

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Apr 21, 2024 • 55min
Nachruf aufs Paradies – neue Bücher von Lutz Dursthoff, Naoise Dolan und Maria José Ferrada
Lutz Dursthoff – Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich
Lutz Dursthoff hat sein Paradies gefunden. Mit seiner Frau hat er über viele Jahre eine Datscha in der russischen Provinz zu einem echten Kleinod umgebaut. Sein Buch „Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich“ sollte eigentlich eine heitere Beschreibung des russischen Landlebens werden, doch dann kam alles anders.
Im „lesenswert“-Gespräch erzählt er, wie der Angriffskrieg auf die Ukraine das Leben in seinem russischen Dörfchen verändert hat. Ein einfühlsamer Bericht über eine naturnahe Idylle, in der der Krieg Herzen und Köpfe vergiftet.
Maria José Ferrada – Der Plakatwächter
Der Held in Maria José Ferradas neuem Roman „Der Plakatwächter“ will dem Wahnsinn der Welt entfliehen - dazu zieht er auf das Gerüst des Coca-Cola Plakates, das er bewachen soll. Eine erfrischende Erzählung, vorgetragen von einem klugen Elfjährigen.
Jahrhundertstimmen II 1945 - 2000: Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen
Der Hörbuchtipp „Jahrhundertstimmen 1945 - 2000“ ist der zweite Teil eines Mammutprojektes. Über 400 Originaltöne erzählen die Geschichten der beiden Deutschlands, darunter bekannte Stimmen, wie die von John F. Kennedy, aber auch nie Gehörtes, wie ein Interview mit Oskar Schindler.
Kommentiert und historisch eingeordnet vom Herausgeberteam, so fesselnd kann Geschichte sein.
Umstrittene Klassiker und Skandalbücher
Außerdem stellt die lesenswert-Redaktion umstrittene Klassiker unter dem Motto „Kultur darf das“ vor. Mit dabei sind Vladimir Nabokovs „Lolita“, Arthur Schnitzlers „Reigen“ und Bret Easton Ellis „American Psycho“.
Mehr umstrittene Klassiker gibt es hier:
Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Und Kristine Harthauer hat das neue Buch der irischen Autorin Naoise Dolan gelesen, „Ein glückliches Paar“ – die Kritikerin ist aber leider nicht sehr glücklich mit dem Roman.
Musik:Morgan Harper-Jones – Up to the glassLabel: PLAY IT AGAIN SAM

Apr 21, 2024 • 7min
Maria Jose Ferrada – Der Plakatwächter | Buchkritik
Eines Montags kletterte Ramón auf das Gerüst mit dem Coca-Cola-Plakat an der Ausfallstraße, und als am Abend die Sonne hinter den Hügeln rings um die Häuser der Siedlung unterging, beschloss er, für immer dort oben zu bleiben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Der Protagonist in Ferradas Roman „der Plakatwächter“ hat von seinem Arbeitgeber die Aufgabe bekommen das riesige Coca-Cola-Plakat am Ortseingang bewachen. Tag und Nacht. Und weil der Job so sinnlos anmutet, wie er mies bezahlt ist, zieht Ramon gleich ganz auf das Gerüst. Mit Sack und Pack.
Mithilfe eines selbstgebastelten Flaschenzugs schaffte er den Umzug in Rekordzeit – er brauchte keine vier Stunden, um die Möbel von seiner Wohnung aufs Gerüst zu befördern. Als er fertig war, sprach er ein paar Worte, die nur er selbst zu hören bekam, denn von dort oben hatte er nicht nur einen weiten Blick über die ganze Stadt, er war auch allein, genau wie er wollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Von oben sieht die merkwürdige Welt unten gleich besser aus.
Narren und Kinder sagen immer die Wahrheit
Es ist ein berühmter Topos, den die Autorin Maria José Ferrada in leicht abgewandelter Form für Ihren Roman ausgewählt hat: „Der Eremit in den Bergen“ oder „der Narr auf dem Hügel“, der schon von den Beatles als „fool on the hill“ besungen wurde. Einer, der fern allen anderen, Tag für Tag dem verrückten Treiben der Menschheit zusieht.
