SWR Kultur lesenswert - Literatur

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May 14, 2024 • 4min

Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken

Aus Sorge um die Zukunft der Blick in die Vergangenheit, so könnte man dieses Buch umschreiben. Die heutigen oder kommenden Probleme der Menschheit sollten im „Lichte der Evolution“ gesehen und gelöst werden, befindet Autor Michael Schmidt-Salomon. Er verbindet das mit der Vorstellung vom „Anthropozän“, das als eigenes Menschheits-Zeitalter gehandelt wird.  Doch zunächst widmet er sich der Entdeckungsgeschichte der Evolution. Die Theorie, dass alles Leben einen gemeinsamen Ursprung hat, war selbst ihrem Urheber nicht geheuer. Damals Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Theorie, die die vielen Arten von Lebewesen in einen Zusammenhang bringt, die aber auch die Trennlinie zwischen Menschen und Tieren beseitigt und damit ein Tabu verletzte, veröffentlichte Charles Darwin erst mit Jahren Verspätung. Schmidt-Salomon nennt sie, ...die vielleicht bedeutendste Theorie der gesamten Wissenschaftsgeschichte.   Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken Zehn Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte  Der Autor nähert sich ihr vom Ende her. Er greift zehn Persönlichkeiten der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte heraus, die die Evolutionstheorie durch ihre Arbeit weiterentwickelt – und die das Denken selbst beeinflusst haben.  Naturwissenschaftler wie die Polin Marie Curie, die mit der Entdeckung der Radioaktivität dazu beigetragen hat, die Materie und die Stoffe, aus der sie besteht, zu enträtseln. Oder Alfred Wegener, der mit der Theorie von der Kontinentalverschiebung, der sogenannten Plattentektonik, die Erde als einen Körper beschrieb, der sich in permanentem Wandel befindet.   Portraitiert werden aber auch Sozial- und Geisteswissenschaftler wie Karl Marx, der „Entdecker des Sozialen“, oder Friedrich Nietzsche, dessen radikale Philosophie des „Anti“ herrschende Glaubenssätze zertrümmerte und Platz für Neues schuf.   Durchaus lesenswerte Kurzbiografien, zu denen – der Vollständigkeit halber – noch Albert Einstein, Carl Sagan, Karl Popper, Julian Huxley und der griechische Philosoph Epikur kommen.  Ausgewählt hat Schmidt-Salomon die Protagonisten, wie er schreibt:  weil sie Gedanken formuliert haben, die uns dabei helfen können, ein zeitgemäßes Weltbild zu entwickeln, mit dessen Hilfe wir die Probleme der Menschheit im 'Anthropozän' rationaler angehen können.  Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken Neun der zehn sind Europäer. Ihre Auswahl ist aber keine ausschließliche, Schmidt-Salomon führt zahlreiche weitere Forscher und Denker jener Zeiten an:  Kein Kopf denkt allein, kein Werk hat nur einen Schöpfer.  Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken Atemberaubender Entdeckungsprozess  Bis auf Epikur haben alle im Zeitraum von 200 Jahren des 19. und 20. Jahrhunderts gelebt und gewirkt. Eine Epoche, in der technologische und wissenschaftliche Entwicklungen eine große Dynamik entfalteten. Schmidt-Salomon spricht von einem „atemberaubenden Entdeckungsprozess“ der Wissenschaft.   Auffallend ist, dass die meisten der Autoritäten politisch engagiert waren: vor allem als Humanisten und Pazifisten. Geeint hat sie womöglich der grundsätzliche Respekt vor allem Seienden und Lebenden und der Gedanke, dass der Mensch eine Spezies unter vielen ist. Zu Warnern wurden sie, weil sie erkennen mussten, dass wissenschaftliche Entdeckungen für militärische Zwecke missbraucht wurden, wie bei der Atombombe.  Insgesamt kommt der politische und historische Kontext, in dem sich die Wissenschaften bewegen, zu kurz. Nietzsches Radikalität beispielsweise war beeinflusst durch die deutsche Revolution in Folge der Französischen Revolution, die die gesellschaftlichen Ordnungen in Europa zum Einsturz brachte.  Das Zeitalter des Anthropozän  Das Buch soll, so sein Autor, gegen die Unübersichtlichkeit der Welt mit ihrer täglichen gigantischen Datenfülle Orientierungshilfe leisten. Das führt Schmidt-Salomon immer wieder zum „Anthropozän“: die Idee eines erdgeschichtlichen Zeitalters des Menschen, die seit einiger Zeit in Umlauf ist. Ob die Menschheit eine eigene geologische Kraft darstellt, ist in der Wissenschaft jedoch umstritten. Jedenfalls leitet Schmidt-Salomon daraus eine „planetare Verantwortung“ für die Erde ab.
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May 13, 2024 • 4min

Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille

„Wir sind hier für die Stille“ – seinen Titel verdankt Dorothee Rieses Debütroman einem Disput, den die Eltern der Protagonistin Judith eines Abends führen. Die Mutter hatte einer Nachbarin den letzten Kanten Brot geschenkt, der noch im Haus war. Der Vater ärgerte sich: Im Dorfladen, so sagt er, gebe es nun erst in drei Tagen wieder frisches Brot. Die Mutter entgegnet ihm, nicht für das Brot seien sie hierher gekommen, sondern für die Stille.  Sarmizegetusa heißt das Dorf, gelegen in Siebenbürgen, in das Anna und Kurt gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Judith in den frühen 1990er-Jahren ausgewandert sind – just als die deutschsprachigen Siebenbürger nach Deutschland strebten. Erzählt ist der Roman in der dritten Person, aber Dorothee Riese bleibt stets dicht an den Gedanken des Kindes. Das hat den Effekt, dass der Sprach- und Bewusstseinsraum sich mit seiner heranwachsenden Protagonistin weitet. Judith ist eine gute Beobachterin, doch erst nach und nach eignet sie sich auch das Wissen an, das es ihr ermöglicht zu verstehen, was sie sieht.  Glückssuche in Siebenbürgen  Das Dorf Sarmizegetusa ist für die Eltern eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einem Glück, das sie im Westen nicht mehr empfinden konnten. Das alternative Wohnprojekt, eine Bauwagensiedlung, in der sie in Deutschland gelebt haben, ist geräumt worden. Das Land, das, so wird es angedeutet, für sie auch noch immer ein Land der Täter ist, ist ihnen zu materialistisch geworden. Sie streben ein bedürfnisloses Leben an. Über Rumänien, über das Dorf, das einige seiner Bewohner stur mit dem deutschen Namen „Waldlichten“ bezeichnen, wissen die Neuankömmlinge in ihrer Naivität so gut wie nichts. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft lernt die Familie eine alte Nachbarin kennen:  Lizitanti hatte hellblaue Augen, die sahen alles. Und sie sprach auch so eine Sprache. Das war Deutsch, aber es pikste, rollte und stach. Sie sah streng zu Judiths Füßen: ‚Warum hast du deine Schuhe nicht an?‘ Kurt wollte erklären, dass Kinder keine Schuhe brauchten, aber die Mutter zwickte ihm in die Hand.  Quelle: Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille Es ist bemerkenswert, dass mit Dorothee Riese und der in Siebenbürgen geborenen Iris Wolff in diesem Frühjahr zwei Schriftstellerinnen viel beachtete Bücher veröffentlicht haben, die in ihrer Machart unterschiedlich sind und sich trotzdem ergänzen. Das Dorf, in dem Judith und ihre Eltern sich niederlassen, könnte einer jener tristen und verarmten postkommunistischen Weiler sein, die Wolffs Protagonist Lev im Roman „Lichtungen“ mit dem Fahrrad durchquert.  Dass ein armes, abgehängtes Dorf im Rumänien der frühen Neunzigerjahre keine Idylle ist, versteht sich. Sprachlich geschickt verdichtet Dorothee Riese aus der engen Perspektive des Kindes heraus die ethnischen Konflikte in Sarmizegetusa.  Alte Seilschaften  Die alte Lizitanti ist eine Siebenbürger Sächsin, die nach dem Krieg in die Sowjetunion deportiert wurde. Die Angehörigen der deutschen Minderheit blicken misstrauisch auf die angeblich neureichen Rumänen. Gemeinsam ist beiden eine Abneigung gegen die Roma, die „Brombeeraugen“, wie Judith sie nennt. Der Pfarrer des Dorfes wiederum, der zu Ceaușescu-Zeiten heimlich Opposition betrieb, traut so recht niemandem:  Der Pfarrer sprach von der Auswanderung der Sachsen, von der neuen Regierung und den alten Kommunisten, die sich gegenseitig die Ämter zuschacherten, wie er sagte. Und auch er redete gerne über die Roma. Er erzählte, dass sie es wären, die stahlen, dass sie zu viele Kinder bekämen, und dass sie vor allem die Dörfer und Städte der Gegend zerstören würden. Quelle: Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille Judith hingegen lernt Rumänisch, macht sich das Dorf auf ihre eigene, unschuldige Weise vertraut, schließt Freundschaften, entwickelt Zuneigungen und gerät dabei immer wieder in oft politisch und historisch bedingte Interessenskonflikte. Dorothee Riese begleitet dieses verständige Mädchen auf seinem Weg vom Vorschulkind bis zur Jugendlichen. Und hat auf diese Weise einen ungewöhnlichen Bildungsroman geschrieben.
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May 12, 2024 • 6min

