Tim Guldimann - Debatte zu Dritt

Tim Guldimann
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Jul 27, 2023 • 45min

Bedroht der Kampf um Gleichberechtigung die Meinungsfreiheit? – mit Chenoa North-Harder und René Pfister

Mit der deutschen Afro-Amerikanerin Chenoa North-Harder, die an der Schauspielhochschule in Babelsberg studiert, und René Pfister, USA-Korrespondent des SPIEGELs und Verfasser des Bestsellers „Ein falsches Wort“ diskutiere ich, wie im Kampf gegen Diskriminierung liberale Grundsätze verletzt werden können.Ihre eigene Diskriminierung erlebte North-Harder als Identitätskrise: „Für mich war es vor allem in jungen Jahren sehr schwer in Deutschland, weil ich nie dazugehört habe als Kind.(..) Dass die Grundannahme von jedem, der mit mir redet, immer ist, dass ich nicht Deutsche bin, ist einfach verletzend“.Bedeutet Diskriminierung, dass die privilegierten alten weissen Männer diese Diskriminierung gar nicht verstehen können und sich deshalb gar nicht dazu äussern sollen und dürfen? North-Harder hält das für Humbug, denn „durch eure Sichtweisen, könnte ich versuchen zu verstehen, wie es dazu kommt, dass ich erlebe, was ich erlebe (..). Das einzig Wichtige ist aber, dass man verstehen muss, dass man diesen Schmerz nicht nachvollziehen kann, vor allem den systematischen Schmerz, der sich über Generationen zieht“.Soll die  Gleichberechtigung verordnet werden, zB durch das Gendern  in öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und TV-Anstalten, in Zeitungen oder für staatliche Dokumente?  „Wieso denn nicht?“, findet North-Harder, „Ist es so anstrengend zu gendern und dadurch Menschen mit einzuschliessen, die sich sonst ausgeschlossen fühlen und dadurch verletzt sind?“ - Pfister ist zwar für die Nennung beider Geschlechter – „Lehrer und Lehrerinnen“ - , aber gegen den Genderstern, weil die Leute es nicht wollen und das Gendern eine politische Verortung sei und in der Sprache einer akademischen Elite viele Leute ausschließe.  Was macht man mit der historisch belasteten Erbschaft, wie geht man in Berlin mit der Mohrenstrasse um? Pfister findet, dass man im öffentlichen Raum keine Namen mit klarer rassistischer Konnotation behalten solle, wenn dazu unter den Betroffenen Konsens bestehe.  Dagegen North-Harder: „Strassennamen sollten auf gar keinen Fall geändert werden, das ist Teil der Geschichte Deutschlands. (..) Es wäre schade, so eine Geschichte einfach verschwinden zu lassen, wenn sie doch so viel darüber aussagt, was passiert ist. Ich fände es viel interessanter, mit einem Schild  zu sagen ‚Kuck mal, diese Strasse wurde so benannt‘ oder ‚diese Statue wurde für einen Sklaventreiber aufgestellt‘.“ Kulturelle Aneignung: Darf ein Weißer Othello spielen oder eine afrikanische Frisur tragen? „Warum nicht?“, sagt North-Harder, aber “wenn sich das zB in die Modebranche reinträgt, wenn ich eine Vogue sehe und da ist jemand mit einer traditionellen Haartracht oder Kleidung aus Ghana und diese Person ist aber weiss, dann finde ich es problematisch.“Das Kernargument seines Buches ist für Pfister, dass „nicht nur in den USA sondern auch in Europa ungefähr die Hälfte der Menschen sagen, sie können nicht mehr offen darüber reden, was sie denken, nicht mehr offen ihre Meinung sagen.(..) Und was man in Amerika über die letzten 15-20 Jahren erlebt hat, ist, dass aus einer berechtigten Frustration darüber, dass Gleichberechtigung nicht da ist, versucht wurde, den liberalen Rechtsstaat und die Prinzipien der Meinungsfreiheit zumindest zu hinterfragen.", und das sei gefährlich. "Und was wir im Moment in Amerika sehen, ist, dass die Rechte damit beginnt, ihre staatliche Macht dafür einzusetzen, um das, was sie auf der anderen Seite für falsch hält, richtig zu bekämpfen“.North-Harder: „Es gab schon immer Menschen, die Angst davor hatten, ihre Meinung zu äussern und dass sie dann diskriminiert wurden. Ich glaube, das Problem ist jetzt, dass die Menschen, die das immer durften, ohne dafür belangt zu werden, (..) jetzt halt erfahren, dass es diesen Umschwung gibt und dass jetzt diese Menschen sich selbst in ihrer Meinungsäußerung bedroht fühlen.“
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Jul 10, 2023 • 40min

„Wo steht Europa in der Konfrontation zwischen den USA und China?“ - mit Franziska Brantner und Alexander Graf Lambsdorff