Und weil Narren und Kinder immer die Wahrheit sagen, lässt die in Chile geborene Wahlberlinerin Ferrada, die auch viele Kinderbücher geschrieben hat, ihre Geschichte rückblickend aus der Sicht eines Kindes erzählen. Ein Kinderbuch ist der Roman dieses Mal nicht. Aber die Form gibt dem oft ins Philosophische abgleitenden Roman eine erfrischende Leichtigkeit: Aufzeichnungen eines Elfjährigen, vorgetragen von dem allwissenden Erzähler des Romans. Detailliert weiß dieser davon zu berichten, wie es sich abspielte, als Onkel Ramón, offenbar angewidert von der lauten, modernen Welt,- in die Lüfte stieg, um misstrauisch beäugt von seinen Mitmenschen, seinen neuen Job in einer improvisierten Plakatbehausung anzutreten.
Etwa um zehn ging auf dem Gerüst das Licht an, und zwar in dem Loch des großen O, das zusammen mit zwei kleinen Punkten das große Ö des weißen Schriftzugs » KÖSTLICH UND ERFRISCHEND « bildete, der sich über die Fahrertür des von einer Riesin gelenkten Coca-Cola-roten Cabrios zog. Das weiß ich noch, weil ich um diese Uhrzeit die Nachttischlampe in meinem Zimmer ausmachte. »Schlaf endlich, Miguel.« »Ja, Mama«, sagte ich. Aber statt zu tun, was Mama gesagt hatte, presste ich das Ohr an die Wand, um zu hören, wie Ramóns Geschichte weiterging.
Ist es Rückzug oder Protest? Wie so oft im Roman, wo ein Außenseiter sich durch vermeintlich absurdes Verhalten an den Rand der Gesellschaft begibt, wird wie im Brennglas deutlich, dass eigentlich die moderne Welt um Ramon herum absurd ist. Stellenweise wirkt der Roman in seiner zeitlosen Ästhetik wie ein tragisch-komischer Stummfilm mit Worten ohne Bilder. Der Stil: naiv und poetisch zugleich, einfache Worte für die großen, philosophischen Fragen.
Ein moderner Chaplin
Der Held selbst ist eher wortkarg und beobachtet lieber. Wie in Chaplins „Moderne Zeiten“ auf lustige Weise Kapitalismuskritik betrieben wird, liest man hier, wie ein Mensch dazu genötigt wird gegen schlechte Bezahlung, völlig verrückte Dinge zu tun. Ein Werbeplakat zu bewachen zum Beispiel. Im Roman wird das Absurde herrlich auf die Spitze getrieben.
Mittwoch. Ramón rief seinen neuen Chef an, um mitzuteilen, dass er beschlossen habe, sich ab sofort sieben Tage die Woche rund um die Uhr an seinem neuen Arbeitsplatz aufzuhalten. Sprach etwas dagegen? - Bei den ersten drei Versuchen landete er bei einem Anrufbeantworter, der ihn wissen ließ, dass unter dieser Nummer keine Nachrichten entgegengenommen wurden. Beim vierten Versuch meldete sich sein Chef, ein gewisser Eliseo:»Damit wir uns verstehen, Raúl …«– »Ramón…!«»Damit wir uns verstehen, Ramón: Dein Job ist es, auf das Plakat aufzupassen. Du bist dafür verantwortlich, dass niemand die Scheinwerfer klaut. Wenn du deshalb da oben schlafen willst, ist uns das, ehrlich gesagt, egal – meinetwegen kannst du dich auch auf eine Wolke legen oder im Gebüsch verstecken.«– »Okay, danke«,»Wir haben zu danken, Raúl.« (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Ein Säulenheiliger auf dem Gerüst
Ramon, der Mann, von dem sein Chef sich noch nicht einmal den Namen richtig merken kann, wird auf dem Gerüst zum Säulenheiligen der kleinen Siedlung, die irgendwo in Lateinamerika liegen soll. Von den einen wird er bewundert, von den anderen für verrückt erklärt. Für Gesprächsstoff sorgt er allemal. Für seinen kleinen Neffen aber, der täglich heimlich zu ihm aufs Gerüst klettert, um dort oben mit ihm die Zeit totzuschlagen, ist Ramon ein wahrer Held.
Durch seinen Umzug hatte Ramón, der bis vor ein paar Wochen bloß der Mann meiner Tante gewesen war, sich in ein Zwischending aus Freund, Vogel und Lehrer verwandelt, eine Mischung, wie sie mir noch nie begegnet war und auch nie wieder begegnen sollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
In der Stille lernt man mehr als in der Schule
Mit seinem Onkel, dem Plakatwächter, kann er schweigend die Sterne beobachten und scheint in der Stille dort oben so viel mehr zu lernen über sich und die Welt, als in der stets unruhigen Denkfabrik „Schule“.
