

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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May 22, 2024 • 4min
Daniel Etter – Feldversuch
Folgen des Klimawandels
In Spanien sind die Folgen des Klimawandels früher und heftiger spürbar als in Deutschland. Dürren und Starkregen führen zu hohen Ernteeinbußen und vermindern die Bodenqualität.
Der 44 -jährige Fotojournalist und Hobby-Landwirt Daniel Etter beobachtet in seinem Buch „Feldversuch“, was dies in seiner Wahlheimat Spanien ganz konkret bedeutet: Etter folgt dem Lauf der Jahreszeiten auf seinem Hof in Katalonien, wo nach einem vielversprechenden Aufleben im Frühjahr die Pflanzen in der Sommerhitze kläglich verdorren.
Er begibt sich auf die Suche nach Landwirten und überzeugten Quereinsteigern, die mit regenerativem Landbau neue Wege gehen. Die Rückbesinnung auf traditionelle Landbewirtschaftung ohne künstliche Düngemittel ist hier einer von vielen Ansätzen. In der Landwirtschaft sieht der Autor den größten Hebel, der uns im Kampf gegen die Klimakatastrophe verblieben ist.
Auf der Suche nach Alternativen
Journalistisch kommen in diesem Sachbuch die Vorteile der klassischen Reportage wieder zu Ehren. Daniel Etter recherchiert zwar auch Daten und Fakten im Internet, aber seine sinnlichen Eindrücke vor Ort sind durch kein online-Interview zu ersetzen. Er lernt Waldgärtner, Umweltaktivistinnen, ein junges Schäferehepaar und einen Biobauern persönlich kennen und geht mit ihnen in England, Frankreich und Deutschland über Felder, Äcker und Weiden.
So bekommt er ein Gespür für die körperliche Anstrengung, die etwa mit den steilen Anstiegen in den französischen Cevennen verbunden ist und kann die psychischen Herausforderungen eines Landwirts nachempfinden, der in Brandenburg kilometerweit auf knochentrockenen Boden schaut.
Etter sieht den Regenwürmern bei der Auflockerung des Bodens zu, teilt einfache Mahlzeiten mit zwei Schafhirten und provoziert den Zorn seiner Nachbarn, als er das Gras auf seinem Grundstück nicht kurz hält, sondern hoch wachsen lässt. Immer wieder probiert er neu Erlerntes auf seinem Hof aus und muss dabei auch Niederlagen verkraften.
Als Leserin merkt man bald: Es gibt nicht die eine alternative Methode, mit der ausgelaugter Boden nach jahrzehntelanger Ausbeutung wieder in nährstoffreiches Ackerland verwandelt werden kann. Herauszufinden, was wo unter welchen Bedingungen funktioniert, erfordert Geduld und feinstes Austarieren.
Auch Leserinnen und Leser, die nichts mit Landwirtschaft zu tun haben, werden dieses Buch mit Interesse lesen, denn es vermittelt wichtige Grundsatzeinsichten. Ob es um die Speicherung von Kohlenstoff im Boden geht, um den Verzicht aufs Pflügen oder um klimaresistente Gemüsegärten: Entscheidend ist die Haltung, die wir alle gegenüber Boden und Tieren auf dieser Erde einnehmen. Das macht der Umweltrechtsanwalt Gus Speth deutlich, den Etter in seinem Buch zitiert:
Ich dachte, dass die größten Umweltprobleme der Verlust von Biodiversität, der Zusammenbruch von Ökosystemen und Klimawandel seien. Aber ich lag falsch. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Apathie.
Quelle: Daniel Etter – Feldversuch
Ein Mutmacher-Buch
Was kann man diesen negativen Faktoren entgegensetzen? Nach Etter fängt es schon bei der Sprache an, die wir im Bereich Landwirtschaft benutzen. Den Begriff „konventionelle Landwirtschaft“ empfindet er als Euphemismus. Zutreffender sind für ihn Bezeichnungen wie „industrielle“ oder „chemische Landwirtschaft“.