Mit Franziska Brantner, Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Alexander Graf Lambsdorff,  künftiger Deutschen Botschafter in Moskau, diskutiere ich darüber, wie sich Europa globalpolitisch behaupten kann. Brantner, unterstreicht, dass wir „im letzten Jahr erlebt haben, wie wichtig die transatlantische Partnerschaft ist (..) als klare Verankerung in dieser internationalen Welt“. Das bedeute aber, „dass wir als Europäer auch gezwungen sind (..) mehr eigene Handlungsfähigkeit zu erlangen.„  Gegenüber China sei „eine gute Balance zu finden, zwischen dem Anspruch, bei den internationalen Themen kooperieren zu können, Stichwort Klimaschutz, aber eben auch andererseits, sich weniger verwundbar aufzustellen. (..) Für unsere eigene Sicherheit müssen wir hier ein De-Risking machen.“ Lambsdorff stellt grundsätzlich fest: „Das Geschäftsmodell der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung war billiges Gas aus Russland, ein toller Absatzmarkt in China, die Amis garantieren unsere Sicherheit und wir bezahlen 1,2% für die Bundeswehr. Diese Geschäftsmodell ist tot. (..) Aber wenn wir uns von der chinesischen Abhängigkeit befreien wollen, dann ist das viel grösser, viel umfassender und unter Umständen auch teuerer“ als im Falle der Energieabhängigkeit von Russland. Und wenn das sehr rasch erfolgen müsse, „dann hätten wir wirklich eine dramatische Lage. (..) Das Signal der Politik an die Wirtschaft muss sein: (..) Stellt euch bitte drauf ein, und wenn es schief geht, (..) dann kommt bitte nicht mit dem Hut in der Hand nach Berlin und bettelt um das Geld der Steuerzahler“.Kann sich Europa globalpolitisch in Zukunft  behaupten, was  eine selbständigere Politik und eine Vertiefung der Integration verlangt, vor allem angesichts der Gefahr, für das transatlantische Verhältnis falls Trump 2024 siegt. Dazu Lambsdorff: „Sind wir in Europa bereit dazu, können wir das? Ich bin da nicht sehr optimistisch.(..) Das, was man an europäischem Spirit in Brüssel mit Händen greifen kann, (..) ist in den europäische Hauptstädten, wenn überhaupt, nur in homöopathischen Dosen vorhanden ist“.Brantner ist optimistischer:„Mein Eindruck ist, dass gerade im europäischen Verteidigungsbereich im Moment soviel passiert wie Jahrzehntelang nicht. (..) Wir sind auch daran, eine europäische digitale Souveränität aufzubauen. (..) Ich bin immer wieder überrascht, wie gut wir es im letzten Jahr geschafft haben, mit Blick auf die Ukaine dann doch zu Einigkeit zu finden. (..) Das Gute ist, dass wir jetzt in all diesen Prozessen gesehen haben, dass dort, wo früher eventuell Blockaden aus Polen oder den ehemaligen Visegradstaaten kamen, wir jetzt eine Kooperation haben (..) Ungarn ist meistens trotzdem noch dagegen, aber der Rest kooperiert und sieht die Notwendigkeit, dass die EU auf Krisen besser vorbereitet sein muss. Und das ist ein fundamentaler Shift seit Beginn des Ukrainekrieges, dass wir ganz andere Verhandlungsdynamiken in Brüssel haben. Im Fazit sind beide Gesprächspartner optimistisch. Lambsdorff glaubt, „dass wir langsam und allmählich und ich hoffe auch im erfolgreichen Kampf gegen die Nationalisten in den Mitgliedstaaten es schaffen, Europa nach vorne zu bringen, (..)  dass wir gemeinsam mit den grossen Demokratien der Welt zusammenzustehen (..) Für mich ist ein stärkeres Europa immer noch ein transatlantisches Europa. Wenn es hart auf hart kommt, dann funktioniert der europäische Zusammenhalt, siehe Sanktionen, und es funktioniert der transatlantische Zusammenhalt, siehe die amerikanische und kanadische Beteiligung an dem, was wir hier tun.“ – Brantner begründet ihren Optimismus „in der Handlungsfähigkeit, die wir in der schwersten Krise Europas im letzten Jahr gesehen haben. (..) Wenn wir in solchen Momenten die Handlungsfähigkeit beweisen, haben wir gute Zuversicht, auch zukünftige Krisen gut zu meistern.“
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Jun 16, 2023 • 47min

Zerstört der zunehmende Hass gegen Amts- und Mandatspersonen die Demokratie? - mit Sawsan Chebli und Jörg Müller

