SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Mar 13, 2024 • 5min

Lize Spit – Der ehrliche Finder

Lize Spits neuer Roman spielt Ende der 1990er Jahre, zur Zeit des Kosovokrieges. Aus einem Dorf in Flandern soll eine zehnköpfige kosovarische Familie wieder in ihre Heimat abgeschoben werden. Die Dorfgemeinschaft, vor allem aber der junge Jimmy, haben etwas dagegen. Die flämische Bestsellerautorin Lize Spit erzählt mit „Der ehrliche Finder“ die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft.
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Mar 12, 2024 • 4min

Ursula Weidenfeld – Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte, 1949 - 1990

Als vor 75 Jahren zwei deutsche Staaten gegründet wurden, war ihr Schicksal noch völlig offen. Trotzdem wird mit der deutschen Geschichte meist nur die Geschichte der BRD assoziiert, während die DDR wie ein toter Seitenarm erscheint. Ursula Weidenfeld liefert die Geschichte eines doppelten Deutschlands, die so noch nicht geschrieben wurde.
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Mar 11, 2024 • 5min

Mely Kiyak – Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an

Mely Kiyaks Vater liegt im Sterben, aber die Tochter kämpft mit Leidenschaft gegen den drohenden Verlust. Die mitreißend erzählte Geschichte einer Vater-Tochter-Liebe.
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Mar 10, 2024 • 4min

Anne Weber – Bannmeilen

Anne Weber ist eine Erzählerin, die sich ungern wiederholt. Mit jedem neuen Roman, so scheint es, findet sie eine neue Form. In ihrem Buch „Tal der Herrlichkeiten“ gelingt es ihr das Jenseits erzählbar zu machen, in „Ahnen“ unternimmt sie eine Zeitreise in die eigene Familiengeschichte, mit „Kirio“ führt sie die Tradition der Heiligenlegende bis in die Gegenwart und mit „Annette, ein Heldinnenepos“ rhythmisiert sie die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir. Anne Weber kommt fremden Menschen literarisch nahe Immer wieder sind es mehr oder minder fremde Menschen, denen sie literarisch nahekommt. In ihrem neuen Roman „Bannmeilen“ jetzt ist es der fremde Teil einer ihr aufs Engste vertrauten Stadt. Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar definiert, da gibt es keine fließenden Übergänge. Die Stadt ist recht klein für eine europäische Hauptstadt: Nur was innerhalb des Périphérique, des Autobahnringes, liegt, gehört dazu, jenseits davon beginnt die Banlieue. Wer die Stadt meint, spricht daher auch gern von Paris intra muros, von dem Paris innerhalb der Stadtmauern. Quelle: Anne Weber – Bannmeilen Anne Weber ging mit 19 Jahren nach Paris und lebt heute noch dort. Mit Blick auf den Sacre Coeur kam es ihr nie in den Sinn, diese Grenze des Périphérique zu überschreiten und sich in den Banlieues umzusehen, die mutmaßlich nichts zu bieten haben als Schnellstraßen und Autobahnen, massive Wohnblocks neben Lagerhallen und gewaltigen Supermärkten, vor allem aber Menschen, die ihr und fast jedem anderen Pariser fremd vorkommen. Ich drehe mich um und habe das Gefühl, man müsse mir ansehen, dass ich nicht von hier, dass ich keine Vorstädterin bin. Aber natürlich haben die Passanten anderes zu tun, als mich zu beäugen. Zielstrebig kommen sie aus dem Bahnhof oder gehen auf ihn zu. Schließlich setze ich mich auf einen Betonklotz, den ich ungeschickt erklimme, ziehe ein Bein an und versuche, halbwegs lässig auszusehen. Quelle: Anne Weber – Bannmeilen Streifzüge durch die Banlieues von Paris Die gespielte Lässigkeit geht mit fortschreitenden Streifzügen durch diese Vororte in eine echte über. Gemeinsam mit ihrem Freund Thierry, der für einen Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele nach Drehorten sucht, und algerischer Herkunft ist, macht die Ich-Erzählerin Begegnungen, die nicht nur ihre persönliche Sichtweise verändern. In einem kleinen Café, in dem ganz selbstverständlich auch Frauen verkehren, finden die beiden einen Ort der Ruhe und der Erkenntnis. Das Café ist eine kleine Welt für sich, ein familienartiges, aber nach außen offenes Gebilde. In den meisten innerstädtischen Cafés ist es ein ständiges grußloses Kommen und Gehen, während es hier, auch weil der Raum so klein ist, unmöglich scheint, ohne ein Wort einzutreten und sich einfach an einen Tisch zu setzen. Quelle: Anne Weber – Bannmeilen Hier sitzt ein stummer Dominospieler neben einem Mann, der sich den Rotwein direkt in den Magen spritzt, der alten Mutter des Besitzers und einem Algerier, der kaum etwas weiß von der Heimat seiner Eltern. Wir sind alle, denke ich jetzt, weder das, was wir sein wollen, noch was andere in uns sehen, sondern eine unentwirrbare Mischung aus beidem, und was wir für freie Entscheidungen halten, ist oft nur das Ergebnis einer Kettenreaktion, die von Generation zu Generation weiterläuft und mal in diese, mal in jene Richtung ausschlägt. Quelle: Anne Weber – Bannmeilen Ein literarischer Blick hinter die Vorurteile von Armut und Langeweile Indem Anne Weber die Wirklichkeit fiktionalisiert, kann sie sie zur Kenntlichkeit verändern. Wieweit hinter Thierry der Fotograf Bruno Boudjelal steht, wie weit Anne Weber selbst all die kleinen Dinge aufgeklaubt und gesammelt hat, wird dabei unwichtig. Hier geht es darum, eine Welt zu entdecken, die alle schon zu kennen glauben. Denn hinter dem Vorurteil von Armut und Langeweile lagern unendlich viele Geschichten, verwurzelt in der Historie Frankreichs, die auch nach diesem Buch noch lange nicht entdeckt sind.
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Mar 10, 2024 • 3min