Wenn man sich das Ausmaß künstlicher Düngung vor Augen führt, kann man ihm nur zustimmen. Dass Gemüseanbau unter Plastikfolien weder nachhaltig noch „bio“ ist, selbst wenn das Etikett auf der Packung dies suggeriert, ist auch einsichtig. Wir sollten also den Mut haben, uns von irreführenden Bezeichnungen zu verabschieden. Fraglich ist auch, ob die Vorgabe der Ertragsmaximierung in der Landwirtschaft sich inzwischen nicht längst als Auslaufmodell erwiesen hat.
Letztendlich ist Daniel Etters Buch mit seinen eindrücklichen Fotos von Landschaften, Tieren und Menschen, die das Land anders bearbeiten wollen, ein Mutmacher -Buch. Dass sich Landwirte, die alternative Methoden der Landwirtschaft und Tierhaltung ausprobieren, oft den Unmut der Nachbarn zuziehen, muss auch Daniel Etter erfahren. Aber hier hilft vielleicht eine Rückbesinnung auf einen alten 68er-Spruch: „Revolution ist machbar, Herr Nachbar!“

May 21, 2024 • 4min
George Saunders – Tag der Befreiung
Für manche ist George Saunders der amtierende Weltmeister der Kurzgeschichte. Bei ihm ist jede Erzählung ein liebevoll und mit höchstem Formbewusstsein gearbeitetes Werkstück. Seine neue Sammlung „Tag der Befreiung“ beweist aber auch, dass Saunders die formale Experimentierfreude mit hoher sozialer Erzählmoral verbindet. So verschieden die Themen seiner Geschichten auch sind – immer schlägt sein Erzähler-Herz für die Benachteiligten und Gedemütigten.
Büro-Intrige mit Kaffeekapseln
Beispielhaft zeigt das „Eine Sache auf der Arbeit“, die Geschichte einer Büro-Intrige. Drei Perspektiven stehen hier gegeneinander. Da ist die ehrgeizige, etwas arrogante Genevieve, die ihren Mann während der Arbeitszeit mit einem Kollegen im nahen Hotel betrügt.
Sie blickt herab auf die mollige Brenda aus eher prekären Verhältnissen, die in der Firma die Drecksarbeit erledigt und gelegentlich Kaffeekapseln mitgehen lässt. Und dann ist da noch Chef Tim, der Konflikten lieber aus dem Weg geht, sich aber als guter Mensch fühlen möchte und deshalb Brenda nach ihrem kleinen, nun ja, Gefängnisaufenthalt eingestellt hat. Als Genevieve über Brenda ablästert, macht er nicht mit:
Stattdessen kriegte sie eine betrübte, mit Rüge gewürzte Miene serviert. „Na ja“, sagte Tim. „Sie hatte zuletzt einen ganz schön schweren Packen wegzustecken.“ Was? Na super. Jetzt sah Tim sie als den Snob, der auf gute Weine und hausgemachte Senfsorten stand und gern auf der weißen Proll-Lady rumhackte, wenn sie schon am Boden lag? Eine oberflächliche Elitäre, die die Wohnmobil-Tussi disste?
Quelle: George Saunders – Tag der Befreiung
Bissige Komödie mit psychologischer Tiefenschärfe
Wie diese drei Menschen sich einschätzen und abschätzen, wie sie übereinander denken und herziehen, wie Genevieve Brenda wegen der kleinen Diebstähle denunziert, Brenda im Gegenzug Genevieves firmenfinanzierte Liebesfreuden verrät und Tim schließlich eine Lösung für den Konflikt findet, die naturgemäß auf Kosten der Schwächsten geht – das erzählt Saunders als bissige Komödie. Erzählt es mit psychologischer Tiefenschärfe, in figurennaher, plastisch-drastischer Sprache, glänzend übersetzt von Frank Heibert.
