SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Mar 21, 2024 • 5min

Christoph Ransmayr – Als ich noch unsterblich war

Am 20.März 2024 wird der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr siebzig Jahre alt. Aus diesem Anlass erscheint ein Band mit gesammelten Erzählungen aus vier Jahrzehnten. Harsche Kritik an den weltweiten Raubzügen des Westens findet sich darin, aber auch das Lob eines freien Mannes und eine wirksame Arznei gegen die Sterblichkeit.
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Mar 20, 2024 • 5min

Paul Auster und Spencer Ostrander – Bloodbath Nation

In den USA sind Schusswaffen allgegenwärtig, immer griffbereit, und entsprechend oft kommen sie zum Einsatz. An die 40.000 Tote im Jahr sind das bittere Resultat. Wie kam es dazu, was ließe sich dagegen tun? Das fragt Paul Auster in seinem Essay „Bloodbath Nation".
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Mar 19, 2024 • 5min

Edoardo De Angelis und Sandro Veronesi – Comandante

Der Film „Comandante" fiel 2023 bei der Kritik durch: zu pathetisch! Mit ihrem zeitgleich entstandenen Roman aber haben Edoardo de Angelis und Sandro Veronesi eine Erzählung vorgelegt, die weniger dick aufträgt: Ihr Roman „Comandante" erinnert daran, dass auf See höhere Gesetze gelten als Phrasen von Pflichterfüllung und Vaterland. Ein Roman, der die Unmenschlichkeit und die Sinnlosigkeit aller Kriege in Erinnerung ruft.
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Mar 18, 2024 • 5min

Heike Melzer – Versteckte Köder. Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien

Das Internet ermöglicht den permanenten Zugriff auf Spiele, Pornographie oder Online-Shopping. Anfänglich ein Genuss, wird der Klick auf die Lieblingsseiten schnell zur Sucht. Die Neurologin und Psychotherapeutin Heike Melzer führt in ihrem Buch „Versteckte Köder“ anschaulich vor, wie Menschen fast unmerklich in die Online-Abhängigkeit rutschen, was sie mit ihnen macht und wie sie ihr entkommen.
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Mar 17, 2024 • 6min