Buchkritik: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen

Ja, ja, der Literaturbetrieb. Wer je geschnuppert hat an dieser Mischung aus Geist und Geld, Gerüchten und Geltungsdrang, weiß, dass es um all das nicht so bedeutend bestellt ist, wie Bestsellerlisten und Nobelpreisverleihungen vermuten lassen. Tatsächlich regiert hinter den Kulissen eher das allzu menschliche Klein-klein als der Gedanke ans Wahre, Schöne, Gute. Dieser Fallhöhe hat sich denn auch schon so manche Literaturbetriebssatire bedient. Wenn freilich jemand wie Madame Nielsen dieses Nähkästchen der Eitelkeiten öffnet und anfängt, einige Fäden herauszuziehen, darf man mehr erwarten. Schließlich gilt Madame Nielsen als dänische Verkörperung der Idee der Kunstfigur schlechthin. Vor sechzig Jahren als Claus Beck-Nielsen geboren, hat sie in unterschiedlichsten Gestalten mit radikal avantgardistischen Aktionen Furore gemacht, weit über Dänemark hinaus. Unter dem Namen Madame Nielsen ist sie seit 2014 nicht nur als Performancekünstlerin unterwegs, sondern auch als Autorin vermutlich biografisch inspirierter Romane, die ihre Leserschaft zugleich fesseln und verstören. Ihr Geschichtenband „Mein Leben unter den Großen“ über Begegnungen im Literaturbetrieb ihres Landes sollte also mehr und anderes bieten als die übliche Demontage der verbliebenen Reste eines obsoleten Geniekults. Oder? So sind die großen Autoren. Sobald sie die Gelegenheit haben, schenken sie einander ein signiertes Exemplar ihres neuen Buchs. Oder schlimmer: Sie schicken ein Widmungsexemplar mit der Post. [...] Und wenn man erst mal ein Buch eines der großen dänischen Autoren im Haus hat, kriegt man es schier unmöglich wieder los. Wo soll man denn hin damit? Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen Leider, so spinnt Madame Nielsen ihren Faden weiter, kann man es ja weder in die Altpapiertonne werfen noch ins Antiquariat bringen, denn in einem kleinen Land wie Dänemark besteht die Gefahr, dass der Autor es dort in die Finger kriegt und die eigene Widmung samt dem Adressaten liest, und das ist dann peinlich für alle Beteiligten. Unendliche Gedanken- und Erzählfluchten Solche Einfälle und Beobachtungen sind für sich genommen mäßig originell. Glücklicherweise fungieren sie in diesen zwölf Geschichten aber vor allem als Auslöser ins Unendliche reichender Gedanken- und Erzählfluchten. Sie wurden 2013 erstveröffentlicht, sind also entstanden, als Madame Nielsen noch Claus hieß. Doch wie ihre späteren Romane „Der endlose Sommer“, „Das Monster“ und „Lamento“ treiben sie bereits das Spiel mit der eigenen Identität. Leitmotivisch greifen sie bestimmte Lebensdaten auf, um sie gleich wieder in Frage zu stellen: den Gang vom Land nach Kopenhagen, das Hungerkünstler-Leben in der ersten WG, eine gescheiterte Ehe, das Berlin der Nachwendejahre. Dazu kommt allerlei Nonsens à la Hundescheiße als Katalysator radikaler Erkenntnis. Aber vielleicht ist das auch gar kein Nonsens, sondern tiefere Bedeutung. Bei Madame Nielsen weiß man ja nie. In Dänemark weltberühmt Allerdings sind die meisten der sogenannten Großen vor allem in Dänemark weltberühmt, was die Seitenhiebe für deutsche Leser zuweilen ins Leere gehen lässt. Immerhin, die notorische Nielsen‘sche Mischung aus Perfidie und Menschenliebe macht auch vor hierzulande bekannten Namen wie Peer Hultberg, dem auratischen Allesversteher, und Peter Høeg, dem Fräulein-Smilla-Erfinder und umtriebigen „Alle-und-Alles-Könner“, wie es heißt, nicht Halt. [...] da ich mit meinen fünf-, sechsundzwanzig Jahren noch nicht viel anderes gelesen hatte als Jungsbücher, Troels Kløvedahl und ,Ayla und der Clan des Bären‘, klang der Titel ,Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert‘ zunächst mal sehr anspruchsvoll. Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen Ein Buch von Peter Høeg. Das ist witzig. Leider gefällt sich die Erzählstimme ein bisschen zu sehr in der pseudonaiven Koketterie des selbsternannten Simplicius, der in dem ganzen Betrieb wie überhaupt im Leben ahnungslos herumstolpert. Inger Christensen im Literaturhaus-Café Neben den Gemeinheiten aber stehen Szenen von großer Zartheit. In der Erzählung „Die universale Großmutter“ etwa kontaminieren Details der Erinnerung an die eigene Großmutter eine Verneigung vor der nun wirklich großen Lyrikerin Inger Christensen, die als betagte Dame mit Handtäschchen an einem Tisch im Café des Berliner Literaturhauses beobachtet wird. Ich fand, ich sollte etwas sagen, sie wenigstens grüßen, ihr danken für all das, was sie mir gezeigt hat, all das, was es gibt, dass es es gibt, und dass ich es sehen und festhalten soll auf die einzig menschenmögliche Art, Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen nämlich: in der Sprache, die etwas ganz anderes ist, eine andere Welt, genau wie diese, die auch in einem langen und grausamen Prozess entstanden ist, sich verzweigt, geteilt und wiederholt hat auf alle möglichen und nicht zuletzt völlig unmöglichen Arten, eine Welt, die nicht sterben darf, sondern am Leben gehalten werden muss, rücksichtslos, kompromisslos, jedes Mal anfangen aus demselben beinahe Nichts, dem ersten kleinen Wort, das heißt: das. Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen Genaue Beobachtung der Einzelheiten, eine elastische Sprache, viel Wahres über die Tragikomik der Literaten, gepaart mit der ein wenig selbstgefälligen Position des tiefer blickenden Außenseiters – es bleibt ein zwiespältiger Eindruck von diesem Buch. Freude bereiten dürfte es vor allem den skandinavistisch informierten unter den Fans von Madame Nielsen.
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May 12, 2024 • 9min

