

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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May 8, 2024 • 4min
Katrin Seyfert – Lückenleben
Wenn jemand in der Familie an Demenz erkrankt, dann nimmt das pflegende Angehörige auf eine Weise mit, die sich anfühlt wie ein Systemwechsel – vorher Teil der Leistungsgesellschaft, jetzt im Hilfebetrieb. Sie treten beruflich kürzer und versuchen die Peinlichkeit eines entgleisenden Menschen vor der Welt draußen so gut es geht zu verbergen.
Wenn die Zeit kommt, wo der Demente die Toilette nicht mehr findet, erkundigen sie sich nach einem Platz im Heim. Sie erfahren, dass sie dafür ihr Erspartes drangeben müssten. Ein Heim ist teuer. Spätestens an diesem Punkt kann die Beziehung zum Kranken bitter werden. Die Demenz eines Familienmitglieds, so stellt sich das für pflegende Angehörige nicht selten dar, erfordert ihre Selbstaufgabe.
Ein kluger Erfahrungsbericht über Alzheimer
Die Autorin dieser Zeilen kennt diesen üblichen Gang der Dinge aus eigener Erfahrung. Deshalb ihre Freude über das Buch „Lückenleben“ von Katrin Seyfert, die ihre höchst lebendigen, wütenden, klugen Erfahrungsberichte über die Alzheimerdemenz ihres Mannes erst im Magazin „Der Spiegel“, nun aber in ausgeweiteter Form als Buch veröffentlicht.
Freude deshalb, weil bei Katrin Seyfert von Selbstaufgabe keine Spur ist. Sie nennt ihre Gefühle beim Namen. Als Journalistin weiß sie, dass eine ehrliche Sprache Ordnung schafft, die Halt verleihen kann.
Ich wünschte, mein Mann wäre tot. Noch mehr wünschte ich mir, er würde leben. Aber derzeit lebt er mit mir tot zusammen. Und dieses Zwischenreich als Existenz zu akzeptieren, ist schwerer als die Trauer um Tote.
Quelle: Katrin Seyfert – Lückenleben
Das wertvollste Gefühl war die Wut
Für die Mittfünfzigerin war eines der wertvollsten Gefühle in dieser Zeit ihre Wut:
„Wut hat ja was sehr Lebendiges. Ich hatte nie Wut auf die Krankheit, auch nicht auf meinen Mann, auf keinen Fall. Aber auf so verschiedene Konventionen und Erwartungshaltungen.“
Wut auf die Begutachterin der Krankenkasse, die ihren Mann runterputzte; Wut auf Ärzte, die kein Mitgefühl aufbrachten; Wut auf Freunde, die ihr einen baldigen Burnout prophezeiten. Katrin Seyfert kämpfte darum, die schweren Jahre mit ihrem Mann Mark mit Anstand durchzustehen, aber sie kämpfte nicht allein.
„Wir hatten drei kleine Kinder, die mussten versorgt werden. Wir hatten einen Hund. Wir hatten einen Alltagshelfer. Wir hatten einen Studenten, der bei uns gewohnt hat. All die brauchten Unterstützung, um den Alltag so strukturiert zu bekommen, dass er für uns als Familie gepasst hat.“
Wertvolle Ideen und Impulse für alle, die mit Demenz konfrontiert sind
Der Oberarzt, der die Diagnose stellte, erschreckte sie mit der Bemerkung, sie solle sich drauf vorbereiten, dass sich binnen eines Jahres ihr Freundeskreis halbieren würde. Von Anfang an bemühte Katrin Seyfert sich darum, dass das nicht passierte.
Einmal monatlich lud sie zu Hausmusik, Abende mit Schlagern, bei denen Mark mitsingen, mitsummen, mitwippen konnte. Nachbarn kochten Erbsensuppe. Marianne von nebenan gab den Kindern umsonst Klavierunterricht. Das Geld war knapp. Viele halfen, manchmal auch Leute, von denen Katrin Seyfert es nie gedacht hätte.