Lilja Sigurðardóttir - Höllenkalt & Blutrot

„Das hier ist mein Schreibzimmer. Hier herrscht das totale Chaos. Aber das hier ist Malinche. Sie ist mein Ghostwriter.“ In einer kleinen, viereckigen Vitrine auf Lilja Sigurðardóttirs Schreibtisch sitzt ein Totenkopf. Ein menschlicher Schädel aus dem 16. Jahrhundert. Ein Geschenk ihres Vaters, der als Historiker länger in Mexiko forschte. „Der stammt aus einer Kirche in Mexiko-Stadt. Sie haben dort den Fußboden ausgetauscht. Mein Vater fragte: „Was macht ihr da?“ Die einheimischen Arbeiter sagten: „Wir räumen die Knochen weg, weil wir den Boden reparieren. Willst du einen?“ Sie warfen einen Schädel hoch und mein Vater fing ihn auf. Seitdem ist er der gute Geist unserer Familie. Ich bekomme von ihm viel positive Energie. Er sitzt auf meinem Tisch und schaut mir beim Schreiben zu.“ Ein Totenkopf inmitten der Idylle – so lassen sich auch Lilja Sigurðardóttirs Krimis lesen. Gemeinsam mit ihrer Familie, einer Handvoll Hühner und ihrem Hund Dr. Arni wohnt die Autorin heute an einem See, rund 30 Autominuten östlich von Reykjavik. Am Horizont leuchten schneebedeckte Berge. „In Island leben wir in einer Gesellschaft, die von außen betrachtet sehr gut aussieht. Aber es gibt auch dunkle Ecken. […] Und ich finde, der Kriminalroman ist ein gutes Mittel, um die Schattenseiten einer Gesellschaft zu betrachten.“ In ihrer neuen Krimi-Serie widmet sich die Autorin so unbequemen Themen wie Wirtschaftskriminalität und Gewalt gegen Frauen. Heldin der Romane ist Áróra Jónsdóttir, eine britisch-isländische Detektivin, die sich auf Finanzbetrug spezialisiert hat. Doch bald muss sie nicht nur verstecktes Geld suchen, sondern auch ihre Schwester, denn die verschwindet plötzlich. „Es gibt eine Menge Wirtschaftskriminalität. Es gibt viel sexuelle Gewalt. Es gibt viel Gewalt gegen Frauen. Es gibt ein großes Drogenproblem. Es gibt so viele Dinge in Island, von denen man im Ausland nichts weiß. […] Schusswaffen hingegen gibt es hier kaum. Die findet man in isländischer Kriminalliteratur deshalb so gut wie nie.“ „Höllenkalt“, Teil eins der Serie, spielt im ewigen Licht des isländischen Sommers. Eine Zeit, in der die Sonne nie untergeht. Die Autorin verzichtet damit bewusst auf die Dunkelheit, die in vielen anderen nordischen Krimis für Atmosphäre sorgt. „Ich wollte versuchen, diese Jahreszeit in Island zu begreifen. Der ewige Tag - zu dieser Zeit des Jahres wird jeder ein bisschen komisch. Man hat wahnsinnig viel Energie.“ Ein Schachzug, der „Höllenkalt“ zu einem besonderen und unterhaltsamen Krimi macht. Denn „ein bisschen komisch“ sind auch Sigurðardóttirs Figuren. Ob Täter, Held oder Nebendarsteller – in „Höllenkalt“ haben alle dunkle Seiten und obsessive Tendenzen. Sie wälzen sich in Geld, rasieren sich mehrmals pro Tag oder jäten nachts Unkraut. „Ich mag keine Figuren, die nur gut oder böse sind. Jeder hat eine dunkle Seite. Das finde ich interessant. Ich bin kein großer Agatha-Christie-Fan. Ich bin eher der Patricia-Highsmith-Typ. Mich interessieren die Grautöne.“ Entsprechend ungewöhnlich ist auch Lilja Sigurðardóttirs Hobby. „Zur Entspannung bastle ich kleine isländische Häuser. Ich gebe dir eins mit.“ „Oh, that's very nice. Thank you!” „So benutze ich meine Hände auch mal, nachdem ich den ganzen Tag mit dem Kopf gearbeitet habe. Ich kann nicht stricken. Ich bin wahrscheinlich die einzige isländische Frau, die nicht strickt. Also bastle ich diese winzigen Holzhäuschen.“ In „Höllenkalt“ spielen die Lavalandschaften rings um Reykjavik eine entscheidende Rolle. „Blutrot“ hingegen, Teil zwei, spielt vor allem in den wohlhabenden Vororten der isländischen Hauptstadt. Neben Finanzexpertin Áróra tauchen hier weitere Figuren auf, die Leser bereits aus „Höllenkalt“ kennen. Unter anderem Áróras Sidekick, ein Unkraut-hassender Polizeikommissar und seine charismatische Nachbarin, eine Dragqueen. Doch der Fall, den die Ermittler lösen müssen, ist natürlich neu. „Ich habe mich von einem ungelösten norwegischen Kriminalfall inspirieren lassen, dem Fall Hagen. Es geht um eine Entführung. Die Frau eines wohlhabenden Geschäftsmannes verschwindet eines Tages aus der Küche und auf dem Küchentisch liegt eine Lösegeldforderung.“ Wie in „Höllenkalt“ gibt Sigurðardóttir dem Privat-und Liebesleben ihrer Figuren viel Raum. Und wie in Teil eins werden die Kapitel abwechselnd aus der Sicht verschiedener Figuren erzählt. Als Leser hat man so das Gefühl, gemeinsam mit den Ermittlern am Fall zu arbeiten und Stück für Stück die Puzzleteile zusammenzufügen. Nur wirklich „isländisch“ fühlt sich „Blutrot“ nicht an. Das mag auch daran liegen, dass Landschaften und Wetter der Insel in diesem Roman keine Rolle spielen. Deswegen wünscht man sich am Ende das ewige Licht des isländischen Sommers aus „Höllenkalt“ zurück, oder einen Schneesturm, um die Geschichte eindeutig am Polarkreis zu verorten. Doch wer Englisch liest und schon mal in Band drei der Serie schaut, dem wird klar: Kälte und Schnee haben sich Lilja Sigurðardóttir und ihr Ghostwriter Malinche für Teil drei aufgehoben. Der heißt „Schneeweiss“ und erscheint im Juni.
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Mar 17, 2024 • 6min