Lilian Pithan (Hrsg.) – The Future is ... - 14 Comics über die Zukunft

Klimakrise, Kriege, Donald Trump – es fällt schon manchmal schwer, mit guter Laune in die Zukunft zu gucken. Dabei liegt darin oft ein ganz besonderer Reiz, sich mal freimachen, über den Tellerrand des Alltags schauen und sich fragen: was wird eigentlich sein in zehn, fünfzig, hundert Jahren? Die Frage hat sich auch die Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin Lilian Pithan gestellt. Sie hat für einen Comicband 14 Zeichnerinnen gebeten, zu erzählen, wie sie sich die Welt in 100 Jahren vorstellen. Denn einfach nur was zu Frauen und Comic zu machen, wie der Verlag ihr ursprünglich vorgeschlagen hatte, wollte sie nicht. Das schien mir dann aber inhaltlich als Thema nicht genug. Ich wollte auch eben nicht, dass es dann ein Buch wird über Frau sein oder Gender oder Feminismus, weil ich eigentlich denke, dass das Frauen auch zu sehr in eine Schublade steckt. Vor allem Künstlerinnen, die natürlich zu allen Themen arbeiten sollen oder dürfen. Und so bin ich dann auf das Thema Zukunft gekommen, weil ich finde, dass es einfach im Moment ein sehr wichtiges Thema ist. Es wird sehr viel darüber gesprochen. Ein Beispiel wäre die Klimakrise, die natürlich in den Medien, aber auch im Privaten schon viele Diskussionen beherrscht, oder jetzt auch seit einigen Monaten die Frage nach künstlicher Intelligenz. Und viele dieser Themen sind natürlich im Moment auch sehr dystopisch oder wirken sehr dystopisch, sehr negativ aufgeladen. Man hat den Eindruck, dass es eigentlich für die Menschheit im Moment nicht so besonders viel Hoffnung gibt. Und so hat sich mir dann die Frage gestellt was ist denn alles in der Zukunft möglich? Wie könnte man sich diese Geschichten vorstellen? Und wie würden Zeichnerinnen die dann auch künstlerisch umsetzen? Quelle: Lilian Pithan 14 Zeichnerinnen, 14 unterschiedliche Stile Besondere Vorgaben gab es keine, auch der Titel des Bandes ist maximal offen gehalten: The future is… Für die Herausgeberin Lilian Pithan war nur wichtig, ganz unterschiedliche Zeichenstile zu versammeln in dem Band; tatsächlich sind auch 14 sehr verschiedene Stile zu entdecken – vom klassischen Comic in kleinen Erzählbildchen, bis zu ganzseitigen Illustrationen, durch die der Text hindurchfließt. Es geht um außerirdische Mächte, die die Menschen per erneuerbarer Energie unterdrücken. Um Zeitreisen mit KI oder Menschen, die in einer Art Unterwasserwelt weiterleben – kurze Geschichten, ein freies Experimentierfeld, das den Zeichnerinnen offensichtlich Spaß gemacht hat. Und hat die Herausgeberin einen Favoriten? Ich fand einige Geschichten sehr interessant, weil sie ganz neue, andere Aspekte aufgenommen haben – zum Beispiel das Thema fremde Wesen, mit denen wir als Menschen zusammenleben. Dazu gibt es auch extra ein Kapitel, das heißt: leben lassen. Und ein Beispiel wäre die Geschichte von Marijpol, in der eine Schulklasse von Menschen oder Kindern auf eine Schulklasse Aliens trifft. Und diese Aliens sind Bodennebel, das heißt, sie haben keine Gesichter. Und in der Geschichte geht es dann darum, wie diese Kinder mit den Spuren-Kindern kommunizieren können. Und was es da alles auch für Missverständnisse geben kann. Das ist eine ganz tolle Geschichte, die so ein bisschen die Idee vom Babelfisch eigentlich weiterdenkt. Quelle: Lilian Pithan Der Comic macht wieder Lust auf Zukunft Der Fisch im Ohr, der alle Sprachen übersetzt, aus Per Anhalter durch die Galaxis. – Eine schöne Vorstellung, dass wir uns in Zukunft vielleicht doch alle noch gut verstehen. The future is… 14 Comic-Zeichnerinnen erzählen, wie sie sich die Welt in hundert Jahren vorstellen. Ein feiner Band, der Lust macht, sich mit der Zukunft zu beschäftigen.
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Mar 10, 2024 • 6min

