#606 - Soziologe Oliver Nachtwey über Querdenken & die neoliberale Gesellschaft
Nov 7, 2022
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Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel und Autor des Buches 'Gekränkte Freiheit', beleuchtet die tiefgreifenden Auswirkungen des Neoliberalismus auf die deutsche Gesellschaft. Er diskutiert die Tragödie der neoliberalen Wende, die Ausbeutung in modernen Arbeitsverhältnissen und die Rolle der Gewerkschaften. Zudem analysiert er die vielfältigen Dynamiken der Querdenken-Bewegung und kritisiert das autoritäre Syndrom, während er Einblicke in die Herausforderungen der sozialen Absicherung bietet.
Oliver Nachtwey thematisiert die Ausbeutung im Kapitalismus und die weitreichenden sozialen Ungerechtigkeiten, die viele Berufe betreffen.
Er kritisiert die neoliberale Wende als wesentlichen Faktor für den Niedriglohnsektor und die Polarisierung zwischen Arm und Reich.
Nachtwey betont die Verantwortung von Sozialwissenschaftlern, die gesellschaftlichen Missstände zu erforschen und eine informierte Zivilgesellschaft zu fördern.
Die Querdenken-Bewegung wird als Reaktion auf Vertrauenskrisen in Institutionen und die individualisierte Wahrnehmung von Freiheit betrachtet.
Soziale Integration und Solidarität werden als entscheidend angesehen, um autoritären populistischen Tendenzen entgegenzuwirken und soziale Spaltungen zu überwinden.
Deep dives
Interesse an gesellschaftlicher Ordnung
Der Gesprächspartner betont sein Interesse an gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Ungerechtigkeiten, insbesondere an den Orten, wo Menschen aktiv gegen übersehene Missstände kämpfen. Er möchte aufdecken, wie gesellschaftliche Normalitäten außer Kraft gesetzt werden und wo echte Schaffenskraft stattfindet. Die Thematisierung von Berufen in prekären Verhältnissen, wie etwa den Widersprüchen im Pflegebereich während der Pandemie, verdeutlicht, dass diese normalerweise stimmlosen Gruppen Gehör finden sollten. Er sieht seine Rolle als Soziologe darin, diese Geschichten sichtbar zu machen und für Veränderung einzutreten.
Kapitalismus und Ausbeutung
Die Diskussion thematisiert die fortwährende Ausbeutung unter dem Kapitalismus und wie diese in der Gesellschaft weitgehend ignoriert wird. Der Gesprächspartner argumentiert, dass auch sozial bessergestellte Berufe, wie in der Werbung oder Führungsebenen, ebenfalls von Ausbeutung betroffen sind, obwohl ihre Mitglieder oft nicht die negativen Aspekte wahrnehmen. Dies führt dazu, dass die Mehrheit der Gesellschaft in unterschiedlichen Graden von Prekarität betroffen ist, was zu einer Polarisierung zwischen Arm und Reich beiträgt. Der Soziologe will verstehen, wie diese Ungerechtigkeiten funktionieren und welche Möglichkeiten der Veränderung bestehen.
Veränderungen in der Gesellschaft
Der Wandel der Gesellschaft wird anhand von politischen Bewegungen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen seit den 90ern analysiert. Der Gesprächspartner reflektiert über die Herausforderungen, mit denen die Sozialdemokratie konfrontiert ist und wie sich das politische Spektrum verändert hat. Insbesondere die neoliberale Wende stellt eine Tragödie für die deutsche Gesellschaft dar, da sie zur Schaffung eines weit verbreiteten Niedriglohnsektors beigetragen hat. Der Rückblick auf die Veränderungen seit der Wende hilft dabei zu erkennen, wie historische Entscheidungen langfristige Folgen für soziale Schichten haben können.
Kritik an der sozialen Ungleichheit
Im Gespräch wird die Diskrepanz in der Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit thematisiert, insbesondere wie diese in der politischen Rhetorik behandelt wird. Der Soziologe kritisiert, dass die herrschende Diskussion oftmals die moralischen Aspekte der Ausbeutung in den Hintergrund drängt, während analytische Ansätze in den Vordergrund gerückt werden sollten. Die Verbindung zwischen der Wahrnehmung individueller Erfolgsgeschichten und der tatsächlich herrschenden Realität wird als besonders bedenklich betrachtet. Eine Gesellschaft, die zu wenig über die Ursachen ihrer Probleme reflektiert, bleibt anfällig für autoritäre Strömungen.
Die Rolle der Sozialwissenschaften
Die Verantwortung von Sozialwissenschaftlern in der Gesellschaft wird thematisiert, insbesondere die Bedeutung, ihre Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen, ohne sich in aktivistischen Positionen zu verlieren. Der Soziologe betont, dass es seine Aufgabe ist, diese entscheidenden gesellschaftlichen Fragen zu erforschen und transparent zu kommunizieren. Die Entwicklung einer kritischen Haltung gegenüber sowohl sozialen Missständen als auch den Reaktionen der Gesellschaft darauf ist entscheidend für die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Wissenschaftliche Ansätze sollten als Grundlage für den gesellschaftlichen Diskurs dienen und eine aktive, informierte Zivilgesellschaft fördern.