Ronya Othmann – Vierundsiebzig

Der Völkermord an den Jesiden beginnt im August 2014 in der irakischen Region Shingal. Weil sie die Zwangsbekehrung zum Islam verweigern, werden sie umgebracht. Für die Gotteskrieger des „Islamischen Staats“ ist die Tötung von Ungläubigen „halal“. Ganze Dorfgemeinschaften werden ausgelöscht, viele Mädchen und Frauen verschleppt. Es gibt Sklavenmärkte in Rakka und Mossul, auf denen Jesiden – Ronya Othmann bevorzugt die Schreibweise Eziden – verkauft werden. Vor 2014 kennt man die Eziden in Deutschland nicht. Wenn ich gefragt werde, sage ich: Wir sind Kurden aus Syrien. Nein, wir sind keine Muslime. […] 2014 wissen die Leute, dass es Eziden gibt. In den Schlagzeilen aller Zeitungen ist von uns zu lesen. Berge, Staub und Menschen, die um ihr Leben rennen. Titelbilder. Tagesschau. Wir werden ermordet. Quelle: Ronya Othmann – Vierundsiebzig Der 74. verbürgte Massenmord an den Jesiden „Vierundsiebzig“ ist Reportage, Essay, Reisebeschreibung – ein fünfhundertseitiges Buch über das Dokumentieren des Völkermords und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden. Darüber hinaus will Othmann auch die vielen Verfolgungen der Jesiden im Lauf der Jahrhunderte vergegenwärtigen: Der Titel des Buches bedeutet, dass die Gemeinschaft 2014 den vierundsiebzigsten historisch verbürgerten Massenmord erlebte. Othmann reist in die kurdisch-jesidischen Gebiete, besucht Gedenkstätten und  Flüchtlingscamps, trifft Verwandte und Freunde, manche knapp dem Morden entkommen. Sie hört den Überlebenden zu, wenn sie von der Terrorherrschaft des IS erzählen. Am Oberlandesgericht München verfolgt sie den Prozess gegen die deutsche IS-Anhängerin Jennifer W., die mit ihrem Mann, einem arabischen Dschihadisten, in Falludscha eine jesidische Frau versklavte und deren Kind verdursten ließ. In akribischen Protokollen sind hier Details aus dem monströsen Alltag des Islamischen Staats zu erfahren.    Fast 6000 ezidische Frauen und Mädchen, lese ich, waren in IS-Gefangenschaft. Nahezu jede wurde vergewaltigt. Bis heute wurde nur die Hälfte aus der Gefangenschaft befreit oder konnte fliehen. Quelle: Ronya Othmann – Vierundsiebzig Othmann befasst sich auch mit Definitionen des Begriffs „Genozid“, sie studiert Dokumente der Vereinten Nationen und Sachbücher über den Islamischen Staat, scheut auch nicht zurück vor den Blogs und Hinrichtungsvideos der Islamisten. Ausgiebig referiert sie die Reisebeschreibung des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der im 19. Jahrhundert die Jesidengebiete erkundete und bereits von grausamen Verfolgungswellen und der Versklavung zu berichten wusste, welche die als „Teufelsanbeter“ angefeindete Glaubensgemeinschaft zu erdulden hatte – allein 1832 sollen 12.000 Menschen am Ufer des Tigris ermordet worden sein. Auch wenn „Roman“ auf dem Umschlag steht – „Vierundsiebzig“ ist keiner, es gibt keine Spielfreiheit der Fiktion. Die Instanz des erzählenden Ichs ist dennoch wichtig, denn sie hält den ausufernden Text zusammen und macht das Umkreisen des Unbegreifbaren psychologisch plausibel. Wenn die Beschreibung des Unbeschreiblichen immer nur eine Annäherung sein kann, dann braucht es eine Figur, die diese Annäherung vollzieht. Ich schreibe, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was der Kopf weiß, und dem, was er erfassen kann.    