Die Schule bedeutete mir nichts, nicht das Geringste. Ich ging regelmäßig hin, das ja, setzte mich an meinen Platz, öffnete die Bücher und schrieb in die Hefte. ... Ein Lieblingsfach hatte ich nie, meine Lieblingsuhrzeit war dafür der Moment, in dem der Schultag zu Ende war. Ich war kein beispielhafter Schüler, aber ein gutes Beispiel dafür, was man unter einem Schüler versteht. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Es sind kleine Weisheiten wie diese, die das Buch so liebenswert machen und dem gleich am Anfang ein Motto vorangestellt ist:
Gegen alles bessere Wissen wollte ich Glück. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Dieses Zitat aus Günter Grass‘ die Blechtrommel findet sich statt eines Vorworts auf den ersten Seiten des Romans. Eine Hommage an den berühmten deutschen Autor. Auch Ferradas Geschichte trägt wie Grass‘ Blechtrommel, deutliche Züge eines Schelmenromans. Ramon, der Held, kommt aus einer sozial schlechter gestellten Arbeiterschicht, ist vermeintlich ungebildet, aber trotzdem auf seine Art schlau und thematisiert allein durch sein Dasein, die Missstände der Gesellschaft.
Von hier oben zeigte das Leben einem seine durchsichtigen Fäden. Manchmal war es schön, ihrem Hin und Her zuzusehen, manchmal war es aber auch besser, die Augen so fest zuzukneifen, dass kein einziger Lichtstrahl hindurchdrang. »Ist es nicht traurig, immer allein hier oben zu sitzen «, fragte ich irgendwann bedrückt. »Nein.« Durch seine Einsilbigkeit zwang Ramón mich, selbst eine Antwort auf meine Fragen zu finden. In diesem Fall lautete sie mehr oder weniger so: Egal, ob man ein Kind oder ein klappriger Alter war, unten war man nicht weniger allein als hier oben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Ein Kind hält den Erwachsenen den Spiegel vor
Wie in ihrem Vorgängerroman »Kramp« hält auch in Ferradas aktuellem Buch ein Kind den merkwürdigen Erwachsenen um sich herum einen Spiegel vor. Dieses Mal zusammen mit einem schweigsamen Plakatwächter. Der Eremit auf dem Gerüst“, oder auch „Fool on the hill“. Über den sich die Bewohner der Siedlung mehr und mehr aufregen, weil er mit seinem unkonventionellen Wohnen, angeblich die Ordnung störe. Bis am Ende wirklich etwas Schlimmes passiert.
In „Der Plakatwächter“ erzählt ein kluges Kind von der Dummheit der Erwachsenenwelt – traurig, heiter, herzergreifend.

Apr 21, 2024 • 2min
Franz Kafka – In der Strafkolonie
Er ist eine Seltsamkeit, dieser Apparat. In einer Strafkolonie, irgendwo in tropischen Gefilden, da steht er und verrichtet sein grausames Werk: Er ist Folter- und Vollstreckungsinstrument in einem, Teil eines sadistischen Rechtssystems.
Ein Offizier, ein Forschungsreisender, ein Soldat und ein Verurteilter
Die Szene einer Vollstreckung beschreibt Franz Kafka in seiner Erzählung: Ein Reisender, eingeladen vom Offizier der Strafkolonie, beobachtet wie ein nackter Verurteilter bäuchlings auf die Maschine aufgeschnallt wird. Ein komplexer Apparat, zusammengesetzt aus drei Teilen, Bett, Egge und ein Schreibgerät: Eine Nadel schreibt dem Gequälten den Richtspruch am ganzen Körper in die Haut ein. 12 Stunden soll die Folter dauern, versteht der Delinquent schließlich sein Urteil, stirbt er. Die Folter als Instrument auf dem Weg zur Erkenntnis.
Der Richter wird zum Gerichteten
Soll unter Leitung des neuen Kommandanten der Kolonie dieses Gerichtsverfahren bestehen bleiben? Der Forschungsreisende urteilt: Nein. Der Offizier wird nun zum Verurteilten und selbst Teil des Vollstreckungsprogramms. „Sei gerecht“, lautet das Urteil, etwas, was die Maschine nicht einschreiben kann. Sie zerstört sich selbst, aber nicht ohne den Offizier vorher blutig niederzumetzeln.
