SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Apr 28, 2024 • 4min

Louise Glück – Marigold und Rose

Diese Erzählung macht sich klein. Sie kommt daher wie eine Kindergeschichte. Aber sie tarnt sich nur, denn sie erzählt vom Werden einer Schriftstellerin: ein Porträt der Autorin als Kleinkind. Im Zentrum: Marigold und Rose, Ringelblume und Rose. Sie sind Zwillinge, sie sind Babies. Von Beginn an ist klar, die eine, Rose, ist everybody`s darling, die andere, Marigold, ist introvertiert. Marigold hatte sich in ihr Buch vertieft; sie war schon beim V. Rose machte sich nichts aus Büchern von der Sorte, wie Marigold sie gerade las und in denen Tiere vorkamen statt Menschen. Rose war gesellig. Sie mochte Aktivitäten, bei denen andere eine Rolle spielten, baden beispielsweise. Quelle: Louise Glück – Marigold und Rose Reiches Innenleben zweier Babies Schlau sind beide, etwas altklug vielleicht. Im Babyhirn wird reichlich gedacht, obwohl beide noch gar nicht sprechen können, ja: Keiner der Zwillinge konnte lesen, sie waren noch Babys. Aber wir haben, dachte Rose, ein Innenleben. Quelle: Louise Glück – Marigold und Rose Ein reiches, muß man sagen. Denn da wir nicht wissen, was in ihnen vorgeht, erlaubt sich die Dichterin die Freiheit, den Babygedanken keine Grenzen zu setzen. Es wird mehr reflektiert als erzählt. Darauf muss man sich als Leserin, als Leser einlassen. Glücks Prämisse: Denken ohne Sprache ist möglich Denken ohne Sprache ist möglich, so lautet die Grundprämisse dieser Geschichte. Das erfahren wir von der allwissenden Erzählerin. Und sogar Kommunikation findet zwischen den Zwillingen ohne Worte statt, als könnten die beiden Gedanken lesen. Sie gehören zusammen und stehen doch in andauernder Konkurrenz, eine Idylle der harmonischen Zweisamkeit läßt Louise Glück gar nicht erst aufkommen, Rose stellt sich ihre Schwester als Haustier vor, Marigold träumt davon, Rose zu schlagen, ihre jeweiligen Defizite spiegeln sich im andern. Und dann sind da noch die Eltern mit ihren Vorlieben, der gutaussehende, aber in sich gekehrte Vater, die geschäftige Mutter, die eine ihrer Töchter schon mal übersieht. Aber wer ein Buch schreiben will, muß doch auch Worte lernen. Und die sind, das erfährt Marigold  nach dem Tod der Großmutter, immer an Verluste gebunden. Nur was nicht mehr da ist, muß mit Worten bezeichnet werden. Erst dann beginnt Zeit, erst dann beginnt Erinnerung. "Alles wird verschwinden. Immerhin, dachte sie, kenne ich jetzt mehr Wörter. Im Kopf legte sie eine Liste aller bekannter Wörter an: Mama, Papa, Bär, Biene, Hut. Es wird, dachte sie immer so weitergehen. Alles wird verschwinden, und ich werde neue Wörter lernen. Mehr und mehr und immer mehr, und dann schreibe ich mein Buch." Und: Manchmal überlegte sie sich, das Sprechen einfach zu überspringen und aufs Schreiben zu warten. Quelle: Louise Glück – Marigold und Rose Das klingt wie das Paradies der Schriftstellerin Louise Glück, die auf die nicht nur für sie überraschende Nachricht vom Literaturnobelpreis 2020 mit Panik reagiert hat, weil sie, wenn nur möglich, Öffentlichkeit meidet. Oder zugespitzt: Schreiben ist für sie - und Marigold - Freiheit, Sprechen das Gegenteil: ein Gefängnis. Autobiographische Anklänge Ein wenig hat man den Eindruck, Louise Glück hat in diese Erzählung ihre eigene schwierige Biographie, über die sie auch offen spricht, einfließen lassen, die Probleme mit ihrer übermächtigen Mutter, Marigold ist das Vaterkind, Rose der Liebling der Mutter, die jüdische Herkunft, der Vater vererbt Marigold seine, wie es heißt, jüdischen Schuldgefühle, und nicht zuletzt der Traum einer Schwester, die die eigene Hälfte zum Ganzen ergänzt, weil im realen Leben Louise Glück ihre ältere Schwester früh verloren hat. Am Ende sind die Zwillinge eins. Und schlau und naseweis wie sie sind, wundern sie sich darüber, da sie doch immer schon eins sind und waren. Die Pointe, sie haben Geburtstag: Sie werden eins, also ein Jahr alt. Und sind damit in der Zeit angekommen. Marigold wird in der folgenden Nacht träumen, dass sie ein Buch verfasst, es ist das Buch, das wir zu lesen bekommen. Sicher kein Hauptwerk, aber ein Schlüssel für Louise Glücks Schreiben, in dem sie behutsam ihre Poetologie entfaltet. Sie legt Wert auf die Erkenntnis, dass Dichten dem Verlust entspringt und der Erinnerung, denn wie sie in einem ihrer letzten Gedichte geschrieben hat: „Worte sind keine Lösung.“
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Apr 28, 2024 • 4min

Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen

Im walisischen Bergarbeiterstädtchen Aberfan ereignete sich 1963 eines der schlimmsten Unglücke in der Nachkriegsgeschichte Großbritanniens: Am Fuß einer Halde waren vom Wasser gesättigte Grubenabfälle abgesackt… … eine dunkle, gleißende Welle [brach] aus dem Hang heraus, ergoss sich bergab und riss die restliche Halde mit sich. Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Der gewaltige Strom stürzte ins Tal, das Dorf wurde buchstäblich verschüttet – und mit ihm 144 Menschen. Dieses Unglück weckte das Interesse des 42-jährigen Psychiaters John Barker, der ein leitender Facharzt am Shelton Hospital und ein aufstrebender Wissenschaftler war. Allerdings fuhr er nicht nach Aberfan, um den Hinterbliebenen psychologischen Beistand zu leisten, sondern vielmehr weil er von einem außergewöhnlichen Phänomen Kenntnis genommen hatte: Mehrere Einwohner hätten Tage vor der Katastrophe Vorahnungen geäußert. Barker war fasziniert von außergewöhnlichen Geisteszuständen, arbeitete gerade an einem Buch über Menschen, die aus Furcht sterben, und hier erhoffte er sich, neues Material für seine Untersuchungen des Unheimlichen und Unerklärlichen zu finden. Er, der angesehene Schulmediziner, war sogar Mitglied der British Society for Psychical Research, einer Organisation zur Erforschung paranormaler Phänomene. Eine neue Dimension der Psychiatrie Barker glaubte, dass die Psychiatrie um eine ‚neue Dimension‘ erweitert werden könnte, die nur darauf wartete, in die derzeitige etablierte Wissenschaft integriert zu werden, sofern Ärzte sich nur davon überzeugen lassen wollten, (psychische) Störungen oder Zustände zu erforschen, die gemeinhin als randständig oder übernatürlich galten. Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Der Journalist Sam Knight, der vornehmlich für den New Yorker arbeitet, hat nun ein verstörendes, beunruhigendes, spannendes Buch über diesen wissenschaftlichen Outsider, über „Vorauswissen“ und paranormale Erscheinungen geschrieben – und über das „Büro für Vorahnungen“, das Barker zusammen mit dem Redakteur Peter Fairley vom London Evening Standard ins Leben rief. Ein Jahr lang sollten die Leser der Zeitung die Möglichkeit haben, ihre Träume und Vorahnungen einzureichen, die im Büro für Vorahnungen gesammelt und mit tatsächlichen Ereignissen rund um die Welt abgeglichen würden. Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Sammlung unheimlicher Vorahnungen Wer sich mit Vorahnungen befasst, verlässt rasch den Boden des Wissenschaftlichen. Sam Knight schildert auf raffinierte Weise die Entwicklungen rund um das Büro, die zwiespältige Rolle von John Barker, den einerseits Neugier, andererseits aber auch enormer Ehrgeiz antrieb. Er nimmt ernst, was damals Mitte der 60er Jahre geschah, lässt mehr oder minder offen, was er selbst von den teils unheimlichen Berichten und Voraussagen hält, die zu Hunderten eingereicht wurden, und er wirft auch einen entlarvenden Blick auf die psychiatrischen Anstalten jener Zeit. Knight befasst sich dabei nicht nur umfassend mit der Biografie Barkers, sondern auch mit der zweier Medien, die besonders viele Volltreffer landeten: Die Musiklehrerin Miss Lorna Middleton und der Postmitarbeiter Jakob Hencher sagten etwa beide ein furchtbares Zugunglück voraus. Am 1. November fühlte sich die Musiklehrerin akut depressiv. Sie saß in ihrer Küche in Edmonton. ‚Langsam tauchte ein Streifen vor mir auf, dann ein Lichtblitz, dann eine Art grauer Nebel. Ich versuchte herauszufinden, wo genau das war‘, sagte sie später. ‚Das Wort ›Zug‹ drang immer wieder durch. Zug … Zug.‘ Miss Middleton schrieb ihre Vision nieder und sandte sie an das Büro: ‚Ich sehe einen Unfall … auf einer Bahnstrecke vielleicht … auch ein Bahnhof könnte betroffen sein … wartende Menschen am Bahnsteig … die Worte Charing Cross … ich hörte es buchstäblich KRACHEN.‘ Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Katastrophen können nicht verhindert werden Allerdings war der Erfolg des „Büros für Vorahnungen“ am Ende doch überschaubar. Mit gutem Willen konnte man höchstens drei Prozent der eingegangenen Vorahnungen durch spätere Geschehnisse bestätigen. Wo eine übernatürliche Fähigkeit aufzublitzen scheint oder der Zufall eine entscheidende Rolle spielt, wo aus Unsinn Sinn konstruiert wird, das lässt sich eben schwer sagen. Es geht dabei mehr um Glaubensfragen. Eigentlich möchte man, um eigener Verunsicherung vorzubeugen, der Welt doch lieber als einer rational erklärbaren begegnen. Überhaupt: Welche Funktion kann solch ein Büro erfüllen? Können Katastrophen wirklich verhindert werden? Wenn Vorahnungen tatsächlich mit der Fähigkeit zu tun haben sollten, Bilder aus der Zukunft zu empfangen, wie vermutet wurde, dann würden die Warnungen sinnlos sein, weil die zukünftigen Ereignisse sich nicht ändern ließen. Aber doch entsteht beim Lesen von Knights Debüt ein Gefühl für die Faszination, die Menschen wie John Barker angesichts des Unerklärlichen erfasst haben muss. Dass Barker übrigens selbst zum Objekt von Voraussagen wurde und sein Weg (wie von einigen Probanden antizipiert) ziemlich abrupt endete, das ist eine Pointe seines Lebens und des Buches, die man sich kaum besser hätte ausdenken können.
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Apr 28, 2024 • 5min

Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz

Abdulrazak Gurnah verschränkt die Geschichte eines Jungen aus der muslimisch-arabischen Minderheit im Sansibar der 1970 er Jahre mit der dazugehörigen nationalen Geschichte Tansanias und Sansibars - der Heimat auch des Autors Abdulrazak Gurnah. Bevor ihm die Dinge entglitten waren, hatte mein Vater jahrelang im Büro der Wasserbehörde in Gulioni gearbeitet. Jobs in der öffentlichen Verwaltung waren sicher und hoch angesehen. Ich war damals noch jung und kenne diesen Abschnitt seines Lebens nur aus Erzählungen. In meinen späteren Erinnerungen arbeitet er an einem Marktstand oder sitzt untätig in seinem Zimmer herum. Sehr lange hatte ich keine Ahnung, was schief gelaufen war, und nach einer Weile fragte ich nicht mehr nach. Es gab so vieles, was ich nicht wusste.  Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz Revolutionäre Umbrüche in Tansania Es ist ein nüchterner, dem realen Ereignis und dem Alltag folgender Ton. Mit dem Fortgang des Romans, mit dem Älterwerden seiner Figuren greifen die politischen Ordnungen immer unerbittlicher auch nach der Familie des Erzählers. Nachdem die Kolonialmächte Mitte der 1960er Jahre vertrieben sind, gerät Tansania in immer neue politische Konstellationen mit stets anderen Gewinnern oder Verlierern. Auch die Eltern des Erzählers bewegen sich in einem Kreislauf aus Täuschung und Verrat – und dort, wo einer gerettet wird, muss an anderer Stelle dafür bezahlt werden. Die revolutionären Umbrüche verwirklichen sich auch im gnadenlosen Zugriff auf Liebesbeziehungen und Familien. Die Leidenszeit ist mit dem Abzug der Kolonialmacht nicht zu Ende: Die neuen Machthaber taten sich dabei besonders hervor, stellten den Frauen, die sie begehrten, ungeniert nach und mussten kaum befürchten, irgendwen damit zu verletzen. Oder vielleicht gingen sie absichtlich indiskret vor, gerade um andere zu verletzen, so wie ein Mann den geschlagenen Rivalen demütigt, indem er dessen Mutter, Schwester oder Frau respektlos behandelt. Sie prahlten mit ihren Eroberungen und der angerichteten Verwüstung, belegten einander mit Namen aus dem Tierreich und lachten sich über die eigenen Frivolitäten kaputt.  Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz Studium in Großbritannien Nur wenn die Mutter des Erzählers sich mit einem der Machthaber einlässt, kann sie ihren in Ungnade gefallenen Bruder retten, zerstört damit aber ihre eigene Familie. Diese Tragödie, die Kindheit und Jugend des Erzählers mit der zerstörten Liebe seiner Eltern, aber auch die in die Köpfe eingepflanzten rassistischen Muster zwischen den einzelnen Communities - all das wird aus der Perspektive des nunmehr Erwachsenen zusammengetragen, erzählt und neu gedeutet. Als der Erzähler schließlich zum Studium nach Großbritannien geht - wir sind in den 1980er Jahren - steuert er zugleich auf seine intellektuelle und emotionale Befreiung zu: Er erkennt, dass an ihm wiedergutgemacht werden soll, was seinen Eltern einst angetan wurde. Gurnahs Ich-Erzähler, zumindest ein Stück weit, kann aus diesen Zwängen ausbrechen, und er bricht aus dem für ihn vorgesehenen Lebensplan aus: Schriftsteller will er werden, nicht Manager oder Politiker.  Einige der Texte, die ich fürs Studium lesen musste, befremdeten mich durch ihre zur Schau gestellte Kunstfertigkeit, ihre gnadenlose Besserwisserei und ihre, wie mir damals schien, absolute Sinnlosigkeit. Andere konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, und dann schwankte ich zwischen Bewunderung und Verachtung für diese Leute, die ihr Leben lang an Artefakten von überbordender Hässlichkeit gefeilt hatten. Als ich später selbst zu schreiben anfing, stellte ich fest, dass ich anscheinend doch etwas gelernt hatte, dass der Weg sich mir langsam offenbarte. Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz Eine wahrhaftige Geschichte in unprätentiöser Sprache So einfach die Sprache und der Stil des Nobelpreisträgers auch erscheinen mögen - Gurnah zieht seine Leserschaft um so nachdrücklicher in seinen Roman mit hinein. Der unprätentiöse Stil beglaubigt die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte, und mit der stilsicheren Übersetzung von Eva Bonné ist das nun auch in Deutschland nachzulesen.
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Apr 28, 2024 • 55min

Ein Tusch für Karl Kraus zum 150. Geburtstag und neue Bücher u. a. von Louise Glück und Abdulrazak Gurnah

Neues von Nobelpreisträgern Gleich zwei Literaturnobelpreisträger haben wir heute in der Sendung: Louise Glücks letzte Erzählung „Marigold und Rose“ ist eine wunderbare Erkundung über die Bedeutung der Sprache. Abdulrazak Gurnah erzählt mit „Das versteinerte Herz“ eine berührende und kraftvolle Coming-of-Age-Geschichte aus dem Sansibar der 70er Jahre. Locken auf der Glatze drehen: Zum 150. Geburtstag von Karl Kraus „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen“: Der Spruch stammt vom großen Satiriker und Sprachkritiker Karls Kraus. Wir drehen ihm diesmal sehr viele Locken auf der Glatze: Ein Gespräch zu seinem 150. Geburtstag am 28. April mit Interview mit Katharina Prager, der stellvertretenden Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus und Mit-Herausgeberin des 2022 erschienenen Karl Kraus Handbuchs. Die rote Mütze, Symbol der Französischen Republik Was nur wenige wissen: Die rote Mütze, die zum Symbol der Französischen Republik wurde, war ursprünglich die Kopfbedeckung von Schweizer Söldnern, die in den französischen Revolutionswirren Ende des 18. Jahrhunderts meuterten und hart bestraft wurden. Der Schweizer Daniel de Roulet beleuchtet in „Die rote Mütze“ das Schicksal von Schweizer Söldnern, die in die französischen Revolutionswirren Ende des 18. Jahrhunderts geraten. Übernatürliches fasziniert Der amerikanische Journalist Sam Knight stieß auf eine verrückte Geschichte aus den 60er Jahren: Da eröffnete Dr. John Barker - mit einem Faible für Paranormales - ein Büro, in dem seherische Aussagen für die Zukunft gemacht wurden. Dem „Büro für Vorahnungen“ hat Knight jetzt ein skurril-witziges Buch gewidmet. Kein Wort ist überflüssig Claire Keegan ist eine Meisterin der kurzen Form. Kein Wort zuviel steht in ihren Erzählungen; jedes Detail hat eine Bedeutung. Das beweist die Irin auch in ihrem neuen Buch, der Erzählung „Reichlich spät“: eine brillante Analyse toxischer Männlichkeit auf 60 Seiten. Musik: Timber Timbre – Lovage Label: PIAS
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Apr 28, 2024 • 5min