„Ich weiß, dass ein halbes Jahr nachdem mein Mann gestorben ist, ich bei Penny eingekauft habe. Und die Filialleiterin sagte: Och, Ihr Mann hat ja hier auch hin und ab englisch eingekauft, also hat was geklaut, ohne dass er das wusste. Das haben wir dann einfach mal so durchgehen lassen, ich hab das als Warendiebstahl deklariert. Und das hat mich wahnsinnig gerührt, dass ich selbst von der Filialleitung eines Supermarktes Hilfe angeboten bekommen habe.“
2022 starb ihr Mann. Sie sei noch nicht ganz runter vom Adrenalin, sagt die Autorin. Noch heute habe sie das Gefühl, ein Tag ohne Katastrophe sei ein komischer Tag. Das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“ wirft für jeden, der sich für Demenz interessiert oder mit Dementen Umgang hat, Impulse und wertvolle Ideen ab. Es bringt zum Lachen und zum Weinen. Und zwar auch Leser, die ganz anders gestrickt sind als Katrin Seyfert.

May 7, 2024 • 4min
Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben
Er geht im dicken Mantel dieses Gemurmels, drunter nackt, und öffnet ihn, wenn er spricht.
Quelle: Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben
Volker Braun, vor 85 Jahren in Dresden geboren. Mit seinem Vater, der später im Krieg bleibt, hat er vom Waldschlösschen jenseits der Elbe aus oft auf die historische Silhouette geschaut. Über idyllische Wiesen hinüber zur Altstadt. Als er fünf Jahre alt ist, brennt Dresden.
Er blickte immer wieder bereitwillig auf, aber Dresden gab es nicht mehr, nur die Skelette der Türme, vom Mittagslicht legiert. Er hatte, am Aschermittwoch, den glutroten Himmel gesehn, der schwarze Ruß war aus der Tiefe heraufgeweht und die Ausgebombten mit rußschwarzen Gesichtern.
Quelle: Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben
Das sind natürlich diese Felderhöhen über Dresden, die Felder, die Natur, und es ist die zerstörte Stadt. Und dieser Widerspruch von Grauen und Schönheit ist vielleicht die Grunderfahrung.
Quelle: Volker Braun
Zerstörung und Schönheit als Grunderfahrung
Volker Braun denkt und schreibt seit über sechzig Jahren hochverdichtete, tief wurzelnde Verse als Lyriker, schreitet weit ausholend als Essayist durch Geschichte und Gesellschaft, erforscht Menschen und Macht als Dramatiker oder deckt Wahrheit und Visionen auf als Erzähler.
Immer geht es um Widersprüche. „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ könnte über dem Dichterleben stehen und heißt wohl nicht von ganz Ungefähr das gleichermaßen gegenwarts- wie lebensanalysierende Buch, das kurz vor seinem Geburtstag erschienen ist.
Neben der genannten gibt es zwei weitere Erprobungen: „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“ und „Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen.“ Wie stets lauern zwischen all den anspielungsreichen Zeilen der Essays über eurasischen Kontinent, Klimakatastrophe oder Dichterexistenz vor allem Fragen.
Wie muss die Kunst beschaffen sein, fragte Adorno, um dem Kapitalismus gewachsen zu sein? – die Poesie, liest der Dichter Raimondi, »einer dynamischen Gegenwart … einer globalen Dimension«. Welche Form soll sie annehmen in dieser allgegenwärtigen Formation der technischen, merkantilen, militärischen Zusammenbindung der Welt, bei der Territorien verbraucht und Halbkontinente umgepflügt werden.
Quelle: Volker Braun
Als Wegweiser dienen Zitate von Dichterkollegen
Die Grundgedanken jedes Kapitels veranschaulichen vorangestellte kleine Abbildungen unterschiedlicher Künstler. Eine mongolische Jurte am Hofe eines Großkhans führt zu den Ränken der Gegenwart zwischen östlichen und westlichen Wirtschafts- und Wertesystemen.
Zu Kriegen um Ideologien, Ressourcen und Territorien. Die Zeichnung sinkender nackter, verkrümmter Kreaturen verweist auf die Auseinandersetzung mit einer jungen Klimaaktivistin. Die zerstörten Elbbrücken legen die Spur in das eigene Leben. Als Wegweiser dienen Zitate von Kollegen. „Der Mensch ist die Antwort, egal, was die Frage ist“ heißt es da etwa von André Breton.
Der Vater war gefallen, die Mutter zog uns Fünfe auf. Und ich wuchs also unter Brüdern auf. Und das ist auch etwas, was wohl das Naturell prägt. Und das Wort Brüder, was später dann so einen politischen und geradezu ideologischen Klang bekam, das ist für mich etwas ganz Natürliches. Das Mitdenken, Mitleben mit den anderen.
