

Tim Guldimann - Debatte zu Dritt
Tim Guldimann
Der Podcast von Tim Guldimann nimmt aus Politik und Gesellschaft relevante Fragen auf, die über die Tagesaktualität hinausgehen. Die prominenten Gesprächspartner – jeweils eine Frau und ein Mann – sind selbst im Themenbereich aktiv tätig. Monatlich werden laufend zwei neue Debatten aufgenommen. Tim Guldimann leitete Friedensmissionen im Kaukasus und Balkan, war Schweizerischer Botschafter in Teheran und Berlin und war danach bis 2018 Schweizerischer Parlamentsabgeordneter.
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Jan 23, 2023 • 46min
“Können Gesellschaften aus der Geschichte lernen?” - mit Durs Grünbein und Eva Menasse
Wenn Gesellschaften aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur beschränkt gelernt haben, wie können wir uns einbilden, mit den aktuellen Krisen adäquat umgehen zu können? - Über die Frage der Lernfähigkeit von Gesellschaften diskutiere ich mit der Schriftstellerin Eva Menasse und dem Dichter Durs Grünbein.Durs Grünbein machte in den letzten Jahren hinsichtlich des „zentralen Abgrunds des 20. Jahrhunderts, Auschwitz“, eine neue Erfahrung, nämlich: „einerseits sterben die letzten Zeugen“, andererseits sieht er eine grosse Gefahr (..) in einer Neutralisierung der Geschichte, (..) dass eine Menge anderer Diskurse ins Spiel kommen“ und „die Gegenstände gegeneinander aufgehoben werden“. Für Eva Menasse „verhält es sich mit dem Lernen aus der Geschichte ähnlich wie mit vielen andern menschlichen Fähigkeiten, dass sie nur eine Zeit lang anhalten“. „So werden die Lehren aus der Geschichte von Gesellschaften über ein zwei, vielleicht drei Generationen aufgenommen (..) Und dann kommen wieder andere Sachen hoch.“Auf die generelle Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, sagt Menasse „Deutschland hat etwas gelernt“ und sei „auf eine erstaunliche Weise im Moment noch immun gegen (..) den Zerfall, gegen diese demokratischen Karies und das kann ich mir nicht anders erklären als mit der Impfung, dass drei Generationen durch das tiefe Tal gehen mussten: Was haben wir in der Weltgeschichte angerichtet?“Kann die Realität heute unter dem Einfluss der Sozialen Medien überhaupt noch richtig wahrgenommen werden, um daraus lernen zu können? Für Eva Menasse ist „für das allermeiste, was wir heute an politischer und gesellschaftlicher Verunsicherung und Extremisierung erleben, direkt zurückzuführen auf die Phänomene der digitalen Moderne (..) Das, was seit ungefähr 2008 über die Welt hereingebrochen ist durch die digitale Massenkommunikation, (..)ist bis heute nicht verstanden worden." Dieser Prozess zerstöre Kommunikation und Diskurs. Dabei werden die Menschen durch die Informationsflut "wahnsinnig überfordert".„Information selber wird zu einem Gift“. Die Folgen seien eine Verunsicherung, eine Wut und eine Unruhe, und daraus eine „kollektiven Skepsis, dass man niemandem irgendetwas glauben muss und dass es Wahrheit vielleicht gar nicht mehr gibt“. Ihr Beispiel sind „die grassierende Impfgegnerschaften“ und daraus die Erkenntnis eines Immunologen: „Wenn es in den Sechziger- und Siebzigerjahre schon die sozialen Medien gegeben hätte, dann hätten wir die Pocken nicht ausgerottet“.Dagegen hält Grünbein, dass es die Wahrheit nach wie vor gebe, sie sei uns nicht abhanden gekommen. Wir wissen zwar nicht, welche Auswirkungen die digitale Moderne auf die Demokratie habe, selbst wenn „die Begründer des Internets in einem Manifest“ bekennen mussten: „Es ist alles schiefgegangen, sorry“. Trotzdem bleibe er optimistisch, weil man das, „was die Propaganda der Wahrheit entgegenstellt, immer wieder durchkreuzen kann durch Aufklärung. Ich glaube weiterhin daran.“ Dagegen ist Menasse „viel, viel pessimistischer“, weil „wir an einem Zeitpunkt angelangt sind, wo die Gesellschaft viel geschichtsvergessener und geschichtsblinder ist, als je zuvor“. Dem stimmt Grünbein insofern zu, dass er heute die „Hauptkrise in den Akademien, in den Schulen“ verordnet, die mit der Wahrheitsvermittlung überfordert sind.Trotzdem ist beiden der Optimismus nicht abhanden gekommen, Grünbein: „ich sehe durchaus einen Sinn in der Geschichte, der erschließt sich erst später (..) und dann ist die Bilanz nicht so negativ.p.s. Korrektur: Bundespräsident Delamuraz sagte 1996: "Auschwitz liegt nicht in der Schweiz" - das war nicht 1986.