Quelle: Ronya Othmann – Vierundsiebzig Das größte Problem des Buches ist sein Ehrgeiz. Othmann belässt es nicht bei den Nöten der Jesiden, sie erzählt auch vom Völkermord an den Armeniern, von den Massenmorden Saddam Husseins, von den zum Minenräumen missbrauchten Kindersoldaten im iranisch-irakischen Krieg, von der der Folter in türkischen Gefängnissen und der nicht endenden Misere der staatenlosen Kurden, deren Milizen die Jesiden während der Angriffe des IS teils unterstützt, teils aber auch schmählich im Stich gelassen haben. So droht das Buch zu einem unübersichtlichen, seine Form nicht recht findenden Materialkonvolut zu werden. Die Rettung ist das letzte Viertel. Othmann beschreibt hier in atmosphärischer Prosa, wie sie gemeinsam mit ihrem alle Religionen für Unsinn erklärenden Vater in die Gebiete der religiösen Fanatiker reist – ohne männliche Begleitung wäre das nicht möglich. In der nordirakischen Region Shingal nimmt sie die Orte des Völkermords in Augenschein, fährt mit beklommenen Gefühlen durch die Dörfer der vormaligen IS-Anhänger, unversehrt neben den zerstörten Orten der Jesiden. Oft sind die Ruinen wegen der Sprengfallen noch immer nicht begehbar. Überlebende berichten, wie sich viele arabische Nachbarn an den Morden beteiligten. IS-Kämpfer aus dem Ausland, das waren Zwanzigjährige aus Tschetschenien, China, Deutschland, Saudi-Arabien oder Libyen. Aber das, was uns angetan wurde, geschah mit Hilfe unserer sunnitischen Nachbarn. Sie haben ihnen gesagt: Das sind Eziden, Kuffar, Ungläubige. […] Faris wiederholt das, was alle ständig wiederholen, als könnten sie es immer noch nicht begreifen: Es waren unsere Nachbarn, die uns verraten haben. Quelle: Ronya Othmann – Vierundsiebzig Ungeachtet ihrer multikulturellen Toleranz findet Othmann die islamischen Gebetsrufe an den Orten des Grauens schwer erträglich. Sie überlegt, ob sie ihr Unbehagen wegzensieren soll, schreibt es aber dennoch auf: Wir stehen an einer Straßenecke, als plötzlich der Gebetsruf ertönt. Ich erschrecke, versuche mir nichts anmerken zu lassen, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Sage mir, das ist doch jetzt albern, und werde wütend. Wie können die noch auf unseren Gräbern herumbrüllen. Quelle: Ronya Othmann – Vierundsiebzig Auch wenn „Vierundsiebzig“ durch etwas mehr Straffung und Formung gewonnen hätte – es ist gut, dass Ronya Othmann mit einer Gründlichkeit, die sich und ihren Lesern keine mildernden Umstände gönnt, das Massakrieren im Namen des Islam dokumentiert. Mit sogenannter „Islamophobie“ hat das nichts zu tun. Denn eine Phobie ist ja die krankhafte Furcht vor etwas eigentlich Harmlosem.
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Mar 17, 2024 • 54min