Splatter mit Tiefgang
Zu viel für schwache Gemüter: Bei der berühmten öffentlichen Lesung „Der Strafkolonie“ 1916 fielen Zuhörer:innen in Ohnmacht. Es ist eine splatterhafte Horrorschockergeschichte mit vielfältigen Deutungsmöglichkeiten. Eine davon zeigt, dass, wie so oft, der wahre Horror im Realen liegt: 1914 geschrieben, entstand die Geschichte im Angesicht des aufziehenden Ersten Weltkriegs, einer Zeit, in der technische Entwicklungen fatale Folgen für die Menschheit hatten – Folterapparate überall.
Warum „In der Strafkolonie“ lesen?
Ohnmacht durch Technik, bürokratische Überforderung, ständige Überwachung und Kriegsgewalt: Themen, die uns heute, im Jahr von Kafkas 100. Todestag und im Digitalen Zeitalter, sehr alltäglich vorkommen.
Ob Kafka lesen uns über solche Krisen hinwegtröstet? Vielleicht nicht. Aber Grausiges in eine so ästhetische Erzählung zu verwandeln, verdient Hochachtung: Das kann wirklich nur Kafka.

Apr 19, 2024 • 55min
lesenswert Quartett zum Anhören
Das „lesenswert Quartett“ zum Anhören: In der Aufzeichnung vom 27. Februar 2024 diskutieren Denis Scheck, Insa Wilke, Ijoma Mangold mit Melanie Möller über vier Neuerscheinungen.

Apr 18, 2024 • 4min
Lea Ypi – Die Architektonik der Vernunft
„Was kann ich wissen?“ In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk – der „Kritik der reinen Vernunft“ – hat sich Immanuel Kant auf 800 Seiten mit dieser Frage auseinandergesetzt. Kants Antwort, vereinfacht gesagt: Die „Dinge an sich“ – soll heißen: die Dinge, wie sie wirklich sind – sind für den Menschen wissenschaftlich nicht erkennbar. Objektiv erkennbar seien nur die „Erscheinungen“ der Dinge. Und diese „Erscheinungen“ würden durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit und durch bestimmte Kategorien, die dem menschlichen Denkvermögen von Natur aus eingeschrieben sind, determiniert. Das wahre Wesen der Dinge, so der Königsberger Philosoph, sei dem Menschen unzugänglich. Zitat Kant:
Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.
Quelle: Lea Ypi – Die Architektonik der Vernunft
Das Ding an sich bleibt uns verborgen
Mit diesem Postulat hat Immanuel Kant die erkenntnistheoretichen Grundlagen der modernen Philosophie gelegt. Für Arthur Schopenhauer war die „Kritik der reinen Vernunft“ das „wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden ist“.
Die albanisch-britische Philosophin Lea Ypi widmet sich in ihrer Studie einem kurzen, bisher wenig beachteten Abschnitt in Kants Hauptwerk – dem Kapitel „Die Architektonik der Vernunft“; längenmäßig macht dieser Abschnitt nur etwa zwei Prozent der „Kritik der reinen Vernunft“ aus. Lea Ypi schreibt dazu:
„Die ,Architektonik der reinen Vernunft‘ gehörte bis vor Kurzem zu den am wenigsten gelesenen Teilen von Kants erster Kritik (…) Traditionell scheinen die wenigen Kommentare zu diesem Abschnitt mit Schopenhauers frühem Urteil übereinzustimmen, dass seine Existenz in der Kritik der reinen Vernunft vorrangig auf Kants ,Liebe für architektonische Symmetrie‘ zurückzuführen sei und dem Rest dieses Hauptwerks nichts Wesentliches hinzufüge.“
Fokus auf die Einheit der Vernunft
Das sieht Lea Ypi, profunde Kant-Kennerin, die sie ist, anders. Die „Architektonik“ sei einer der „dichtesten, rätselhaftesten und undurchdringlichsten Texte“ in Kants Gesamtwerk, ohne genaue Analyse dieses Texts ließe sich Kants berühmtestes Werk nicht verstehen:
„Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Kommentatorinnen, die die »Architektonik« schlichtweg verworfen haben, versuche ich zu zeigen, dass ihr Fokus auf die Einheit der Vernunft entscheidend ist, um einige der wichtigsten Ideen Kants zu erhellen. Dazu gehören unter anderem der Übergang vom System der Natur zum System der Freiheit, das Verhältnis von Glauben und Wissen, die philosophische Verteidigung des historischen Fortschritts und die Rolle der Religion. Diese Fragen haben bekanntlich die nachfolgende deutsche philosophische Tradition maßgeblich geprägt.“
Lea Ypis Buch richtet sich an eine philosophisch gelehrte Klientel, an ein Publikum, das die „Kritik der reinen Vernunft“ sozusagen im kleinen Finger hat. Kant-Anfängerinnen und -Laien werden sich mit der Lektüre wohl schon nach wenigen Seiten überfordert fühlen.