Menschen als Apparaturen an der Wand
Zugespitzt wird die soziale Konfrontation in den drei dystopischen Erzählungen des Bandes. In der achtzigseitigen Titelgeschichte „Tag der Befreiung“ etwa werden Menschen als Apparaturen versklavt. Sie sind Accessoires der Wohlhabenden, werden in arrangierten Posen an die Wand gehängt, um als sogenannte „Künder“ zu dienen.
Ihre Identitäten sind gelöscht, stattdessen bekommen sie einen Bewusstseinsinput, den sie wie Sprechpuppen aufsagen. Mitten in der großen Show vor geladenen Gästen aber lässt der renitente Sohn des Hauses ein Befreiungskommando herein, das sich nicht von der Behauptung entwaffnen lässt, dass die „Künder“ einvernehmlich arbeiten würden:
Wie kann es einvernehmlich sein, wenn ihr Opfer ein leergefegtes Hirn hat, an eine Wand fixiert ist und sich an nichts außerhalb des Raumes erinnern kann? Erklären sie uns das doch mal. Ist es aber, sage ich.
Quelle: George Saunders – Tag der Befreiung
Dieses „Ich“, das hier dazwischenfunkt, ist die Hauptfigur der Geschichte, der Künder Jeremy. Weil er sich in die Hausherrin verliebt hat, schlägt er sich auf die Seite seiner Unterdrücker und sabotiert die Aktion. Es ist ein altes Lied: Die Ausgebeuteten verweigern sich der Revolution, wollen sich partout nicht befreien lassen.
Diese Geschichte ist voller grotesker Einfälle, und sie entfaltet eine komplexe Psychologie des Herr-Knecht-Verhältnisses. Dennoch wirkt sie allzu ausgetüftelt und konstruiert. George Saunders hat uns so viel über die wirklichen Verstrickungen zwischen Menschen mitzuteilen, dass er sich eigentlich keine dystopischen Gleichnisse ausdenken muss, in denen ausgebeutete Menschen an Wänden hängen.
In den besten Geschichten dieses Bandes werden die inneren und äußeren Gefangenschaften, in denen Menschen feststecken, mit den Mitteln eines nuancierten Realismus deutlich genug.

May 19, 2024 • 5min
Colm Tóibín – Long Island | Buchkritik
Ob sie die Frau vom Klempner sei, will der Fremde an der Tür wissen. Er hat geklingelt, tritt barsch auf und stellt Eilis vor vollendete Tatsachen. Mit dieser beinahe surreal komischen und gleichzeitig aggressiv klaren Szene beginnt Colm Tóibíns Roman „Long Island“.
Er versteht sein Geschäft, ihr Mann. Ich wette, er ist sehr gefragt.“ Er hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte. „Bei uns zuhause hat er alles perfekt erledigt“, sagte er weiter und zeigte mit dem Finger auf sie, “er hat sogar etwas mehr gemacht als vereinbart. Ja, er ist regelmäßig wiedergekommen, wenn er wusste, dass die Frau im Haus sein würde und ich nicht. Und er ist so gut im Rohrverlegen, dass sie im August ein Kind von ihm kriegt.
Quelle: Colm Tóibín – Long Island
Schnell und nachhaltig ist die Welt von Eilis erschüttert: ihre jahrzehntelange Beziehung zu ihrem Mann Tony, zu ihren halb erwachsenen Kindern, denen sie ein verlässliches Elternpaar waren.
Eine Großfamilie bricht auseinander
Eilis ist, nach ihrem Weggang aus Irland, eingemeindet in die italienische Großfamilie ihres Mannes auf Long Island. Aber nun - so macht Colm Tóibín in erzählerischer Klarheit deutlich - wird Eilis all das in Frage stellen.