Dec 31, 2022 • 50min
Hat die schweizerischer Neutralität Zukunft? - mit Sarah Wyss und Paul Widmer
Können wir angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine neutral bleiben? Darüber diskutiere ich mit der Nationalrätin Sarah Wyss und dem Publizisten und ehemaligen Botschafter Paul Widmer.Für Sarah Wyss ist „die Neutralität ein Teil unserer DNA“. Sie plädiert für eine„aktive Neutralität“. Paul Widmer widerspricht: „Der erste Sinn der Neutralität ist nicht, dass man aktiv ist (..), sondern dass man sich einer Entscheidung enthält“ und dass „der Staat als solcher nicht (..) seine Ansichten zur Kenntnis gibt“. - „Aber wenn man nichts sagt“, entgegnet Wyss, beziehe „man am Schluss auch als Staat eine Position(..) Wenn Völkerrecht mit den Füssen getreten wird und der Staat schweigt (..), dann nimmt er Position“. Die Schweiz könne sich im Sinne der Neutralität an Wirtschaftssanktionen beteiligen, wofür mittlerweile ein breiter politischer Konsens bestehe. Paul Widmer ist dagegen; er wird auch die entsprechende Verfassungsinitiative von „Pro Schweiz“ und der SVP unterstützen. Er plädiert für die traditionelle Position des „Courant normal“, der lediglich Umgehungsgeschäfte verhindere, von der Regierung aber besser erklärt werden müsse.Angesichts der schweizerischen Teilnahme an den EU-Sanktionen fragt sich Widmer: „Ist denn nicht etwas völlig falsch gelaufen, wenn der amerikanische Präsident und der russische Präsident beide zusammen sagen, die Schweiz sei nicht mehr neutral?“ und wenn die Presse in beiden Ländern behauptet, „die Schweiz habe ihre Neutralität aufgegeben. Wir haben versagt da !“ – Dagegen argumentiert Wyss, der Bundesrat habe sich den Sanktionen angeschlossen, „weil er eben nicht Steigbügelhalter sein wollte für Umgehungsgeschichten. Und das hat es gegeben 2014, als Oligarchengelder in die Schweiz hereingekommen sind, in Milliardenhöhe. Wenn wir das weiterhin erlauben würden, wären wir nicht neutral.“Aber ist es so schlimm, wenn uns Moskau nicht mehr als neutral betrachtet? „Natürlich ist es schlimm“, so Paul Widmer, „wenn Russland und auch Indien finden, die Schweiz sei nicht mehr neutral, dann darfst du nicht mehr darauf zählen, dass die Neutralität erfüllt, was sie muss, nämlich dass die andern glauben, du würdest dich neutral verhalten in einem Konflikt“. Die Frage der Glaubwürdigkeit – so Wyss – stelle sich aber nicht nur in Moskau, sondern vor allem in der europäischen Nachbarschaft, und diese erwarte Solidarität. Hier ist mit dem Ukrainekrieg ein neuer Gegensatz zwischen Neutralität und Solidarität aufgebrochen.Wenn sich aber heute - im Gegensatz zur Entstehungsgeschichte der Neutralität – das ausländische Interesse an der Neutralität nicht mehr nachweisen lässt, wie begründen wir dann unser Interesse an der Neutralität? Wir müssen – so Widmer – zeigen, dass sie nützlich sei für uns, wir müssen aber auch zeigen, dass sie „ein sinnvolles Element in der Friedensordnung in der Welt ist, solange es die kollektive Sicherheit nicht gibt“. – Für Sarah Wyss hingegen lässt sich der erwähnte Gegensatz dadurch überwinden, „dass die Neutralität auch mit der Solidarität zu vereinbaren ist, wenn wir sie nicht ganz so eng definieren“. In der Frage der Wiederausfuhr schweizerischer Munition plädiert Wyss aber streng friedenspolitisch für eine enge Definition der Neutralität, während Widmer das Wiederausfuhrverbot von Kriegsmaterial nicht für zweckmäßig hält.Ein neutralitätspolitisches Problem dürfte sich in Zukunft in der Europapolitik daraus ergeben, dass Art. 42 der europäischen Verfassung von EU-Mitgliedstaaten Solidarität im militärischen Konflikt verlangt. Deshalb liesse sich eine EU-Beitrittsdiskussion innenpolitisch nur mit einer sehr flexiblen neutralitätspolitischen Haltung führen oder, was Widmer bestätigt, Art. 42 wird ein wichtiges Argument gegen den Beitritt, ganz abgesehen vom Ziel der gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Wyss hingegen sieht hier keinen Widerspruch, weil Art. 42 dank seinem Absatz 7 die bestehende Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Dec 20, 2022 • 50min
Opfern wir die Menschenrechte wirtschaftlichen und politischen Interessen? - mit Wenzel Michalski, Human Rights Watch, und MdB Derya Türk-Nachbaur
