

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Apr 23, 2024 • 4min
Angela Krauß – Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen.
Die Bücher von Angela Krauß sind schmal, doch hochkonzentriert. Sie gehen nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Man muss sie mehrmals lesen; das gleicht ihre Kürze aus. „Das Weltgebäude muss errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen“, lautet der poetische Titel ihres neuen Prosawerkes, in dem sie das Universale und das Individuelle zusammenklingen lässt. Bei Angela Krauß geht es immer um die Frage, wo und wie der Mensch sich in Raum und Zeit verankern kann. Diese Verortung ereignet sich genau dort, wo sie seit langem lebt: in der oberen Etage eines Altbaus in Leipzig, der den Blick auf das Areal des Güterbahnhofs, vor allem aber in den Nachthimmel frei gibt, wo die blinkenden Frachtflugzeuge der Post den nahen Flughafen ansteuern.
Delikate Dreieinigkeit: Besuch von Postbotin, Tänzerin und Fee
Die Füße auf dem historischen Boden der Tatsachen, den Kopf im nach oben offenen Nachthimmel: Das ist der Ort ihrer traumhaften Existenz. Hier bekommt ihre Ich-Erzählerin Besuch von einer engelsgleichen Postbotin, von einer Tänzerin, die naturgemäß auf Bewegungen in Raum und Zeit spezialisiert ist, und von einer Fee, die ihr einen Wunsch gewähren möchte, nur einen, und auf die Nachfrage der Träumerin, wieso nicht drei? mit einem lakonischen „Zu spät“ antwortet.
Sich auf nichts weniger als das Universum zu beziehen gibt Halt und Beistand. Erst recht, da dieses Universum noch kaum erforscht ist, fast zur Gänze unbekannt. Obendrein unendlich. Kann es im Unendlichen ein Zu-spät geben? Gelegentlich wird die Menschheit von Entdeckungen ihrer Teleskope überrascht. (…) Der Mensch merkt auf. Er spürt, es bleibt etwas ungesagt: Wir leben im Ungewissen.
Quelle: Angela Krauß – Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen.
Leipziger Haus mit Sternwarte auf dem Dach
Dieses Ungewisse mag beunruhigen, ist aber zugleich erwünscht. Was wäre das Leben, wenn alle Türen und Räume geschlossen blieben? Nicht zufällig ist der Leipziger Altbau mit einem Torhaus ausgestattet und mit einer Sternwarte auf dem Dach. Tore und Türen und Ausblicke spielen in diesem Universum eine zentrale Rolle, auch eine Tapetentür, die sich leicht übersehen, hinter der sich aber auch wohnen lässt. Durchlässe, Durchgänge, Geburtsvorgänge sind miteinander zu einer architektonisch zu bestimmenden Existenz verwoben, in der das Ich immer wieder sich selbst als etwas Fremdem begegnet.
Angela Krauß‘ Bücher sind Schwebe-Essayistik
Angela Krauß schreibt keine Romane oder Erzählungen. Ihr Ich handelt nicht, also gibt es auch keine Handlung im engeren Sinn. Sie schreibt Gedankenpoesie, eine lyrische Prosa oder traumhaft schwebende Essayistik. Kein Wunder, dass ihre Bücher ohne Gattungsbezeichnung auskommen müssen, weil sie in keine Schublade passen.
Die Welt ist unbenannt, wenn der Mensch in sie gleitet, ein Alles und ein Nichts, ein jäh aufklingender Raum der Erwartung, und alle Räume dieses Weltgebäudes sind vorerst verschlossene Orte des Wissens, das vergessen wurde.
Quelle: Angela Krauß – Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen.
Die Kapitelüberschriften bilden aneinandergereiht den Gang durch das Gebäude nach. Auf die „Hallen der Erwartung“ und „Tore der Verwandlung“ folgen „Küchen und Keller“ und „Kinderzimmer“. Letztere sind, wie auch andere Räume im Haus, von Erinnerungen bewohnt, so dass das Haus auch ein Gehäuse für biographische Bruchstücke ist. Die Orts- und Selbstbetrachtung endet schließlich in der Sternwarte unterm Dach. Da darf sich das erzählende, erlebende Ich schon einmal auf die Ewigkeit einstellen und an andere Dimensionen des Daseins gewöhnen. Um nicht weniger geht es der 73-jährigen Angela Krauß in ihrem kleinen, groß angelegten Versuch der Daseinsverwandlung.