Harte philosophische Kost
Gut denkbar, dass der Band in Kant-Seminaren und epistemologischen Kolloquien ein gewisses Entzücken hervorruft. Philosophische Normalverbraucher:innen werden allerdings gut daran tun, Kants Dreihundertsten Geburtstag mit der Lektüre eingängigerer Werke zu zelebrieren. Die Kant-Experten Otfried Höffe und Marcus Willaschek haben zum Geburtstag des Königsberger Meisterdenkers schon im letzten Jahr erhellende Neuerscheinungen vorgelegt.

Apr 17, 2024 • 4min
Stig Dagerman – Gebranntes Kind | Buchkritik
Stig Dagermans Roman erzählt von einer existenziellen Krise: Der 20-jährige Bengt hat seine Mutter verloren. Ausgerechnet am Tag ihrer Beerdigung findet er heraus, dass sein Vater seit längerer Zeit ein Verhältnis mit einer anderen Frau unterhält. Der junge Mann ist mit seinem Kummer allein. Denn nicht nur der Vater fällt als Gesprächspartner aus, auch Bengts furchtsame und stets kränkliche Freundin ist ihm keine Stütze. Den plötzlichen Tod der Mutter, die gegenüber dem Wohnhaus der Familie in einer Metzgerei gestorben ist, muss er ohne Hilfe verarbeiten:
„Da drinnen starb meine Mutter, während mein Vater in der Küche saß und sich rasierte und während ich, ihr Sohn, in meinem Zimmer saß und mit mir selbst Poker spielte. Da drinnen sank sie von einem Stuhl, ohne dass einer von uns da bei war und sie auffangen konnte. Da drinnen lag sie im Dreck und in den Sägespänen auf dem Boden, während ein Metzger mit dem Rücken zu ihr ein Lamm zerlegte.“
Um seiner Trauer Herr zu werden, beginnt Bengt, Briefe zu schreiben. Die Perspektive des Romans wechselt fortan: Der zunächst personale Erzähler wird abgelöst von Bengt, der in der Ich-Form von seinen Gedanken und Gefühlen berichtet. Das ist psychologisch hochspannend, denn gerade in Bengts Briefen sollte man als Leser stets zwischen den Zeilen lesen.
Verliebt in die Frau des Vaters
Einerseits ist Bengt auskunftsfreudig. Er beschreibt die Enttäuschung und den Hass, die er empfindet, weil der Vater seine Mutter betrogen hat. Andererseits ist er mit gerade einmal zwanzig Jahren auf der Suche nach Gewissheiten über die Welt, aber auch über sich selbst. Und einigen Gewissheiten will sich Bengt lange nicht stellen, zum Beispiel der Tatsache, dass der Hass auf den Vater und Gun, so der Name der Geliebten, in Wahrheit ein Zeichen der Eifersucht ist – denn Bengt hat sich in die neue Frau seines Vaters verliebt. Als alle den Sommer in einem Haus auf den Schären vor Stockholm verbringen, lassen sich die Gefühle nicht länger unterdrücken. Bengt und Gun küssen sich und beginnen ihrerseits eine Affäre.
Eindringliches Seelenprotokoll
„Gebranntes Kind“ ist eine brillante psychologische Studie. Denn Stig Dagerman findet immer wieder eindrückliche Bilder für Bengts widersprüchliche Emotionen. So veranschaulicht eine brennende Kerze erst die Trauer um die verstorbene Mutter, dann wiederum steht sie für die Intensität der Gefühle, die den jungen Mann mit aller Kraft in Beschlag nehmen. Und genau diese Intensität sucht Bengt:
„Wer wie wir liebt, ist rein. Erst jetzt habe ich begriffen, was Reinheit ist. Sie bedeutet, so in einem Gefühl aufzugehen, dass es jeden Zweifel, jede Feigheit und jede Rücksichtnahme in einem verbrennt. Man wird ganz und stark. Man nimmt direkten Kurs auf das Ziel, ohne zu zögern. Man wird auch mutig. Rein sein heißt, alles opfern zu können außer dem Einzigen, wofür man lebt. Ich bin bereit, das zu tun. Deshalb muss ich mich nicht schämen.“
„Gebranntes Kind“ liest sich wie ein Seelenprotokoll. Es hält fest, wie ein junger Mann versucht, den Verlust seiner Mutter zu verarbeiten und seinen Platz in der Welt zu finden. Es erzählt aber auch von der Liebe in all ihren Facetten: Das meint den anfänglichen Gefühlsrausch ebenso Eifersucht, Selbstbetrug und die Nähe der Liebe zum Hass. Auch mehr als 75 Jahre nachdem es im schwedischen Original erschienen ist, ist die Lektüre dieses Seelenprotokolls eindringlich und erschütternd.