„Am Anfang des Schreibens stand tatsächlich das Bild dieses Mannes in der Tür.“
…sagt Colm Tóibín über die Entstehung seines Romans…
„Er ist groß, sein Akzent ist eindeutig, sein Benehmen – einfach alles an ihm ist irisch. Er drückt sich auch so aus. Wenn er nicht irischstämmig wäre, hätte Eilis nicht recht gewusst, wie sie ihn einschätzen sollte. Aber weil er Ire ist, glaubt sie ihm sofort. Mir ging es dabei um die Idee, dass am Anfang des Romans etwas sehr schnell passiert, was dann im weiteren Verlauf des Buches hinterfragt und dramatisiert wird.“
Es liegt an der Qualität von Tóibíns Erzählkunst, dass man sich in alle Figuren seines Romans einfühlen kann. In vielfacher Brechung werden die nachfolgenden Kapitel aus immer anderen Perspektiven der Beteiligten erzählt. Wie Eisenspäne richten sich die Lebenswege der Figuren nach ihrem Schicksalsmagneten aus.
Die Geschichte einer nicht gelebten Liebe
Dabei greift Tóibíns Roman zurück und erzählt die Geschichte einer nicht gelebten Liebe: Vor zwanzig Jahren war Eilis kurz nachdem sie in den USA geheiratet hatte, noch einmal nach Irland zurückgekehrt. Dort traf sie auf Jim, mit dem sie eine ebenso scheue wie kurze aufkeimende Liebe verband.
Als ihr Aufenthalt zu Ende geht, verschwindet sie ohne Erklärung. Die Lücke zwischen ihrer aufflammenden Leidenschaft und dem Leben, für das sie sich auf Long Island entschieden hat, war zu groß. Aber es ist eben diese Lücke, die sich jetzt noch einmal auftut – und Colm Tóibín inszeniert das in großer Zwangsläufigkeit.
Eilis reist zurück in ihre irische Heimat – und es ist die Kraft der Unausweichlichkeit, die die beiden Liebenden von einst erneut zusammenführt.
„Schreiben ist eine detaillierte, langsame Arbeit“
Da driftet der Roman in Richtung Schmonzette, aber Tóibín ist erzählerisch zu klug und erfahren, um in diese stilistische Falle zu tappen:
„Ich bin mir nicht sicher, ob Einfühlungsvermögen das richtige Wort wäre, um meine Erzählhaltung zu beschreiben. Ich sehe eher die dramatischen Möglichkeiten und arbeite damit, ohne zu urteilen. (9:00) Schreiben ist eine sehr detaillierte, langsame Arbeit. Wenn man anfängt, Wünsche oder einen größeren philosophischen Rahmen anzustreben, verliert man das Buch, würde ich sagen.“
Tatsächlich fasziniert Colm Tóibíns Roman im Detailreichtum seiner Figurenbeschreibung.
Konventionell erzähltes Lesefutter
Seine Geschichte behandelt eines der großen Themen der Literatur: Liebe, Enttäuschung, Eifersucht, die brüchigen Fugen menschlicher Beziehungen - und all das Unausgesprochene, was in ihnen nistet.
Mit seiner Sogkraft ist Tóibíns Roman „Long Island“ klassisches Lesefutter. Die Erzählhaltung ist dabei keine experimentelle - im Gegenteil, Tóibín schreibt stringent, konservativ im besten Sinne, meidet jede stilistische Eitelkeit. Aber vielleicht wirkt sein Roman gerade deshalb am Ende auch ein wenig konventionell.

May 19, 2024 • 7min
Richard Russo – Von guten Eltern | Gespräch
Rezession, Rassismus und Polizeigewalt in einer Kleinstadt in Upstate New York: Richard Russo zeichnet ein packendes Stimmungsbild der US-Gesellschaft vor der Trump-Ära. Der bislang politischste Roman des Pulitzer-Preisträgers, der seinen Figuren trotz aller Katastrophen immer eine Portion Optimismus mitgibt.
Ein Gespräch mit dem Literaturkritiker Christoph Schröder

May 19, 2024 • 11min
Elke Heidenreich – Altern | Autorengespräch
Ein lebenskluges Buch
Wer solle über das Altern schreiben, wenn nicht Elke Heidenreich mit über 80?, das fragte sich die Bestsellerautorin und Journalistin selbst und legt nun den Essay „Altern" vor. Das Buch ist in der Reihen „Das Leben lesen" bei Hanser Berlin erschienen.