Apr 22, 2024 • 4min
Kant. Vom Aufbruch der Gedanken – Graphic Novel über den Philosophen der Aufklärung
Mit einer selbstbewussten Aussage des jungen Immanuel Kant beginnt das Buch:
Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.
Quelle: Immanuel Kant
Die Ideen Kants im Comic
Nun jährt sich der 300. Geburtstag des wichtigsten Philosophen der Aufklärung. Geboren am 22. April im Jahr 1724 in Königsberg, verstarb Immanuel Kant mit 80 Jahren ebenfalls in seiner Heimatstadt, die er nur selten verlassen hat. Aber seine Gedanken haben nicht nur weltweit Beachtung gefunden, sie sind bis heute lebendig geblieben und hochaktuell. Und jetzt gibt es sie auch in Form eines Comics. Ein schöneres Geschenk zum runden Geburtstag hätte es nicht geben können.
Die Epoche der Aufklärung
„Vom Aufbruch der Gedanken“ lautet der Untertitel der Graphic Novel. Sie gibt einen Überblick über das Leben und die Werke eines Philosophen, dessen Alltag zwar von einer stillen Zurückgezogenheit geprägt war, der sich aber in alle wichtigen Debatten seiner Zeit eingemischt hat. Kant lebte in einer Epoche großer Umbrüche, in der die Religion ihre gesellschaftliche Leitfunktion an die Wissenschaft verlor. Es entstand ein neues Menschenbild, das die Fähigkeit zu eigenen Urteilen betont und das Kant wie kein anderer in seiner berühmten Aufforderung zum Selbstdenken auf den Punkt gebracht hat:
Sapere aude! (Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!) ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Quelle: Immanuel Kant
Das revolutionäre Jahrhundert
Mit seinen unaufdringlichen und doch expressiven Zeichnungen gelingt es Hülsmann, den Kontrast zwischen der betulichen Welt des Bürgertums im 18. Jahrhundert und den revolutionären Gedanken herauszustellen, die sich unaufhaltsam ihren Weg bahnten. Unter Rückgriff auf Aussagen von Wegbegleitern setzt er den Alltag des Denkers gekonnt in Szene, seinen strengen Tagesablauf mit den kleinen lustvollen Ritualen. Wir sehen Kant, der zeitlebens unverheiratet geblieben ist, beim Pfeiferauchen, als Billardspieler und in den geselligen Tischrunden, die er auch in seinem Werk immer wieder zum Thema gemacht hat:
Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund. Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit.
Quelle: Immanuel Kant
So diszipliniert Kants tägliches Leben war, so deutlich stand ihm sein berufliches Ziel schon früh vor Augen. Er arbeitete als Hauslehrer, Unterbibliothekar und Privatdozent, lehnte alle Angebote von anderen Universitäten ab, bis er erreichte, was er sich vorgenommen hatte. Im Jahr 1770 wurde er auf den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik in Königsberg berufen.
Ab dieser Zeit schrieb er an seinen Hauptwerken, die sich um nichts Geringeres als um den Entwurf eines modernen Menschen bemühten, der sich vor allem auf sich selbst verlassen muss. Denn die einzigen Quellen für das Wahre und das Gute in der Welt konnten für Kant nur der Verstand und der Wille der Menschen sein:
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.
Quelle: Immanuel Kant
Die vier Leitfragen der Philosophie Kants
Bei der Einführung in Kants praktische und theoretische Philosophie folgt Hülsmann den vier Fragen, deren Beantwortung sich der philosophische Wegbereiter der Moderne vorgenommen hatte. Die erste Frage lautet „Was ist der Mensch?“ und bezieht sich auf die Grundlagen des Verstehens und Wollens. Die zweite Frage „Was kann ich wissen?“ geht den Fähigkeiten zur Erkenntnis nach, und die dritte Frage „Was soll ich tun?“ ist auf das moralisch richtige Handeln ausgerichtet.