Quelle: Volker Braun
Ein reiches Buch an Namen, Formen und Überlegungen
Davon kündet jedes Wort dieses Buches mit seinen hundert bedruckten Seiten. Im Kopf des Lesers ergänzt um viele mehr. Weil man nach jeder Andeutung, jeder Namensnennung, jedem Verweis weiter forschen möchte und muss, um vieles verstehen, anderes verorten oder drittes besser verarbeiten zu können.
Wie ein kleiner Almanach zu den großen Themen unserer Zeit liest sich das an Namen (berühmter und unbekannter Dichterkollegen), Formen (Monologe, Dialoge, Perspektivwechsel) und Überlegungen (ungezählt) reiche Buch.
In seinen drei grundverschiedenen Aufsätzen nähert es sich den Abbruchkanten – von Gesellschaften, unseres Planeten, des eigenen Lebens. Es lohnt jeder Versuch, in den Abgrund zu schauen.

May 6, 2024 • 4min
Alka Saraogi – Entwurzelt | Buchkritik
Kalkutta, im Jahr 1999. Wie so oft ist Kulbhushan für Botengänge im Auftrag seiner Brüder unterwegs. Heute aber ist etwas anders: ein Plakat lässt ihn innehalten.
Es hing in der Lower Circular Road, kündigte irgendein Theaterstück an mit dem Titel „Autobiographie“. Darunter stand: „Das Epos vom letzten Jahr des 20. Jahrhunderts“.
Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt
Kulbhushan staunt. Denn der Schauspieler heißt wie er. Und so beginnt er, ein Hindu und Nachfahre einer eingewanderten Marwari-Handelsfamilie, sich zu erinnern: an seine ehemalige Heimat im heutigen Bangladesch, an seinen Freund Shyama – einen muslimischen Wäscher – und an den Fluss Gorai, der einst Teil seines Lebens und seiner Seele war.
Denn all das hat Kulbhushan verloren. Er ist „Entwurzelt“, wie auch der neue Roman von Alka Saraogi heißt: Während seine Brüder unmittelbar vor der Teilung 1947 auswanderten und in Kalkutta Fuß fassen konnten, verließ er die geliebte Heimat erst 1964, aufgrund von sich mehrenden Unruhen gegen Hindus.
Kulbhushan: Außenseiter und Underdog
Wirklich angekommen ist Kulbhushan nie. Im Gegenteil: Seine älteren Brüder betrachten ihn bis jetzt als Eindringling und nutzen ihn als ihren Diener aus.
Die drei älteren Brüder waren verheiratet und mit Familie und Geschäft in Kalkutta etabliert. Nur er war auf der Strecke geblieben. Weder gehörte er richtig zu Indien noch zu Pakistan. Niemand war sein Freund, niemand half ihm.
Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt
Zwar hat er irgendwann geheiratet. Doch seine Frau ist keine Marwari. Seitdem meiden seine Brüder ihn noch mehr; sie fürchten, sich am Essen dieser Frau zu verunreinigen. Kulbhushans Vater wiederum überquert erst 1971 mit Millionen von Flüchtlingen die Grenze, als sich Bangladesch in einem Krieg gewaltsam von Pakistan lossagt.
Es ist dieser Krieg, in dem auch Kulbhushans einziger Freund Shyama sterben wird. Wie Kulbhushan ist er ein Außenseiter in der eigenen Familie:
Als er seiner Mutter mitteilte, er wolle heiraten, entgegnete sie: „Wer wird dir denn seine Tochter zur Frau geben? Ich habe dich von Jogi Baba bekommen. Da warst du schon beschnitten. Du bist weder ein richtiger Muslim noch ein richtiger Hindu. Alle hier wissen das.
Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt
Wie Kulbhushan widersetzt auch Shyam sich dem wachsenden Hass: Er nimmt eine hinduistische Witwe zur Frau und akzeptiert ihr ungeborenes Kind als seins.
Religiöse und kulturelle Grenzen
Alka Saraogi stammt selbst aus einer bengalischen Marwari-Familie und lebt heute in Kalkutta. Ihren Roman spannt sie über vier Jahrzehnte und über beide Seiten der Ost-West-Grenze Bengalens hinweg.