Apr 16, 2024 • 4min
Gert Ueding – Bloch, Jens und Mayer. Die Tischgesellschaft der Julie Gastl
Auf dem Umschlagfoto sitzt der Philosoph Ernst Bloch in der Mitte, wie immer mit der Pfeife im Mund. Von links redet der Literaturwissenschaftler Hans Mayer sicherlich gewohnt druckreif auf ihn ein, rechts setzt der Rhetorikprofessor Walter Jens zu einem seiner gefürchteten Monologe an. Vielleicht hatte Blochs Frau Karola also doch recht, wenn sie mahnte: „Der Jens und der Mayer? Da wirst du wohl kaum zu Wort kommen.“
Ganz so schlimm wurde es dann aber nicht, jedenfalls nicht in den Versionen der Gespräche, die Gert Ueding nun zu Papier gebracht hat. Ueding muss es schon deshalb wissen, weil er in den 60er und 70er Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter Blochs in Tübingen gewesen ist, dann bei Walter Jens promoviert und bei Hans Mayer habilitiert hat. 1988, nach Jens‘ Emeritierung, übernahm er dessen Lehrstuhl für Rhetorik.
Eine heroische Epoche des Geistes
Die Tischgesellschaft, zu der sich die drei Berühmtheiten zusammenfanden, bestand in den Jahren 1974 und 1975. Sie ging auf eine Initiative der Tübinger Buchhändlerin Julie Gastl zurück, die in ihrem „Bücherhaus“ nicht einfach nur Bücher verkaufen wollte.
Vor allem ein Ort des geistigen Austauschs, der produktiven Erinnerung sollte die Buchhandlung sein, im geistigen Raum Tübingens der Horizont, der über seine beschränkenden Grenzen hinausginge. Denn die gab es genug.
Quelle: Gert Ueding – Bloch, Jens und Mayer
Vor wenigen Monaten hat die Buchhandlung Gastl Konkurs angemeldet und musste endgültig schließen. Damit ging ein Stück Tübinger Geschichte zu Ende. Gert Uedings Buch ist also auch ein Nachruf auf diesen verschwundenen Ort, ein Rückblick auf die heroische Epoche der Intellektuellen, als Philosophen noch über die Universität hinaus und in die Gesellschaft hinein wirkten und die Tübinger ihre Professoren auf der Straße grüßten.
Tischgesellschaft im Bücherhaus
Das Herzstück der Buchhandlung Gastl war die sogenannte „Theologie“, ein separater Raum im ersten Stock mit bequemen Lesesesseln. Hier traf sich die „Tischgesellschaft“, deren Gesprächsrunden Ueding so rekonstruiert hat, wie sie hätten verlaufen können. Dazu zitiert er aus Büchern der Beteiligten und stellt sich Rede und Gegenrede vor. Als stummer Protokollant nimmt er an der Runde teil und mogelt sich als Erzähler dazwischen. Julie Gastl debattiert – entgegen ihres bescheidenen Naturells – auch mit; Bloch hätte sonst nicht mitgemacht.