Über die Menschenrechte in Politik und Wirtschaft diskutiere ich mit der Bundestagsabgeordneten Derya Türk-Nachbaur und Wenzel Michalski, dem Deutschlanddirektor von Human Rights Watch.Gefragt, ob er mit seiner Arbeit etwas bewirke, sagt Michalski: “ich denke schon, die Tatsache, dass Menschenrechte in der öffentlichen Debatte in den letzten Monaten so im Vordergrund stehen (ist) bei allen negativen Entwicklungen eine positive Facette, (weil) Menschenrechte doch ernster genommen werden in Wirtschaft, in Politik, in Gesellschaft.” Bei Unternehmern gebe es “in weiten Teilen ein Umdenken, nicht so bei den ganz grossen, BASF, VW oder auch Siemens, die vor allem jetzt noch mal richtig viel Geld in China verdienen wollen und dabei auf die Menschenrechte pfeifen”. Er höre aber auch “positive Signale, wie zB vom Bundesverband der deutschen Industrie”.Die Frage, ob die Fortschritte im öffentlichen und politischen Bewusstsein für die Menschenrechte reversibel seien, verneint Türk-Nachbaur: “Wer einmal MR genossen und geschmeckt hat, gibt sie nicht freiwillig wieder her. Die Wachsamkeit der ganzen globalen Gesellschaft, ist doch so, dass man auf Menschenrechte pocht,” dabei “sind es die Frauen, die sich organisieren und Widerstand leisten.”Sind wir für die Energieversorgung nicht abhängig von menschenrechtlich dubiosen Staaten, wenn Wirtschaftsminister Habeck in den Golf oder BK Scholz nach Saudi-Arabien reist?. “Da muss ich schon sagen”, so Michalski, “dass dort die MR leichtfertig unter den Tisch gekehrt worden ist, (..) Wir sehen ja, was passiert, wenn wir das tun. Wir haben das jahrelang mit Russland gemacht, jahrelang hat man weggeschaut”. Dagegen wendet Türk Nachbaur ein: “Wir sind weltweit vernetzt und Deutschland agiert nicht in einem Vakuum (..) Wir können uns unsere Handelspartner nicht immer aussuchen und manchmal muss man diese Kröte schlucken, (..) um kurze Überbrückungen in der Energieversorgung zu gewährleisten”.Zum Lieferkettengesetz meint Michalski: “ich glaube es hat eingeschränkte Wirkung”, heute “ist es zu schwach, einzelne Firmen können nicht zur Verantwortung gezogen werden von den Opfern” und “die Bundesregierung kämpft jetzt gerade” gegen eine Verschärfung. Nach den Erfahrungen mit Russland stellt sich die Menschenrechts- frage besonders gegenüber China im Falle eines Angriffs auf Taiwan, dazu verlangt Türk-Nachbaur, “dass man jetzt schon die Sachen auf die Schiene bringt, um die Unabhängigkeit zu fördern, (das gehe) aber nicht von jetzt auf gleich”. Und Michalski wendet ein: “Aber wir wollen ja verhindern, dass der GAU passiert, deswegen müssen wir die Menschenrechte von Anfang an noch ernster nehmen.”Was für Michalski aus menschenrechtlicher Sicht vielleicht “effektiver ist (..), ist die internationale Strafgerichtsbarkeit.(..) Wir haben in Deutschland ein wunderbares Mittel, nämlich das Weltrechtsprinzip, das Völkerstrafrecht, das bedeutet, dass ich einen (..) Folterer, einen General oder einen Staatsmann festnehmen kann, wenn er in Deutschland ist, der woanders eine Straftat begangen hat, und vor ein deutsches Gericht gestellt wird”.Die Frage, ob Menschenrechte global mehr als früher akzeptiert werden, bejahen beide Gesprächspartner. Die Behauptung, es handle sich eine westliche Erfindung , sei nur eine Rechtfertigung der Repression autoritärer Regime. Und beide sind für die Zukunft optimistisch - Michalski: “Was wir jetzt sehen, ist eine Reaktion auf die Macht der Menschenrechtsbewegung, (..) in Russland, in Ägypten, in China” geht es um den “Aufstand der alten Männer, die mit dem Rücken zur Wand stehen und danach kommt etwas besseres”. Auch Türk Nachbauer ist sehr optimistisch, “es ist das letzte Aufbäumen einer verzweifelten Elite, die jahrelang Macht missbraucht hat und die Revolution wird sich nicht aufhalten lassen”.

Nov 30, 2022 • 56min
Führt der Ukrainekrieg zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur? - mit Jana Puglierin und Roderich Kiesewetter
Mit Jana Puglierin, der Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, und Roderich Kiesewetter, Mitglied des Bundestages und früherer Generalstabsoberst der Bundeswehr, diskutiere ich über die europäische Sicherheitspolitik nach dem 24. Februar. Beide Gesprächspartner begründen, warum für sie der russische Überfall keine Überraschung war. Die in Berlin verkündete Zeitenwende habe, so Kiesewetter, für Estland schon 2007 stattgefunden und „was mich dann 2014 politisch so entsetzt hat, war unsere deutsche Antwort auf (..) die Besetzung der Krim: Northstream II (..) Unsere Politik war sehr stark wirtschaftsgetrieben, Wandel durch Handel“. Dagegen sei der 24. Februar „ein heilsamer Schock“ gewesen.Auf die Frage, ob dieser Schock dazu führen kann, Osteuropa aktiver in die Sicherheitspolitik einzubeziehen, antwortet Kiesewetter, es herrsche „in Deutschland (..) eine Art Russlandromantik“, andere Prioritäten hätten verhindert, „die Sicherheitswahrnehmung der Osteuropäer zu verstehen“. In der europäischen Antwort auf den Krieg zeige sich, so Puglierin, dass sich „aus Mittel- und Osteuropa (..) ein neues Gravitationszentrum gebildet hat, (..) aus Polen, aus Tschechien und den baltischen Staaten, auch unterstützt von Finnland, Schweden und Dänemark“, die in einer harten Haltung gegenüber Russland „immer viel mehr wollten“ bei „ganz viel Blockade, Zögern und Abmildern von Deutschland und Frankreich (..) Aber dennoch hat die EU ganz erstaunlich geschlossen reagiert und hat eine Angleichung der Bedrohungswahrnehmung vorgenommen“, vor allem in der Sanktionspolitik und in der gemeinsamen Finanzierung von Waffenlieferungen an die Ukraine.Auf die Frage, ob für eine andäquate Sicherheitsarchitektur die europäische Integration insbesondere durch Mehrheitsentscheide in der EU vertieft werden könnte, sagt Puglierin, dass es „schon immer grosse Resentiments gerade in Mittel- und Osteuropa gegenüber einer Vergemeinschaftung der Sicherheits und Verteidigungspolitik“ gegeben habe. "Ich sehe die EU in Zukunft viel mehr im Bereich Krisenmanagement gefordert, als im Bereich der Verteidigungspolitik“. Für Puglierin kann Europäische Sicherheit „auf absehbare Zeit nicht mit Russland gestaltet werden.