Die vierte und letzte Frage „Was darf ich hoffen?“ zielt auf die Problematik ab, welche Rolle dem religiösen Glauben in einer modernen Welt noch zukommen kann. Es ist eine große Leistung, diesen komplexen Stoff in einer Graphic Novel zugänglich zu machen und damit die Neugierde nicht nur auf den Menschen Immanuel Kant, sondern vor allem auf seine Gedanken zu richten.

Apr 21, 2024 • 2min
Bret Easton Ellis – American Psycho
Ein Buch wie eine Überdosis Koks: Anfang der 90er Jahre sorgte der erst 27-jährige Amerikaner Bret Easton Ellis für einen globalen Literaturskandal. Im Mittelpunkt steht der Wallstreet-Yuppie Patrick Bates, der - stets in elegante Markenklamotten gehüllt - die abartigsten Sexualmorde begeht. Wenn er nicht gerade mordet, spielt er exzessiv Videospiele, feiert in Nachtclubs oder nimmt Drogen.
In Deutschland stand das Buch mehrere Jahre auf dem Index. Erst nachdem ein Verlag dagegen klagte, darf es wieder frei verkauft werden. Gewaltverherrlichung oder brillante Gesellschaftssatire? An dieser Frage scheiden sich bis heute die Geister.
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Als „American Psycho“ 1991 erschien, war ich 20 und frisch gebackene Studentin der Germanistik und Philosophie in Heidelberg. Die Achtziger Jahre waren noch sehr präsent - und doch wirkte der Roman wie ein großer, wilder, brutaler Abgesang auf dieses merkwürdige Jahrzehnt der Neonfarben, der Barbour-Jacken, der großen Dauerwellen, der Ironie.
Von Harald Schmidt promoted
Wer, wie ich, in den achtziger Jahren musikalisch, ästhetisch und konsumtechnisch sozialisiert worden war, der kam an diesem Buch nicht vorbei - außerdem hatte der damals noch umjubelte Berufszyniker Harald Schmidt es mit großer Begeisterung in seiner Late-Night-Show promoted und war damit sogar auf Lesetour gegangen.
Mordendes Monster im Armani-Anzug
Der Held, Wallstreet Broker Patrick Bateman, ist ein mordendes Monster im perfekt geschnittenen Armani-Anzug. Seine Welt besteht praktisch nur aus schöner Oberfläche, geradezu manisch werden ständig die Luxusmarken erwähnt, mit denen sich dieser Psychopath umgibt, Frauen müssen einen „Hardbody“ haben - also einen perfekt durchtrainierten Körper.
Warum heute noch lesen?
Der nützt ihnen dann allerdings auch nichts mehr, wenn sie von Bateman mit der Kettensäge malträtiert werden. Ja: „American Psycho“ ist voller abartiger, sexueller Gewalt und voller Zynismus. Man sieht einem überkultivierten Dandy im Blutrausch zu, der Autor Brett Easton Ellis verzichtet auf jegliche Psychologisierung.
Wir erfahren nicht, warum Bateman zur mordenden Bestie wird. Aber wir erfahren sehr viel über die Gesellschaft, in der er lebt - und tötet. Ähnlich wie bei dem Film „Pulp Fiction“ kann man lange darüber streiten, ob hier Gewalt nur zelebriert und verherrlicht wird - oder - so lese ich das Buch - ob es sich nicht doch um eine ebenso grell übertreibende wie dunkel funkelnde Gesellschaftssatire handelt, die uns allen den Spiegel vorhält.

Apr 21, 2024 • 8min
Lutz Dursthoff – Nachruf aufs Paradies | Gespräch
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich auch das Dorfleben verändert. Und so ist das Buch ein wehmütiger, aber trotziger Abgesang auf eine kleine, ländliche Idylle geworden. Der Krieg ist dort nicht zu sehen und zu hören, aber doch zu spüren.

Apr 21, 2024 • 2min
Arthur Schnitzler – Reigen
Es ist Arthur Schnitzlers erfolgreichstes Bühnenstück: Der Reigen. 1900 erschienen, sorgte der Autor in Wien für Aufmerksamkeit. Was konservative und völkische Kreise dazu brachte, die Theaterbühne zu stürmen: Sex. Je ein Mann und eine Frau schildern in zehn Dialogen ihr sexuelles Begehren.