„Die Regierung fand, ich wolle nur Ärger machen“ – Aktuelle Literatur aus dem Sudan | Reportage

Seit über einem Jahr herrscht Krieg im Sudan: Zwei rivalisierende Generäle und ihre Armeen kämpfen um die Macht – in einer Region, in der es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder zu Kriegen kam. Das schlägt sich auch in der Gegenwartsliteratur aus dem Sudan und Südsudan nieder, in der Gewalt sehr präsent ist – es aber viele hoffnungsvolle Momente des Zusammenlebens gibt. Ich bin in der Diaspora aufgewachsen. Doch weil ich aus dem Sudan stamme, hat er in meinen Gedanken einen besonderen Platz. Quelle: Fatin Abbas Sagt die Schriftstellerin Fatin Abbas. Geboren 1981 in Sudans Hauptstadt Khartum ist sie als Neunjährige mit ihrer Mutter in die USA gegangen. Ihr Vater saß zu der Zeit im Gefängnis, ihre Familie war in dem ostafrikanischen Land unter dem damaligen Herrscher Umar al-Bashir nicht mehr sicher. Ihr erster Roman „Zeit der Geister“ spielt in einer fiktiven Grenzstadt zwischen Nord- und Südsudan vor der offiziellen Unabhängigkeit des Südsudan 2011. Als jemand, die größtenteils im Ausland aufgewachsen ist und natürlich sehr enge Verbindungen und Familie im Sudan hat, habe ich mich selbst und meine Autorität als Schriftstellerin in Frage gestellt – wie ich zum Sudan stehe und ihn literarisch repräsentieren kann. Aber dann wurde mir klar, dass es nicht die eine authentische Version des Sudan, sondern dass es viele Darstellungsformen gibt. Und meine ist eine davon. Quelle: Fatin Abbas Im Roman „Zeit der Geister“ gibt es vier zentrale Figuren, die verschiedene Perspektiven auf und innerhalb des Sudans repräsentieren: einen weißen US-amerikanischen NGO-Mitarbeiter, eine sudanesisch-amerikanische Fotografin, eine muslimische Köchin aus einer Nomadenfamilie, die aufgrund der Dürre sesshaft werden musste, und einen gut ausgebildeten Sudanesen aus dem Süden, der als Englisch-Übersetzer in der Grenzregion arbeitet, weil er in Khartum keine Arbeit gefunden hat. Ein vielschichtiger Mikrokosmos dieser Region. Was mich am Sudan am meisten interessiert ist, dass er da liegt, wo der arabische Nahe Osten, das arabische Nordafrika und Sub-Sahara-Afrika aufeinandertreffen. Das macht ihn zu einem Gebiet, in dem man all diese verschiedenen kulturellen und politischen Strömungen verhandeln muss. Quelle: Fatin Abbas Das spannungsreiche Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen spiegelt sich in der Literatur wider: Im Sudan schreibt man auf Arabisch, im Südsudan wird meistens auf Englisch geschrieben. Die Autorin Stella Gaitano ist Südsudanesin, hat sich aber wie einige Autorinnen und Autoren ihrer Generation bewusst fürs Arabische entschieden – auch für ihren neuen Erzählband „Endlose Tage am Point Zero“ –, wie sie im Zoom-Interview erzählt. Als ich anfing, auf Arabisch zu schreiben, war es für die Menschen im Norden das erste Mal, dass sie Literatur über Südsudanesen auf Arabisch lesen konnten. Sie wussten nicht viel über den Südsudan, die Gefühle der Menschen dort und verstanden nicht, was sie durchmachten. Quelle: Stella Gaitano Stella Gaitano ist in Sudans Hauptstadt Khartum aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat dort studiert. Aber ihre Eltern kamen aus dem Süden und so musste sie mit der Unabhängigkeit des Südsudan 2011 Karthum verlassen. In ihrem intensiven und einsichtsvollen Kurzgeschichtenband erzählt sie von unzerstörbaren Bäumen, die Schutz und Heimatgefühle vermitteln. Von dem Weggehen-Müssen aus dem Norden in den Süden, dem oft jahrelangen Dasein in Flüchtlingscamps kurz vor der neu geschaffenen Grenze. Ich dachte, dass ich das dokumentieren sollte. Damals hat man die humanitäre Frage nicht in den Mittelpunkt gestellt. Während der Trennung der beiden Länder konzentrierten sich die Politiker nur auf ihre politischen Streitereien. Quelle: Stella Gaitano Die Unabhängigkeit des Südsudan ist mehr als ein politischer Prozess – das machen Gaitanos oft nur wenige Seiten langen Kurzgeschichten eindrücklich klar. In einer Geschichte kauft sich eine Frau ein Gewehr, nachdem ihr die Entschädigung geraubt wurde, die sie dafür bekommen hat, dass ihr Mann als Soldat im Unabhängigkeitskrieg gestorben ist. Die Menschen denken, dass sie sich selbst schützen müssen. Die Regierung ist weit weg, Gesetze