Mit  Sawsan Chebli, der ehemaligen Staatssekretärin im Berliner Senat, und Jörg Müller, Chef des Verfassungsschutzes von Brandenburg diskutiere über diese bedrohliche Entwicklung: Gemäß Bundeskriminalamt haben sich zwischen 2018 und 2021 die Straftaten gegen Amts- und Mandatspersonen bundesweit mehr als verdreifacht. Jörg Müller hat eine entsprechende Studie in Brandenburg durchgeführt: „Die Befunde sind leider so, wie wir es erwartet haben, sehr alarmierend.“  „Wir haben“, so Müller „eine breite Radikalisierung auch in der Sprache. (..) Früher war man der Gegner in der politischen Debatte, heute ist man gleich der Feind.“ Man habe über lange Zeit wahrnehmen können, dass „immer zunächst die Verrohung der Sprache kommt und dann meistens Taten folgen.“ Die Taten folgten: „Wir hatten die Attentate von Halle und Hanau, wir hatten den Mord an Walter Lübke.“Dazu Sawsan Chebli: „Ich habe da auch viele Morddrohungen bekommen. (..) Ich hatte nicht das Gefühl, dass Facebook mich schützt, dass der Hass gelöscht wird. (..) Vor allem weiss ich, dass es für meine Familie noch schlimmer ist als für mich (..) Die Betroffenen lernen, damit umzugehen (..) Aber die Menschen um einen herum, die belastet das teilweise viel, viel stärker“. Da habe sie sich „gefragt, lohnt sich das alles, ich bin dann zu dem Schluss gekommen, ja es lohnt sich, ich möchte nicht schweigen, ich möchte nicht kapitulieren. (..) Mein Wunsch wäre es, dass das Thema raus aus der Nische kommt, dass alle kapieren, was es bedeutet, was dieser Hass mit uns als Gesellschaft tut“. Was Müller am schlimmsten findet „ist, dass wir diese Fähigkeit zum Diskurs verlieren, (..) die Fähigkeit, sich auch mal zu streiten. Und am Ende einen Konsens zu erzielen.“ Das führe, so Müller, zum „Problem, dass es heute immer schwieriger ist, jemanden zu finden, der sich überhaupt noch ehrenamtlich engagieren möchte, (..) vor allem auf der kommunalen Ebene. (..) Das heisst, wir haben eine immer weniger breite Aufstellung der Demokratie. (..) Auf den Markt kommen natürlich andere, (.. von der) AfD, die sich selbst als Opfer geriert haben, (..) die wollen diese Lücken ja füllen.“ Deren Ziel sei es, „die Meinung zu beeinflussen, Sie rauszukriegen, Sie rauszubekommen aus der Diskussion und Sie nicht mehr wahrnehmbar zu machen, das wäre der größte Verlust.“„Die Social Media wirken wie ein Brandbeschleuniger “ so Chebli. - „Wir haben es im Bereich Social Media nicht geschafft“, führt Müller fort, „eine eigene Ethik, eine eigene Moral in den sozialen Netzwerken zu entwickeln“. (..) „Wir müssen aus der Anonymität raus.“ (..) Wir müssen ja nicht zusehen, dass die grossen Konzerne viel Geld verdienen, aber nicht helfen bei der Durchsetzung der Regeln.(..) Wir brauchen Kennzeichnungspflicht. Und wir müssen die grossen Anbieter dazu zwingen, (..) dass wir die Identifizierungsmöglichkeit schaffen.“ So argumentiert auch Chebli: „Wir haben es verschlafen in den letzten Jahren, Antworten zu finden auf diese gigantische Macht der US-Netzwerke“ mit ihren Algorithmen, die bewirken, „dass Hass nach oben getrieben wird“. Das sei das Geschäftsmodell von Facebook, was die Whistleblowerin Frances Haugen nachgewiesen habe.Jörg Müller berichtet von einer Podiumsdiskussion, wo ein Programmierer aus China gesagt habe: „‚Warum habe ich eigentlich keinen Auftrag, Moral zu programmieren. Ich könnte das. Ich müsste der Moral und hohen ethischen Werten höhere Punktwerte geben. Ich gebe aber Hass und Gewalt höhere Punktwerte.‘ Wenn wir das wissen, müssen wir die grossen Konzerne einfach dazu zwingen. (..) Der Anbietungsort muss entscheiden, welche Regeln gelten“. Chebli sieht dafür Möglichkeiten im Netzwerkdurchsetzungsgesetz: „Wir können das zurückholen mit einer Politik, die verstanden hat, dass sie reagieren muss und dann auch etwas dafür tut, dass ihre Gesetze dann durchgesetzt werden“, denn: „Die Zukunft unserer Demokratie wird im Internet verhandelt“.
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Jun 4, 2023 • 50min

Der Sieg des Sultans – Wohin steuert die Türkei ? - Mit Michael Thumann und Hürcan Alsi Aksoy

Mit dem langjährigen ZEIT-Korrespondenten in Istanbul und Moskau Michael Thumann und der Leiterin des Zentrums für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin Hürcan Alsi Aksoy diskutiere ich über Erdogans Wahl und die Zukunft der Türkei.Thumann beschreibt die Türkei als ein „gespaltenes Land“, das einen „polarisierten Wahlkampf mit sehr viel Hässlichkeiten“ erlebt habe. Dabei hätte die Wahl „eigentlich ein Plebiszit und eine Rechenschaftsablegung sein müssen über mindestens fünf Jahre desaströser Wirtschafspolitik mit bewusst herbeigeführter Inflation“. „Die Opposition hatte echt gehofft, es diesmal umzukippen“, so Hürkan Aksoy. Aber Erdogan hat gesiegt. – Warum? Das habe, so Thumann, sehr viel mit Identität zu tun: “Wer bin ich und was ist meine Biographie?“ Das Votum für Erdogan sei „eine Wahl für die eigene Biographie“ gewesen. „Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung identifiziert sich geradezu biographisch mit Erdogan: Sein Aufstieg in den 2000er-Jahren, das war mein Aufstieg, da ging es mir plötzlich besser (..) Und all diese Identitätsfragen von Herkunft und Glaube (..) spielten eine wahnsinnig wichtige Rolle.“ Das reiche aber noch „nicht für 50%. Ich glaube, dass es Erdogan dann gelungen ist“ im Wettlauf „um die Wechselwähler die nationalistische Karte zu spielen.“ Dabei habe Erdogan, so Aksoy, „eine kohärente Wahlstrategie erarbeitet“, quasi „ein islamistisch-nationalistisches Bündnis“, das gab der Wählerschaft „ein klares Bild“. Vom „ganz heterogenen Bündnis“ des oppositionellen Sechsertisches mit „Sozialdemokraten, Nationalisten, Islamisten und Liberalen“, glaubte man nicht, dass sie „das Land führen könne“.Bei aller Enttäuschung nach den Wahlen, ist es nicht besser, dass jetzt Erdogan selbst mit der von ihm angerichteten Wirtschaftskrise fertig werden muss, als dass eine siegreiche Opposition daran scheitern würde? Thumann möchte nicht ausschließen, „dass sich die Türkei in einem stetigen Abwärtstrend befinden wird und daraus Chancen für die Opposition entstehen. Die Regierung verfüge aber, so Aksoy, quasi über ein Informationsmonopol, die „Medienlandschaft wird ja zu 90% von Erdogan dominiert“. So sei es "wahnsinnig schwierig für die Opposition, ihre Information rüberzubringen“.Wird die Repression jetzt zunehmen? Aksoy geht davon aus, dass die Regierung ganz gezielt gegen Oppositionspolitiker vorgehen werde, ebenso gegen die zivilgesellschaftlichen Organisationen,  besonders gegen jene von  Frauen und LGBTQ. Das Gefühl, „dass das Land vom Westen allein gelassen wird, herrscht in größten Teilen der Bevölkerung. Nach Umfragen sind 65-70% anti-westlich ausgerichtet. Und ich befürchte, nach der Wahl wird das noch weiter vertieft werden. (..) Erdogan wird seine nationalistische, islamistische, antiwestliche Rhetorik“ verstärken. Es sei aber möglich, „dass sich Erdogan nochmals nach Westen orientieren kann, (..) weil er unbedingt Auslandsinvestitionen braucht.“ So könnte er Mehmet Simsek, den früheren Wirtschaftsminister zurückholen, um „bei internationalen Partnern Vertrauen zu schaffen.“ (MS wurde inzwischen zum neuen Finanzminister ernannt.)Im Ukrainekrieg gelingt Erdogan, so Thumann, eine erfolgreiche Balance zwischen dem Westen und Russland, und stehe „nach wie vor ziemlich gut da als ein möglicher Vermittler mit dem Vorteil, Anrainer Staat und NATO-Mitglied zu sein“, ohne an westlichen Sanktionen gegen Russland teilzunehmen. So wird er sich dem Westen weiterhin als nützlicher Partner für die regionale Stabilität anbiedern. Bundeskanzler Scholz hat ihm ja nicht nur gratuliert, sondern ihn auch noch nach Berlin eingeladen. Diese positive Haltung schaffe aber, so Aksoy, ein „wahnsinnig schlechtes Gefühl bei den oppositionellen liberalen Kräften in der Türkei, die sind noch antiwestlicher geworden, die glauben tatsächlich, dass die EU den Machterhalt von Erdogan wollte“.  
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May 26, 2023 • 41min