“ Aber heute sei noch zu viel im Fluss, deshalb „ist es zu früh, heute schon mit fertigen Lösungen, Modellen zu kommen.(..) Es geht jetzt darum, dass dieser Krieg so endet, dass Russland nicht gestärkt daraus hervorgeht. (..) Es geht jetzt um Krisenmanagement.“ Ist es möglich, die heutige Sicherheitspolitik gegen Moskau einmal in eine Sicherheit mit Moskau zu überführen ? „Es sind ja viele Signale gesetzt worden mit der Reisediplomatie vor dem Krieg“, so Kiesewetter, und danach „mit einer Reihe von Angeboten“, dann aber seien die russischen Kriegsverbrechen gekommen und „die Signale aus Russland, dass Moskau noch keinen Wert auf Verhandlungen legt“.Für die Zukunft hält Puglierin es „für ganz wichtig, dass wir als Europäer die gemeinsame Sicht auf Russland beibehalten“, dabei dürfen wir „nicht wieder den Fehler machen“, das Sicherheitsinteresse von Mittel- und Osteuropa „zu ignorieren. (..) Wir brauchen eine europäisch abgestimmte Russlandpolitik“.

Nov 9, 2022 • 46min
„Wie erklären sich die Sympathien islamischer Länder für Putins Angriffskrieg?“ – mit Isabelle Werenfels und Reinhard Schulze
Der russische Angriff auf die Ukraine wird nicht von allen, sondern nur vom Westen verurteilt. Für unsere Nachbarregion stellt sich deshalb die Frage: „Wie erklären sich die Sympathien islamischer Länder für Putins Angriffskrieg?“ – Darüber diskutiere ich mit der Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels der Stiftung Wissenschaft und Politik (Berlin) und dem Islamwissenschaftler Reinhard Schulze (Uni Bern).Isabelle Werenfels musste bei ihrem letzen Besuch in der Region feststellen, „dass die Sichtweise auf den Krieg sehr anders gelagert war, als ich mir das vorgestellt hatte, weil russische Narrative selbst von Intellektuellen übernommen werden“. Dies sieht Reinhard Schulze in der palästinensischen Öffentlichkeit darin bestätigt, dass mehrheitlich das alte Bild der „Sowjetunion, die befreit, übertragen wird auf Russland in einer anti-amerikanischen Haltung“. Trotzdem muss die pro-russische Haltung je nach nationalem Kontext differenziert werden: In Algerien, so Werenfels, sei sie „in der Öffentlichkeit und der Regierung fast deckungsgleich“, in andern Staaten jedoch, „wo die Islamisten stärker sind“ seien die Sympathien für Russland geringer „aufgrund dessen, was in Syrien passiert“. Im Nahen Osten vertreten, so Schulze, die Regierungen und die grossen regionalen TV-Kanäle in der Abwehr gegen den Iran antirussische Positionen, während die Bevölkerung „die russische Position gleichsetzt mit der Sowjetunion als antiimperialistischer Befreiungskämpfer (..). Mit einer Wiederbelebung dieser alten anti-westlichen Bilder versuche Putin in der neuen multipolaren Welt, „so etwas zu sein, wie ein Anti-Napoleon, der der Welt eine neue Ordnung bringt“.Das überzeuge ideologisch zwar nicht und Putin finde persönlich als „Mann der Geheimdienste“ keine Beliebtheit in der Bevölkerung . Trotzdem begründen sich die Sympathien gegenüber Russland auch darin, dass sich die Regierungen nicht pro-westlich festlegen wollen, sondern in ihrem zentralen „Interesse der Herrschaftssi-cherung“ kurzfristig und flexibel ihrem „Deal Denken“ folgen und „eine grosse Diversifizierung ihrer Aussenbeziehungen“ anstreben. Zusätzlich schaffe das autoritäre Herrschaftssystem in Saudi Arabien und in einer ganzen Reihe anderer Staaten gemeinsame Interessen mit Russland, das „als Akteur nicht verprellt“ werden soll. Ebenso passe, so Werenfels, „die zunehmende Militarisierung der nahöstlichen Gesellschaften sehr viel besser zu einem russischen als zu einem westlichen Modell“. Ein anhaltender Ukraine-Krieg könnte aber, so Schulze, „zu einer weitgehenden Veränderung der politischen Situation“ führen: „In der islamisch-arabischen Öffentlichkeit wird immer stärker wahrgenommen, was der Kern dieses Konfliktes ist“, der „auch im Nahen Osten existiert, es geht vornehmlich um die Frage der Souveränität: Wem gehört die Nation? (..) Wer ist der Souverän in einem Staat? (..) Die Idee, die die Ukraine repräsentiert, nämlich dass die Bevölkerung selbst der Souverän ihrer eigenen Staatlichkeit ist (..), diese Grundidee wird sich auch in den nahöstlichen Ländern verankern und zeige sich bereits im Irak und aktuell im Iran, zumal die Vergangenheit als Referenzpunkt ihre Bedeutung verliere. Werenfels ist weniger optimistisch, sie sieht eher eine wachsende „Depolitisierung“ und „Verkrustung“ vor allem, wenn der Krieg die wirtschaftliche Krise weiter verschärft.