Dabei macht sie deutlich, dass es hier nicht nur um den Hass zwischen Hindus und Muslimen ging: Im Laufe der Jahre kam es auch zu Hass und Gewalt zwischen den Urdu-sprechenden Muslimen in Westpakistan und den bengalischen Muslimen, die in den Augen der pakistanischen Regierung als zu liberal und deshalb als minderwertig galten.
Der Operation Searchlight, 1971 vom damaligen Westpakistan aus gegen die Bevölkerung des heutigen Bangladesch durchgeführt, fielen rund 3 Millionen Bengalis zum Opfer.
Appell an die Gleichheit aller Menschen
Alka Saraogi lässt die damaligen kollektiven Traumata dabei so sensibel wie eindringlich zur Sprache kommen: In zahlreichen Nebensträngen springt die Handlung kunstvoll in der Zeit und zwischen Erzählperspektiven hin- und her. Mit einem begnadeten Auge für lebensechte Details erzählt sie zugleich vom ewigen Leid der Flüchtlinge: von Folter, Vergewaltigung, Diskriminierung und Vertreibung.
Und doch obsiegt in diesem Roman der grundlegende Glaube und der Appell an die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet von Hautfarbe, Kaste, Klasse, Gemeinschaft oder Religion. „Entwurzelt“, hervorragend übersetzt von Almuth Degener, kartografiert somit ein komplexes Terrain der Geschichte – und könnte doch, angesichts der globalen Krisenherde, aktueller nicht sein.

May 5, 2024 • 16min
Louise Glück: Marigold und Rose | Lesung und Diskussion
Louise Glücks Erzählung „Marigold und Rose“ ist das einzige Prosawerk der für für ihre Dichtung ausgezeichneten Literaturnobelpreisträgerin.
Meike Feßmann und Julia Schröder lobten die bildstarke Geschichte über Zwillingsschwestern, die sich schon als Baby ihr Erwachsenenleben ausmalen. Christoph Schröder nannte das Buch eine „literarische Fingerübung“.

May 5, 2024 • 20min
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht | Lesung und Diskusssion
Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ legt die Schriftstellerin Julia Jost einen (Anti-)Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive und in einer überbordenden Sprache vor.
Leidet das Prosadebüt der Kärntner Schriftstellerin aber unter der Verwandlung der beschriebenen Abgründe in folkloristisches Dekor? Die Jury, die viele skurrile Einfälle des Buchs heraushebt, ist sich in dieser Frage uneins.

May 5, 2024 • 1h 20min
SWR Bestenliste Mai mit Büchern von Louise Glück, Didier Eribon u.a.
Gestritten wurde zum Schluss: Meike Feßmann, Julia Schröder und Christoph Schröder diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Mai verzeichneten Werke in der Stuttgarter Stadtbibliothek.
Auf dem Programm standen mit „Marigold und Rose“ von Louise Glück die einzige Erzählung der für ihre Dichtung ausgezeichnete Literaturnobelpreisträgerin.
Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ von Julia Jost ein österreichischer Anti-Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive.
Mit „Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton.
Und mit „Eine Arbeiterin“ von Bestseller-Autor Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter. Das Buch löste einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf.
Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Johannes Wördemann.

May 5, 2024 • 20min
Elizabeth Strout: Am Meer | Lesung und Diskussion
„Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ist ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton.
Meike Feßmann lobt die „starken Figuren“, stört sich aber an der Haltung einer Erzählerin, die nicht nur die chaotische Weltlage, sondern auch die Prosa mit Floskeln der Selbstvergewisserung zu strukturieren versucht.
Christoph Schröder erkennt darin den geglückten Versuch, die Widersprüchlichkeit der privaten und politischen Gemengelage dieser Epoche einzufangen.

May 5, 2024 • 25min
Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben | Lesung und Diskussion
Mit „Eine Arbeiterin“ hat Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter vorgelegt.
Das Buch des französischen Bestseller-Autors löste in der Jury einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf.

May 2, 2024 • 4min
Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam
Als Kind stand Nicola Kuhn in ihrem Elternhaus oft vor einem meterhohen Wandschirm aus China. Auf ihm reißt ein Drache sein Maul auf, bleckt seine Zähne und fährt seine Krallen aus. Damals in ihrer Kindheit habe der Paravent ihre Fantasie regelrecht beflügelt, erinnert sich die Journalistin. Umso mehr als es sich dabei um ein Geschenk des Kaisers von China höchstpersönlich an ihren Urgroßvater handelte. So zumindest erzählte es ihre Mutter. Inzwischen steht der Wandschirm längst in ihrer eigenen Wohnung, berichtet Nicola Kuhn in ihrem Buch „Der chinesische Paravent“, doch ihr Verhältnis zu ihm sei kompliziert geworden.