nützen dir nichts. Es herrscht einfach Chaos. Jeder kann machen, was er will. Jeder kann eine Waffe bekommen, um sich zu schützen. Jeder kann jeden töten. Die Menschen entscheiden selbst, weil die Regierung schwach ist oder nicht funktioniert, um die Bürger zu schützen. Quelle: Stella Gaitano Und Politiker lesen nicht. Quelle: Abelaziz Baraka Sakin Was ein Teil des Problems ist, findet Abelaziz Baraka Sakin, einer der wichtigsten Autoren des Sudan. Er lebt seit 2012 in Europa. Falls sie lesen, verstehen sie nicht. Und falls sie es verstehen würden, würden sie nicht daran glauben, dass Literatur etwas voraussagen kann. Sie denken, Literatur ist nur etwas für die Freizeit. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Auch in seinem Werk sind es die Politiker und Generäle, die versagen und aus Eigennutz handeln. In seinem 2012 im Sudan, dann 2021 in Deutschland erschienenen Roman „Der Messias von Darfur“ geht es um den Darfur-Konflikt, in dem von Khartum bezahlte Djandjawid-Kämpfer an der Seite der Regierungsarmee gegen lokale Rebellengruppen kämpften. Seine weibliche Hauptfigur Abdelrahman aber nimmt es mit den Milizen der Djandjawid auf: Sie will sich an ihnen rächen, weil sie ihr Dorf in Darfur vernichtet, ihre Familie ausgelöscht und sie vergewaltigt haben. In diesem Roman erzählte ich, was in Darfur passiert ist und welche Auswirkungen dies auf die Zukunft haben wird. Ich wollte, dass meine Leute das verstehen und dass sie darauf vorbereitet sind. Die Regierung fand, dass ich bloß Ärger machen wollte. Ich würde etwas erzählen, was nicht passieren werde – aber dann, 15 Jahre später, passiert genau das, was ich beschrieben habe. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Denn gegenwärtig bekämpfen die sudanesische Regierungsarmee und die RSF-Truppen einander, die aus den Djandjawid hervorgegangen sind. Diese komplexen Beziehungen, Verwicklungen und Hintergründe entlarvt Abdelaziz Baraka Sakin in seinem Roman mit knallharter Ironie und oft sehr bitterer Komik. Aktuell schreibe ich wieder einen Roman über den Krieg, über das, was die Menschen, Frauen und Männer, auch Kinder, jeden Tag durch die Bombardierungen, durch Soldaten, durch Milizionäre erleiden. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Das Schreiben helfe ihm dabei, die Gegenwart psychologisch zu verarbeiten. Baraka Sakin ist einer der meistgelesenen Autoren des Sudan – paradox, denn: Seine Bücher sind seit 2011 im Sudan verboten. Sie haben mein Buch „Der Messias von Darfur“ verboten. Deshalb habe ich es jedem, der es herunterladen möchte, gratis als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. Man braucht sie nur herunterzuladen und kann loslegen. Sie können nicht das Internet verbieten, denn das gibt es überall. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Zugänglichkeit spielt eine Rolle für die Literatur im Sudan. Auch für Stella Gaitano. Sie schreibt auch deshalb Kurzgeschichten… …weil sie leicht zu verbreiten sind. Es ist einfach, veröffentlicht zu werden. Wenn ich sie nicht in einem Buch unterbringen konnte oder wenn eine Zeitung sie abgelehnt hat, kann ich sie einfach auf meine Seite stellen. Quelle: Stella Gaitano Dort können auch wir die Geschichten finden. Oder wir kaufen die sehr gelungenen deutschen Übersetzungen. Die Autorinnen und Autoren und ihre Romane sind im globalen Norden immer auch Stimmen aus ihren Heimatländern. Romanautoren setzen sich wirklich intensiv mit dieser Art von Trauma auseinander, mit der traumatischen Geschichte, mit der der Sudan zu kämpfen hat. Quelle: Fatin Abbas Deshalb vermitteln diese stilistisch unterschiedlichen, aufschlussreichen und lohnenden Bücher auch Einblicke in eine Region, in der fast unbeachtet von der Weltöffentlichkeit die weltweit größte Flüchtlingskrise entstanden ist. Rund neun Millionen Menschen sind auf der Flucht, fast fünf Millionen Menschen leiden an akutem Hunger. Deshalb bin ich sehr froh, wenn meine Bücher über mein Land informieren, über die Menschen dort und über den Krieg. Vielleicht hilft es jemanden. Denn wir brauchen aktuell wirklich die Hilfe von außen, auch von Menschen in Deutschland. Wir brauchen ihre Stimme. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin
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May 12, 2024 • 10min

Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah | Gespräch

Go Mani ist die Hauptfigur in Cho Nam-Joos neuem Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“. Mit ihrem ersten Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ hatte Cho international Erfolg. In ihren Geschichten geht es stets um prekäre Lebensverhältnisse. Im Zentrum stehen bei ihr Frauen, die Mühe haben, im Leben zurecht zu kommen. Die Kritikerin Isabella Arcucci hat den Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ mit Interesse gelesen. Allerdings begegnen ihr in den letzten Jahren allzu viele passive Frauenfiguren in neuer ostasiatischer Literatur, auch etwa bei Sayaka Murata und Mieko Kawakami. Es sind Frauen, die unverheiratet sind, isoliert leben und meist einer stumpfsinnigen Arbeit nachgehen. Im Gespräch mit SWR Kultur-Literaturredakteurin Katharina Borchardt wünscht sich Arcucci eine stärkere charakterliche Ausdifferenzierung der Figuren von Seiten der AutorInnen und mehr Lust an der literarischen Variation von Seiten der deutschen Verlage.
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May 12, 2024 • 2min

Zeinab Badawi – Eine afrikanische Geschichte Afrikas

Daraus wurde schließlich auch ein umfangreiches Buch von 500 Seiten, das vor allem Schlaglichter wirft: auf die Knochenfunde der allerersten Menschen, auf das alte Ägypten, auf den Einfluss von Christentum und Islam in Afrika, auf mittelalterliche Königreiche, Sklavenhandel und Kolonialismus und den Kampf der Südafrikaner gegen die Apartheid. Eine akademische Edelfeder ist Badawi sicherlich nicht, trotzdem ist ihr Buch historisch bestens informiert und mit journalistischer Recherche prall gefüllt. Denn Badawi hat über Afrika nicht nur gelesen, sondern hat es auch erlebt. Von ihren ausgedehnten Reisen, Recherchen und Interviews zeugt dieses Buch, das ein Talent sowohl für die großen Zusammenhänge wie fürs praktisch Lebensweltliche hat. Aber: Ist das Buch wirklich eine „afrikanische Geschichte Afrikas“, wie der Titel behauptet? Teils teils! Trotz ihrer sudanesischen Abstammung wirkt die in England aufgewachsene Fernsehjournalistin in ihren Filmen und auch im Schreiben sehr britisch. Ihre Gesprächspartnerinnen sind größtenteils HistorikerInnen vom Kontinent, so dass wir von ihnen lernen und uns in ihre Perspektiven eindenken können.
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May 12, 2024 • 55min

Dem Mond so nah! – Neue Bücher von Cho Nam-Joo, T.C. Boyle, Zeinab Badawi u.a.

Die Autorin Madame Nielsen fühlt sich klein angesichts all ihrer in Dänemark so weltberühmten Autorenkollegen. „Mein Leben unter den Großen“ heißt ihr humoristischer Bericht. Wir besprechen ihn. Eine Rezension von Julia Schröder. Constantin Schreiber im Gespräch Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber recherchiert viel über die arabische Welt. Bekannt wurde er durch seine Sachbücher. Jetzt hat er erstmals einen Ägypten-Krimi geschrieben: „Kleopatras Grab“. Hören Sie ihn im Gespräch mit SWR Kultur. „Die Regierung fand, ich wolle nur Ärger machen“ – Aktuelle Literatur aus dem Sudan Im benachbarten Sudan herrscht augenblicklich Krieg. Viele Menschen sind auf der Flucht. Von den Konflikten im Sudan berichten Fatin Abbas, Stella Gaitano und Abdelaziz Baraka Sakin in ihren neuen Romanen. Sonja Hartl stellt die Neuerscheinungen in einem Mini-Feature vor. Ausflüge nach Afrika und Seoul Außerdem empfehlen wir „Eine afrikanische Geschichte Afrikas“ der in Khartum geborenen britischen Journalistin Zeinab Badawi. Ein umfangreiches historisches Kompendium. Und: Korea besteht nicht nur aus glitzerndem K-Pop. Davon erzählt Cho Nam-Joo in ihrem neuen Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“. Darin führt sie in die prekären Außenbezirke der Großstadt Seoul. Die Literaturkritikerin Isabella Arcucci im Gespräch. Literarisch souveräne Kurzgeschichten von T.C. Boyle Drohnenautos, Incel-Männer und Wasserfluten - von den kleinen und großen Katastrophen der Gegenwart erzählt schließlich T.C. Boyle in dreizehn neuen Stories. „I Walk Between the Raindrops“ heißt sein neuer Erzählband. Musik:Renaud Garcia-Fons – Méditerranées (A mediterranean journey)Label: CMG
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May 12, 2024 • 5min

