
SWR Kultur lesenswert - Literatur Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
Mar 10, 2024
06:10
Wie unglaublich, wie nah und zugleich absurd weit entfernt sind im Rückblick diese jugendlichen Schwärmereien: Man ist 13 oder 14, sieht plötzlich eine Person auf dem Schulhof oder aus dem Nachbarhaus treten, weiß nichts von ihr. Aber die Bewegungen, das ins Gesicht fallende Haar, die noch kaum etwas von sich ahnende Coolness dieses erstmals erblickten Wunderwesens setzen eine Fantasiemaschine in Gang, die aus romantischem Erbgut und arglosen Teenie-Filmen gespeist wird.
Eines flüchtigen Blickes würdigte Vito sie, und Yase legte alles hinein. Sie hatte einmal gelesen, wenn man der Liebe seines Lebens in die Augen sehe, dann spiegelten sich alle nachfolgenden Generationen darin. Genau das passierte ihr – so erzählte sie es Imma – am elften Januar um sieben Uhr siebenundzwanzig, sieben Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag.Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
Jugendliche Suche nach dem eigenen Ich
Yasemin, die Sehnsüchtige, Imma, die enge Freundin, Vito, der Angebetete: Daraus könnte nun ein Jugendroman mit herzschmerzreichen Verwicklungen werden. Da es sich aber um das neue Buch der für ihr Debüt „Streulicht“ gefeierten Autorin Deniz Ohde handelt, gehen einfache Schlager-Reime hier nicht auf: „Ich stelle mich schlafend“ handelt zwar von juvenilem Gefühlschaos, mehr aber noch davon, wie man zu sich selbst und in den eigenen Körper findet, um mühselig wieder aus der eigenen Haut zu schlüpfen, über den eigenen Schatten zu springen. Yasemin nämlich ist ein ambivalenter, unsicherer Mensch. Wo immer sie ist – sie fühlt sich nicht willkommen. Aus einem Willensbruch sei sie gezeugt worden, heißt es mehrmals. Soll heißen: Die Mutter war in der Nacht der Zeugung bis zur Willenlosigkeit betrunken, der Vater scherte sich nicht darum. Danach musste geheiratet werden, obwohl die Eltern nicht recht zusammenpassten. Diese missliche Ausgangskonstellation hat Einfluss auf Denken und Selbstwahrnehmung.Allem anheim war ein garstiger Umgang mit sich und der Welt; [Yasemin] versuchte, alles Schlechte und Unangenehme auszutreiben und alles Angenehme auf ein Minimum zu beschränken, aus Angst, es wieder zu verlieren.Der Ton Ohdes, das merkt man an diesem Zitat, ist nicht ganz frei von Manierismen. Die Leidenschaft für Vito, das Schwindelgefühl der Pubertät – all das geht ohne Pathos nicht ab. Alles in diesem Text ist getragen von großer Ernsthaftigkeit. Wer kein richtiges Zuhause besitzt und innerlich zaudert, hat mit Selbstironie nichts am Hut. Beim Lesen denkt man dennoch manchmal: too much, ein paar weniger aufgeladene Worte, ein paar weniger Bilder hätten dem Buch nicht geschadet.Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
Ein Reitunfall sorgt für die Wende im Leben
Aber doch wird man von dieser jungen, sich in Gedanken verheddernden Heldin gefangen genommen, vielleicht auch, weil man sie nicht immer ganz versteht oder sie beim Sich-verstehen-wollen auf keinen Fall alleine lassen will. Jedenfalls spielt Yasemin das Schicksal einen Streich: Sie stürzt beim Reiten vom Pferd, zieht sich erhebliche Verletzungen zu, erholt sich langsam in einer Rehaklinik und kommt sich zum ersten Mal selbst näher.(…) was für Yase zählte, war der Eindruck, dass sie erst jetzt in ihrem Körper ankam. Dass sie sich erst jetzt darüber bewusst wurde, einen Körper zu haben. Als hätte sie ihm durch die stundenlangen Übungen, das tiefe Einatmen in den Unterbauch, die langen F beim Ausatmen, eigentlich erst den Lebensatem eingehaucht. War sie es selbst, die da atmete, oder jemand anderes?Mit der Entdeckung des eigenen Körpers geht allerdings die verwirrende Erkenntnis einher, dass andere diesen Körper auch entdecken – als Sexualobjekt. Für die 14-Jährige ist das zu viel. Wo eben noch die unschuldige Hingabe an Vito war, wendet sie sich nach ihrer Rückkehr aus der Klinik von ihm ab. Er ist drei Jahre älter, sie ist zu jung. Vito leidet; Yasemin scheint ihn aus Selbstschutz zu vergessen. Zeit vergeht. Ausbildung, ein solider kaufmännischer Beruf, einige Liebschaften folgen, dann eine zukunftsfähige Beziehung, von den Eltern ist keine Rede mehr – das alles wird ausführlich und als geradezu folgerichtiger Lebensweg erzählt. Aber es wird auch so genau erzählt, um das Ungeheuerliche, den Bruch, die Umkehr nur umso überraschender erscheinen zu lassen: Denn Yasemin trifft Vito wieder. Sie ist nun Anfang 30; er, der Ältere, erscheint heruntergekommen, haltlos, lebensuntüchtig – und doch ist da dieser Glanz, den sie vor fast 20 Jahren in ihm erblickt hat.Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
Wieder war es dieses Einrasten zweier Blicke, we locked eyes, wie man im Englischen sagte, die passende Wendung für das, was geschah.Quelle: Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