Wird Europa bis 2050 klimaneutral? - Mit Günther Oettinger und Susanne Nies

2019 legte die EU mit dem „Green Deal“ das Ziel fest, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Bis 2030 sollen dafür die Treibhausemissionen im Vergleich zu 1990 um 55% reduziert werden („fit for 55“). Im Zentrum steht der Energiesektor, der heute für 3/4 der Schadstoffemissionen verantwortlich ist. Putins Krieg hat das ambitiöse Ziel zusätzlich belastet. Für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen (heute 70% der Primärenergie) soll bis 2035 die EU-Stromproduktion um ein Drittel gesteigert und bis 2050 sogar verdoppeln werden. Das verlangt einen massiven Ausbau des Stromanteils am EU-Energiemix von heute einem Viertel auf 60% bis 2050. Wie – oder ob – die Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden kann, diskutiere ich mit Günther Oettinger, dem früheren Vizepräsidenten der EU-Kommission und EU-Energie-Kommissar, und der Politikwissenschaftlerin, Energie- und Klimafachfrau Susanne Nies. Beide äussern sich trotz vieler offener Fragen zuversichtlich. Als europaweites Projekt hängt Klimaneutralität von der koordinierten Lösung zahlreicher wirtschaftlicher, technischer, administrativer und politischer Probleme ab. Das alles funktioniere, so Oettinger, „nur europäisch, es gibt viel zu viele nationale Alleingänge und Egoismen“. Zu vier der diskutierten Problemfelder:Heizen verursacht 1/6 des CO-2-Aussstosses in Deutschland. Deshalb ist geplant, die Zahl der energetischen Gebäudesanierungen bis 2030 zu verdoppeln und Heizungen auf Wärmepumpen umzustellen. Die Heizungsdebatte sei deshalb, so Nies, „absolut richtig, aber die Art wie es vermittelt wurde, war eine absolute Katastrophe, das kam rüber als Verbot.“ Deshalb argumentiert auch Oettinger generell für „marktwirtschaftliche Lösungen im Regelfall“, insbesondere durch eine CO-2-Bepreisung (ETS) und für „Gebote und Verbote nur im Ausnahmefall.“Das Übertragungsnetz wird zu einem zentralen Engpass des Energieumbaus. „Die Effizienz unserer Stromnetze ist eine Katastrophe, weil Technologien nicht eingesetzt werden, um Stromnetze optimal zu nutzen“, so Nies. Entscheidend für die Konsumsteuerung seien Smart-Meters, damit der Verbrauch in Kenntnis der Kosten erfolgt. „Wie kann es denn sein, dass in diesem Land alle Stromzähler fast alle analog sind.“ Auch Oettinger kritisiert: Durch den Ausbau der Wärmepumpen und E-Mobilität werden „unsere Bestandsnetze in den Städten und Gemeinden völlig überlastet.“ Für den grenzüberschreitenden Stromaustausch ist Oettinger hingegen optimistischer: „Wir sind heute viel weiter als vor 20 Jahren“, das habe sich vor allem in der Zusammenarbeit mit Frankreich im letzten Winter gezeigt.Energie-Binnenmarkt und Ukraine: Ein erfolgreicher „Green Deal“ verlangt die Vollendung des Energiebinnenmarkts. Da sei, so Nies, „schon sehr viel passiert (..) Europa ist immer dann vorangekommen, wenn es eine grosse Krise gab.“ Als eindrückliches Beispiel führt Oettinger die Ukraine und die „grandiose Ingenieurleistung (auf), dass man mitten im Krieg die Integration ins europäische Stromnetz geschafft hat und es funktioniert.“ Trotz der russischen Angriffe, glaube er, „dass die Ukraine in diesem Krieg bezüglich Strom und Gas keinen grossen Schaden nehmen wird“. Trotzdem, so Nies, „sind die grossen Umspannwerke kaputt (..) und wir sehen in der Ukraine 500´000 10-MW-Dieselgeneratoren und das ganze Land stinkt nach Diesel“.Ohne Rahmenabkommen bleibt die Schweiz ohne Stromabkommen. Das gefährdet die Versorgungssicherheit und führt zu hohen Kosten. Das ausgehandelte und dann von Bern abgelehnte Rahmenabkommen sei, so Oettinger, eine Chance, ein Zeitfenster gewesen, „das Zeitfenster ist zu. Bis zu den europäischen Wahlen (Juni 2024) wird gar nichts mehr geschehen. (..) Mit gutem Willen könnte man 2025 ein Rahmenpaket mit einem Stromabkommen beschliessen. Besser spät als nie.“ Bis dann „Notlösungen, Übergangslösungen, kein effizientes Europa“. 
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Apr 17, 2023 • 46min

