Isolde Charim, Philosophin und FALTER-Kolumnistin, diskutiert mit Jan-Werner Müller, einem Politikwissenschaftler und Autor, über sein Buch 'Furcht und Freiheit'. Sie erkunden, wie ein Leben ohne Angst vor sozialem Absturz aussieht. Die beiden reden über die Schattenseiten des Neoliberalismus, die Bedeutung von Identitätspolitik und die Notwendigkeit von neuen institutionellen Ansätzen im Dienstleistungssektor. Dabei wird die Macht des Zuhörens betont, um die Stimmen von Marginalisierten besser zu verstehen.
Der Neoliberalismus fördert Disziplin anstelle von Freiheit und erfordert Anpassung an kapitalistische Strukturen vom Individuum.
Die Kritik an liberalen Eliten muss differenziert betrachtet werden, um die Ursachen sozialer Ungleichheit nicht zu simplifizieren.
Solidarität ist entscheidend für die Überwindung von Ungerechtigkeiten und erfordert neue Organisationsformen zur kollektiven Unterstützung.
Deep dives
Neoliberalismus versus Liberalismus
Der Neoliberalismus unterscheidet sich grundlegend vom traditionellen Liberalismus, da seine zentrale Prämisse nicht Freiheit, sondern Disziplin ist. Anstatt individuelle Freiheit zu fördern, fordert der Neoliberalismus Anpassung an kapitalistische Strukturen und individuelle Selbstdisziplin. Die Diskussion zeigt, dass dieser Konzeptwechsel bereits in den Ursprüngen des Begriffs Neoliberalismus verankert ist, als sich ein Teil der liberalen Denker in den 1930er Jahren neu orientierte, um mit der Krise des Liberalismus umzugehen. Der Versuch, Neoliberalismus und Liberalismus voneinander zu entflechten, wird als notwendig erachtet, um Missverständnisse und Vereinheitlichungen zu vermeiden, die sowohl aus linken als auch aus rechten politischen Sichtweisen generiert werden können.
Kritik an liberalen Eliten
Die Diskussion thematisiert den scharfen Angriff auf liberale Eliten, die oft als abgehoben und schuldig an gesellschaftlichen Missständen dargestellt werden. Obwohl diese Eliten teils für die soziale und kulturelle Verschiebung verantwortlich sind, ist die Betrachtung zu simpel, da sie nicht die komplexen Hintergründe der sozialen Ungleichheit erfasst. Es wird betont, dass es auch eine massive ökonomische und kulturelle Entwertung älterer Mittelschichten gegeben hat, die ausschlaggebend für den Aufstieg populistischer Bewegungen war. Diese Kritik muss differenziert betrachtet werden, um zu vermeiden, dass blind alle liberalen Ansätze als Teil eines gescheiterten Systems abgetan werden.
Der Liberalismus der Furcht
Der Liberalismus der Furcht fordert eine Sensibilität für die Erfahrungen von Verwundbarkeit und die Schrecken, die Menschen erleiden. Er stellt einen Gegentrend zu einer vereinfachten Sichtweise dar, die Identitätspolitik nur als ein persönliche Selbstverwirklichung betrachtet. Stattdessen geht es darum, grundlegende Rechte durchzusetzen und darauf hinzuarbeiten, dass alle Menschen, auch die Schwächsten, gehört werden. Der Fokus liegt auf dem Zuhören und der Anerkennung von individuellen Erfahrungen, die zuvor ignoriert oder nicht gewürdigt wurden.
Krise der demokratischen Institutionen
Die Krise des Neoliberalismus wird auch als Krise der Demokratie und ihrer vermittelnden Institutionen identifiziert, insbesondere in Bezug auf Parteien und Medien. Diese Institutionen haben in den letzten Jahren an Bedeutung und Einfluss verloren, was zu einer politischen Fragmentierung und einem Verlust des öffentlichen Vertrauens geführt hat. Der Rückzug in persönliche Blasen sozialer Medien hat außerdem die Immunisierung gegen andere Perspektiven verstärkt, was die gesellschaftliche Diskussionskultur schädigt. In dieser Situation wird eine stärkere Regulierung von Medien und politischen Parteien als potenzieller Lösungsansatz angesehen.
Solidarität und neue Formen des Zusammenhalts
Solidarität wird als entscheidender Aspekt hervorgehoben, um die erlebten Ungerechtigkeiten in Maßnahmen und Institutionen zu übersetzen. Das Anhören der Schwachen alleine reicht nicht aus; es muss auch ein kollektives Handeln und ein Bewusstsein für gegenseitige Unterstützung entstehen. Dies erfordert neue Organisationsformen und ein Umdenken in Bezug auf soziale Bewegungen und Gewerkschaften, da traditionelle Ansätze nicht mehr die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft erfüllen. Es wird betont, dass die Herausforderungen, die mit Neoliberalismus und Populismus verbunden sind, nur gemeinsam und solidarisch überwunden werden können.
Wie kann ein Leben ohne Furcht vor sozialem Absturz gedacht werden? Mit Starautor Jan-Werner Müller spricht die Philosophin und FALTER-Kolumnistin Isolde Charim über Müllers neues Buch „Furcht und Freiheit“.
Dieser Podcast ist ein Mitschnitt der Veranstaltung im Kasino des Wiener Burgtheaters vom 29. Jänner 2020.