterns.
O-Ton 17 Verena König (0‘24“):
Also solche Brüche können uns auch in unserem Selbstwertempfinden zermürben oder zerbröseln und sie haben dann aber auch je nach Umfeld auch die Möglichkeit, eine viel tiefere Wahrheit vor Augen zu führen: nämlich dass wir trotz allem liebenswert sind und dass wir eingebunden sind in etwas, das uns willkommen heißt.
Musik: Far our 0‘27
O-Ton 18 Peter (0‘32“):
Der nächste Punkt war übrigens auch, dass ich in der Firma Farbe bekennen musste. Ich hab dann auch meinen Chef informiert. Es war mir ganz wichtig, festzustellen: Du kannst nur nen Neuanfang machen, wenn du wirklich offen drüber sprichst. Und auch da muss ich feststellen, war die Reaktion natürlich auch erst mal ein Schlucken, etwas Verwunderung, und ich fand die Reaktion dann auch höchst generös, dass eben gesagt wurde: „So isses, regeln Sie das, aber es steht hier nichts in der Firma gegen Sie“ und ich kann auch meinen Job weiter behalten.
Erzählerin:
Peter hat etwas erfahren, das man in der Fachsprache „posttraumatisches Wachstum“ nennt. Also ein über sich Hinauswachsen in der schweren Krise. Eigenschaften entwickeln, die man zuvor nicht besaß.
Michael Schonnebeck, der Facharzt für psychosomatische Medizin sagt aber auch: Posttraumatisches Wachstum kann passieren, doch es sollte nicht das primäre Ziel und keinesfalls ein Anspruch sein. Das Wichtigste sei zunächst einmal, das schwere Ereignis irgendwie zu überstehen und nach dem Bruch weiterzuleben.
O-Ton 19 Michael Schonnebeck (0‘24“):
Es gibt auch das Erleben, dass an diesen übergroßen Herausforderungen ich scheitere! Also ich verzage. Dass ich ausweiche. Dass ich Angst habe, abzustürzen. Dass ich wirklich abstürze. Und dann gibt’s keine Entwicklung, dann gibt’s halt Absturz oder Niederlage, oder auch ein Zusammenkauern, ein Erstarren, ein Freezen, so das ich glaube, das hält sich so die Waage.
Musik: Unimagined course 0‘37
Erzählerin:
Scheitern, verzagen, abstürzen. Auch das kann passieren, wenn sich ein tiefer Riss durchs Leben gezogen hat.
Ein Jahr war vergangen nach dem plötzlichen Tod des Ehemannes von Sandra Stelzner-Mürköster.
„So langsam muss es doch mal gut sein“, fanden Menschen aus dem Umfeld. Doch es war nicht gut. Auch im zweiten Jahr war es noch nicht gut. Im dritten Jahr kehrte ansatzweise so etwas wie Normalität in ihr Leben zurück. Schon länger ging sie wieder arbeiten in ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin.
O-Ton 20 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘26“):
Und das war der Zeitpunkt, wo ich dann richtig zusammengeklappt bin. Ich hab dann eine Lungenentzündung nach der anderen gehabt, hab noch 46 Kilo gewogen bei 1,74 und hab das dann aber nicht für mich erkannt. Ich hatte immer noch kein Gefühl für mich, bin dann immer noch brav in die Schule, mit fast 40 Fieber und wär dann fast im Schwimmbad umgekippt. Und das war der Auftakt, wo ich dann für mich erkennen musste: Ich bin jetzt wirklich in nem Burnout.