Warum sie das Buch zunächst gar nicht schreiben wollte, verrät die Schriftstellerin im Gespräch mit Anja Brockert. Außerdem spricht sie darüber, welche Herausforderungen mit dem Altern einhergehen - und welche Vorteile.
„Die Gegenwart ist ein Geschenk"
In ihrem Essay schreibt Heidenreich von ihren persönlichen Erfahrungen und wandert auch durch die Literaturgeschichte: Ob Philip Roth, Silvia Bovenschen oder Jane Campbell in „Kleine Kratzer", viele schrieben über das Altern. Sogar eine Todesanzeige für sich selbst entwarf sie.
Ein Buch, das Mut macht für ein zufriedenes Alter.

May 19, 2024 • 4min
Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel | Buchkritik
Das Liebesleben des Menschen ist bekanntlich ziemlich kompliziert. Doch er steht damit nicht allein, denn, wie sich jetztherausstellt, ist auch das Liebesleben der Vögel äußerst vielfältig. Das zeigt der promovierte Ökochemiker und Vogelexperte Ernst Paul Dörfler jetzt in seinem Buch „Das Liebesleben der Vögel“:
Ich weiß als Naturwissenschaftler, dass die Vögel von ähnlichen oder gleichen Hormonen gesteuert werden wie wir. Kann man davon ausgehen, dass sie nicht nur negative Gefühle empfinden wie Stress und Schmerz und Trauer, sondern auch positive Gefühle wie Freude und Liebe.
Quelle: Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel
Ernst Paul Dörfler ist der erste, der das Liebesleben der in Deutschland heimischen Vögel auf über 200 Seiten gründlich erfasst und allgemein verständlich zusammengefasst hat. Das sind bei ihm immerhin über drei Dutzend porträtierte Vogelarten.
Immer wieder zieht er Analogien zum menschlichen Verhalten. So nennt er Singvögel, die oft nur einen Sommer eine Ehe eingehen: Lebensabschnittsgefährten, wie wir das auch kennen. Aber immerhin verbringen Männchen und Weibchen bei nur zwei bis drei Lebensjahren immer noch fast ihr halbes Leben miteinander.
Imponiergehabe
Stare vergleicht Dörfler mit den echten Stars in unserem gesellschaftlichen Leben. Sie prunken mit glänzendem Gefieder, stolzieren durch Büsche und Bäume, sind grandiose Sänger-Darsteller, die zahlreiche Klänge aus ihrer Umgebung perfekt imitieren. Das hat sogar zum Abbruch eines Fußballspiels geführt, weil ein Star die Trillerpfeife des Schiedsrichters so gut nachahmte, dass keiner mehr wusste, wer wirklich gepfiffen hatte.
Immer wieder berichtet der Vogelexperte von solch überraschenden und amüsanten Verhaltensformen...
Ihr Liebesleben beginnt im Frühjahr und zwar durchaus lauthals. Das vielstimmige Vogelkonzert zeigt ebenso wie ein prächtig herausgeputztes Gefieder nicht nur Revieransprüche, sondern ist auch Weibchenwerbung. Man will den Damen imponieren und verausgabt sich dafür.
Der Zaunkönig legt sich auch noch ins Zeug und baut und baut und baut und zwar baut er Nester und nicht nur eines, zwei, drei, bis zu sieben Nester baut er für ein Weibchen. Das imponiert natürlich dem Weibchen, dem fällt es nicht schwer, ja zu sagen, einzuziehen und eine Ehe zu führen.
