
SWR Kultur lesenswert - Literatur Anne Weber – Bannmeilen
Mar 10, 2024
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Anne Weber ist eine Erzählerin, die sich ungern wiederholt. Mit jedem neuen Roman, so scheint es, findet sie eine neue Form. In ihrem Buch „Tal der Herrlichkeiten“ gelingt es ihr das Jenseits erzählbar zu machen, in „Ahnen“ unternimmt sie eine Zeitreise in die eigene Familiengeschichte, mit „Kirio“ führt sie die Tradition der Heiligenlegende bis in die Gegenwart und mit „Annette, ein Heldinnenepos“ rhythmisiert sie die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir.
Anne Weber kommt fremden Menschen literarisch nahe
Immer wieder sind es mehr oder minder fremde Menschen, denen sie literarisch nahekommt. In ihrem neuen Roman „Bannmeilen“ jetzt ist es der fremde Teil einer ihr aufs Engste vertrauten Stadt.Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar definiert, da gibt es keine fließenden Übergänge. Die Stadt ist recht klein für eine europäische Hauptstadt: Nur was innerhalb des Périphérique, des Autobahnringes, liegt, gehört dazu, jenseits davon beginnt die Banlieue. Wer die Stadt meint, spricht daher auch gern von Paris intra muros, von dem Paris innerhalb der Stadtmauern.Anne Weber ging mit 19 Jahren nach Paris und lebt heute noch dort. Mit Blick auf den Sacre Coeur kam es ihr nie in den Sinn, diese Grenze des Périphérique zu überschreiten und sich in den Banlieues umzusehen, die mutmaßlich nichts zu bieten haben als Schnellstraßen und Autobahnen, massive Wohnblocks neben Lagerhallen und gewaltigen Supermärkten, vor allem aber Menschen, die ihr und fast jedem anderen Pariser fremd vorkommen.Quelle: Anne Weber – Bannmeilen
Ich drehe mich um und habe das Gefühl, man müsse mir ansehen, dass ich nicht von hier, dass ich keine Vorstädterin bin. Aber natürlich haben die Passanten anderes zu tun, als mich zu beäugen. Zielstrebig kommen sie aus dem Bahnhof oder gehen auf ihn zu. Schließlich setze ich mich auf einen Betonklotz, den ich ungeschickt erklimme, ziehe ein Bein an und versuche, halbwegs lässig auszusehen.Quelle: Anne Weber – Bannmeilen
Streifzüge durch die Banlieues von Paris
Die gespielte Lässigkeit geht mit fortschreitenden Streifzügen durch diese Vororte in eine echte über. Gemeinsam mit ihrem Freund Thierry, der für einen Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele nach Drehorten sucht, und algerischer Herkunft ist, macht die Ich-Erzählerin Begegnungen, die nicht nur ihre persönliche Sichtweise verändern. In einem kleinen Café, in dem ganz selbstverständlich auch Frauen verkehren, finden die beiden einen Ort der Ruhe und der Erkenntnis.Das Café ist eine kleine Welt für sich, ein familienartiges, aber nach außen offenes Gebilde. In den meisten innerstädtischen Cafés ist es ein ständiges grußloses Kommen und Gehen, während es hier, auch weil der Raum so klein ist, unmöglich scheint, ohne ein Wort einzutreten und sich einfach an einen Tisch zu setzen.Hier sitzt ein stummer Dominospieler neben einem Mann, der sich den Rotwein direkt in den Magen spritzt, der alten Mutter des Besitzers und einem Algerier, der kaum etwas weiß von der Heimat seiner Eltern.Quelle: Anne Weber – Bannmeilen
Wir sind alle, denke ich jetzt, weder das, was wir sein wollen, noch was andere in uns sehen, sondern eine unentwirrbare Mischung aus beidem, und was wir für freie Entscheidungen halten, ist oft nur das Ergebnis einer Kettenreaktion, die von Generation zu Generation weiterläuft und mal in diese, mal in jene Richtung ausschlägt.Quelle: Anne Weber – Bannmeilen