Für mich transportiert der Paravent neben privaten Erinnerungen heute vor allem koloniale Geschichte und unsere familiäre Involviertheit. Der Blick darauf hat sich geändert, angestoßen durch ein gewachsenes postkoloniales Bewusstsein.
Quelle: Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam
Kolonialist und Kriegsgewinnler
Es waren die Wochen des Corona-Lockdowns, in denen sich die studierte Kunsthistorikerin intensiv mit der Herkunftsgeschichte des exotischen Möbelstücks beschäftigte. Und mit ihrem Vorfahren, dem Hamburger Kaufmann Carl Bödiker. Wie sich herausstellte, verdiente der sich um 1900 eine goldene Nase damit, die deutschen Truppen in der Kolonie Tsingtau zu versorgen, die den sogenannten „Boxeraufstand“ niederschlagen sollten, ein verzweifelter Widerstand chinesischer Bauern gegen die Ausbeutung durch die europäischen Kolonialmächte. Dass der Wandschirm ein Geschenk des chinesischen Kaisers war, ist eher unwahrscheinlich; vermutlich gelangte er infolge der Plünderung Pekings in die Hände ihres Vorfahrens, so Kuhn.
Menschenschädel als Trophäe
Mit ihrem Buch zeigt die Autorin auf über 350 Seiten eindrucksvoll, warum sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe längst nicht nur Museen oder ethnologischen Sammlungen stellt. Denn Nicola Kuhn erforscht noch zehn weitere Erbstücke in deutschen Wohnzimmern, in denen sich die Kolonialgeschichte des Kaiserreichs verdichtet. Sie stehen exemplarisch für mutmaßlich Abertausende weiterer solcher Artefakte in deutschem Privatbesitz, aus China, Papua-Neuguinea oder Afrika.
Darunter ist vermeintlich Harmloses wie ein ausgestopfter Papagei, Skurriles wie der Gipfelstein des Kilimandscharo oder Martialisches wie ein Kriegerschild aus Deutsch-Ostafrika. Aber auch Abgründiges wie eine Nilpferdpeitsche oder gar der Schädel eines Herero. Ausgehend von diesen Objekten rücken in Kuhns Recherchen die Menschen in den Blick, die diese Dinge einst als Trophäen oder Erinnerungsstücke nach Deutschland gebracht haben, unter ihnen Missionare und Militärs, Künstler und Unternehmer.
Mich interessierte, wie sie sich in den Kolonien zu Rassismus und Unrecht verhielten, welche Wendung dadurch ihr Leben nahm, was die Folgen ihres Handelns für die lokale Bevölkerung waren. Und ich wollte wissen, welche Position die Angehörigen heute zu dieser Vergangenheit beziehen, wie sie mit dem Erbe in Form eines mitgebrachten Hockers oder Silbergeschirrs umgehen, das einst möglicherweise gewaltsam entwendet wurde.
Quelle: Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam
Beschönigen, profitieren, zurückgeben?
Tatsächlich sind die Umgangsweisen der heutigen Erben mit diesen Objekten – vielleicht der spannendste Aspekt von Kuhns Buch – denkbar unterschiedlich. Verbreitet ist das Bemühen, dem Familiennarrativ zu folgen und die Taten der Vorfahren zu beschönigen, eine Parallele zum verbreiteten verharmlosenden Umgang mit dem Handeln von Familienangehörigen in der NS-Zeit.
Einige Nachfahren setzen dagegen erstaunlich unbekümmert die Ausbeutungslogik des Kolonialismus fort und versuchen, aus ihrem Erbe auf die eine oder andere Weise Profit zu schlagen. Und dann gibt es noch jene, denen diese Erbstücke inzwischen so unheimlich geworden sind, dass sie sie an die Nachfahren in den Herkunftsländern zurückzugeben versuchen. Mit ihrem Buch ist Nicola Kuhn ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des deutschen Kolonialerbes im Privaten gelungen. Es ist glänzend recherchiert, faszinierend zu lesen und – lange überfällig.