Oct 23, 2022 • 52min
„Ist die Ostpolitik der SPD gescheitert?“ – mit Rolf Mützenich und Sabine Adler
Mit dem SPD Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich und der Osteuropakorrespondentin Sabine Adler diskutiere ich die Fehler deutscher OstpolitikHistorisch: Schon kurz nach dem 1. Weltkrieg habe, so Sabine Adler, der deutsche Schulterschluss mit Russland das Existenzrecht Polens und anderer osteuropäischer Staaten in Frage gestellt, wo sie ein tiefes, bis heute anhaltendes Misstrauen gegenüber allen deutsch-russischen Absprachen begründete. Für die DDR hatte die deutsch-russische Energiepolitik, so erinnert sich Sabine Adler, ihre besondere Bedeutung darin, dass Zehntausende von DDR-Arbeitern für den Bau der mit Deutschland vereinbarten Pipelines nach Sibirien geschickt wurden und völlig desillusioniert in die DDR zurückkehrten. Die „Freundschaft“ mit Moskau sei für die DDR immer ein „aufgezwungenes Verhältnis“ gewesen. Lernen wir aus politischen Fehlern? Die Energiepolitik hat zu einer enormen Abhängigkeit von Russland geführt, während nach den krassen Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen die klaren Signale gegen den „lupenreinen Demokraten Putin“ (BK Schröder) ausblieben. „Die Korrekturen machen wir ja“, antwortet Mützenich, „der 24. Februar hat die dramatischste Reaktion seit Ende des Zweiten Weltkrieges hervorgerufen. (…) Natürlich sind es Fehler, nehmen wir die Besetzung der Krim“ 2014, aber die Garantiemächte „Russland, die USA und das Vereinigte Königreich, zwei davon auf westlicher Seite, die waren ja auch nicht zu mehr Konsequenzen bereit (..) Wir können nur partnerschaftlich handeln. (..) Wir haben auch in den innenpolitischen Entscheidungen grosse Fehler gemacht haben, wenn wir die (Kontroll-)Möglichkeiten russischer Konzerne auf die Lagerkapazitäten bei Gas“ erlaubt haben. Nach der Annexion der Krim, so Sabine Adler, da habe es „dieses Bemühen, tatsächlich als Europäische Union eine Antwort zu finden“ gegeben „und zwar gemeinsam, (..), aber die dann gemeinsamen verabredeten schnellen Sanktionen waren völlig wirkungslos.(..) Danach hat man nachgelegt, aber das war wieder so häppchenweise.(..) Und dieses Zeichen war verhängnisvoll. Das war für Putin einmal mehr ein Zeichen in die falsche Richtung“. Zuvor war jedoch der 11. September 2001 entscheidend, „da hat Putin etwas Perfides gemacht, er hat als erster bei George W. Bush angerufen und hat gesagt, ich stelle mich an Ihre Seite im Kampf gegen den Terrorismus, nur dass er darunter etwas komplett anderes verstanden hat als der Westen (..): mit aller Gewalt ohne Rücksicht auf Verluste auf von ihm erklärte Terroristen zu reagieren (..) und davon hat sich die internationale Öffentlichkeit blenden lassen und die deutsche Öffentlichkeit noch viel länger und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf. Dann kam es zu dieser Einladung (Putins) in den Bundestag 2001“, der „Ovationen feierte (..) Da ist Schröder wirklich in die falsche Richtung gegangen und der ist nicht gebremst worden (..) auch Merkel hat die Korrektur nicht angezogen“. Aber war es aus früherer Sicht nicht einleuchtend, dass die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland mehr Sicherheit und Stabilität schaffen würde? Dagegen differenziert Sabine Adler: Northstream „war für Russland, für russische Beteiligte eine wundersame Möglichkeit, Geld beiseite zu schaffen, deshalb werden solche Großprojekte auch gemacht. Wir haben dann aber gesehen, dass dieses gemeinsame Projekt Northstream nicht zu einer (..) deutsch-russischen Friedenspolitik geführt hätte (..) es hat die Krise in Georgien nicht verhindert.“ Aber Billiges Gas entsprach damals auch gesellschaftlichen Interessen, Northstream II wurde vereinbart, nachdem der Ausstieg aus der Nuklearenergie und der Kohlekraft beschlossen wurden. „LNG-Gas aus den USA und Katar ist ja auch nicht die erste Wahl gewesen“, so Mützenich und dabei gelte es, „das Dilemma“ zwischen Energie- und Menschenrechtsüberlegungen gegenüber den Lieferstaaten „klar zu benennen, das auch heute fortbesteht“.