“Frau, Leben, Freiheit !” – Führt die iranische Protestbewegung in die politische Blockade oder steht das Land in einem revolutionären Umbruch? - mit Parastou Forouhar und Ali Fathollah-Nejad

Mit der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar und dem deutsch-iranischen Politologen Ali Fathollah-Nejad diskutiere ich über die iranische Protestbewegung. Seit dem 16. September, als die staatlichen Sicherheitskräfte die verhaftete Kurdin Mahsa Amini ermordet haben, lehnen sich im ganzen Land Menschen aus allen Schichten und Regionen - an vorderster Front Frauen, Jugendliche und Arbeiter - gegen das Regime auf. Trotz massiver Repression kommt das Land nicht zur Ruhe. Der Auslöser war die Verweigerung von Mahsa Amini und anderer Frauen, sich dem Kopftuchzwang zu unterwerfen, aber sehr rasch eskalierte der Konflikt zu einer grundsätzlichen Konfrontation mit der religiös begründeten Herrschaft des Regimes. Die geballte Wut der Bevölkerung gegen das Regime äusserte sich schon früher in grösseren Demonstrationen, die aber – im Gegensatz zu heute – rasch niedergeschlagen wurden. Die Konfrontation hat sich zusehends verhärtet. Kaum jemand glaubt noch an eine Lösung innerhalb des Systems. Diese breite Desillusionierung führt aber kaum mehr zu Resignation, sondern - trotz brutaler Repression mit Hunderten Toten und Zehntausenden Verhafteten - zu einer Aufbruchstimmung mit Hoffnungen auf eine grundsätzliche Veränderung, auch wenn diese nicht absehbar ist. Besonders unter jüngeren Menschen habe sich – so Parastou Forouhar – das Wertesystem verändert. Sie sahen sich lange gezwungen, in der Oeffentlichkeit die restriktiven Regeln des Staates des zu befolgen und fühlten sich dabei als Mittäter, weil sie sich nicht genügend gewehrt hätten. Dabei versuchten sie nur, in einer falschen Situation richtig zu leben, anständig, lebensbewahrend, um ihre menschliche Würde zu bewahren. Heute sind vor sie nicht mehr bereit, dieses Doppelleben, diese Doppelmoral mitzumachen. Sie rebellieren und versuchen, sich selbst zu sein. Die Avantgarde der Bewegung sind die Frauen, die ihre Selbstbestimmung einfordern und mit dem verkrusteten Regime alter Männer kollidieren. Diese identifizieren sich nur noch mit der Vergangenheit und verweigern diese Selbstbestimmung. Dabei fällt der sexuelle Subtext der Konflikte auf, wenn auffallend attraktive junge Frauen ermordet werden und massive Vergewaltigungen zum Repressionsinstrument des Regimes geworden ist, das der toxischen Männlichkeit sexuell frustrierter Schlägertrupps freien Lauf lässt. Die Positionen verhärten sich zusehends, die eine Seite zeige sich immer schöner, lebensbejahender, und die andere Seite benehme sich wie Untote, wie Zombies. „Ihre Zeit ist vorbei, die sind vorbei, aber sie haben es noch nicht kapiert und zehren von der Lebensenergie der anderen“. Als Beispiel führt Forouhar einen Widerstandskämpfer auf, der vor der Vollstreckung seines Todesurteils als seinen letzten Willen verlangte, dass die Menschen an seinem Grab Musik spielen und tanzen sollen – beides verboten - nur tanzen und glücklich sein, keine Korantexte! Die zentrale Parole der Bewegung: „Frau Leben Freiheit“ markiere eine absolute Abkehr vom Gottesstaat, lebensbejahend und säkular.Die Kluft ist irreversibel geworden, beide Seiten sind auf Kolisionskurs und das System bietet keinen Ausweg aus der Blockade. Den Konflikt bezeichnet Ali Fathollah-Nejad als einen langfristig revolutionären Prozess, der schon heute eine neue Qualität erreicht, weil er schichtübergreifend alle Regionen und ethnischen Minderheiten mobilisiere. Wirklich revolutionär würde er aber nur, wenn er sich – was nicht auszuschliessen sei - zu einer breiten Massenbewegung entwickle, wenn sich die Streiks ausdehnen und sich die Risse im Machtapparat vertiefen. Für das letzte sei die Haltung Europas wichtig, wenn zum Beispiel die EU die iranischen Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzen würden, um das klare Signal zu setzen, dass das System keine Zukunft hat. Das iranische Regime habe sich immer nur dann bewegt, wenn der Druck immens war, von innen und von aussen durch harte Sanktionen. 
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Mar 31, 2023 • 52min

„Kann nach Jahrzehnten von Krieg und Gewalt im Irak und in Algerien ein Weg zu innerer Stabilität und nationaler Verständigung gefunden werden.?“ – Mit Isabelle Werenfels und Daniel Gerlach