Apr 29, 2024 • 4min
Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert
Ganz schön mutig, ein dramatisches Jahrhundert wie das sechzehnte auf etwas mehr als 500 Seiten auf den Begriff zu bringen. Marina Münkler, Spezialistin für die frühe Neuzeit und das späte Mittelalter, hat dieses Wagnis auf sich genommen. Was waren, Münklers Analyse zufolge, die entscheidenden Verwerfungen, die sich in der Spät-Renaissance vollzogen haben?
Ich habe versucht, in meinem Buch drei zentrale Konfliktfelder zu entfalten. Das ist einmal die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Stichwort: die Türken – keine korrekte Bezeichnung für das Osmanische Reich, aber es ist auch immer von den „Türken“ und den „Türkenkriegen“ gesprochen worden in der Zeit. Das Zweite ist die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt, also die Errichtung einer ziemlich grausamen Herrschaft über bis dahin völlig unbekannte Gebiete. Und das dritte ist die Reformation. Und ich glaube, man kann das charakterisieren mit den drei Worten: die „Türken“, die „Heiligen“ und die „Wilden“. Und dann hat man dieses Jahrhundert, glaube ich, angemessen charakterisiert, wobei man immer bedenken muss, dass man kein Jahrhundert quasi vollständig aus erzählen kann.
Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert
Kolonialismuskritischer Diskurs bereits im 16. Jahrhundert
Im Südosten musste sich das christliche Europa im 16. Jahrhundert der anstürmenden Osmanen unter Sultan Süleyman dem Prächtigen erwehren. Zur gleichen Zeit eroberten spanische und portugiesische Konquistadoren weite Teile Mittel- und Südamerikas. Marina Münkler beschreibt nicht nur die Grausamkeiten der Konquistadoren, sie rekapituliert auch – überaus spannend – den kolonialismuskritischen Diskurs, der bereits im 16. Jahrhundert aufkam.
Die Eroberung des südamerikanischen Kontinents hat erhebliche Diskussionen ausgelöst. Zum einen gibt es sowohl auf kirchlicher als auch auf weltlicher Seite eine ganze Reihe von Leuten, Theologen oder Juristen, die das vehement als gerechtfertigt vertreten. Es gibt aber auch überaus scharfe Kritik daran. Bartolomé de Las Casas ist der berühmteste Name in diesem Kontext – ein Dominikaner, der ursprünglich selbst mal einer von diesen Eroberern gewesen ist, sich dann aber bekehrt hat und danach tatsächlich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hat, die sogenannten Indios, zu schützen. Und das ist schon spannend, diese Diskussion, die es da gibt.
Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert
Erfindung des Buchdrucks bewirkt Medienrevolution
Auch die mediengeschichtliche Revolution, die sich im 16. Jahrhundert vollzieht, nimmt Marina Münkler in ihrem Buch in den Blick. Die neue Technik des Buchdrucks, von Martin Luther und seinen Mitstreitern gekonnt eingesetzt, bringt neben einem Zuwachs an Bildung und anderen Segnungen auch weniger schöne Seiten mit sich. Die öffentlichen Debatten werden bösartiger und gehässiger, stellt Münkler fest.
Das ist ein Eindruck, der sich aufdrängt, dass die Kommunikation im 16. Jahrhundert eine Dynamik entfaltet und auch eine hasserfüllte Aggressivität, wie wir sie heute auch wieder sehen, ohne dass ich denken würde, man muss das zu direkt vergleichen. Eher kann man sagen, es zeigt sich, dass der Konfliktaustrag in dem Moment ein anderer wird, in dem eine dynamische mediale Situation besteht. Und das ist im 16. Jahrhundert eben der Fall, dadurch, dass die Flugschrift sich entwickelt, dass es die sogenannten neuen Zeitungen gibt, und dass jetzt alle Konflikte sehr schnell in viel breitere Schichten getragen werden. Und interessanterweise geht das mit einer Sprache einher, die sehr stark auf Verunglimpfung, Schmähung, Herabsetzung setzt.
Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert
Mit ihrem Epochenpanorama, flüssig und wohltuend unakademisch geschrieben, gelingt Marina Münkler das eindrucksvolle Porträt eines Jahrhunderts, das in vielem auch unsere Gegenwart noch prägt.


