
SWR Kultur lesenswert - Literatur Maria Jose Ferrada – Der Plakatwächter | Buchkritik
Apr 21, 2024
07:25
Eines Montags kletterte Ramón auf das Gerüst mit dem Coca-Cola-Plakat an der Ausfallstraße, und als am Abend die Sonne hinter den Hügeln rings um die Häuser der Siedlung unterging, beschloss er, für immer dort oben zu bleiben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Der Protagonist in Ferradas Roman „der Plakatwächter“ hat von seinem Arbeitgeber die Aufgabe bekommen das riesige Coca-Cola-Plakat am Ortseingang bewachen. Tag und Nacht. Und weil der Job so sinnlos anmutet, wie er mies bezahlt ist, zieht Ramon gleich ganz auf das Gerüst. Mit Sack und Pack.
Mithilfe eines selbstgebastelten Flaschenzugs schaffte er den Umzug in Rekordzeit – er brauchte keine vier Stunden, um die Möbel von seiner Wohnung aufs Gerüst zu befördern. Als er fertig war, sprach er ein paar Worte, die nur er selbst zu hören bekam, denn von dort oben hatte er nicht nur einen weiten Blick über die ganze Stadt, er war auch allein, genau wie er wollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Von oben sieht die merkwürdige Welt unten gleich besser aus.
»Damit wir uns verstehen, Raúl …«
– »Ramón…!«
»Damit wir uns verstehen, Ramón: Dein Job ist es, auf das Plakat aufzupassen. Du bist dafür verantwortlich, dass niemand die Scheinwerfer klaut. Wenn du deshalb da oben schlafen willst, ist uns das, ehrlich gesagt, egal – meinetwegen kannst du dich auch auf eine Wolke legen oder im Gebüsch verstecken.«
– »Okay, danke«,
»Wir haben zu danken, Raúl.« (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Narren und Kinder sagen immer die Wahrheit
Es ist ein berühmter Topos, den die Autorin Maria José Ferrada in leicht abgewandelter Form für Ihren Roman ausgewählt hat: „Der Eremit in den Bergen“ oder „der Narr auf dem Hügel“, der schon von den Beatles als „fool on the hill“ besungen wurde. Einer, der fern allen anderen, Tag für Tag dem verrückten Treiben der Menschheit zusieht. Und weil Narren und Kinder immer die Wahrheit sagen, lässt die in Chile geborene Wahlberlinerin Ferrada, die auch viele Kinderbücher geschrieben hat, ihre Geschichte rückblickend aus der Sicht eines Kindes erzählen. Ein Kinderbuch ist der Roman dieses Mal nicht. Aber die Form gibt dem oft ins Philosophische abgleitenden Roman eine erfrischende Leichtigkeit: Aufzeichnungen eines Elfjährigen, vorgetragen von dem allwissenden Erzähler des Romans. Detailliert weiß dieser davon zu berichten, wie es sich abspielte, als Onkel Ramón, offenbar angewidert von der lauten, modernen Welt,- in die Lüfte stieg, um misstrauisch beäugt von seinen Mitmenschen, seinen neuen Job in einer improvisierten Plakatbehausung anzutreten. Etwa um zehn ging auf dem Gerüst das Licht an, und zwar in dem Loch des großen O, das zusammen mit zwei kleinen Punkten das große Ö des weißen Schriftzugs » KÖSTLICH UND ERFRISCHEND « bildete, der sich über die Fahrertür des von einer Riesin gelenkten Coca-Cola-roten Cabrios zog. Das weiß ich noch, weil ich um diese Uhrzeit die Nachttischlampe in meinem Zimmer ausmachte. »Schlaf endlich, Miguel.« »Ja, Mama«, sagte ich. Aber statt zu tun, was Mama gesagt hatte, presste ich das Ohr an die Wand, um zu hören, wie Ramóns Geschichte weiterging. Ist es Rückzug oder Protest? Wie so oft im Roman, wo ein Außenseiter sich durch vermeintlich absurdes Verhalten an den Rand der Gesellschaft begibt, wird wie im Brennglas deutlich, dass eigentlich die moderne Welt um Ramon herum absurd ist. Stellenweise wirkt der Roman in seiner zeitlosen Ästhetik wie ein tragisch-komischer Stummfilm mit Worten ohne Bilder. Der Stil: naiv und poetisch zugleich, einfache Worte für die großen, philosophischen Fragen.Ein moderner Chaplin
Der Held selbst ist eher wortkarg und beobachtet lieber. Wie in Chaplins „Moderne Zeiten“ auf lustige Weise Kapitalismuskritik betrieben wird, liest man hier, wie ein Mensch dazu genötigt wird gegen schlechte Bezahlung, völlig verrückte Dinge zu tun. Ein Werbeplakat zu bewachen zum Beispiel. Im Roman wird das Absurde herrlich auf die Spitze getrieben. Mittwoch. Ramón rief seinen neuen Chef an, um mitzuteilen, dass er beschlossen habe, sich ab sofort sieben Tage die Woche rund um die Uhr an seinem neuen Arbeitsplatz aufzuhalten. Sprach etwas dagegen? - Bei den ersten drei Versuchen landete er bei einem Anrufbeantworter, der ihn wissen ließ, dass unter dieser Nummer keine Nachrichten entgegengenommen wurden. Beim vierten Versuch meldete sich sein Chef, ein gewisser Eliseo:»Damit wir uns verstehen, Raúl …«
– »Ramón…!«
»Damit wir uns verstehen, Ramón: Dein Job ist es, auf das Plakat aufzupassen. Du bist dafür verantwortlich, dass niemand die Scheinwerfer klaut. Wenn du deshalb da oben schlafen willst, ist uns das, ehrlich gesagt, egal – meinetwegen kannst du dich auch auf eine Wolke legen oder im Gebüsch verstecken.«
– »Okay, danke«,
»Wir haben zu danken, Raúl.« (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