Quelle: Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel
Monogamie bei Vögeln
Dem Liebesgeflüster folgt die Vereinigung. Aber die ist schwer zu beobachten, denn der eigentliche Akt dauert nur wenige Sekunden. Das hat, so Dörfler, zu einigen Fehlannahmen geführt. So ging man früher bei vielen Vogelarten von festen Partnerschaften aus, doch das erweist sich als Irrtum. Heute enttarnt die DNA aus Federn und Blut Seitensprünge. Dabei zeigt sich, dass Monogamie in der Vogelwelt eher eine Seltenheit als der Normalfall ist:
Wir haben ja lange Zeit angenommen, dass sich ein Männchen, ein Weibchen in Freud und Leid die Zeit und die Arbeit teilen: Man ist davon ausgegangen, dass sie auch sexuell treu sind. Und siehe da, bei den allermeisten Singvögeln, wenn man so ins Nest schaut, die Nestlinge untersucht, die stammen eben nicht nur von einem Vater, meist von zwei Vätern, manchmal von drei Vätern und nun musste man einfach die Monogamie neu definieren und Monogamie heißt, Singvögel leben vorrangig sozial monogam, d. h. sie erledigen die täglichen Arbeiten gemeinsam, bravourös, aber sie führen keine sexuelle Monogamie.
Quelle: Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel
Die Beziehungen in der gesamten Vogelwelt sind allerdings noch viel variantenreicher: Es gibt Vielweiberei, Haremspflege, Inzest, auch lesbische und schwule Partnerschaften.
Man mag Dörflers Interpretation des Vogelverhaltens bisweilen für allzu menschlich halten, jede Analogie hat ihre Schwächen, das gibt er auch wiederholt zu. Doch das schmälert nicht die Faszination des Buches, das sich in all seinen Aussagen auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse stützt: eine fröhliche und witzige Entdeckungsreise durch das Liebesleben der Vögel.

May 19, 2024 • 2min
Barbara Köhler - Schriftstellen. Ausgewählte Gedichte und andere Texte | Lesetipp
„Schreiben war für sie etwas ganz Lebendiges, in Bewegung bleiben“, sagt Literaturkritikerin Beate Tröger, „und das kommt in diesem Sammelband noch einmal zum Leuchten“.

May 19, 2024 • 7min
André Kubiczek – Nostalgia | Buchkritik
Wegen der Liebe ist sie 1969 in die geschlossene Gesellschaft der DDR eingewandert, die junge Frau aus Laos. Sie hat ihren Mann beim Studium in Moskau kennengelernt. Auch wenn der proletarische Internationalismus groß geschrieben wird in der DDR – befremdete Blicke muss sie ertragen unter den Ostdeutschen, und Sohn André bekommt gelegentlich „Schlitzauge“-Rufe zu hören. Immerhin gibt es eine Lehrerin, die sich für ihn einsetzt:
‚Und euch anderen will ich eins sagen‘, hat Fräulein Heumann ihre Belehrung fortgesetzt, ‚ich will nicht, dass ihr euren Mitschüler hänselt, bloß weil er ein Mischling ist. Kein Mensch kann etwas für sein Aussehen. Es ist nicht seine Schuld, dass er anders ist als ihr, habt ihr das verstanden?‘‚Ja‘, hat die Klasse im Chor geantwortet.
Quelle: André Kubiczek – Nostalgia
Gut gemeint, auch wenn es nach den heutigen Maßstäben nicht politisch korrekt klingt. Aber darum geht es André Kubiczek nicht.
Untergründiger Rassismus in der DDR
Ihm geht es um die historische Korrektheit, auch bei der Thematisierung des untergründigen Rassismus in der DDR. Es ist nicht das erste Mal, dass der Schriftsteller in einem Roman die eigene Familiengeschichte literarisch verarbeitet. Noch nie aber ist er den biographischen Leidensuntergründen, die seit je sein Schreiben bestimmen, so nahe gekommen.
Im Zentrum von „Nostalgia“ steht eine Frau zwischen zwei Welten. Der Vater der Mutter war kurzfristig Außenminister des Königreichs Laos, bis er von der eigenen Leibgarde ermordet wurde. Schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung missbilligt die laotische Familie die Beziehung mit einem deutschen Arbeitersohn aus der DDR und schickt der Mutter vietnamesische Spione auf den Hals.