Bloch, Jens und Mayer verwandeln sich also ansatzweise in Romanfiguren. Allerdings reden sie ziemlich papieren, als müssten sie unentwegt ihre Bildung beweisen. Was sie natürlich nicht müssen – oder nur deshalb, weil Ueding sie vor seiner Leserschaft profilieren möchte. Doch in den Gesprächen über Immanuel Kant und Thomas Mann, übers Spiel oder über Kunst kommen immer wieder überraschende Ansichten zur Sprache. Sie wirken gelegentlich so aktuell, als zielten sie ganz direkt auf unsere Gegenwart. So ließe sich eine Wortmeldung Hans Mayers auch als Kritik an der Cancel-Culture verstehen:
„Wehe, einer ist nicht auf dem progressiven Stand von heute, und das schon 1700 oder 1800, er verfällt dem Bann der Progressiven, die meinen, sie wären das. In totalitären Regimen werden unliebsame Romane verboten und die Geschichtsbücher gereinigt, in demokratischen Regimen auf den Stand des sogenannten fortschrittlichen Bewusstseins gebracht. Der Furor der geschichtlichen Eiferer ist fürchterlich.“
Literarisches Spiel und freudige Fiktion
Ueding liefert präzise Charakterstudien vor allem zu Walter Jens, der von Ängsten und Depressionen gefährdet war. Sein Buch über die Tischgesellschaft der Julie Gastl ist eine Hommage an seine drei Lehrer. Es ist ein literarisches Spiel, eine freundliche Fiktion und also absolut ernst zu nehmen.

Apr 15, 2024 • 4min
Fabio Stassi – Die Seele aller Zufälle
Von Anfang an durchzieht Fabio Stassis raffiniert konstruierten Roman „Die Seele aller Zufälle“ jene melancholische Einsamkeit, die guten Detektivromanen so eigen ist: Seit einer Woche geht Vince Corso jeden Abend in eine kleine Bier-Bar in Rom, setzt sich an denselben Tisch und wartet auf jemanden.
„Ein bisschen Angst habe ich schon, um ehrlich zu sein. Ich habe Angst, dass es gar keine Aufgabe gibt, die ausgeführt werden muss. Und dass dieser Tisch ewig leer bleiben wird.“
Es wäre eine lange Geschichte, wenn ich erklären wollte, wie es so weit gekommen ist, dass ich auf ein Gespenst warte. Aber hier schaut nie jemand vorbei. Also erzähle ich mir diese Geschichte immer aufs Neue selbst, um mir einzureden, dass sie ein Ende haben wird.
Bibliotherapeut hilft Mann mit Alzheimer
Von Beruf ist der 45-jährige Ex-Vertretungslehrer nämlich Bibliotherapeut: Er hilft Menschen, indem er ihnen nach einem Gespräch ein Buch verschreibt, das ihre Probleme lösen, gewissermaßen ihre Seele wieder ins Gleichgewicht bringen soll. Eines Tages wendet sich Giovanna Baldini an ihn: Ihr Bruder – ein Bibliophiler – hat Alzheimer und wiederholt ständig eine scheinbar willkürliche Abfolge von Sätzen. Sie ist überzeugt, dass sie aus einem Buch stammen und es ihrem Bruder helfen würde, wenn sie ihm daraus vorläse. Ihre eigene Suche war erfolglos, also soll Corso gegen ein großzügiges Honorar das Buch für sie finden. Widerstrebend begibt er sich auf die Suche – er braucht das Geld – und ahnt schon bald, dass Giovanna Baldini eigentlich den Safe ihres Bruders finden will, in dem Millionen sein könnten.
Ein Kriminalroman ohne Mord, ohne Leiche, ohne Polizei – dennoch ungemein spannend und voller Rätsel, literarischer und detektivischer. „Die Seele aller Zufälle“ steht in der Tradition des argentinischen Autors Jorge Luis Borges: Das Ermitteln ist ein kreatives, intellektuelles Suchspiel. Stassis Vince Corso entdeckt Hinweise in Büchern und einem Tango von Carlos Gardel, er interpretiert Indizien, die er in Gesprächen und auf Spaziergängen mit seinem Hund Django findet.
Rom als anspielungsreicher Handlungsort
Das regennasse Rom ist der perfekte Handlungsort dieses Kriminalromans, in dem nichts zufällig, sondern alles zwingend ist. Jedes Gespräch, jeder Verweis, jede literarische Anspielung hat eine Bedeutung: Sie geben Hinweise auf das Buch von Giovannas Bruder, aber nicht nur: Sie sorgen bei den Lesenden für Rätselspaß und verankern den Roman in literatur- und kulturgeschichtlichen Kontexten. Ein Beispiel: Die Straße, in der Corso wohnt, ist die Via Merulana. Sie verweist auf Carlo Emilio Gaddas italienischen Krimi-Klassiker „Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana“ aus dem Jahr 1947. Gaddas Roman ist eine Anklage gegen den italienischen Faschismus der 1920er Jahre. Es bleibt aber nicht bei dieser bloßen Referenz, die Krimi-Kenner vergnügt entdecken können: In der Gegenwart bekommt Corso Besuch von dem Vertreter einer Nachbarschaftswache, die gegen Geflüchtete vorgehen will, und gerät auf seinem Spaziergang in eine Demonstration von Immigranten, die von der Polizei brutal beendet wird. Diese Einbrüche der Realität sorgen zudem dafür, dass „Die Seele aller Zufälle“ mehr ist ein genussvoller intellektueller Rätselspaß.