Mit Isabelle Werenfels, der Nordafrikaspezialistin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, und Daniel Gerlach, dem Buchautor, Orientalisten und Filmproduzenten, diskutiere ich über beide Staaten in ihrer heutigen politischen Lage. Der Vergleich bietet sich – trotz geographischer Distanz – durch eine Reihe von Parallelen an: Beide sind mit einer Bevölkerung von je 43 Millionen gleich gross. Beide waren in den letzten Jahrzehnten Opfer von politischer Gewalt: Kriege, Bürgerkriege, Repression und Terrorismus haben in beiden Ländern wohl je über eine Million Todesopfer gefordert und haben damit die Gesellschaft zerrüttet: In Algerien durch den Unabhängigkeitskrieg 1954-62 und den Bürgerkrieg 1992-2002 - im Irak durch Saddams Angriffskrieg gegen den Iran, seine Repression gegen die Kurden und Schiiten, die verheerenden Folgen des UNO-Programms Oil for Food, durch den US-Angriffskrieg 2003 und den Terrorismus des IS-Staates 2014-2017. Dabei wurden beide Staaten durch den islamistischen Terror existentiell gefährdet: Algerien im Bürgerkrieg durch die islamistische „Front islamique du Salut“ (FIS), der Irak durch den „Islamischen Staat“, der erst 2017 von einer breiten nationalen Allianz mit amerikanischer und iranischer Unterstützung  besiegt werden konnte. In beiden Staaten stützt sich die staatliche Macht auf die Streitkräfte,  auf die Armee in Algerien, auf die Milizen im Irak. Entscheidend sind aber die grossen Öl- und Gaseinnahmen, die es der Regierung, erlauben, Legitimation zu „kaufen“ und die Bevölkerung in direkter Abhängigkeit vom Staat zu halten. Gegen diese Machtausübung mobilisierte sich 2019 in beiden Staaten eine breite zivilgesellschaftliche Protestbewegung: In Algerien stoppte die Hirak-Bewegung die fünfte Präsidentschaft des greisen Bouteflika. Im Irak richtete sich die breite Tishreen-Mobilisierung gegen die ganze politische Klasse und ihre Korruption und überschritt damit die religiös und ethnisch bestimmten Grenzlinien der irakischen Politik. Trotzdem erreichte die „Strasse“ dadurch keine grundlegenden Reformen. In Algerien behaupten sich die Machtstrukturen von Armee und Bürokratie, kooptierten die Opponenten ins System und schwächten die zivilgesellschaftlichen Kräfte. Im Irak setzt sich die Auseinandersetzung zumindest in einem einigermaßen demokratischen aber nach wie vor fragilen System fort. Die Iraker sind heute, auch in der Folge des russischen Angriffskriegs, darum bemüht, die ausländische Einmischung abzuwehren. Das sei aber nur möglich, so Daniel Gerlach, „wenn sie  ihre gesellschaftlichen Konflikte  überwinden können, dann sind sie auch wieder in der Lage, Souveränität zu erlangen. (..) Viele Iraker fühlen sich so, als wären sie eigentlich noch ein besetztes Land“.  Algerien hingegen, so Isabelle Werenfels, knüpfe nach der internationalen Isolation der letzten Jahre an seine Tradition der blockfreien Nähe zur Sowjetunion an, versuche heute, international wieder „ein Player zu sein“ und verfolge seine blockfreie Haltung mit einem Antrag, „den BRIC-Staaten“ (Brasilien, Russland, Indien, China) beizutreten. „Gleichzeitig war dieser Krieg für die Algerier auch ein Erwachen“ bezüglich der Qualität russischer Waffen, die den Hauptteil der algerischen Rüstung ausmache. Sie wollen „ihre Unabhängigkeit stärken, in dem sie in alle Richtungen spielen, aber immer“ mit der Ansage „wir schwimmen gegen den westlichen Strom“. Trotzdem habe sie, „in keinem Land, wo ich gewesen bin, so viele Sympathien für Russland erlebt, wie in Algerien (..) Gleichzeitig wollen alle nach Frankreich“. 
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Mar 22, 2023 • 46min

“Was ist das konservative Projekt für ein modernes Deutschland?” – mit Armin Laschet und Ursula Münch

Mit dem CDU-Kanzlerkandidaten von 2021 und früheren NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet und Frau Prof. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing diskutiere ich über das Selbstverständnis der CDU in der Opposition.Auf die Frage, was hätte Armin Laschet als Bundeskanzler besser gemacht, antwortet er: „Ich wäre in vielem, was die Außen- und Sicherheitspolitik angeht, ähnlich zurückhaltend wie Olaf Scholz (..), ich würde (jedoch) das Ganze europäischer anlegen, ich würde mehr und enger mit Frankreich zusammenarbeiten (..), aber die Grundrichtung findet im Moment einen Konsens auch über die reine Regierung hinaus“. Hingegen bezüglich anderer Bereiche, so Ursula Münch, hätte „man sicherlich Unterschiede feststellen können, bei gesellschaftspolitischen Themen“: Gleichstellung, Minderheiten, Abtreibung und Migration, „da wären die Konflikte wesentlich stärker gewesen“, vor allem innerhalb der relativ heterogenen CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Zu einem neuen konservative Grundsatzprogramm der CDU stellt Laschet richtig: Die CDU sei " keine konservative Partei. Konrad Adenauer hat das Wort immer gemieden.(..) und von  Christdemokraten gesprochen.“ Dieser weitere Blick werde „vom christlichen Menschenbild abgeleitet. Das Grundsatzprogramm muss das jetzt in die neue Zeit übersetzen (und) aus den Grundwerten heraus konkrete Politik ableiten.“ Dagegen fragt sich Münch, „ ob für eine Partei wie die CDU der grosse Wurf eines Grundsatzprogramms überhaupt erforderlich ist, die CDU ist keine Programmpartei.“ - Dazu Laschet : „Wir leben in einer Zeit, in der auch die andern pragmatische Antworten geben müssen. Das was jetzt gerade passiert, hat mit dem, was im Bundestagsprogramm von SPD und Grünen steht, nichts mehr zu tun, gar nichts. Es wird in diesem Jahr mehr Kohle verbrannt, als je zuvor, mit einer grünen Regierungsbeteiligung“. Steuert die CDU eher nach rechts oder eher in die Mitte? Laschet unterstreicht, „dass Wahlen in der MItte gewonnen werden und die CDU eine Partei der Mitte bleiben muss". -  Für Münch stellt sich die Frage auch bezüglich der AfD: „Überlasst man Positionen rechts der Mitte extremistischen Parteien, das ist nicht nur für die Union eine wichtige Frage, sondern für die ganz Bundesrepublik. (..) Interessant wird es nächstes Jahr mit Blick auf die Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Ländern, wo dann auch in CDU-Ländesverbänden sicherlich Positionen geäußert werden, womöglich zu einer künftigen Tolerierung der AfD und da wird die CDU-Spitze gefordert werden“.Hat die CDU ein Frauenproblem? „Ja, das stimmt“, räumt Laschet ein, „die CDU-Fraktion hat zu wenig Frauen (..) Es muss insgesamt das Gefühl geben, ja, auch in dieser Partei haben Frauen ihren Platz und das ist bei uns zu wenig zu spüren und deshalb brauchen wir im Moment noch Quoten“. Das Problem stelle sich, so Münch, „wer ist im Moment in der CDU sichtbar, eine Frau? Da ist tatsächlich wenig vorhanden.(..) Die Frauen (..) wollen eine attraktive Partei, wo sie sich nicht entschuldigen müssen, dass sie für die CDU Sympathien hegen, die aber als ewig gestrige Partei gilt. Und diesen Brückenschlag zu treffen (..), das ist der CDU noch nicht so ganz gelungen.“Zur Gretchenfrage, wie haben Sie es mit dem lieben Gott und dem hohen C im Parteinamen? „Das ist wirklich“, so Laschet „Wesenskern der Union, Markenkern, dass man Politik aus dem christlichen Menschenbild macht.(..) Das heisst, du siehst den Menschen als Person, er ist Individuum und soziales Wesen zugleich. Das ist der Unterschied zu allen andern Parteien. Christliches Menschenbild in der Form der sozialen Marktwirtschaft verbindet das“.-  „Was ich aber vermisse“, so Münch, „ist dann ein selbstbewusstes Dazu-Stehen und es dann auch immer wieder begründen. Da würde ich der CDU einen souveräneren Umgang damit raten, um dann sichtbar zu machen, wo ist da der Unterschied (..) zu den anderen Parteien.“
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Feb 20, 2023 • 45min