Erzählerin:
Drei Monate verbrachte sie in einer psychosomatischen Klinik. Und obwohl sie dort Hilfe erfuhr und ein wenig Stabilität und Zuversicht entwickeln konnte, meldete sich ihr Körper immer wieder:
O-Ton 21 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘27“):
Und hatte dann nicht nur eine Gürtelrose, sondern mehrere Gürtelrosen, die mir dann aufs Auge geschlagen sind und die Gefahr bestand, dass ich vielleicht erblinde, hatte dann einen Tumor in der Hand, wo ich nicht wusste, ob die Hand amputiert werden musste, und als meine Mutter dann verstarb, das war dann so der Punkt, wo ich gesagt habe: „Wie lange soll ich jetzt noch warten? Was soll noch alles in mir kaputtgehen? Ich darf jetzt diesem inneren Ruf lernen zu folgen.
Musik: Ray of light 0‘35
Erzählerin:
Der innere Ruf. Das war der zweite Bruch. Diesmal ein schöner, kraftvoller, freudvoller: Sandra Stelzner-Mürköster folgte ihrem Herzen, kündigte den Job an der Schule, machte zahlreiche Ausbildungen und entwickelte sich in die Richtung, die ihr das Schicksal aufzeigte:
Sie arbeitet seitdem als Trauermentorin und gibt anderen Menschen neben ihrem Fachwissen das weiter, was sie selbst so schmerzlich erfahren musste.
O-Ton 22 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘27“):
Ich kann ihnen vor allen Dingen Halt, Struktur, Ordnung geben, und ich kann ihnen auch in den Momenten, in denen sie selbst nicht mehr klar mit ihren Gefühlen sind, genau sagen, was mit ihnen los ist! Und das ist eine Qualität von mir, hier eine Sprache für die Dinge zu finden, die dem anderen unbewusst sind. Und die Feinfühligkeit, die ich immer schon hatte, ja… heute damit dienen zu können.
Musik: Flute and Koto 0‘36
Erzählerin:
„Kintsugi“ (Aussprache: Kint-Sugi, Betonung auf 2. Silbe) ist – genau wie Wabi Sabi – ein Begriff in der japanischen Kultur. Kintsugi bezeichnet eine Kunstform, bei der zerbrochene Keramikstücke mit Gold- oder Silberlack wieder zusammengefügt werden. Die glänzenden Pinselstriche setzen den Bruch deutlich in Szene. Sie verbinden die einzelnen Scherben miteinander, verschönern und vervollkommnen sie. So entsteht etwas Neues, Schönes. Der vermeintliche Makel wird zum einzigartigen Teil der eigenen Geschichte.
O-Ton 23 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘32“):
Und diese Teile einzeln wieder zusammensetzen, das ist dieses Kennenlernen von sich selbst. Den eigenen Gaben und Talenten. Und auch wieder Visionen vom Leben zu finden und auch sich selbst Träume zu erlauben. Und das ist der Weg! Und der ist verdammt schmerzhaft!
O-Ton 24 Verena König (0‘25“):
Die Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, sind für mich in den allermeisten Fällen Menschen, die ich bewundere für ihre Tiefe. Bei denen ich das Gefühl habe: Sie sind anders verbunden mit dem Leben, als Menschen, die bisher vielleicht ganz unbeschwert durch ihr Leben gehen konnten. Also dass sie z.B. eine größere Wertschätzung haben für Schönes im Leben, für das Leben selbst.
Musik: Accurate timing (red.) 0‘26
Erzählerin:
Brüche zwingen Menschen, neue Wege einzuschlagen. Oft verändern sich dabei Werte und Prioritäten. Ein Wendepunkt kann dazu führen, dass man stärker wird. Kann. Aber nicht muss. Manche Menschen zerbrechen auch an allzu schweren Schicksalsschlägen, so die Traumatherapeutin Verena König:
O-Ton 25 Verena König (0‘34“):
Krisen können auch lebensbedrohlich sein. Also ein Bruch im Leben kann Menschen an die Grenze des Tragbaren und des Möglichen bringen. Und deswegen sind auch Suizide nicht selten ein Ausweg für Menschen. Es gibt auch Bilanz-Suizide, so genannte, oder Suizide im Affekt, die häufig aus Momenten der vollkommenen Überforderung entstehen oder der ganz großen Beschämung. Also Krise kann auch sehr bedrohlich sein und sollte nicht romantisiert werden.