Diese Lektüre macht Lust auf mehr!
Man muss nicht jede Anspielung erkennen, um sich von diesem Roman betören zu lassen. Ihn zeichnet die tiefe Überzeugung aus, dass Literatur etwas bedeutet: Sie ist Seelentröster und Hinweisgeber.
„Sie ist der große Saboteur jeder gesetzlich vorgeschriebenen Ordnung. Kein Diktator, der sie nicht gefürchtet hätte. Denn die Literatur stellt alles in Frage, beginnend bei dem, der schreibt, und dem, der liest. Was mich betrifft, so habe ich immer die Autoren geliebt, die auf das Chaos mit Chaos, auf Ungerechtigkeit mit Wahnsinn geantwortet haben. Das fängt bei Cervantes an, Don Quijote wird uns immer und ewig daran erinnern, dass das Lesen eine subversive Tat ist, ein permanenter Protest gegen Unglück und Ungerechtigkeit.“
Und so ist Fabio Stassis hinreißend-origineller Kriminalroman auch ein Plädoyer für das Lesen.

Apr 14, 2024 • 55min
lesenswert Magazin u. a. mit neuem Buch von Isabel Allende
Bestseller-Autorin Isabel Allende erzählt in ihrem neuen Roman von Kindern, die Opfer politischer Willkür werden – und von einer jungen Frau, die sich für sie stark macht. In "Der Wind kennt meinen Namen" verschränkt Allende die Schicksale dreier Kinder, die im 20. Jahrhundert flüchten müssen, traumatisiert und heimatlos werden. Die Grundidee ist aktuell und brisant, die Umsetzung überzeugt leider nur in Teilen.
Unter dieser Gesellschaftssatire liegen Trauer und Tabus: Die Britin Jane Gardam erzählt in "Gute Ratschläge" von einer Diplomatengattin, die sich langsam aus alten Rollen befreit und ihrem Schmerz stellt. Ein ebenso anrührender wie komischer Briefroman, voller Seitenhiebe auf die englische Mittelschicht.
Mit ihrem Buch "Ein falsches Wort" hat Vigdis Hjorth in ihrer Heimat Norwegen einen Skandal ausgelöst. Der Roman beginnt mit einem Erbschaftsstreit und führt tief in familiäre Abgründe. Ein Tabubruch, ein Familiengeheimnis – und die packende Erzählung einer Frau, die um die Anerkennung ihrer Geschichte kämpft.
Außerdem: Eine Streitschrift für die Freiheit der Literatur und mündige Leser. Und ein Gespräch über die aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur und die Bedeutung des gedruckten Buchs für die digital sozialisierte Generation.
Jane Gardam – Gute Ratschläge Aus dem Englischen von Monika Baark Hanser Verlag, 320 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-446-27957-5 Rezension von Julia Schröder
Vigdis Hjorth – Ein falsches Wort Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs S.Fischer, 400 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-10-397513-0 Gespräch mit Anja Höfer
Isabel Allende – Der Wind kennt meinen Namen Aus dem Spanischen von Svenja Becker Suhrkamp Verlag, 335 Seiten, 26 Euro ISBN 978-3-518-43200-6 Rezension von Beate Tröger
Susanne M. Riedel – Lebensmitteallergie Satyr Verlag, 192 Seiten, 17 Euro ISBN 9783910775084 Lesetipp von Jakob Hein
Aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur Gespräch mit Barbara Müller, Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen
Melanie Möller – Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur Galiani Verlag, 238 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-86971-302-1 Rezension von Ulrich Rüdenauer
Musik: Zaho de Sagazan – La symphonie des éclairs (2023) Label: Disparate Records

Apr 14, 2024 • 10min
Vigdis Hjorth – Ein falsches Wort | Gespräch
Ein psychologisch kluges und bewegendes Buch über ein tief beschädigtes Leben. Bei seinem Erscheinen 2016 in Norwegen sorgte Hjorths Roman für einen Skandal.