SWR2 lesenswert Magazin u.a. mit dem neuem Buch von Bernadine Evaristo

JesidInnen werden verfolgt. Nicht erst seit den Übergriffen des IS im Irak. Der Geschichte dieser Volksgruppe geht Ronya Othmann in ihrer umfangreichen Recherche „Vierundsiebzig“ nach. Auf der Leipziger Buchmesse 2024 präsentieren sich die Niederlande und Flandern gemeinsam als Gastland. Darüber berichtet die Flämin Lize Spit, die in Leipzig auch ihren neuen Roman vorstellt. Arbeitszimmer mit Totenkopf: Hier hat Lilja Sigurðardóttir ihre Krimis „Höllenkalt“ & „Blutrot“ geschrieben. Marten Hahn hat sie in der Nähe von Reykjavik besucht. Die Geschichte des Versklavten Jim aus Marks Twains Roman „Huckleberry Finns Abenteuer“ neu schreiben – das ist Percival Everett auf humorvolle Weise gelungen. „James“ heißt sein neuer Roman. Auch „Zuleika“ war eine Schwarze Sklavin, allerdings im London der 2. Jahrhundert n. Chr. In unterschiedlichen Tonspuren verschneidet Bernadine Evaristo die ferne Vergangenheit mit der unmittelbaren Gegenwart. Genial gemacht. Wiedersehen mit Odradek: Zum Kafka-Jahr 2024 liest der Schauspieler David Schalko mit „Die Sorge des Hausvaters“ seine Lieblingsgeschichte von Kafka vor. Ronya Othmann – VierundsiebzigRowohlt Verlag, 512 Seiten, 26 Euro ISBN 978-3-498-00361-6 Rezension von Wolfgang Schneider Lize Spit – Der ehrliche FinderAus dem Niederländischen von Helga van Beuningen S. Fischer Verlag, 128 Seiten, 18 Euro ISBN 978-3-10-397564-2Gespräch mit Lize Spit zum Gastland Niederlande/Flandern auf der Leipziger Buchmesse 2024 und Lesung aus ihrem neuen Roman (Sprecherin: Mareike Köhler) Lilja Sigurðardóttir – Höllenkalt & BlutrotHöllenkalt:Aus dem Isländischen von Betty WahlDumont Verlag, 368 Seiten, 18 EuroISBN 978-3-8321-6689-2Blutrot:Aus dem Isländischen von Tina Flecken Dumont Verlag, 330 Seiten, 13 Euro ISBN 978-3-8321-6690-8 Reportage von Marten Hahn Percival Everett – JamesAus dem Englischen von Nikolaus Stingl Hanser Verlag, 336 Seiten, 26 Euro ISBN 978-3-446-27948-3 Rezension von Ulrich Rüdenauer Bernadine Evaristo – ZuleikaAus dem Englischen von Tanja Handels Tropen Verlag, 296 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-608-40238-1 Rezension von Marie Schoeß Franz Kafka – Die Sorge des Hausvaters Aus: Franz Kafka - Die ErzählungenS. Fischer Verlag, 576 Seiten, 18 EuroISBN 978-3-596-90371-9Lesung von David Schalko Musik:Thierry Massoubre – Behind the Strings Label: Acoustic Music Records
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Mar 17, 2024 • 6min