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend

Wie unglaublich, wie nah und zugleich absurd weit entfernt sind im Rückblick diese jugendlichen Schwärmereien: Man ist 13 oder 14, sieht plötzlich eine Person auf dem Schulhof oder aus dem Nachbarhaus treten, weiß nichts von ihr. Aber die Bewegungen, das ins Gesicht fallende Haar, die noch kaum etwas von sich ahnende Coolness dieses erstmals erblickten Wunderwesens setzen eine Fantasiemaschine in Gang, die aus romantischem Erbgut und arglosen Teenie-Filmen gespeist wird. Eines flüchtigen Blickes würdigte Vito sie, und Yase legte alles hinein. Sie hatte einmal gelesen, wenn man der Liebe seines Lebens in die Augen sehe, dann spiegelten sich alle nachfolgenden Generationen darin. Genau das passierte ihr – so erzählte sie es Imma – am elften Januar um sieben Uhr siebenundzwanzig, sieben Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag. Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend Jugendliche Suche nach dem eigenen Ich Yasemin, die Sehnsüchtige, Imma, die enge Freundin, Vito, der Angebetete: Daraus könnte nun ein Jugendroman mit herzschmerzreichen Verwicklungen werden. Da es sich aber um das neue Buch der für ihr Debüt „Streulicht“ gefeierten Autorin Deniz Ohde handelt, gehen einfache Schlager-Reime hier nicht auf: „Ich stelle mich schlafend“ handelt zwar von juvenilem Gefühlschaos, mehr aber noch davon, wie man zu sich selbst und in den eigenen Körper findet, um mühselig wieder aus der eigenen Haut zu schlüpfen, über den eigenen Schatten zu springen. Yasemin nämlich ist ein ambivalenter, unsicherer Mensch. Wo immer sie ist – sie fühlt sich nicht willkommen. Aus einem Willensbruch sei sie gezeugt worden, heißt es mehrmals. Soll heißen: Die Mutter war in der Nacht der Zeugung bis zur Willenlosigkeit betrunken, der Vater scherte sich nicht darum. Danach musste geheiratet werden, obwohl die Eltern nicht recht zusammenpassten. Diese missliche Ausgangskonstellation hat Einfluss auf Denken und Selbstwahrnehmung. Allem anheim war ein garstiger Umgang mit sich und der Welt; [Yasemin] versuchte, alles Schlechte und Unangenehme auszutreiben und alles Angenehme auf ein Minimum zu beschränken, aus Angst, es wieder zu verlieren. Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend Der Ton Ohdes, das merkt man an diesem Zitat, ist nicht ganz frei von Manierismen. Die Leidenschaft für Vito, das Schwindelgefühl der Pubertät – all das geht ohne Pathos nicht ab. Alles in diesem Text ist getragen von großer Ernsthaftigkeit. Wer kein richtiges Zuhause besitzt und innerlich zaudert, hat mit Selbstironie nichts am Hut. Beim Lesen denkt man dennoch manchmal: too much, ein paar weniger aufgeladene Worte, ein paar weniger Bilder hätten dem Buch nicht geschadet. Ein Reitunfall sorgt für die Wende im Leben Aber doch wird man von dieser jungen, sich in Gedanken verheddernden Heldin gefangen genommen, vielleicht auch, weil man sie nicht immer ganz versteht oder sie beim Sich-verstehen-wollen auf keinen Fall alleine lassen will. Jedenfalls spielt Yasemin das Schicksal einen Streich: Sie stürzt beim Reiten vom Pferd, zieht sich erhebliche Verletzungen zu, erholt sich langsam in einer Rehaklinik und kommt sich zum ersten Mal selbst näher. (…) was für Yase zählte, war der Eindruck, dass sie erst jetzt in ihrem Körper ankam. Dass sie sich erst jetzt darüber bewusst wurde, einen Körper zu haben. Als hätte sie ihm durch die stundenlangen Übungen, das tiefe Einatmen in den Unterbauch, die langen F beim Ausatmen, eigentlich erst den Lebensatem eingehaucht. War sie es selbst, die da atmete, oder jemand anderes? Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend Mit der Entdeckung des eigenen Körpers geht allerdings die verwirrende Erkenntnis einher, dass andere diesen Körper auch entdecken – als Sexualobjekt. Für die 14-Jährige ist das zu viel. Wo eben noch die unschuldige Hingabe an Vito war, wendet sie sich nach ihrer Rückkehr aus der Klinik von ihm ab. Er ist drei Jahre älter, sie ist zu jung. Vito leidet; Yasemin scheint ihn aus Selbstschutz zu vergessen. Zeit vergeht. Ausbildung, ein solider kaufmännischer Beruf, einige Liebschaften folgen, dann eine zukunftsfähige Beziehung, von den Eltern ist keine Rede mehr – das alles wird ausführlich und als geradezu folgerichtiger Lebensweg erzählt. Aber es wird auch so genau erzählt, um das Ungeheuerliche, den Bruch, die Umkehr nur umso überraschender erscheinen zu lassen: Denn Yasemin trifft Vito wieder. Sie ist nun Anfang 30; er, der Ältere, erscheint heruntergekommen, haltlos, lebensuntüchtig – und doch ist da dieser Glanz, den sie vor fast 20 Jahren in ihm erblickt hat. Wieder war es dieses Einrasten zweier Blicke, we locked eyes, wie man im Englischen sagte, die passende Wendung für das, was geschah. Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend Fatale Rückkehr zum Ex Yasemin verlässt ihren Partner, kommt mit Vito zusammen – eine unausweichliche, eine fatale Entscheidung. Die Jugendliebe entpuppt sich als psychologisches Wrack, von innen ausgehöhlt von vielen Jahren der Verlorenheit. Zugleich kann Yasemin sich nicht entziehen: Vito wendet keine willensbrechende Gewalt an, aber eine willensbeugende, manipulative. Viel schwerer ist es, sich gegen so eine Macht zu schützen. Heute würde man das als toxische Beziehung bezeichnen. In dieser Hinsicht ähnelt Deniz Ohdes „Ich stelle mich schlafend“ dem Roman „Muna“ von Terézia Mora, in dem eine Frau ebenfalls als hingebungsvoll Liebende in einem Beziehungs-Alptraum erwacht. Hier wie dort geht etwas zu Bruch. Bei Ohde sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Die Amour fou, ihr Vergehen und das Erwachen aus dem Traum aber scheinen auch etwas Kathartisches zu haben, etwas Emanzipatorisches. „Du bist jetzt ein Mensch, der diese Erfahrung gemacht hat“, sagt die mütterliche Freundin Lydia zu ihr. „Ich stelle mich schlafend“ arbeitet die emotionalen Schichten in Yasemins Entwicklung in einer Rückschau langsam heraus, verbindet in einem langen Bogen das junge Mädchen mit der Frau, die vor einem abgerissenen Haus steht und ihre Erfahrungen gemacht hat. Es ist ein um Wahrhaftigkeit bemühter Roman, ein lesenswerter – vielleicht auch weil er nicht in jeglicher Hinsicht gelungen ist, sprachlich zuweilen überladen, aber doch von schöner Eindringlichkeit.
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Mar 10, 2024 • 4min