Es ist ein Reigen durch die sozialen Schichten: der Gatte gibt sich zuerst seiner Ehefrau hin, in der darauffolgenden Szene dem süßen Mädel, der Graf und die Dirne finden zusammen. Moralvorstellungen und Normen scheinen ausgesetzt –Theaterskandal und der „Reigen-Prozess“ folgten. Charlotte Prestel ist auch heute noch von diesem umstrittenen Klassiker begeistert.
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Als Arthur Schnitzler 1896 seinen Reigen verfasst, hält er das Bühnenstück für unaufführbar. Zu anrüchig, zu wenig literarisch. 1900 im Privatdruck nur für Freunde erschienen, dauert es drei weitere Jahre, bis der Reigen ein breiteres Publikum erreicht. In nur acht Monaten folgen zehn Auflagen des Stücks, das einen Nerv der Zeit getroffen haben muss, ein Bestseller.
Munterer Reigen quer durch soziale Schichten
Zehn Szenen, jeweils ein Mann und eine Frau. Einer von beiden lässt sich wiederum in der nächsten Szene mit einem neuen Partner ein. Das Personal verbindet unterschiedliche soziale Schichten: den Soldaten mit dem Stubenmädchen, den Gatten mit dem „süßen Mädel“ oder den Grafen mit der Dirne. Dadurch zeigt Schnitzler: Sexualität hält sich nicht an soziale Grenzen. Vollständig klammert der Autor die Moral aber nicht aus. Auf den Liebesakt folgt zuweilen ein schlechtes Gewissen:
Auszug aus dem Hörbuch Reigen: Dialog der junge Herr, die junge Frau aus CD 1, Reigen 12, 2 Min. – 2 Min. 15 Sek.
Zuschauerräume werden gestürmt – vor Gericht wird wegen des Stücks prozessiert. Bei diesen Reaktionen kann der Reigen zweifellos als umstrittener Klassiker gelten.
Warum das Bühnenstück heute noch lesen?
Schnitzler beleuchtet nicht nur die Kultur des Fin de Siècle, sondern eröffnet Perspektiven auf unsere Gegenwart. Beziehungsformen vervielfältigen sich - von Monogamie bis Polyamorie oder Freundschaft Plus. Ob auf heutigen Datingapps oder im bunten Reigen: Wen wir warum begehren ist eine zeitlose Frage, deren Antwort wir vielleicht in einer vergangenen Epoche finden können.

Apr 21, 2024 • 7min
Naoise Dolan – Das glückliche Paar | Buchkritik
Es gibt viele Gründe, warum Celine ihren Verlobten Luke nicht heiraten sollte. Einer davon: Er hat sie mit mindestens einer ihrer Brautjungfern betrogen.
Bei jedem anderen Paar wäre „Der Bräutigam hat die Braut wahrscheinlich vor ein paar Jahren mit der Brautjungfer betrogen“ schon die Megakatastrophe. Aber für dieses glückliche Paar an diesem glücklichen Tag lief das total unter business as usual.
Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Unsteter Herzensbrecher trifft Pianistin
Das glückliche Paar, das sind Celine und Luke: Ein Millennial-Pärchen. Sie ist 26, er zwei Jahre älter und ein unsteter Herzensbrecher mit einer langen Liste an Exfreunden und -freundinnen: Luke ist groß und schlank, hat dunkles Haar und einen Job bei einer multinationalen Hi-Tech-Firma in Dublin. Celine hingegen wird als auf „geschmackvolle Weise hässlich“ beschrieben: quadratisches Gesicht, dezente Kleidung.
Das auffälligste an ihr: Die schwarzen Lederhandschuhe, die sie sogar in warmen Sommernächten trägt und auch auf Partys nicht auszieht. Denn Celine ist Konzertpianistin. Ihre größte Angst ist es, sich an ihren Händen zu verletzen. Das Klavier ist ihr Leben. Ihr Kopf ist voller Musik und wenn Celine gerade nicht am Piano sitzt, übt sie auf ihrer inneren Klaviatur weiter. Diese Hingabe fand Luke zu Beginn ihrer Beziehung noch sehr anziehend. Kurz nach der Verlobung sieht das schon ganz anders aus:
Celine hat echte Klavierfinger. Mit abgekauten Nägeln. Wenn sie spielt und ein Klicken hört, wird das Problem auf der Stelle gelöst. Die Haut an ihren Händen ist schwielig, dabei cremt sie sie abends ein. Jeden Abend. Versucht mal, jemandem zu glauben, der im Taxi zu euch sagt: „Ich will dich jetzt sofort“ und zu Hause geht sie immer, ohne Ausnahme, zuerst ins Bad und cremt sich die Hände ein. Und nicht, um mir einen runterzuholen, das müsst ihr mir bitte glauben.
Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Ein Brautpaar, das nicht miteinander spricht
Abfällige Kommentare über seine Verlobte - nicht die einzige Macke, die Luke hat. Sein größtes Problem: Er hasst es, Entscheidungen zu treffen. Dass die beiden überhaupt verlobt sind, grenzt an ein Wunder. Luke wirft Celine vor, sie habe ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und zur Verlobung gedrängt. Das sagt er ihr aber nicht direkt, sondern denkt es nur. Denn anstatt miteinander zu sprechen, betrügt und belügt er Celine. Und versteckt sich sogar auf seiner eigenen Verlobungsfeier.
Er ist zu nervös, um sich unter die Leute zu mischen. So verkriecht er sich, bis Celines Ex-Freundin Maria ihn findet und mit ihm die Party verlässt. Bis zu ihrem Hochzeitstag wird Celine nicht wissen, wohin und mit wem Luke von ihrer Verlobungsfeier verschwunden ist. Sie möchte es im Grunde auch gar nicht erfahren. Celine ist jemand, die sich die schwierigsten Klavierstücke mit großer Lust und Hartnäckigkeit erarbeitet. Mit ähnlichem Arbeitseifer hat sie auch die Beziehung zu Luke aufgebaut. Und das möchte sie nicht einfach aufgeben:
Sie hatte ihm schon viele Vertrauensvorschüsse gegeben, hatte ihre gesamte Beziehung mit dem Vorschießen von Vertrauen verbracht, war eine alte, erfahrene Vertrauensvorschießerin. Wenn sie ihm nicht mehr vertraute, wurde sie ins Straucheln geraten. Es wäre das Aus für die Wohnung in der Nr. 23, die Katze und das gesamte Leben, das Celine kannte. Das wollte sie nicht. Und deswegen würde sie ihm vertrauen.
Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Alle wissen Bescheid, nur nicht die Braut
Dieses „Glückliche Paar“, wie der Titel suggeriert, begleiten wir auf zähen 300 Seiten. Vom Abend ihrer Verlobung bis zum Tag ihrer Hochzeit - wobei bis kurz vor Schluss unklar ist, ob die beiden wirklich heiraten. Dazwischen kommen allerlei Gründe ans Licht, warum Celine und Luke lieber getrennte Wege gehen sollten, sich dazu aber nicht aufraffen können.
Diese Beziehung umkreist Naoise Dolan in ihrem Roman in sechs Teilen. Jeder Teil begleitet eine der zentralen Charaktere: Die Braut, den Bräutigam, die Trauzeugen. Jede dieser Figuren blickt anders auf das vermeintlich glückliche Paar. Aber allen wird klar, dass jemand wie Luke nicht für den Bund der Ehe geschaffen ist. Das weiß Celines Schwester Phoebe, die Einzige, die ihm klar ihre Meinung sagt. Das weiß auch Archie, Lukes Trauzeuge und Exfreund. Er kommt über die typische Luke-Mischung nicht hinweg: Minimale Zuneigung kombiniert mit fehlendem Bindungswillen.
Das Lukespezifische ist, dass du deine Partner beschissen behandelst, nur um rauszufinden, ob sie dich hinterher immer noch lieben.
Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Ob Celine Luke immer noch liebt, das ergründet Naoise Dolan in „Das glückliche Paar“ auf ermüdende Weise: Anstatt ihre Figuren interagieren oder wenigstens ins Gespräch kommen zu lassen, ergehen sich die Protagonisten in Selbst-Analyse und Nabelschau. Und obwohl dieser Text Nähe zu seinen Figuren suggeriert, bleiben diese lediglich Archetypen. Holzschnittartige Beispiele von Millennials: Die Künstlerin, der Workaholic, der bindungsscheue Typ, die Schwarze beste Freundin. Es gibt keinen Raum für eine überraschende, moderne Liebesgeschichte. Stattdessen serviert Dolan eine Textmischung bestehend aus Rückblicken und Grübeleien garniert mit SMS-Chatverläufen in Kapiteln, die manchmal nur aus drei Wörtern bestehen.