Percival Everett – James | Buchkritik

„Die Abenteuer von Huckleberry Finn“, erstmals erschienen 1864, stehen am Anfang der modernen amerikanischen Literatur – das behauptete Ernest Hemingway, und er war mit dieser Ansicht nicht allein. Mark Twain hat mit seinem jugendlichen Erzähler Huck Finn eine faszinierende Außenseiterfigur geschaffen; er hat die Odyssee als Road Novel in die damalige Gegenwart geholt. Und nicht zuletzt hat er einen zutiefst menschlichen Roman geschrieben – einen „prekären Gegenentwurf zu Unterdrückung und Gefangenschaft“, wie es der Übersetzer Andreas Nohl auf den Punkt brachte, eine Kritik „am systemischen Rassismus der USA“. Auf seiner Flucht wird Huck von Jim begleitet, einem schwarzen Sklaven. Ein zweites Leben für den versklavten Jim Mit ihm erlebt er seine Abenteuer, ihm kommt er im Laufe der Zeit immer näher, mit ihm gelingt Twain eine der „anrührendsten Figuren der Weltliteratur“. Nun schenkt der afroamerikanische Autor Percival Everett diesem Jim ein zweites Leben. Sein neuer Roman „James“ greift Mark Twains Geschichte und Figuren auf, aber erzählt wird nun aus der Perspektive Jims. Um es vorweg zu nehmen: Es ist ein meisterhaft komponierter, exzellent geschriebener, die Twainsche Utopie weiterdenkender Roman – den Nikolaus Stingl nuancen- und einfallsreich ins Deutsche gebracht hat. Diese weißen Jungs, Huck und Tom, beobachteten mich. Sie spielten immer irgendein Phantasiespiel, in dem ich entweder ein Schurke oder ein Opfer war, auf jeden Fall aber ihr Spielzeug. Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen, deshalb trat ich in den Garten und rief in die Nacht hinaus:‚Wersndas da draußnim Dunkeln?‘Sie rumorten unbeholfen herum, kicherten. Quelle: Percival Everett – James Gib dem Weißen, was er sich wünscht Den Weißen zu geben, was sie wollen: Das heißt auch, in eine Sklavensprache zu verfallen, sobald Aufseher, Miss Wharton, Tom Sawyer oder Huck Finn in der Nähe sind. Es ist eine Kunstsprache. Jim nämlich ist ein gebildeter Mann, er hat sich Lesen und Schreiben beigebracht, steckt seine Nase heimlich in philosophische Bücher, und er unterrichtet seine Tochter über die richtigen Verhaltensweisen und in der korrekten Sprache gegenüber den Herrschaften. ‘Aber was sagst du ihr morgen, wenn sie dich fragt, ob es dir geschmeckt hat?‘, fragte ich.Lizzie räusperte sich. ‚Miss Watson, dassja ma n Cornbread, wie ich’s noch nie in meim Leem gegessn hab.‘‚Probier’s mit ›wo ich‹‘, sagte ich. ‚Das wäre die korrekte falsche Grammatik.‘‚Dassja ma n Cornbreard, wo ich noch nie in meim Leem gegessn hab‘, sagte sie.‚Sehr gut‘, sagte ich. Quelle: Percival Everett – James Artifizieller Dialekt mit wunderbaren Verschleifungen „Dat be sum of conebread lak neva I et“ – so heißt der Satz im englischen Original. Man hört und sieht, wie elegant Nikolaus Stingl diesen Tonfall in einen artifiziellen Dialekt übersetzt hat, der mit Verschleifungen arbeitet, auf korrekte Verbkonjugation verzichtet, Hilfsverben weglässt usw. Mit diesem künstlichen und als künstlich herausgestellten Sklavenslang erzeugt Everett einen erstaunlichen Effekt: Die Herrschaftssprache wird lächerlich gemacht, indem den Herrschenden mit einer Kunstsprache begegnet wird – als müsste man mit ihnen wie mit Kindern sprechen, weil sie nicht aus ihrer schrecklichen, rassistischen Phantasiewelt gerissen werden sollen. Die schwarzen Figuren sind sich ihrer Lage bewusst, aber sie verweigern sich der Opferrolle – vielmehr tricksen sie ihre Peiniger aus. Zugleich versuchen sie damit, von deren Brutalität verschont zu bleiben. (…) je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir. Quelle: Percival Everett – James Ein Bleistiftstummel wird der größte Schatz Das lässt sich noch auf heutige Zeiten übertragen: Schwarze Eltern bringen ihren Kindern früh bei, sich in Gegenwart weißer Polizisten bloß nicht falsch zu bewegen oder etwas Falsches zu sagen – um nicht „versehentlich“ erschossen zu werden. Wie Mark Twain bedient sich Everett einer Vielzahl von Tonfällen – über die Sprache selbst wird von Unterdrückung und Gewalt und von Akten der Emanzipation erzählt. Etwa wenn er seinen Jim über Himmel und Hölle, über „proleptische oder dramatische Ironie“, über die subversive Kraft der Literatur und des Lesens sinnieren lässt. Ein Bleistiftstummel, für den ein anderer Sklave sein Leben gelassen hat, wird für ihn zum gewichtigen Schatz – das Schreibwerkzeug hat eine größere Bedeutung und Wirkmacht als eine Waffe; es wird zum Symbol der Befreiung schlechthin. Riskante Flucht auf einem Mississippi-Floß Darüber hinaus ist „James“ aber – wie auch Twains „Huckleberry Finn“ – eine grandios gebaute, satirische, anrührende, höchst unterhaltsame Abenteuergeschichte: eine in Episoden erzählte Reise in die Freiheit, eine Flucht auf dem Floß über den Mississippi, an dessen Ufern allerlei Gefahren in Form von Gaunern und Sklavenjägern lauern. Jim reißt aus, weil er von seiner Besitzerin verkauft werden soll. Huck wiederum flieht vor seinem gewalttätigen Vater – der bei Everett womöglich gar nicht Hucks Vater ist. Mal ist „James“ sehr nah dran an Twains Klassiker, etwa wenn Huck sich als Mädchen verkleidet, um Informationen und Nahrung zu beschaffen; oder wenn Jim und er zwei Trickbetrügern begegnen, die sich als Nachfahren eines Herzogs und eines Königs ausgeben. Zwischendurch trennen sich die Wege der Flüchtenden, und natürlich erleben wir nun die Geschehnisse aus dem Blick von Jim selbst: Er wird beispielsweise von einer Gruppe von Minstrel-Sängern gekauft und so geschminkt, dass er bei Auftritten als Weißer durchgeht, der sich als Schwarzer verkleidet. Auch ein anderer, sehr hellhäutiger Schwarzer lebt heimlich unter den „Virginia Minstrels“: ‘Was ist das Ganze hier eigentlich?‘, fragte ich. ‚Das Gesinge?‘Er blickte sich um. ‚Die neueste Mode ist, dass Weiße sich schminken und sich zu ihrer Unterhaltung über uns lustig machen.‘‚Sie singen unsere Songs?‘ Quelle: Percival Everett – James Percival Everetts Hommage an Mark Twain – an seinen Humor und seine Menschlichkeit – nimmt viele Wendungen. „James“ schreibt die Geschichte weiter und um. Auch wenn der Roman im 19. Jahrhundert spielt: Er ist absolut zeitgenössisch, radikal, inspirierend. Er spricht von der Freiheit der Literatur, Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen und Randfiguren ins Rampenlicht zu rücken.
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Mar 17, 2024 • 6min