Claire Keegan – Reichlich spät

Claire Keegan kann Männer. Das hat sie in ihren voran gegangenen Büchern bewiesen. Cathal, der Protagonist ihrer neuen, gerade einmal 60 Seiten umfassenden Erzählung „Reichlich spät“, ist allerdings kein Sympathieträger. Kein gewissenhafter Familienvater wie Bill Furlong in „Kleine Dinge wie diese“, kein barmherziger Beschützer wie Mr. Kinsella in „Das dritte Licht“. Cathal ist ein Durchschnittsmann, und das ist das Schlimme daran. Wir begleiten ihn über gerade einmal 60 Seiten hinweg durch einen Tag seines nicht sonderlich spektakulären Lebens. Ein kleingeistiger und misogyner Held Cathal ist kein ganz junger Mann mehr, Angestellter in einer Behörde in Dublin, lebt aber in der kleinen Küstenstadt Arklow, etwa 70 Kilometer südlich von Dublin. Der Tag, an dem die Erzählung einsetzt, sollte der Tag sein, an dem Cathal und seine Verlobte Sabine heiraten. Warum es nicht dazu kommt, erklärt der Erinnerungsfilm, der in Cathals Kopf abläuft. Zwei Jahre zuvor hatten Cathal und Sabine sich auf einer Tagung kennengelernt. Sabine mag das Leben auf dem Land. Sie sammelt Pilze und Nüsse, kocht für Cathal, schläft mit ihm, alles mit scheinbarer Selbstverständlichkeit. Doch in Cathals Blick auf Sabine liegt das Grundmissverständnis dieser Beziehung: Fast alles, was sie nach Hause brachte, bereitete sie mit einer Leichtigkeit und einer Geschicklichkeit zu, die Cathal für Liebe hielt. Quelle: Claire Keegan – Reichlich spät Es ist glänzend, wie Claire Keegan es gelingt, ihren Protagonisten auf subtile Art und Weise zu entblättern, zu seinem kleingeistigen und misogynen Kern vorzudringen, ohne ihn explizit anzuklagen oder zu denunzieren. Es sind wie immer bei Claire Keegan die sprechenden Details, die ihre Figuren indirekt charakterisieren; unbewusste Gesten, unkontrollierte Reaktionen. Sabine will, das ist die Schlüsselszene der Erzählung, im Supermarkt Kirschen für einen Kuchen kaufen; Cathal erklärt sich bereit, sie zu bezahlen. Mehr als sechs Euro kosten sie. Dieser vermeintlich unverschämte Preis wird noch Wochen später Thema sein zwischen den beiden. Der Heiratsantrag, den Cathal Sabine am selben Abend macht, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, fällt dementsprechend aus: Willst du nicht mal darüber nachdenken?‘‚Worüber genau?‘‚Darüber, ein gemeinsames Leben aufzubauen, ein Zuhause zu schaffen, hier mit mir. Es gibt keinen Grund, weshalb du nicht hier wohnen solltest, statt woanders Miete zu zahlen. Dir gefällt es hier – und du weißt, dass keiner von uns beiden jünger wird.‘ Quelle: Claire Keegan – Reichlich spät Reflexion auf Frauenfeindlichkeit Claire Keegan erweist sich auch in diesem schmalen Werk als eine Meisterin in der Darstellung von Machtstrukturen. Ganz unmerklich dreht sie in „Reichlich spät“ die Verhältnisse um. Im letzten Drittel wird die Erzählung zu einer Reflexion auf vererbte Verhaltensmuster und gesellschaftlich internatlisierte Frauenfeindlichkeit. In seiner Wohnung sitzend, die für den Hochzeitsabend reservierte Champagnerflasche trinkend, ruft Cathal sich noch einmal die Gespräche ins Gedächtnis, die er mit Sabine geführt, die Vorwürfe, die sie ihm gemacht hat. Das Raffinierte daran ist, dass er in allem, wie er Sabines Vorhaltungen ihm gegenüber für sich einordnet, ihre Sichtweise bestätigt. Cathal erinnert sich an einen Vorfall aus seiner frühen Erwachsenenzeit, als er mit seinem Bruder und dem Vater am Esstisch saß. Die Mutter hatte Pfannkuchen gebacken. Als sie sich setzen wollte, zog der Bruder ihr den Stuhl weg; die Mutter fiel rücklings zu Boden und landete in den Scherben ihres Tellers. Alle drei Männer am Tisch lachten. Der Vater am lautesten. Kurz kommt Cathal, vom Champagner seiner abgesagten Hochzeit langsam beschwipst, ins Grübeln. Aber nur kurz: Falls ein Teil von ihm sich fragen wollte, wie er sich wohl entwickelt hätte, wäre sein Vater ein anderer Typ Mann gewesen und hätte nicht gelacht, so unterdrückte Cathal den Gedanken. Er sagte sich, dass der Vorfall nichts zu bedeuten habe. Quelle: Claire Keegan – Reichlich spät Kein überflüssiges Wort Über Claire Keegan wird gesagt, dass es in ihren Texten niemals auch nur ein überflüssiges Wort gibt. Und dass jedes Wort bei ihr auch von Bedeutung ist. „Reichlich spät“ ist ein brillantes Literatur-Kabinettstück, nicht so emotional mitreißend und bewegend wie die lange Erzählung „Das dritte Licht“. Der Blick ist kälter, schärfer. Er richtet sich auf einen Jedermann-Charakter, der als Prototyp einer innerlichen Verrohung gezeigt wird. Ein Mann, der in der Tristesse seiner Einsamkeit einen letzten Triumph feiert: Weder vor noch nach dem Pinkeln wird Cathal, so denkt er sich, zukünftig den Deckel der Toilette herunterklappen müssen.
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Apr 28, 2024 • 6min