Erzählerin:
Es kann also in beide Richtungen gehen: Wachstum oder Absturz. Keinesfalls jeder Mensch steigt empor wie Phoenix aus der Asche. Die Forschung zeigt: Viele erholen sich irgendwann nach der Krise, andere hingegen werden nie wirklich damit fertig.
Musik: A beginning 0‘22
Erzählerin:
Peter, der zunächst spielsüchtig und dann hochverschuldet war, sortierte sein Leben von Grund auf neu. Machte eine Psychotherapie, entdeckte das Meditieren für sich und die Natur als Kraftquelle. All das wäre ohne den Absturz wahrscheinlich nicht passiert.
O-Ton 26 Peter (0‘20“):
Ich bilde mir ein, ruhiger geworden zu sein, kann auf das schauen, was mir gut tut, im Umgang mit meiner Partnerin und anderen Menschen ist mir Achtsamkeit und gegenseitige Wertschätzung sehr wichtig, und dazu gehört auch, dass man offen miteinander umgeht und Dinge nicht hinterm Berg hält, weil sonst auch dieses Vertrauen, was notwendig ist, um auch ne Krisensituation zu überstehen, nicht entstehen kann.
Erzählerin:
Und noch etwas hat sich aus seinem Scheitern entwickelt: Peter engagiert sich bei den anonymen Insolvenzlern, einem Netz aus Selbsthilfegruppen, die Menschen in ihrer privaten- oder Firmenpleite unterstützen.
Musik: Consistend method (reduziert) 0‘28
Erzählerin:
Bei Sandra-Stelzner-Mürköster hat der Riss in ihrem Leben fast alles verändert: Als Trauermentorin begleitet sie Menschen nach Verlusten, und als Buchautorin möchte sie ihr Wissen weitergeben. Sie hat einen neuen Partner gefunden und mit ihm eine Tochter bekommen. Mindestens genau so wichtig ist ihre innere Wandlung:
O-Ton 28 Stelzner-Mürköster (0‘29“):
Dass ich das Leben mit einer ganz tiefen Intensität leben kann, indem ich sehr intensiv fühle, und durch dieses intensive Fühlen eine ganz enge und liebevolle Beziehung zu allen Menschen hab, die in meinem Feld sind. Das ist einfach die Liebe und auch die Aufmerksamkeit wie ich Menschen begegnen kann heute. Und dass ich wirklich dadurch so vieles mitfühlen kann. Und das schafft ja auch Verbindung.
Erzählerin:
Letztlich gehören Brüche im Leben wie kaum etwas anderes zum Menschsein dazu – und gleichzeitig wird kaum etwas anderes so oft schamhaft verborgen.
Am Ende wäre es doch eine schöne Vision: So wie die Risse im zerbrochenen Porzellan sorgsam mit goldener Farbe verziert und somit sichtbar gemacht werden, wäre es vielleicht heilsam, wenn sich auch Menschen mehr zeigen würden: in ihrer Gebrochenheit, ihrer Verzagtheit, aber auch in ihrer gewonnenen Stärke. Sie könnten Vorbild sein für andere, deren Leben gerade in tausend Scherben zerspringt.
Musik: Timeline 0‘37
O-Ton 29 Verena König (0‘35“):
Es wäre wunderschön, wenn in unserer Gesellschaft unsere Verletzlichkeit Platz hätte und auch unsere Verletzungen, die wir mit uns tragen. Es ist so schade, dass wir Verletzlichkeit mit Schwäche gleichsetzen. Weil das nichts miteinander zu tun hat! Und wenn wir Verletzlichkeit anerkennen als eine absolute Gemeinsamkeit aller Menschen, dann würden wir uns tatsächlich sicherer fühlen können. Weil wir achtsamer mit uns selbst und mit anderen umgehen würden.