Bernadine Evaristo – Zuleika

Was soll denn das? Diese Autorin, die für ungemein gegenwärtige Themen und Texte bekannt ist, für politisch-engagierte Literatur, die einen packt, weil sie viel mit der eigenen Zeit, mit eigenen Verletzlichkeiten, Unsicherheiten zu tun hat, diese Autorin springt ins 2. nachchristliche Jahrhundert? Und erzählt in Versen? Eine Art Epos – quasi auf den Spuren von Vergil und Homer? Ein Anti-Epos Tut sie nicht, also tut sie schon. Aber anders. Wenn dieses Buch ein Epos ist, dann ein Anti-Epos. Eine Provokation der Tradition. Personal, Ton, Takt unterlaufen die klassischen Muster: Was waren alle neidisch auf mich, die bella negrita aus einem Hinterzimmer an der Gracechurch Street, die sich ’nen Patrizier aus Rom geangelt hat, obwohl ihre Eltern übers Meer aus Khartum kamen, ganz ohne glänzenden Thron und goldenes Heck, stattdessen proppenvoll mit kotzenden Blagen und Kühen, die ihnen dampfende Fladen auf die nackten Füße kackten. So parfümiert zogen sie nach Londinium ein, auf einem Esel, mit schmalem Geldbeutel und fetten Träumen. Quelle: Bernadine Evaristo – Zuleika Hier spricht: Zuleika. Eine junge Frau, oder besser: ein Mädchen, das mit 11 Jahren verheiratet wird – ein echter Glücksfall, der Mann ist Römer, und will sie trotzdem, diese schöne Schwarze ohne Geld, eigentlich ja noch ein wildes Kind, das bisher unbehelligt, mit nichts als einer Freundin durch die Straßen zog, jetzt aber das Haus nur noch auf einer Sänfte verlassen darf. Ein Glücksfall also – immerhin für die Eltern, für das Mädchen, das sich nach der ersten gemeinsamen Nacht wie tot fühlt, nicht ganz: Rund um das Hochzeitsbett flackerten Flammen. Er drapierte mich, schälte die Schichten von mir ab wie feuchte Rosenblätter, lutschte an meinen Zehen, nannte mich mea delicia, spreizte mir die Beine und hielt mir eine Kerze an die Vulva, bis die Flammen drohten, als Schrei aus meinem Mund zu lodern, aber da lag ja seine Hand. ((Ich sackte weg. Pluto griff in dieser Nacht nach mir, und jedes Mal, wenn ich erwachte, war es wieder meine erste Nacht im Reich des Todes.)) Quelle: Bernadine Evaristo – Zuleika Pidgin-, Jugendsprache und Latein Bernadine Evaristo springt hier tatsächlich ins 2. Jahrhundert nach Christus, Großbritannien steht unter römischer Herrschaft, Gewalt ist an der Tagesordnung und Migration schon damals: ein Normalfall. Überhaupt ist Evaristos „Londinium“ immer auch das London unserer Zeit – was die Autorin wie ihre famose Übersetzerin Tanja Handels in jeder Zeile hörbar macht: Pidgin- und Jugendsprache stoßen da auf Fetzen Latein, der Sound der antiken Villen clashed mit dem aus den Straßen der Gegenwart.  Ich kam dann zu Clarissa, einer arroganten Römer-Bitch, die mir Benimmstunden erteilte, ich lernte reden, essen, furzen, mein amo amas amat runterbeten und mein Plebejer-Kreolisch in die Tonne treten. Zuleika accepta est.Zuleika delicata est.Zuleika Scheiß-Musterkind vom Dienst est. Quelle: Bernadine Evaristo – Zuleika Diese Sprache ist nie fauler Kompromiss, nie scheinbar zeitlos oder bloß gemäßigt antiquiert. Es wirkt, als wären Tonspuren aus verschiedenen Jahrhunderten, verschiedenen Stadtvierteln übereinandergelegt – und mal wird die eine Spur hochgezogen, dann die andere. Das 2. Jahrhundert ist es: nie ganz. Nie ganz: Hier und Jetzt. Jeder Satz operiert im unheimlichen Grenzgebiet des Dazwischen – und das nicht bloß sprachlich. Evaristo arbeitet in diesem Versroman an den Grenzen von Räumen, Zeiten, Genres. Rom ist zu dieser Zeit Aggressor, wie es Großbritannien in der jüngeren Geschichte war – die imperiale Gewalt des römischen Reiches stößt einen direkt auf die koloniale Gewalt Großbritanniens, von der Antike zu lesen, ohne an die Moderne zu denken: ausgeschlossen. Die Geschichte der Sieger Und auch die etabliere literarische Form wird nur genutzt, um das Etablierte aus den Bahnen zu werfen. Das Epos stabilisierte, begründete, feierte ein Imperium, Epos und Empire haben eine unheimliche Nähe. Evaristo aber nagt an den Geschichten der Sieger, befragt die Allianz von Schrift und Macht. Und überlässt es schließlich Zuleika, in epischer Form die epische Tradition zu zerlegen. Er hat mir die Ilias von Homer zu lesen aufgedrängt, die ich, ganz ehrlich, so richtig öde fand. Nichts als Belagerung von Troja. Wen interessiert das? Geht’s vielleicht noch altmodischer?(…)(…) weißt du, Dad, was ich eigentlich lesen und hören will, ist etwas über uns und jetzt, über Leute aus Nubia in Londinium, über Männer, die sich anziehen wie Frauen, über außereheliche Betrügereien, über Mädchen, die ältere Männer heiraten, und apropos, wie sagt es Plinius, der große Gott, so schön? Die eine ist zu früh, der andere zu spät (räusper!). Quelle: Bernadine Evaristo – Zuleika Das hier ist ein früher Text von Bernadine Evaristo. Ihr zweiter Roman. Aber der Mut, der aus ihm spricht, ist der Mut einer reifen Autorin. Einer, die sich vorgenommen hat, in jedem Buch etwas zu riskieren, in jedem Buch zu testen, was Literatur kann, und sich selbstbewusst der klassischen Mythen und Motive zu bemächtigen. Eine Venus gibt’s zum Beispiel in diesem Text, aber eine Liebesgöttin ist sie nicht. Oder vielleicht schon – aber nichts da mit stiller Größe. Ganz „Glamourschein aus Glitzerwitz“ ist sie. Queer, Kneipenbesitzerin, Zuleikas Alma mater, liebevoll, derb, lebensklug. „Entweder du bist ‘n Fickfigürchen oder ‘n verfickter Freak“ – eine ihrer Weisheiten. Und unrecht hat sie nicht.
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Mar 14, 2024 • 5min

Andreas Schwab – Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme

Andreas Schwab führt leichtfüßig und klischeebefreit durch die europäische Bohèmeszene des Fin de siècle.

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