Daniel de Roulet – Die rote Mütze

Im April 1782 – also gut sieben Jahre vor der Französischen Revolution - beginnt die Genfer Revolution. Mit ihr beginnt auch Daniel de Roulets Roman „Die rote Mütze“. Die Menschen in den einfachen Vierteln, Natifs und Bourgeois, wollen nicht länger den Bankiers, den schmarotzenden Rentiers, den großen Patrizierfamilien unterworfen sein. König Ludwig XVI., der eine Demokratie vor den Toren seines Reiches fürchtet, nennt die Genfer «die Wütenden». Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze Die erste demokratische Revolution Europas in der Schweiz Dabei wüten sie gar nicht. Die, so schreibt Daniel de Roulet, „erste demokratische Revolution Europas“ verlief friedlich - dauerte aber nur knapp drei Monate. Durchsetzen konnten sich die neuen Ideen erst Jahre später. Denn Anfang Juli 1782 jagten die Genfer Patrizier mithilfe von konterrevolutionären Franzosen, Sarden und Schweizern die frühen Revolutionäre aus der Stadt. „Aber diese erste Revolution, die ist auch nicht in Genf bekannt“, sagt Daniel de Roulet und zeigt in der Genfer Altstadt auf die historischen Kanonen, die dort vor dem alten Zeughaus ausgestellt sind und noch heute zum Einsatz kommen - in Erinnerung an die Restauration von 1814. „die Kanonen, die Sie da sehen. Jedes Mal am 31. Dezember schießen wir diese Kanone für die Restauration. Die Patrizier, die lokale Macht von vorher ist wieder an die Macht gekommen, hat all diese revolutionäre Sachen weg. Das wird heute noch gefeiert. Die Hauptfeier von Genf ist La Restauration.“  De Roulet aber interessiert sich für die „revolutionären Sachen“. In „Die rote Mütze“ erzählt er vom Schicksal der 1782 aus Genf verjagten Revolutionäre - und von einem weiteren wenig bekannten Kapitel der Schweizer Geschichte: Samuel, einer der jungen Revolutionäre, verdingt sich als Söldner. Nur wenige im Regiment von Châteauvieux wollten Soldat werden. Manche von ihnen hatten Schulden, eine Familie zu ernähren, oder es war auf ihrem Hof das Heu gegoren, Feuer ausgebrochen und am Morgen trotz des Schnees alles verkohlt und qualmend. Der Rekrutierer hatte sie gedrängt, sein Formular zu unterschreiben. Er nennt es treffend Kapitulation. Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze „Für die Leute, die arm waren und keine Möglichkeit hatten, war der Söldnerdienst der Schweizer eine sehr wichtige Sache. Da waren mehr als 2 Millionen Schweizer als Söldner in ganz Europa gegangen und die waren berüchtigt und und teuer verkauft - also richtig als Söldner. Und du hast überhaupt keine Möglichkeit. Was? Wofür kämpfst du eigentlich? Und das ist eine richtige Geschichte.“ Revolutionäre Schweizer Söldner im Diest des Königs Und was für eine: Die revolutionären Söldner aus Genf müssen nämlich 1789 in Paris ausgerechnet den französischen König verteidigen. Aber als ihnen dann der Sold verweigert wird, meutern sie. Es ist eine fast schon absurde Geschichte, die auch mit Daniel de Roulets eigener Familiengeschichte zu tun hat. Der Besitzer des Regiments, dem sich der junge Genfer Revolutionär Samuel verkauft hat, ist einer seiner Vorfahren, der Adlige Jacques-André Lullin de Châteauvieux. „Das ist ein Sauhund. Das ist ein unglaublicher Colonel Proprietaire. Und die machten, was sie wollten mit diesen 1000 Leuten. Ein Regiment waren immer 1000 Leute. Dieser Vorfahr, der hat 300 davon getötet und andere zum Straflager gebracht. Und ich habe dann gedacht, du musst etwas schreiben, du kannst diese Geschichte nicht so lassen. Das ist ein Motor zum Schreiben, also dieser Hass zu einem Vorfahren.“ Der Gefreite André Soret wird in aller Öffentlichkeit lebendig gerädert werden. Statt vor seinen Richtern zusammenzubrechen, lässt André seine Ketten rasseln und zitiert schlagfertig einen Satz von Rousseau: „Die Reichen sind wie ausgehungerte Wölfe, die, sobald sie Menschenfleisch nur einmal gekostet haben, alle andere Nahrung verwerfen und nichts als Menschen verschlingen wollen.“ Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze Jahrelang recherchierte Daniel de Roulet in Archiven über die armen Söldner im Besitz seines Vorfahren – und machte sie zu heldenhaften Romanfiguren. Wobei das Wort „Roman“ auf dem Buchtitel in die Irre führt: „Die rote Mütze“ ist vielmehr ein langes Prosagedicht, eine Ballade in Versen. Kurz, knapp, rhythmisch, mitreißend. „Irgendwie eine Art von Lyrik. Ich nenne das auf Französisch prose coupée – geschnittene Prosa.“ Auch ein Liebesroman Und: „Die rote Mütze“ ist ein Liebesroman. In den Wirren der Pariser Revolution und den Qualen des Söldnerlebens sehnt sich der junge Samuel nach seiner großen Liebe - Virginie, einer schönen Fischerin vom Genfersee. Und wenn er ganz unglücklich ist, helfen Samuel Gedanken an den See und die Namen seiner Winde, den „Joran“ oder den „Vaudaire“.   Gern denkt Samuel an den, der einfach Wind genannt wird. Wenn er am Horizont erscheint als indigoblauer oder schwarzer Streifen, dann gleicht der Genfersee dem Meer mit seinen großen Wellen, die heranrollen wie die Ringe eines Reptils. Der Wind ist die gleichmäßigste Luftströmung von allen, die sich streiten um den See, und die am wenigsten launische. Daniel de Roulet, der gerade 80 geworden ist, hat aus dem Hass für seinen Vorfahren, den Söldnerchef, ein schönes liebevolles Buch gemacht. Er nennt es sehr richtig „Geschichte von unten“.    Die Mächtigen erdrücken einen mit ihrem Erfolg. Ihren Sklaven, den weniger vom Glück Begünstigten, erteilt nur die Literatur das Wort. Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze
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Apr 28, 2024 • 12min