„Auschwitz liegt auch in der Schweiz“ – mit Jacques Picard und Dina Wyler

„Auschwitz liegt nicht in der Schweiz“ sagte Bundespräsident Delamuraz 1996 zur Abwehr jüdischer Forderungen im Zusammenhang der „nachrichtenlosen Vermögen“ von Opfern der Shoa auf Schweizer Banken. Über die schweizerischen Verwicklungen mit den NS-Verbrechen und das diesbezügliche Verdrängen und Erinnern diskutiere ich mit Prof. Jacques Picard, Präsident der Stiftung jüdische Zeitgeschichte der ETH-Zürich und Dina Wyler, ehem. Leiterin der Stiftung gegen Antisemitismus und Rassismus.In der NS-Zeit wurde vielleicht 15'000 Juden und Jüdinnen die Zuflucht in die Schweiz verweigert. Gemäß Picard war „tatsächlich diese Abweisungspolitik auch antisemitisch eingegeben (..) Zumindest bei einem Teil der Behörden war der Jude der unerwünschte Ausländer, mit dem man gleichzeitig und vorgeblich auch das nationalsozialistische Gedankengut an der Grenze abhalten und wegstellen konnte. Also indem man vermied, Juden aufzunehmen, sagte man, vermeiden wir eben auch, dass eine Judenfrage auch in der Schweiz entsteht, (..) was dann vordergründig ausgegeben werden konnte als eine Ablehnung des nationalsozialistischen Gedankenguts.“ Trotzdem fanden während der NS-Zeit insgesamt vielleicht 30‘000 Juden und Jüdinnen Zuflucht in der Schweiz. „Die schweizerische Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden“ sei aber, so Picard, kaum „von der Schweiz finanziert worden, sondern von den Schweizer Juden mit Hilfe von Spenden amerikanischer Juden", die eigentlich weitgehend die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz über Wasser gehalten hätten.Zum Verdrängen dieser Verwicklung verweist Picard auf Churchill, der kurz nach Kriegsende vom „segensreichen Akt des Vergessens“ sprach. „Das bewusste Vergessen war paradigmatisch dem Zeitgeist geschuldet. Und dass wir uns heute dem Paradigma des Erinnerns und Gedenkens zuwenden, ist eine Entwicklung (..) so ab den 80-er und 90-er Jahren.“ In dieser Entwicklung gebe es, so Dina Wyler jedoch „keine Kontinuitäten, sondern Konjunkturen (..). Man macht zwei Schritte noch vorne und einen zurück.“ Wobei „der Druck für das Erinnern oftmals aus dem Ausland kam, Stichwort ‚Nachrichtenlose Vermögen‘“.Die Frage vergessen oder erinnern macht Dina Wyler daran fest, „von wem sprechen wir? Wenn wir über die Betroffenen reden, da war zuerst einmal Vergessen eine Überlebensstrategie. (..) Was jetzt passiert, ist vor allem, dass die dritte Generation beginnt, Fragen zur stellen, weil sie den nötigen Abstand hat, eben nicht zu vergessen, und damit erinnern kann, was den Grosseltern, Urgrosseltern passiert ist.“ Die eigentliche Verantwortung für das Erinnern liege aber nicht bei den Betroffenen, sondern bei der Gesamtgesellschaft, vor allem heute, wo kaum mehr Zeitzeugen leben.Zum „Doppelbegriff von Holocaust und Shoa“, erklärt Picard: „Der Holocaustbegriff ist (..) eigentlich ein Sakralbegriff, er bedeutet Brandopfer. Damit wird eine quasi religiöse Überhöhung des Opfergedankens mitimpliziert, das ist natürlich hochambivalent, während Shoa (..) ganz einfach die Katastrophe, Vernichtung“ bedeute. Ob in diesem Zusammenhang über den Mord an Menschen, anstatt über den Mord an Juden gesprochen werden soll, widerspricht Picard entschieden, weil „die Universalisierung des Gedenkens an den Mord über das Wort Menschen und Menschentum letztlich auch die Gefahr in sich birgt, dass man die Juden zum Verschwinden bringt im Gedenken.“Bezüglich der Chancen für das Erinnern in der Zukunft sind beide optimistisch, Jacques Picard, „weil die dritte und auch schon die vierte Generation, und zwar nicht nur Opfer-seitig, sondern auch Täter-seitig, in einer Art darüber sprechen, wo man gut annehmen kann, dass Erinnern und Gedenken für sie zur Normalität des Lebens gehören.“ Für Dina Wyler sei es nebst dem Erinnern an die Ermordeten „persönlich immer ganz wichtig zu betonen (..) : Es gibt auch lebendige Juden und Jüdinnen. Wir sind hier, wir sind am Leben, wir tragen diese Erinnerungsarbeit fort“. 
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Feb 9, 2023 • 48min