Volker Reinhardt – Der nach den Sternen griff

Acht Jahre verbrachte Giordano Bruno in den Kerkern der Inquisition, bevor er am 17. Februar 1600 in Rom öffentlich verbrannt wurde. Immer neue Verhöre sollten zutage bringen, wie gefährlich dieser Mann war, der jegliche Gesinnungskontrolle ablehnte. Bruno war ein Freidenker par excellence, dessen Ideen den Orthodoxiewächtern ein Alptraum waren. Der Philosoph ging nicht nur – wie Kopernikus bereits vier Jahrzehnte zuvor – davon aus, dass sich die Erde um die Sonne dreht – und nicht umgekehrt die Sonne um die Erde, wie es die Gralshüter des christlichen Weltbildes für erwiesen hielten. Er erkannte auch, dass jeder Fixstern am Himmel eine Sonne wie die unsere ist. Bruno wollte Gott, Zeit und Mensch völlig neu denken Der Mann aus Nola bei Neapel, der sich gern schlicht als „der Nolaner“ bezeichnete, betrachtete das Universum als unendlich und war davon überzeugt, dass es unendlich viele Lebewesen auf anderen Planeten gibt. Sein revolutionäres Konzept zwang dazu, so der Biograf Volker Reinhardt, Gott, Zeit und Mensch völlig neu zu denken: Nicht nur der Schöpfungsbericht der Bibel und die Würde des Menschen als höchste Kreatur waren damit hinfällig, sondern auch die christliche Vorstellung eines richtenden Gottes, der seine Geschöpfe nach ihrem Verhalten bewertet und am Ende der Zeit das Urteil über sie spricht, denn wenn die Zeit so unendlich war wie der Raum, konnte es kein Jüngstes Gericht geben. Quelle: Volker Reinhardt – Der nach den Sternen griff Bruno war ein Gegner aller Religionen, da diese die Massen bloß verdummten. Jesus hielt er nicht für Gottes Sohn, sondern für einen Hochstapler und gemeinen Betrüger. Nicht von ungefähr hält die katholische Kirche bis heute an ihrer Frontstellung gegenüber Giordano Bruno fest, während etwa der Naturforscher Galileo Galilei oder der Theologe Jan Hus rehabilitiert wurden. Die Hinrichtung sei zwar Unrecht gewesen, erklärte der Papst im Jahr 2000, eine weiterreichende versöhnliche Erklärung war mit diesem Eingeständnis allerdings nicht verbunden. Die Kapitel zu den Bruno-Verhören lesen sich wie ein Krimi Volker Reinhardt zeichnet in seiner spannenden Biografie den Weg Brunos präzise nach: vom Eintritt in den Mönchsorden, der Flucht aus dem Kloster und der jahrelangen Wanderschaft durch ein zerrissenes Europa, die ihn von Genf über Paris und Oxford nach Wittenberg und Prag führte, bevor er einer Einladung nach Venedig folgte. Hier geriet er ins Visier der Inquisition. Sein Fall wurde zum Politikum, Bruno zum Spielball der Mächtigen zwischen Venedig und Rom, wohin er schließlich überstellt wurde. Volker Reinhardt hat erstmals neu aufgefundene Dokumente zu den Hintergründen des Verfahrens ausgewertet. Die Kapitel zu den Verhören lesen sich wie ein Krimi. Mit großem detektivischem Spürsinn folgt der Biograf akribisch den zahlreichen Wendungen und Volten des Falles – bis zum erschütternden Ende. Sein Fazit: Der Verlauf des Prozesses in Venedig und in Rom habe das Todesurteil nicht rechtfertigen können. Mehr noch: Mit dem Urteil, dass Giordano Bruno als „unbußfertiger, hartnäckiger Ketzer“ seiner kirchlichen Weihen entkleidet und der weltlichen Obrigkeit zur Bestrafung übergeben werden sollte, wurde in juristisch und theologisch unhaltbarer Form ein „Ausnahmeverbrechen“ konstruiert, ein Exempel für die Pilger des Heiligen Jahres statuiert und nach den ureigenen Kriterien der Inquisition ein Justizmord angeordnet. Quelle: Volker Reinhardt – Der nach den Sternen griff Ein großes Denkmal für einen faszinierenden Unangepassten Seinen Mut hat der von der Haft gezeichnete Giordano Bruno bis zuletzt nicht verloren. Als das Todesurteil gegen ihn verkündet wurde, schleuderte er seinen Richtern den berühmt gewordenen Satz entgegen: „Ihr verhängt das Urteil vielleicht mit größerer Furcht, als ich es annehme!“ Von dem ihm entgegengestreckten Kruzifix wendete er sich verächtlich ab. Die Nachwelt hat dem faszinierenden Unangepassten ein Denkmal gesetzt. An der Stelle, an der Giordano Bruno verbrannt wurde, auf dem Campo de’ Fiori im Zentrum Roms, steht seit 1889 eine überlebensgroße Bronzestatue. Volker Reinhardt zeigt einen streitbaren, furchtlosen Mann, der keinerlei Tabus akzeptierte und mit schonungsloser Vehemenz für uneingeschränkte Gewissens-, Denk und Schreibfreiheit stritt. Seine Biografie macht deutlich, wie diese Freiheit zu Giordano Brunos Zeiten rigoros beschnitten wurde, aber auch wie gefährdet sie heute immer wieder ist.
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Mar 10, 2024 • 57min