Oct 11, 2022 • 47min
„Documenta Kassel, Biennale Venedig, Art Basel – Unterwirft sich die Kunst dem politisch-moralischen Zeitgeist?“ - mit Jacqueline Burckhardt und Raphael Gygax
Diesen Sommer fanden in Kassel, Venedig und Basel gleichzeitig drei international führende Kunstereignisse statt. Beim Besuch fiel mir der fast allgegenwärtige politisch-moralische Zeitgeist auf (Klima, Nord-Süd, Gender, People of Color, LGBTQIA+), daraus die Frage der Debatte.„Also die Kunst unterwirft sich überhaupt nicht“ entgegnet Jacqueline Burckhardt, die Schweizer Kunsthistorikerin. Kurator und Ausstellungsmacher Raphael Gygax pflichtet bei: „Sobald sich die Kunst unterwirft, wird sie zu etwas anderem, zur Illustration“. Ist aber die politisch-moralische Aussage in der Kunst stärker geworden? „Auf alle Fälle“ antwortet Burckhardt, weil es heute um Themen gehe, „die für die KünstlerInnen virulent sind, die sie (..) täglich spüren und auf die reagieren sie (..), es geht um existentielle Anliegen (..) Wir sind heute in einer Situation, die so dramatisch ist, dass es (in der Kunst) sicher darum geht, das zu reflektieren“. „Was aber neu ist“, so Gygax, ist die Globalisierung, „dass man jetzt in der Documenta gesagt hat, wir übergeben das Kuratorium an ein Künstlerkollektiv aus Indonesien“. Zur Globalisierung meint Burckardt "früher war die Welt noch flach, also Amerika-Europa war, 1989 hat sich dann der ganze Globus erweitert.“ Der Kunstmarkt sei sehr heterogen geworden, sagt Gygax, es sei „sehr komplex geworden durch die Gleichzeitigkeit von ganz vielen Dingen, ein bisschen ein Chaosmoment“. So habe er auch die Documenta erlebt. Gegen die Kritik an der Unübersichtlichkeit der Documenta wendet Burckhardt ein: „Man kann gar nicht abschätzen, wie wichtig es für die (Künstlerinnen) ist, die teilgenommen haben, wenn man weiss, unter welchen Umständen sie arbeiten müssen und wie gefährlich es ist in ihrem politischen Umfeld, Künstler zu sein. Dann ist es natürlich toll, dass sie sich hier äussern können. (..) Was der Besucher hier erlebt, ist mir nicht so wichtig, für mich ist wichtig, was die Künstler davon haben.“Zum Geld, ist es der Markt, der bestimmt, was erfolgreich ist, der Markt, der die Qualität eines Kunstwerks bestimmt? Gygax würde „bei einem Kunstwerk immer unterscheiden zwischen dem Symbolwert und dem Marktwert. Idealerweise würde man sagen, das ist genau gleich“. Der Symbolwert bestimme sich auch dadurch, ob man über das Kunstwerk spricht, ob es „diskursrelevant“ sei und das beeinflusse dann auch den Marktwert. Wegen der Unübersichtlichkeit entwickle sich der Kunstmarkt aber zunehmend zu Bubbles, die den Diskurs erschweren. Dazu tragen auch die Social Media bei, die mit der Wahl zwischen Zustimmung oder Ablehnung nur noch polarisieren. Auch darin habe in den letzten 3-4 Jahren eine Brandbeschleunigung im Kunstgeschehen stattgefunden.Leidet die Qualität der Kunst darunter? „Wir sind in einem Moment, wo sich die Dinge krass ändern“ sagt Burckhardt. Sie sieht darin aber keinen Qualitätsverlust und verweist auf die Energie eines Kunstwerkes, die sowohl „für einen speziellen Moment sehr wichtig“ sein könne oder in ihrer Nachhaltigkeit über die Zeit hinweg die Qualität bestimme. So sieht auch Gygax die Qualität von Kunst in ihrer Diskursrelevanz, die momentan oder auch bleibend sein kann. Das könne aber auch gut „Hand in Hand mit dem Markt“ erfolgen, „ich habe nichts gegen den Markt“.Zeigt sich heute eine Verstärkung des politisch-moralischen Imperativs in der Kunst? Gygax „ich würde da widersprechen, es war schon immer so“. Und zu Kassel meint Burckhardt, es gehe dort nicht um die politische Absicht der Künstlerinnen, sondern um ihre eigene Betroffenheit. Die Biennale hingegen sei „ganz anders kuratiert worden“, als „klassische Ausstellung“ im Gegensatz zur Documenta, „die als Plattform Experimente zulässt“, so Gygax, „in Kassel wurden leider durch den Antisemitismus-Skandal „die andern 980 KünstlerInnen tot geschwiegen, (..), über die es sehr viel zu berichten“ gegeben hätte.