Locken auf der Glatze drehen: zum 150. Geburtstag von Karl Kraus

In jedem Fall aber war Kraus mit seinen prägnanten Sprüchen, seiner Zeitschrift „Die Fackel“ und seinen Theaterstücken einer der wichtigsten Impulsgeber der Moderne. Ein Gespräch über seine bis heute anhaltende Strahlkraft zum 150. Geburtstag am 28. April. Ein Interview mit Katharina Prager, der stellvertretende Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus und Mit-Herausgeberin des 2022 erschienenen Karl Kraus Handbuchs.
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Apr 26, 2024 • 4min

Anna Enquist – Die Seilspringerin

Der Titel von Anna Enquists neuem Roman – „Die Seilspringerin“ – hat einen kunstgeschichtlichen Bezug: 1976 schuf der niederländische Maler Co Westerik ein 18 Meter hohes Wandbild für ein Polizeirevier in Rotterdam. Es zeigt ein seilspringendes Mädchen. Zwölf Jahre später aber wurde dieses „Rope Jumping Girl“ zusammen mit der Polizeistation abgerissen. Ein Nachleben hat dieses Gemälde nun bei Anna Enquist.  Ein 18 Meter großes Wandbild wird abgerissen  Für ihre Protagonistin Alice Augustus wird es zum Sinnbild des eigenen Lebens: In der kunstfertigen, schwerelosen jungen Frau auf dem Gemälde, erkennt sich Alice wieder. Aber auch im Abbruch, im Abriss der Wand – das Mädchen landet auf dem Boden der Tatsachen so wie die Komponistin Alice in der Realität des Lebens. Selbst in Momenten des Erfolgs holen sie Gefühle des Zweifels, der Scham, der Unzulänglichkeit ein.  Meine Mutter hat recht, ich habe einen schlechten Charakter. Das ist angeboren, unabänderlich. Zum Glück kann ich noch schöne Dinge machen. Es könnte schlimmer sein. Quelle: Anna Enquist – Die Seilspringerin Ja, es könnte schlimmer sein: Da ist zwar der Mutterkomplex, da ist die verkorkste Liebesgeschichte mit ihrem viel älteren Professor, eine Fehlgeburt in jungen Jahren, heimlich geschriebene Werbejingles als Brotjob, die Ehe mit einem wirklichkeitstüchtigen Finanzjuristen und der plötzlich aufkeimende Kinderwunsch, der sich nicht bändigen lässt. Da ist aber auch die ernste Musik, die ungeheure Klangwelt in ihrem Innern, in der sie sich verlieren kann und zu sich selbst kommt. Neurotisch-kompliziertes Leben und weltentbundene Klangkunst – zwischen diesen beiden Sphären herrscht eine unangenehme Spannung.  Kunst oder Kind – Alice muss sich entscheiden  Lässt sich das Streben nach neuen musikalischen Strukturen durch biographische Zufälle und Entscheidungen noch nachvollziehen, so ist die Kinderwunsch-Obsession allerdings kaum vorbereitet: Natürlich gibt es biologistische Faktoren – die sprichwörtliche Uhr tickt. Man darf auch vermuten, dass Alice mit einer Tochter – sie wünscht sich eine Tochter! – das Verhältnis zur eigenen Mutter überschreiben möchte. Weil Alice nicht schwanger wird, steigert sich das Verlangen ins Manische, obwohl sie zugleich im Muttersein eine Gefahr für ihre künstlerische Kreativität erkennt. All das ist in ihren Augen ein weiterer Beweis für ihre Unzulänglichkeit – und für die Lesenden eine durchaus enervierende Verzweiflungsspirale.  Gleichwohl gibt es viel, was für Enquists „Seilspringerin“ einnimmt, etwa wie die Autorin seelische Verstimmungen mit musikalischen Motiven verknüpft. Enquist schafft für ihre Erzählerin einen teils sarkastischen, teils schonungslos ehrlichen Ton, als würde man einer langen Therapiesitzung beiwohnen – eine Stimme, in deren Timbre sich Widersprüche und Widerstreit eingeschrieben haben. Wir sind zuweilen ganz in den schwindlig machenden Denkschleifen, im Teufelskreis der Erinnerungen ihrer Alice gefangen. Die Intensität entsteht, weil die personale Erzählweise kaum Distanz zur Protagonistin zulässt. Ihre Ängste, ihre Unsicherheit, ihre Perfektionslust, ihre Verzweiflung werden spür-, wenn auch nicht immer verstehbar.  Schnell zurück an den Schreibtisch!  Ach ja, sie sitzen in einem Restaurant, da muss bestellt und gegessen werden. Jetzt mit dem Kopf dabeibleiben, denkt sie, gib jetzt nur nicht dieser Mutlosigkeit nach, später darf ich wieder an den Schreibtisch, ans Klavier, etwas machen, etwas, wohinter ich stehe und worüber ich mich freuen kann, etwas, das wirklich meins ist. Denk an Haydn, der konnte seinen Erfolg aufrichtig genießen und sich als wertvoller Komponist fühlen. […] Er ist ihr Vorbild.  Quelle: Anna Enquist – Die Seilspringerin Die Wucht der Biologie gegen die Unbedingtheit der Kunst – das ist ein bisschen apodiktisch, antiquiert, reduktionistisch. Aber zum Glück gibt es bei Enquist genug Störmomente und Irritationen, die Eindeutigkeiten bis zum Finale im Amsterdamer Konzerthaus unterlaufen. Ein ambivalentes Urteil also: ein etwas einfach gestrickter Roman mit einer komplex tickenden Figur.
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Apr 25, 2024 • 4min

Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag | Buchkritik

Ein Sommer in Prag irgendwann in den frühen 1950er Jahren: Die Sonne brennt heiß vom Himmel, die Menschen im Schwimmbad haben krebsrote Rücken, die Blumen im Park verdorren und Jana Honzlová, Sängerin und Tänzerin im staatlichen Folkloreensemble Sedmikrása, sitzt tagein tagaus im Büro, bearbeitet die hin und wieder anfallende Post und hat Zeit. Sehr viel Zeit. Schon oft durfte sie nicht auf Auslandstourneen mit und auch dieses Mal, als das ganze Ensemble samt Chef nach Finnland reist, muss sie in Prag bleiben.  Die Sängerin Jana darf nicht mit nach Finnland  Über die Gründe kann sie nur mutmaßen. Liegt es daran, dass ihr Vater in die USA geflohen ist? Daran, dass ihre Mutter kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn sie mit den Nachbarn über die Verkommenheit von Staat und Partei spricht? Sicher ist nur, es gibt offenbar jemanden im Ensemble, der ein Interesse hat, Jana zu schaden. Aber wer? Selbst die Dokumente, die Jana im Safe ihres Chefs findet, geben darüber nur bedingt Auskunft.  Die meisten Beurteilungen erinnerten an Berichte, wie sie in dunkelsten Feudalzeiten die Kreishauptmänner Seiner Kaiserlichen Hoheit erstattet hatten und überschlugen sich in Empfehlungen, wie mit mir zu verfahren sei. Die netteren gaben irgendeinem Vorgesetzten den Tipp, mich zur Umerziehung in die Schwerindustrie zu schicken.  Quelle: Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag Die 1933 geborene Zdena Salivarová hat in ihren ersten Roman durchaus einige autobiographische Details einfließen lassen. Wie Jana war auch sie selbst einst Sängerin und Tänzerin im staatlichen tschechoslowakischen Folkloreensemble, auch ihr Vater floh in die USA und ihr Bruder verbüßte ebenfalls eine zehnjährige Haftstrafe mit Zwangsarbeit in den Uranminen von Jáchymov. Dennoch ist ›Ein Sommer in Prag‹ kein autofiktionaler Text, der sich am eigenen Erleben entlanghangelt, denn die Geschehnisse sind kunstvoll verwoben, mit einem guten Gespür für Dramatik arrangiert und zugespitzt und haben ja auch eine profunde politische und zeitdokumentarische Bedeutung.  Zdena Salivarová veröffentlichte ihren Roman in Kanada  Salivarová schrieb diesen Roman in den Jahren 1968 bis 1969, veröffentlicht wurde er jedoch erst 1972 und auch nicht in der Tschechoslowakei, sondern im kanadischen Exil, in das die Autorin nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gegangen war. Zu direkt war die Kritik in ihrem Roman an den kommunistischen Zuständen: Darin wohnt Hauptfigur Jana mit ihrer Mutter, der kleinen Schwester Andula und dem Bruder Hugo in einer heruntergekommenen Wohnung in Karlín, einem eher unglamourösen Stadtteil Prags. Die baufällige Pawlatsche der Familie, eine Art Hinterhofbalkon, wird trotz mehrfacher Bitten ewig nicht repariert, bis er eines Tages herunterbricht. Die Straßenbahnen sind ständig überfüllt, weshalb Jana meist zu Fuß läuft. Die Leute aus der Partei sind allesamt Karrieristen mit einem Hang zur Kleinkriminalität. Und als ihre Kollegin Frau Pelikánová eines Tages überraschend stirbt - ausgerechnet als Jana bei ihr zu Besuch ist - versucht die Staatssicherheit, Jana einen Mord anzuhängen, um sie zu nötigen, inoffizielle Mitarbeiterin zu werden und ihre Kollegen zu bespitzeln.  Leicht lesbar und doch existentiell dringlich  Die studierte Dramaturgin Salivarová hat ihren Roman sehr präzise gebaut. Er ist flott zu lesen, denn die Sprache ist locker und sehr an der Mündlichkeit orientiert. Die Sprache zeigt Janas sarkastischen Blick auf die Welt. Als Andula fünfzehnjährig schwanger wird und den Kindesvater - einen Soldaten - heiraten will, kommentiert Jana das so:  Das Wasser fing an zu kochen, und ich bereitete drei Tassen Tee zu. Das wär natürlich ´n Desaster. Noch ein Baby. In dieser engen Bude. Und den Landser als Dreingabe. Wo waren verflixt noch mal die Untertassen, ich konnte nirgends welche finden. Egal, so konnte er gleich mal sehen, dass Andula keine gute Partie war. Ich stellte die Tassen auf ein angeschlagenes Tablett und trug es rüber in die Stube.  Quelle: Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag Beklemmend ist im Verlauf der Lektüre vor allem die Allgegenwart der Spitzelei. Nicht nur, weil Herr Sedláček Jana so bedrängt, sondern weil Jana sich bei ihrem Gegenüber nie sicher sein kann, ob es sie aus ehrlichen Motiven kennenlernen oder nur etwas über ihre Gesinnung in Erfahrung bringen will. Derart Beklemmendes so zu schreiben, dass es sich leicht liest und trotzdem nichts von seiner existentiellen Dringlichkeit einbüßt, das ist große Kunst. Dass dies im Deutschen ebenso gut aufgeht wie im Original, ist nicht zuletzt der hervorragenden Übersetzung zu verdanken.
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Apr 24, 2024 • 4min

Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria. Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit

Seit 2015 sind die Flüchtlingsdramen an Europas Grenzen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten. In diesem und im folgenden Jahr erreicht die Anzahl der Flüchtenden in Deutschland ihren Höhepunkt: Mehr als eine Million Menschen suchen Schutz. Bundeskanzlerin Merkel steht mit ihren Worten „Wir schaffen das“ für eine Willkommenskultur. 2015 ist aber zugleich der Startschuss für rechtspopulistische und faschistische Bewegungen, die gegen diese Willkommenskultur Front machen. Im August 2015 beginnen die Aufzeichnungen von Katrin Glatz Brubakk:  Die Türkei, deren Gebiet sich zu drei Prozent auf der europäischen Balkanhalbinsel befindet, bildet den Übergang zum Nahen Osten. Studiert man die Karte, dann sieht man, dass die Ägäis mit Inseln gespickt ist. Eine der größten ist wie ein Dreieck geformt und liegt unmittelbar vor der Küste zur Türkei bei der schmalen Meerenge von Mytilini. Knapp zehn Kilometer trennen die Nordspitze der Insel und das türkische Festland. Dennoch ist Lesbos eine der 2000 Inseln, die zu Griechenland gehören. Das ist Europa.  Quelle: Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria Inhumanität mitten in Europa  Ein Europa, das sich auf seine Humanität beruft. Ein Europa, das um seinen Wohlstand besorgt ist. Die deutsch-norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat sich acht Jahre lang als Helferin betätigt, sie hat mit Flüchtlingen gesprochen, ihre Schicksale aufgeschrieben, von ihren Erfahrungen mit rüden Beamten und Staatsorganen berichtet. Eine griechische Psychologin wird Ende 2022 mit drastischen Worten zitiert.  Wir töten Kinder. Wir führen Pushbacks durch. Das sind wir, Griechenland und die EU. Nicht die Türken, sondern wir“, sagt Vicky mit Tränen in den Augen. Ihre griechischen Freunde auf dem Festland weigern sich zu glauben, was sie erzählt, sie aber ist hier auf der Insel und weiß, was sie sieht. Weiß, was geschieht.  Quelle: Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria Pushbacks und Kriminalisierung  Eine Statistik der Hilfsorganisation Aegean Boat Report gibt für die Zeit von 2017 bis 2022 eine Übersicht über die Verstöße gegen die Menschenrechte: Rund zweitausend Boote seien in diesen fünf Jahren mit insgesamt fast 50 000 Menschen an Bord über die Seegrenze zurückgestoßen, -gedrängt oder -geschleppt worden. Pushbacks, so heißt das, wenn die griechische Küstenwache unerwünschte Flüchtlinge ins Meer zurücktreibt. Gewaltsam und rücksichtslos. Und die Helfer in der Not werden kriminalisiert. Aufgrund einer verordneten Abschottungspolitik der Europäischen Union. Einer der Betroffenen ist der norwegische Fotograf Knut Bry, der für dieses Buch beklemmende Fotos zur Verfügung gestellt hat. Wegen Spionage wurde er verhaftet, gegen Kaution kam er frei, unerwünscht in Griechenland ist er geblieben.  15 Jahre in einem griechischen Gefängnis ist nicht gerade das, wovon ich geträumt habe, sagte Knut am Tag, nachdem er aus der U-Haft gekommen war, trocken zu mir. Würde er ein solches Urteil bekommen, würde er vor seiner Freilassung 90 Jahre alt werden. Er war besorgt. Er hatte viele Beispiele willkürlicher Behandlung seitens griechischer Behörden gesehen und spürte plötzlich die Furcht, dass dies auch ihn treffen könnte.  Quelle: Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria Empörend und schwer erträglich...  Heute wagt sich der Fotograf nicht mehr nach Griechenland, die juristische Verfolgung ist unkalkulierbar, die Einschüchterungen haben gefruchtet. Es ist schwer erträglich, diese menschenverachtende, kriminelle, rassistische, diskriminierende und von höchsten Stellen geduldete und geförderte Politik zur Kenntnis zu nehmen. Gut und wichtig ist es, dass der Westend-Verlag das Thema mit diesem Buch wieder ins Bewusstsein gerückt hat. „Inside Moria“ beleuchtet ergreifende Flüchtlingsschicksale, die an die Nieren gehen, Schmuggler, Korruption, Vergewaltigung auf den Routen in die versprochene Freiheit, bürokratische und gesetzliche Anordnungen, die Tür und Tor öffnen für Willkür, Drangsalierung, Not und Tod. Leider wirkt das Buch oft abstrakt, hölzern, zu wenig anschaulich. Und die Sprache ist öde und in der Übersetzung ungelenk. Ein Jammer bei einem so wichtigen Thema.

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