T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories

Alltagsszenen, wie zufällig aus dem Leben gegriffen: Ein Mann besichtigt den durch einen Erdrutsch verwüsteten Teil seiner Stadt – aus sicherer Entfernung. Er will sich nicht die Schuhe ruinieren. Es war ja auch nicht so, als könnte ich mich irgendwie nützlich machen – es trieb kein Baum vorbei, in dessen Zweigen ein Kleinkind hing. Da war nur Schlamm. Eine gewaltige Schlammsuppe. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Im Zug spricht eine Frau mit einem freundlichen jungen Computernerd über das mörderi­sche Attentat an einer Schule. Er kannte den Täter: Er hatte eine Seele. Eine große Seele. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Bei einem anderen Mann steht plötzlich sein unbekannter Sohn vor der Tür: Der Junge war wie ein Hündchen, einer dieser Straßenköter in der Anzeige eines Tier­heim, dem alle Bedürftigkeit, der Herzschmerz und die Sehnsucht der Welt aus den Augen blutete. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Nichts Besonderes also – eigentlich. Die Menschen in diesen Geschichten sind durchweg gutwillig, doch so eingebunden in das eigene Leben, dass sie nur zu schnell an die Gren­zen ihres Mitgefühls stoßen. Irritierende Einbrüche versuchen sie wegzustecken wie einen lästigen Schluckauf, doch die Folgen sind – oft nur schwebend angedeutet - verheerend: Der junge Mann im Zug zeichnet das Psychogramm des Amokläufers als sei es ein Bild von sich selbst. Der distanzierte Beobachter wehrt in einer Bar eine aufdringliche, gestörte Frau ab – sie bringt sich um, Kopf auf den Schienen. Der uneheliche Sohn kehrt müde vor Trau­rigkeit in sein altes Leben als saufender Loser zurück. Sie haben eben Pech gehabt. Ich spreche von Gnade - oder nennen Sie’s Glück, wenn Sie wollen. Ein stochastisches Glücksrad. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Der amerikanische Autor T.C.Boyle hat in seinen erfolgreichen Romanen schon viele As­pekte des ame­rikanischen Lebens ausgeleuchtet, mal in Form von Biographien, mal durch Konstellatio­nen, in denen ganze Gruppen durch aktuelle Probleme angezählt werden, wie zuletzt in „Blues Skies“ beim Thema Klimawandel. Boyles großartige Stories dagegen sind weit weniger bekannt, doch das erzählerische Ziel ist das gleiche, sogar noch prägnanter und fokussierter. „I walk between the raindrops“ zeigt Ausschnitte vom schwierigen Tanz seiner Protagonisten zwischen den Einschlä­gen: In „Die Hyäne“ verfällt ein ganzes Dorf durch kontaminiertes Mehl dem Wahnsinn; in „Nicht Ich“ verfolgt ein junger Lehrer hilflos die verbotenen Liebesbeziehungen von Kolle­ginnen mit minderjährigen Schülern – ein umgekehrtes “MeToo“; „Der dreizehnte Tag“ bringt die Erlösung von der qualvollen Quarantäne, die ein älteres Ehepaar während der Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff durchlitten hat – oder doch nicht? Der Zauber des Augenblick hielt an, es war überaus schön. Aber dann (…) rang ich plötz­lich nach Luft. Im nächsten Moment musste ich husten und konnte nicht mehr aufhö­ren. (…)sah meiner Frau in die Augen und sagte:‘Es ist gleich vorbei’. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Die Stories – von Dirk van Gunsteren und Annette Grube virtuos übersetzt – sind zwar unterschiedlich in Qualität und Thema, doch gemeinsam ist ihnen der gelassene Erzählton: wie beiläufig, ohne dramatische Zuspitzungen. Und wenn doch mal Drama, kommt es auf Samtpfoten daher, durchtränkt vom trockenen, oft schwarzen Humor des Autors, der bei allem Verständnis für seine gebeutelten Protagonisten auch die Komik ihrer egozentri­schen Begrenztheit auslotet. Selbst in einer nicht weit entfernten Zukunft, die er in klei­nen Science Fiction-Ent­würfen schraffiert: die totale Überwachung durch den Staat oder die KI im Auto, die das Kommando übernimmt: Mach die Tür auf.- „Ich halte das für unklug“.- Weißt du was? Das ist mir scheißegal. Hast du mich gehört? Ob du mich gehört hast? Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories „I walk between the Raindrops“ heißt 13 Spiele zwischen Realität und Vision, phantasievoll und klug, oft makaber, immer psychologisch treffsicher. Typische T.C. Boyle-Ge­schichten und Beweise seiner literarischen Souveränität.
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May 12, 2024 • 14min

Constantin Schreiber – Kleopatras Grab | Autorengespräch

Dabei gerät der schwerreiche Franzose nicht nur in Konflikt mit Kommissarin Theodora Costanda, sondern auch mit einem altägyptischen Geheimbund, der das Geheimnis um Kleopatras Grab mit allen Mitteln bewahren will. Im SWR-Kultur-Gespräch erzählt Constantin Schreiber von seiner Arbeit zwischen Fakt und Fiktion, von Reisen und Recherchen in Ägypten und davon, warum so wenig Muslime in seinem Ägypten-Krimi auftreten.
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May 8, 2024 • 4min