Sep 29, 2022 • 48min
Ukrainekrieg: Wie sich die Gesellschaften der früheren „Brudervölker“ entfremdet haben - mit Ina Ruck und Alexander Hug
Mit Ina Ruck, der Leiterin des ARD-Büros in Moskau und Alexander Hug, dem langjährigen Leiter der OSZE-Mission in der Ukraine diskutiere ich als Hintergrund des Krieges das Auseinanderdriften der russischen und ukrainischen Gesellschaft in den letzten Jahren und dabei den wichtigsten Unterschied in der Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft.„Vergleicht uns doch nicht immer mit Russland, wir wollen mit Polen verglichen werden, wir gehören nach Westen“ so Ukrainische Gesprächspartner gegenüber Ina Ruck, die bekräftigt, dass die ukrainische Gesellschaft gar nicht so gespalten sei zwischen dem vermeintlich Russland-freundlichen Osten und dem Rest des Landes. Das hatte sie schon 2012 anlässlich der Fussball-Weltmeisterschaft im ostukrainischen Charkiw erlebt, wo die Massen mit blau-gelben Fahnen ihren Nationalismus zum Ausdruck brachten. Alexander Hug bestätigt das mit seiner Beobachtung, dass er im Osten auch nach fünf Jahren der von Separatisten kontrollierten Verwaltung keine „sichtbare und spürbare Spaltung“ der Gesellschaft feststellen konnte. Die Menschen im Land, unabhängig von ihrer Muttersprache, ob Russisch oder Ukrainisch fühlen sich als Ukrainer, heute mehr denn je.Den wichtigsten Unterschied in der gesellschaftlichen Entwicklung beider Staaten machen die zwei Gesprächspartner darin fest, dass sich vor allem seit 2014 eine ukrainische Zivilgesellschaft herausgebildet hat, was sich darin zeigte, dass „sehr schnell im Herbst (2021) die Organisation der Selbstverteidigung begann. Man konnte sich einschreiben in eine Art Bürgerwehr-Selbstverteidigung. (..) Ich war dann sehr überrascht über die Sicherheit und Bestimmtheit, mit der die Leute es gemacht haben“, so Ina Ruck. Die Bedeutung der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstreich auch Hug: „Ich habe klar gesehen, dass obwohl die Vereidigungskapazität der Regierung anfangs sehr schwach war 2014, die Zivilgesellschaft schon damals sehr stark war. Die hat sich sofort organisiert“, das habe sich, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen gezeigt, unter anderem in der Pandemie, und „zwar so, dass Teile der Zivilgesellschaft eigentliche Staatsaufgaben übernommen haben“. Stärkt oder schwächt der Krieg die rechtsstaatliche-demokratische Entwicklung des Landes? „Das grosse Risiko gerade und die grosse Unsicherheit“ sei, so Ina Ruck „wie es nach dem Krieg weitergeht. (..) Es wird sicher ein völlig neues Land sein (..) und die Macht wird neu verteilt werden“. Die Oligarchen seien die grossen Verlierer im Moment. Alexander Hug ist heute noch optimistisch: „Im jetzigen Zeitpunkt wäre die Zivilgesellschaft stark genug, um eine Machtkonzentration abzufedern (und) mehr Mitsprache einzufordern in einer neuen Ukraine nach dem Krieg“.In den 90er Jahren gab es in beiden Gesellschaften einen demokratischen Hoffnungsmoment, „aber die Russen haben es vergeigt, die Gesellschaft war nicht stark genug um sich gegen die immer autoritäreren Gesellschaftstendenzen zu wehren.(..) Man denkt jedes Jahr, schlimmer wird es nicht, aber es wird immer schlimmer“, sagt Ina Ruck. Heute sei die Mehrheit der Leute für den Krieg, es gebe das Gefühl: „Wir sind die Herrscher eines grossen Reichs und wir wollen dieses Reich zurück“. Gibt es Hoffnungen auf einen Waffenstillstand? - Ina Ruck: „Ich sehe auf beiden Seiten das Interesse nicht“, Selenski und Putin stehen unter Druck, „Putin kann sich einen Waffenstillstand gar nicht leisten, der Druck von rechts ist gerade sehr gross“.Damit ist Pessimismus angesagt. (Diese Debatte wurde kurz vor der russischen Teilmobilmachung aufgenommen, die deshalb nicht berücksichtigt ist).

Sep 7, 2022 • 49min
„Afghanistan: Das Desaster der westlichen Intervention – Was tun?“ - mit Katrin Eigendorf und Thomas Ruttig
Das Debakel des überstürzten Abzugs der Ausländer aus Kabul, die schrecklichen Bilder vom Chaos am Flughafen vor einem Jahr waren nur der jämmerliche Schlusspunkt eines zwanzigjährigen Versagens westlicher Interventionspolitik. Darüber diskutiere ich mit der deutschen Fernsehjournalistin Katrin Eigendorf und dem Afghanistanspezialisten Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Die Bilder der öffentlichen Erschießung einer Afghanin im Sportstadium von Kabul prägten das Afghanistanverständnis von Katrin Eigendorf, die sich besonders mit dem Schicksal der Frauen im Land befasst hat. Die letzten zwei Jahrzehnte westlicher Politik hält sie für ein „komplettes Desaster“, dem im besten Fall wenige „Kollateralerfolge“ zuerkannt werden könnten: Frauen seien heute selbstbewusster und versuchen ihre verbesserte Bildung in „Untergrundschulen“ an Mädchen weiterzugeben, denen der Schulbesuch verboten werde. Seitens der Interventionsstaaten habe es „überhaupt keine Strategie“ gegeben, man habe lediglich „Geld hineingeschüttet“, um sich Sicherheit bei den Warlords zu kaufen, die schon vorher „das Land ins Chaos gestürzt hatten.“ Dem Argument der fehlenden Strategie widerspricht Ruttig, es habe sehr wohl eine Strategie der Demilitarisierung des Landes gegeben, die an der Bonner Konferenz Ende 2001 verabschiedet worden sei, dann aber nicht befolgt wurde. Die Warlords hätten damals vor dem "Vitamin B 52“ der strategischen US-Bomber gezittert, bis sie merkten, dass die Ankündigung ziviler und demokratischer Reformen gar nicht ernst gemeint war. Was kann der Westen heute angesichts der sich verschärfenden humanitären Katastrophe im Land tun? Mit den Taliban zusammenarbeiten? Ruttig äußert sich vorsichtig positiv über die aktuelle humanitäre Politik auf tiefem Niveau, wofür Kontakte mit den Taliban nicht zu vermeiden seien, ohne aber deren Regierung anzuerkennen. Eigendorf plädiert für mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem Regime. Auch wenn keine Verbesserung der Frauenrechte zu erwarten seien, sollte zB die Nahrungsmittelabgabe an den Schulbesuch gebunden werden. Die Taliban wissen, dass sie ohne westliche Hilfe das Überleben der Bevölkerung nicht garantieren können und seien deshalb auch offen gegenüber westlichen Journalisten. China und Russland haben für den Wiederaufbau nichts zu bieten. Das Land einfach seinem Schicksal zu überlassen, sei - schon gar angesichts der westlichen Verantwortung für die heutige Katastrophe - keine Option.