SWR2 lesenswert Magazin u.a. mit neuem Buch von Anne Weber

Das lesenswert Magazin feiert den internationalen Frauentag mit neuen Büchern von und mit starken, sturen, lustigen und kämpferischen Frauen. Los geht’s mit der Mutter von Frankreichs Star-Autor Didier Eribon. In „Die Arbeiterin“ kehrt er nochmal nach Reims zurück, Happy End ausgeschlossen. Auch Anne Weber flaniert für ihren Roman „Bannmeilen“ durch Frankreichs Armenviertel, kann den Banlieues der Pariser Peripherie aber viel abgewinnen. Kämpferisch und mit großem Erkenntniswert widmet sich die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen in „Putins Krieg gegen die Frauen“ dem strategischen Frauenhass in Russland – und darüber hinaus. Von einer sich selbst suchenden Frau erzählt Deniz Ohde in „Ich stelle mich schlafend“. Der Historiker Volker Reinhardt erzählt in seiner großartigen Biografie „Der nach den Sternen griff“ vom Leben des faszinierenden Freidenkers Giordano Bruno. Und die Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin Lilian Pithan hat für ihren Comic-Band „The future is…“ 14 Zeichnerinnen dazu aufgefordert, einen Blick in unsere Zukunft zu wagen. Kleiner Spoiler: Witz und Apokalypse liegen nah beieinander. Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben Aus dem Französischen von Sonja Finck Suhrkamp Verlag, 272 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-518-43175-7 Rezension von Wolfgang Schneider Anne Weber – Bannmeilen Matthes & Seitz Verlag, 301 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-7518-0955-9 Rezension von Ulrich Sonnenschein Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen Übersetzt von Angela Plöger, Maximilian Murmann Kiepenheuer & Witsch Verlag, 336 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-462-00691-9 Beitrag von Lukas Meyer-Blankenburg und Lesung Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend Suhrkamp Verlag, 248 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-518-43170-2 Rezension von Ulrich Rüdenauer Volker Reinhardt – Der nach den Sternen griff C. H. Beck Verlag, 352 Seiten, 29,90 Euro ISBN 978-3-406-81362-7 Rezension von Holger Heimann Lilian Pithan (Hrsg.) – The Future is ... Carlsen Verlag, 128 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-551-76018-0 Beitrag von Lukas Meyer-Blankenburg Musik: Lizzo – Juice, Label: Atlantic 2Pac – Dear Mama, Label: Interscope Lizzo – If you love me, Label: Atlantic Billie Eilish – Male Fantasy, Label: UNIVERSAL Billie Eilish – Happier than ever, Label: UNIVERSAL Betti Kruse – Wie der Wind , Label: Backseat PR & Labelservices David Bowie – Space Oddity, Label: Parlophone Label Group (PLG)
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Mar 10, 2024 • 6min

Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben | Buchkritik

Didier Eribons autobiographisches Buch „Rückkehr nach Reims“ gilt inzwischen als Manifest eines neuen klassenbewussten Schreibens. Die „soziale Scham“ analysiert Eribon darin als Schlüsselkategorie seines Denkens und Fühlens. Allerdings ist die echte proletarische Herkunft in den linken Pariser Intellektuellenkreisen auch ein Gütesiegel, sofern man den Klassenwechsel nur so glänzend schafft wie Eribon. Didier Eribon kehrt nochmal nach Reims zurück In seinem neuen Buch muss er seine Scham überwinden und erneut nach Reims zurückkehren. Der Mutter, mittlerweile in den Achtzigern, geht es schlecht. Als er vor verschlossener Tür steht, wählt er den Notruf. Die Feuerwehrleute konnten die Tür nicht aufbrechen: zu schwer, zu massiv. Sie hätten den Rahmen aus der Wand schlagen müssen. Daraufhin fuhren sie die Drehleiter an der Außenwand aus und verschafften sich Zugang zur Wohnung, indem sie die Scheibe der Balkontür einschlugen. Meine Mutter lag auf dem Boden. Sie war gestürzt und nicht wieder hochgekommen. […] Sie war nackt. Die eigene alte Mutter nackt auf dem Boden liegen zu sehen, mit verwirrtem Blick, als wäre sie nicht ganz da, war unerträglich. Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben Der Umzug in ein Pflegeheim lässt sich nicht vermeiden, für die Mutter wie auch für den Sohn eine beklemmende, erschütternde Erfahrung. Eribon kritisiert das unmoralische Pflegesystem, das zur Überlastung des Personals und zur Vernachlässigung der Heimbewohner führe. Und sieht die Schuld bei den üblichen kapitalistischen Verdächtigen: „Kostensenkung“, „Profitmaximierung“ und „Neoliberalismus“. Stark sind seine Analysen der Gespräche zwischen pflegebedürftigen Alten und ihren Angehörigen. Beide Seiten wissen, dass es unweigerlich bergab geht, aber das wird überspielt mit einem Repertoire an aufmunternden, beschönigenden, zur sogenannten Vernunft mahnenden Floskeln. Alle tun so, als würden sie die Wahrheit nicht kennen. Eribon verurteilt das nicht, denn es ist eine ausweglose Situation, ohne die wechselseitige Täuschung kaum zu bewältigen. Ekel vor der eigenen Mutter Zur Ehrlichkeit seines Berichtes gehört es auch, dass er sich nicht zum fürsorglichen Sohn stilisiert, sondern seine Hilflosigkeit im Angesicht der Hinfälligkeit bekennt, etwa wenn er das Zimmer der Mutter fluchtartig verlassen muss, weil ihm die Gerüche ihres künstlichen Darmausgangs Brechreiz verursachen. Im Pflegeheim hat er sie nur zweimal besucht; sieben Wochen nach dem Einzug ist sie gestorben. Gerade die gemischten Gefühle und Ambivalenzen sind es jedoch, die das Porträt seiner Mutter hintergründig und faszinierend machen. Eribon beschreibt sie als Opfer der Klassenverhältnisse, aber er setzt seiner Darstellung auch ein kleines emanzipatorisches Glanzlicht auf. Mit achtzig Jahren habe sich die Mutter noch einmal „unsterblich verliebt“, was in der Familie auf wenig Wohlwollen stieß: Sie ist nicht mehr ganz richtig im Kopf‘, sagte einer meiner Brüder zu mir. E-Mails wurden verschickt, Anrufe getätigt, und der Tenor war immer der gleiche: ‚Sie hat was mit einem anderen Mann angefangen, dabei ist Papa erst drei Jahre tot.‘ Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben Eribon aber, der Praktiker und Theoretiker stigmatisierter Sexualität, entgegnet, die Mutter sei jetzt achtzig. Ob sie denn warten solle, bis sie neunzig sei?  