Natürlich kam Maria.
Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Dazwischen streut Dolan banale und sehr kitschige Beobachtungen ein - zum Beispiel über einen zerbrochenen Schwan aus Glaskristall:
Die Brauttasche lag immer noch auf Celines Schoß. Sie hatte beide Schwanenhälften in einen Socken gesteckt, um ihre Hände zu schützen, und Satinhandschuhe angezogen, man wusste ja nie. Das Glas konnte ihr nicht wehtun. Aber Luke konnte es.
Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar
Müde Erkenntnis: Das Patriarchat sabotiert die Liebe
Jedem in diesem Buch ist klar: „Celine, renn, so schnell du kannst“. Aber keiner spricht das aus. Und die Braut selbst blickt einfach nicht durch. Naoise Dolan verpasst die Chance, zu erzählen, warum. Die Erzählerin bleibt so blind wie ihre Figuren, ohne dass das ein Stilmittel ist, das eine neue Ebene eröffnet.
In einer Liebesgeschichte voller queerer Figuren - sowohl Celine als auch Luke sind bisexuell - herrscht weiterhin das Patriarchat mit seinen engen Vorstellungen darüber, wie eine glückliche Beziehung in eine lange Ehe mündet. Und alles dreht sich um den bindungsscheuen Millennial, den weißen Cis-Mann - der Mittelpunkt Romantischer Komödien und Liebesromane.
Was bei Jane Austen gespickt war mit Witz und scharfsinniger Gesellschaftsanalyse, reduziert sich bei Dolan auf diese einzige, banale Erkenntnis: In einer patriarchalen Gesellschaft können sich auch queere Paare selbst nur schwer von patriarchalen Ideen über die Liebe lösen. Celine bleibt eine Gefangene dieses Systems. Keine neue Erkenntnis, aber definitiv eine, die weh tut. Doch der Schmerz geht nicht tief, weil Naoise Dolan auch literarisch so unentschieden bleibt, wie ihre Figuren in der Liebe.

Apr 21, 2024 • 2min
Salman Rushdie – Die satanischen Verse
Die zwei Hauptfiguren in Rushdies „Die satanischen Verse“ sind die einzigen Passagiere, die auf wundersame Weise die Explosion des Flugzeugs, in dem sie sitzen, überleben. Eine Art Verwandlung geschieht mit den beiden: Eine Figur wird zum Engel, die andere zum Teufel.
Im Buch wird ein Traum erzählt, in dem es um die Entstehung des Korans geht – der Beginn eines von Gefahr und Verfolgung geprägten Lebens für den Autor Salman Rushdie. Der damals höchste religiöse Führer im Iran ruft die Fatwa, also das Todesurteil, gegen Rushdie aus. 2022 brachte ihn ein Anschlag fast um.
Für Redaktionsleiter Frank Hertweck ist der Roman „Die satanischen Verse“ ein umstrittener Klassiker, der es sich zu lesen lohnt.

Apr 21, 2024 • 2min
Janne Teller – Nichts. Was im Leben wichtig ist
Ein Schüler stellt sich vor seine Klasse und behauptet, dass nichts im Leben wichtig sei. Seine Mitschüler:innen versuchen, ihm und sich selbst das Gegenteil zu beweisen und beginnen mit dem Sammeln von Dingen, die für sie Bedeutung haben. Es entsteht der „Berg der Bedeutung“.
Kontroverse Schullektüre
Der Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ der dänischen Autorin Janne Teller spaltete in den 2000ern die Gemüter. An einigen Schulen wurde er abgelehnt, erhielt aber auch den Literaturpreis des dänischen Kultusministeriums.
Verstörend oder lebensbereichernd?
Nimmt man Jugendlichen mit diesen nihilistischen Ansichten nicht das Positive im Leben? Oder ist das Buch eine Anregung, sich mit fundamentalen Fragen auseinanderzusetzen? Für Katrin Ackermann steht fest: nichtig ist „Nichts“ von Janne Teller jedenfalls nicht.