Jul 24, 2022 • 54min
„Hass im Netz - Was können wir tun?“ - mit Renate Künast und Hasnain Kazim.
Über die Frage, was man gegen Hass und Aggression in sozialen Netzwerken tun kann, diskutiere ich mit Renate Künast, Mitglied des deutschen Bundestages und frühere Bundesministerin, und dem deutschen Publizisten Hasnain Kazim.Hasnain Kazim schrieb zum Thema ein Buch ("Post von Karlheinz" und erhielt schon als 16-jähriger die ersten Hassbriefe. Seit dem Ratschlag seiner Lehrerin „Lass dich nicht einschüchtern“, sagt er sich: „ich lasse die nicht gewinnen, ich halte nicht meinen Mund“. Für Renate Künast gilt seit ihrer Erfahrung als Sozialarbeiterin im Berliner Männerknast das Judoprinzip, die aggressive Energie auszunützen, um sie zurückzugeben. Soll man die Täter mit Respekt behandeln? Gegen Trump und seine Anhänger hatte Michelle Obama gesagt: „When they go low, we go high“. Künast erzählt, wie sie im Bundestag mit ihrem Zwischenruf SPD-Kollegen zurechtgewiesen hat, die vom „Mob“ und „Pack“ der Rechtspopulisten sprachen: „So etwas sagt man nicht !“, denn diese sind danach mit der Losung: „Wir sind das Pack“ auf die Strasse gegangen. Kazim geht weiter in seinen manchmal auch zynischen Reaktionen, in dem er - was er als Marineoffizier gelernt habe - eine „Zielgruppen-gerechte Ansprache“ wähle, sonst finde ja gar keine Diskussion mit diesen Mitbürgern mehr statt. Warum haben die Agressionen im Netz zugenommen? Sind es die technischen Möglichkeiten im Netz oder liegt es an einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft? Künast hält nichts von der Spaltungstheorie. „Als ich jung war, das war eine gespaltene Gesellschaft“, weil die Frauen viel weniger Rechte hatten. Es liesse sich nachweisen, dass alle diese Einstellungen - Rassismus, Homophobie, Islamophobie Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus - früher in der Gesellschaft genauso, wenn nicht noch stärker vorhanden waren. Aber heute haben solche Einstellungen mit den sozialen Medien und der AfD einen Lautsprecher. Dem stimmt auch Kazim zu, „was aber schlechter geworden ist, ist, dass wir heute weltweit Leute an der Spitze von Regierungen haben, Staatschefs, die so reden, Trump, Bolsonaro, Erdogan, le Pen oder Modi“ die zur Reaktion führen: „Wenn die das dürfen, dann darf ich das auch. Es ist in Ordnung so hassvoll zu reden.“Haben Gerichtsklagen eine Chance? Kazim hat das oft versucht, „meistens hat es nichts gebracht. Und wo überhaupt ermittelt wurde, wurden die Verfahren in den meisten Fällen eingestellt.“ Künast hat „massenhaft Verfahren“ angestrengt, „jede Menge die ins Nichts führten“. Doch als das Landgericht Berlin im September 2019, die Beschimpfung der Politikerin als „Drecksfotze“ nicht verurteilen wollte, weil dieser Angriff in einem Sachzusammenhang mit dem politischen Kontext gestanden hätte, zog sie den Fall an das Bundesverfassungsgericht weiter und gewann. Dieses Urteil - „eine Sensation“ so die Organisation „Hateaid“ - stellte vor allem zwei Dinge klar: Erstens die besondere Wirkung des Digitalen, weil etwas in der Masse komme und reproduzierbar sei, und zweitens den Vorrang des öffentlichen Interesses, dass die Persönlichkeitsrechte von Menschen, die sich in öffentlichen Ämtern engagieren, besonders geschützt werden müssen. Das wird die Referenz für künftige Gerichtsentscheide. Künast erwartet deshalb, dass das Landgericht Berlin von Facebook die Herausgabe der Nutzerdaten verfügen wird, was dann eine Zivilklage ermöglicht.Das Netz ist kein rechtsfreier Raum, es ist aber angesichts der rasanten Entwicklung der Technik viel zu oft ein rechtsdurchsetzungsfreier Raum. Fortschritte sind nicht möglich, wenn die Rechtsmittel auch international mit der Entwicklung nicht mithalten. „Die Zukunft der Demokratie wird im Netz entschieden“, so Renate Künast.