Sie war ein ungewolltes, im Waisenhaus aufgewachsenes Kind und hatte mit vierzehn Jahren angefangen zu arbeiten, erst als Dienstmädchen, dann als Putzfrau, später als Fabrikarbeiterin. Sie hatte mit zwanzig geheiratet und fünfundfünfzig Jahre mit einem Mann zusammengelebt, den sie nicht liebte. Jetzt, mit über achtzig, entdeckte sie ihre Freiheit und war fest entschlossen, jeden Moment davon zu genießen. Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben Auch wenn ihr Geliebter von Hitler schwärmt – Eribon gönnt der Mutter das späte Glück nach der Ehe mit seinem Vater, der mit wütender Eifersucht über sie wachte. Trennung war in jenen Zeiten und Verhältnissen noch keine wirkliche Option. Wechsel von der kommunistischen Partei zum Front Nationale In der zweiten, retrospektiven Hälfte des Buches vergegenwärtigt Eribon als Sohn und Soziologe Schlüsselszenen seiner Jugend, durch die das Bild der Mutter und seine eigene Außenseiterposition in der Familie noch deutlicher werden. Er analysiert die Fernsehgewohnheiten und Lektüren der Mutter, ihr politisches Wahlverhalten sowie den allgemeinen Wechsel ihrer „Klasse“ von der kommunistischen Partei zum Front Nationale. Die Gründe dafür sieht er in der Deindustrialisierung und Prekarisierung. Immer wieder beklagt er die unverbesserliche Neigung der Mutter zu rassistischen Bemerkungen, die er – um den Konflikt nicht zu schüren – meist schweigend erduldete, ebenso wie die homophoben Provokationen seiner Brüder, denen der „Klassenwechsel“ nicht gelungen ist und für die er die Pariser „Elite“, das „System“ und die „Linke“ repräsentiert. Seit meinem Studium hatte ich mir meinen Alltag so eingerichtet, dass ich solche Äußerungen, mit denen ich in meiner Kindheit und Jugend täglich konfrontiert gewesen bin, nicht mehr hören musste. Jetzt brachen sie wieder in mein Leben ein, noch brutaler als früher, und ich konnte mich ihnen nicht entziehen. Meine Mutter war eine alte Rassistin, aber ich musste sie so akzeptieren, wie sie war. Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben Gegen die linke Verklärung der Arbeiterklasse Das ist sie wieder, die „soziale Scham“ – Eribons zentrales Thema. Immerhin habe ihn seine Herkunft bewahrt vor der üblichen linken Verklärung der Arbeiterklasse, auf die Gefahr, dass er sich nun als „prolophob“ bezeichnen lassen müsse.   Eribon flankiert und vertieft seine Reflexionen über Alter, Pflege und Sterben mit vielen Zitaten aus den Werken bedeutender Autoren – Anreicherungen und Anregungen, von denen man auch als Leser dieses facettenreichen Mutterporträts profitiert, das durch die Doppelperspektive aus emotionaler autobiographischer Erzählung und kühler soziologischer Analyse überzeugt.
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Mar 7, 2024 • 5min

Terhi Kokkonen – Arctic Mirage

Ein Paar hat einen Autounfall im finnischen Lappland und ist gezwungen, einige Tage in einem luxuriösen Hotel zu verbringen. In der schneebedeckten einsamen Landschaft wollen sie sich erholen und an ihrer kriselnden Beziehung arbeiten. Terhi Kokkonens geheimnisvoll-schillernder Roman „Arctic Mirage“ ist das faszinierende Porträt einer dysfunktionalen Beziehung.

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