Katrin Seyfert – Lückenleben

Wenn jemand in der Familie an Demenz erkrankt, dann nimmt das pflegende Angehörige auf eine Weise mit, die sich anfühlt wie ein Systemwechsel – vorher Teil der Leistungsgesellschaft, jetzt im Hilfebetrieb. Sie treten beruflich kürzer und versuchen die Peinlichkeit eines entgleisenden Menschen vor der Welt draußen so gut es geht zu verbergen. Wenn die Zeit kommt, wo der Demente die Toilette nicht mehr findet, erkundigen sie sich nach einem Platz im Heim. Sie erfahren, dass sie dafür ihr Erspartes drangeben müssten. Ein Heim ist teuer. Spätestens an diesem Punkt kann die Beziehung zum Kranken bitter werden. Die Demenz eines Familienmitglieds, so stellt sich das für pflegende Angehörige nicht selten dar, erfordert ihre Selbstaufgabe.  Ein kluger Erfahrungsbericht über Alzheimer  Die Autorin dieser Zeilen kennt diesen üblichen Gang der Dinge aus eigener Erfahrung. Deshalb ihre Freude über das Buch „Lückenleben“ von Katrin Seyfert, die ihre höchst lebendigen, wütenden, klugen Erfahrungsberichte über die Alzheimerdemenz ihres Mannes erst im Magazin „Der Spiegel“, nun aber in ausgeweiteter Form als Buch veröffentlicht. Freude deshalb, weil bei Katrin Seyfert von Selbstaufgabe keine Spur ist. Sie nennt ihre Gefühle beim Namen. Als Journalistin weiß sie, dass eine ehrliche Sprache Ordnung schafft, die Halt verleihen kann.  Ich wünschte, mein Mann wäre tot. Noch mehr wünschte ich mir, er würde leben. Aber derzeit lebt er mit mir tot zusammen. Und dieses Zwischenreich als Existenz zu akzeptieren, ist schwerer als die Trauer um Tote. Quelle: Katrin Seyfert – Lückenleben Das wertvollste Gefühl war die Wut  Für die Mittfünfzigerin war eines der wertvollsten Gefühle in dieser Zeit ihre Wut:   „Wut hat ja was sehr Lebendiges. Ich hatte nie Wut auf die Krankheit, auch nicht auf meinen Mann, auf keinen Fall. Aber auf so verschiedene Konventionen und Erwartungshaltungen.“  Wut auf die Begutachterin der Krankenkasse, die ihren Mann runterputzte; Wut auf Ärzte, die kein Mitgefühl aufbrachten; Wut auf Freunde, die ihr einen baldigen Burnout prophezeiten. Katrin Seyfert kämpfte darum, die schweren Jahre mit ihrem Mann Mark mit Anstand durchzustehen, aber sie kämpfte nicht allein.   „Wir hatten drei kleine Kinder, die mussten versorgt werden. Wir hatten einen Hund. Wir hatten einen Alltagshelfer. Wir hatten einen Studenten, der bei uns gewohnt hat. All die brauchten Unterstützung, um den Alltag so strukturiert zu bekommen, dass er für uns als Familie gepasst hat.“  Wertvolle Ideen und Impulse für alle, die mit Demenz konfrontiert sind  Der Oberarzt, der die Diagnose stellte, erschreckte sie mit der Bemerkung, sie solle sich drauf vorbereiten, dass sich binnen eines Jahres ihr Freundeskreis halbieren würde. Von Anfang an bemühte Katrin Seyfert sich darum, dass das nicht passierte. Einmal monatlich lud sie zu Hausmusik, Abende mit Schlagern, bei denen Mark mitsingen, mitsummen, mitwippen konnte. Nachbarn kochten Erbsensuppe. Marianne von nebenan gab den Kindern umsonst Klavierunterricht. Das Geld war knapp. Viele halfen, manchmal auch Leute, von denen Katrin Seyfert es nie gedacht hätte.  „Ich weiß, dass ein halbes Jahr nachdem mein Mann gestorben ist, ich bei Penny eingekauft habe. Und die Filialleiterin sagte: Och, Ihr Mann hat ja hier auch hin und ab englisch eingekauft, also hat was geklaut, ohne dass er das wusste. Das haben wir dann einfach mal so durchgehen lassen, ich hab das als Warendiebstahl deklariert. Und das hat mich wahnsinnig gerührt, dass ich selbst von der Filialleitung eines Supermarktes Hilfe angeboten bekommen habe.“  2022 starb ihr Mann. Sie sei noch nicht ganz runter vom Adrenalin, sagt die Autorin. Noch heute habe sie das Gefühl, ein Tag ohne Katastrophe sei ein komischer Tag. Das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“ wirft für jeden, der sich für Demenz interessiert oder mit Dementen Umgang hat, Impulse und wertvolle Ideen ab. Es bringt zum Lachen und zum Weinen. Und zwar auch Leser, die ganz anders gestrickt sind als Katrin Seyfert.

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