“Die verkannte Bedeutung des Dualen Bildungssystems für den wirtschaftlichen Erfolg” – mit Ursula Renold und Rudolf Strahm

Die Schweiz nimmt im internationalen Vergleich stets wirtschaftliche Spitzenplätze ein. Dabei verdankt sie ihre Innovationsfähigkeit, ihr Wirtschaftswachstum und ihre tiefe Arbeitslosigkeit vor allem dem dualen Bildungssystem. Warum verkennen wir dessen Bedeutung? Darüber diskutiere ich mit Ursula Renold, Professorin für Bildungssysteme an der ETH Zürich und ehemalige Staatssekretärin für Berufsbildung und Technologie und Rudolf Strahm, ehemaliger Nationalrat, Preisüberwacher und langjähriger Lehrbeauftragter für die Ausbildung von BerufsberaterInnen.Aus drei Gründen, so Ruedi Strahm sei “die Berufslehre (..) ein Erfolgsmodell: Erstens ist die Berufslehre eine Art Armutsverhinderungsvehikel (..) Die Berufsbildungsländer, nicht nur die Schweiz auch Deutschland, Österreich, Holland und Dänemark haben eine markant tiefere Jugendarbeitslosigkeit.” Zweitens sei sie “ein Vehikel für höhere Arbeitsproduktivität (..) Die Berufsbildungsländer haben bedeutend höhere Löhne”. Und drittens, “ist die Berufslehre mitverantwortlich für die hohe Innovation, weil die Berufsbildung wichtig ist, Innovationen rasch zu verbreiten”. Als Beispiel führt Strahm die Herstellung von medizinischen Implantaten und Prothesen auf, wo die Schweiz weltweit führend sei. Der Erfolg beruhe auf der engen “Zusammenarbeit von Chirurgen und Mechanikern (..) auf Augenhöhe”. Die Mechaniker seien in den Operationssaal und der Chirurg in die Werkstatt gekommen und zusammen hätten sie “mit neuen Formen und neuen Materialien (..) getüftelt”. Ursula Renold bestätigt diese Zusammenhänge. Ihrer Untersuchungen beweisen, dass eine hohe Innovationsleistung auf dem “Zusammenspiel” von Berufspraktikern, den “Tüftlern”, mit theoretischen Hightechkompetenzen beruhe. Die Firma Logitech habe so weltweit die ersten Computermäuse entwickelt.Doch was sind die Hindernisse für die  gesellschaftliche Anerkennung der Berufsbildung?  Beide Gesprächspartner weisen auf den grossen Einfluss der akademisch orientierten französischen und britischen Bildungsideologie auf die OECD und damit auf die internationalen Vergleiche “des schulisch cognitive Wissens” hin.  Bis 2001, so Strahm, habe “die OECD die schweizerische Berufslehre gar nicht anerkannt.” Diese Ideologie sei in den 70er-Jahren vor allem von Daniel Bells Theorie der “Knowledge Society” geprägt worden. Die “praktische Intelligenz”, die “soft skills” gerieten dadurch, so Strahm, ins Hintertreffen: “Exaktheit, Zuverlässigkeit, Termintreue, Verantwortungsbewusstsein etc.”. Diese, so Renold “bekommen eine immer grösser Bedeutung (..), weil wir uns in einer hochgradigen Veränderung befinden, die von der digitalen Tansformation herstammt.” Dafür seien “heute die Schule zu langsam und die Universitäten erst recht.” Der Fachkräftemangel, so Strahm, äußere sich “heute vor allem im Bereich der Leute mit höherer Berufsbildung”.In der Frage, ob fehlende mit dem universitären Bachelor vergleichbare Titel ein Prestigeproblem für die Berufsbildung seien, besteht keine Einigkeit: Während Strahm sich klar “aus der Sicht der Berufsberater” für den “Professional Bachelor” ausspricht, warnt Renold vor einer Titelinflation. Das Prestige der Berufsausbildung sei auch durch den europäischen Qualifikationsrahmen gewährleistet. Auf die Frage, ob sich das Berufsbildungssystem auf andere Gesellschaften mit anderen Traditionen übertragen lasse, antwortet Renold: “Nein, das geht nicht”. Was aber helfe, seien die Resultate der Erforschung der eigenen Erfahrungen. Wichtig sei vor allem  der politische Willen der Eliten. In China werde Berufsbildung, so Strahm “einfach diktiert von oben (..): Jede Firma muss ausbilden”.Für die weitere Entwicklung der Berufsbildungsländer sind Renold und Strahm zuversichtlich, in Deutschland jedoch, so Strahm, erhalte “die Berufslehre nach und nach ein soziales Stigma”. 

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