Apr 21, 2024 • 2min
Benoîte Groult – Salz auf unserer Haut
In Frankreich als pornografisch beschimpft, in Deutschland ein Bestseller: Benoîte Groults Roman „Salz auf unserer Haut“ sorgte bei seiner Veröffentlichung 1988 für Schlagzeilen.
Es ist die ungleiche Liebesgeschichte zwischen der Pariser Intellektuellen George und ihrem Liebhaber, einem omnipotenten bretonischen Fischer. Eindeutige Sexszenen und eine Protagonistin, die weiß, was sie vom Leben will – Salz auf unserer Haut ist eine große Liebesgeschichte und ein Klassiker feministischer Literatur, findet Theresa Hübner.

Apr 21, 2024 • 2min
Vladimir Nabokov – Lolita
Der Roman „Lolita“ von Vladimir Nabokov provoziert bis heute – Männertraum oder Geschichte eines lang anhaltenden Kindesmissbrauchs?
Nabokov gelingt in seinem berühmtesten Roman ein großes Kunststück: Er lässt den 40-jährigen Erzähler seine angebliche Liebesgeschichte mit der 13-jährigen Lolita erzählen – und zwischen den Zeilen und trotzdem für jeden sichtbar sich als Scheusal entlarven.
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Guten Tag, ich bin Alexander Wasner Kulturredakteur beim SWR
Vladimir Nabokov erzählt in „Lolita“ von Humbert Humbert, schon der Name ist grotesk. Er ist Literaturwissenschaftler, pädophil, zur Erreichung seiner Zwecke heiratet er Charlotte, die Mutter von Lolita, sie wird aber vom Auto überfahren, da merkt man gleich das gottähnliche Hineinregieren Nabokovs. Humbert ist plötzlich gegenüber dem Objekt seiner Gier erziehungsberechtigt nimmt Lolita aus der Schule und schleift sie unter dem Deckmantel einer Vater-Tochter-Reise durch Amerika. So weit, so einfach.
Der Autor versteckt sich
Spannend ist die Haltung des Autors zu diesem Helden. Angeblich wird uns der Bericht durch einen John Ray zugänglich gemacht, der nennt Hubert Humbert ein Scheusal. Anschließend folgt der Bericht Humberts aus der Ich-Perspektive. Wir schauen ihm bei seinen Verbrechen und seinem Scheitern zu. Er hat alle Zeit der Welt, seine Weltsicht dazulegen. Unerträglich ausschweifend erzählt er von der Schönheit heranwachsender Mädchen, also derer, die er widerlicherweise Nymphchen nennt, andere sagen vielleicht Backfisch dazu, das ist auch nicht nett, klingt aber nicht pädophil. Er erzählt durchaus diskret, aber deutlich, was körperlich passiert – es ist ein Täter- Roman, der alle moralischen Empfindungen herausfordert.
Nicht den Film gucken, sondern den Roman lesen!
Man hat Nabokov angegriffen, dass er sich nicht ausreichend distanziert und eine kranke Phantasie hätte – aber das ist ein Vorwurf, der meines Erachtens nur auf die voyeuristisch-anklagenden Verfilmungen zutrifft. Stanley Kubrick war ein Depp, als er in seiner Verfilmung die John Ray und die ganze Vorgeschichte der gemeinsamen Reise wegließ, und mehr noch als er die beiden nicht 13 und 45 sein ließ sondern gefühlt 20 und 35. Schauen sie nicht die Filme an, lesen Sie den Roman.
Nabokovs „Lolita“ tut heute noch weh, und wenn am Ende auch Humbert Humbert erzählen muss, dass das Mädchen sich seit Jahren in den Schlaf weint, trifft es den Leser ins Mark. Die Reue dagegen kann man nicht mehr glauben, es ist die Reue dessen, dessen Lebensentwurf gescheitert ist – sein Opfer hat er nie im Blick.
Leser werden nicht bevormundet
Aber wie gesagt: Nabokov bevormundet seinen Leser nicht. Ein schlaues und oszillierendes Spiel, an dessen Ende der Protagonist furchtbarer demontiert ist, als es eine Verurteilung im Text je erreichen könnte. Kultur darf das? Klar, aber vor allem muss man hier sagen: Literatur kann das, und macht es leider viel zu selten.