Die Querdenkerbewegung
Im Kontext der Querdenkerbewegung beschreibt der Soziologe, wie sich progressive Milieus in diese Bewegung verwandeln können und welche sozialen Ängste dabei eine Rolle spielen. Die empirischen Daten zeigen, dass ein mangelndes Vertrauen in Institutionen und eine individualisierte Wahrnehmung von Freiheit und Sicherheit dazu führen können, dass Menschen sich von ihrem gewohnten sozialpolitischen Rahmen entfernen. Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass diese Menschen nicht unbedingt als extrem rassistisch oder faschistisch gelten, sondern eher aus einer Krise des Vertrauens heraus agieren. Dies graben tiefe Gräben zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und setzt konservative und liberale Werte in Frage.
Zukunft der sozialen Bewegungen
Die Perspektive auf die zukünftige Rolle sozialer Bewegungen und deren Rahmenbedingungen wird intensiv betrachtet, insbesondere vor dem Hintergrund einer drohenden Klimakrise. Der Gesprächspartner hebt hervor, dass gesellschaftlicher Wandel oft aus einem Gefühl der Dringlichkeit entsteht, das kollektive Handeln als notwendig erachtet. Die Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen müssen kritisch hinterfragt werden, um Gleichgewicht und nachhaltige Lösungen zu finden. Der Erkenntnisgewinn über gesellschaftliche Prozesse kann dabei als Wegbereiter für effektive und gerechte Veränderungen dienen.
Inflation und soziale Gerechtigkeit
Im Gespräch wird auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und deren Einfluss auf soziale Ungleichheiten eingegangen, insbesondere im Kontext der Inflation und der steigenden Lebenshaltungskosten. Der Soziologe argumentiert, dass die Reichen von der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation profitieren, während die soziale Gerechtigkeit ernsthaft gefährdet ist. Diese Kluft zwischen verschiedenen sozialen Klassen hat das Potenzial, zu weiteren gesellschaftlichen Spannungen zu führen. Richterliche Eingriffe und staatliche Interventionen könnten notwendig sein, um soziale Ausgewogenheit und Gerechtigkeit herzustellen.
Medien und öffentliche Wahrnehmung
Die Rolle der Medien in der politischen Diskussion wird kritisch betrachtet, insbesondere wie sie zu einer Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung beitragen können. Der Soziologe weist auf die Gefahr hin, dass sensationelle Berichterstattung und ein einseitiger Fokus auf Konflikte dazu führen, dass wichtige Themen und konstruktive Kritik untergehen. Die Darstellung von sozialen Bewegungen muss differenzierter und nuancierter erfolgen, um eine fundierte gesellschaftliche Debatte zu ermöglichen. Dieser Umstand fordert sowohl von den Medien als auch von der Öffentlichkeit in Zukunft mehr Verantwortungsbewusstsein und Reflexionsfähigkeit.
Der Weg zu mehr sozialem Zusammenhalt
Der Gesprächspartner schließt mit der Überlegung, dass eine stärkere soziale Integration und Solidarität in der Gesellschaft unbedingt erforderlich sind, um dem aufkommenden autoritären populistischen Trend entgegenzuwirken. Das Schaffen eines gemeinsamen Narrativs und die Wiederbelebung von sozialer Teilhabe führen dazu, dass Menschen sich wieder als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Politische Maßnahmen sollten darauf abzielen, soziale Spaltungen zu überwinden und einen inklusiven Rahmen für alle Bürger zu gewährleisten. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass gesellschaftliche Entscheidungen transparent und partizipativ getroffen werden.
Politik für Desinteressierte
Zu Gast im Studio: Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey. Er ist seit 2017 Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. Für sein Buch "Die Abstiegsgesellschaft" (2016) erhielt Nachtwey 2017 den von der Friedrich-Ebert-Stiftung vergebenen Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik. Sein aktuelles Buch (zusammen mit Carolin Amlinger) heißt "Gekränkte Freiheit - Aspekte des libertären Autoritarismus" (Suhrkamp Verlag, 2022)
Ein Gespräch über die neoliberale "Tragödie" für Deutschland, Abbau des Sozialstaats, Ausbeutung, Rolle der Gewerkschaften, die historische Linie der SPD, Olivers Werdegang, Studium und Soziologie, das Untersuchen und die Befragung der Querdenken-Bewegung, der "Drift ins Autoritäre", Libertarismus, Liberalismus, Faschismus und die künftige Vermeidung von Bürgerkrieg + eure Fragen
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