Ihr Mann wiederum, der sich mit seinem Studium auf den diplomatischen Dienst vorbereitet und deshalb zu besonders staatstreuem Verhalten verpflichtet ist, erregt bei der Stasi Verdacht wegen seiner Liebe zu einer Frau aus dem reaktionären Königreich Laos. Dass das junge Paar überraschend schnell einen Telefonanschluss bekommt, liegt nur daran, dass man sie dann besser abhören kann.
Die Mutter übersetzt aus dem Laotischen
Die Lage bessert sich, als in Laos 1975 die Monarchie gestürzt wird und eine sozialistische Regierung an die Macht kommt. Im Zeichen der internationalen sozialistischen Bruderschaft öffnet sich für die Mutter die Tür zu einer akademischen Karriere, und sie ist gefragt als Übersetzerin:
Sie übersetzt Sachen für Intertext oder sie dolmetscht, wenn eine Delegation aus ihrer alten Heimat kommt, was häufiger passiert, seit Laos ein fortschrittliches Land geworden ist. Es gibt Fotos, auf denen Mama redet und daneben steht Erich Honecker mit seinen Männern und hört ihr zu. (…) Alle haben weiße Kittel an und tragen weiße Helme, denn die Fotos wurden in einer Melkanlage aufgenommen.
Quelle: André Kubiczek – Nostalgia
Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des 1969 geborenen Sohnes André. Zunächst erleben wir mit ihm die Unannehmlichkeiten des realsozialistischen Schulalltags, lernen Freunde und Freundinnen aus der Nachbarschaft von Potsdam-Waldstadt II kennen und erhalten Einblicke in die Popsozialisation eines Ostjugendlichen um 1980, der heimische musikalische Gewächse wie die Puhdys schlimm findet und lieber Hitparadenmaterial aus dem Westen auf seinen Cassettenrecorder schmuggelt.
Und dann ist Weihnachten 1981, und mit großer Ausführlichkeit wird erzählt, wie der Junge seine Großeltern aus dem Harz vom Bahnhof abholt und wie es im Verlauf der Feiertage nicht nur Freuden, sondern auch Streit und das eine oder andere Malheur gibt. Wird die Geduld der Leser hier womöglich überstrapaziert?
Familienwelt vor der Abbruchkante
Erst später fällt ein anderes Licht auf die breit ausgerollte „Nostalgia“ dieser Passagen, die eine noch halbwegs heile Familienwelt kurz vor der Abbruchkante in Szene setzen. Denn am Ende dieser Ferien setzt das fürchterliche Siechtum der Mutter ein. Sie ist unheilbar an Krebs erkrankt. Für André ist die Leichtigkeit der Jugend dahin. Er erlebt seine Mutter fortan nur noch stark abgemagert auf dem Sofa liegend. Es schaudert ihn vor den Beuteln ihres künstlichen Darmausgangs.
‚Bringst Du das bitte in den Mülleimer‘, hat Frau Gottschalk gesagt und ihm das Päckchen mit dem benutzten Beutel in die Hand gedrückt. Vorsichtig wie eine entsicherte Handgranate hat er das Päckchen in die Küche getragen. ‚Keine Angst‘, hat Frau Gottschalk ihm hinterhergerufen, ‚da läuft nichts aus. Die Beutel sind aus dem Westen und haben ein Ventil.“
Quelle: André Kubiczek – Nostalgia
Ost-West-Motive, wohin man blickt und wo man sie nicht vermutet. Das ganze Leben scheint damals durchwirkt von der Systemkonkurrenz.
Auch Andrés ein Jahr jüngerer Bruder Alain leidet an einer Krankheit, einer sich von Jahr zu Jahr verschlimmernden geistigen Einschränkung. Für André taugt er nur schlecht zum Spielkameraden, weil er vieles nicht begreift. Irgendwann büßt er auch seine gewisse liebenswerte Niedlichkeit ein und wird von den Menschen offenbar nur noch als Zumutung empfunden.
Hier ist der Bruderblick erbarmungslos, weil mitbetroffen. Als seine erste kurzzeitige Freundin André fragt, ob er Geschwister habe, verleugnet er den Bruder und bringt sich damit selbst in die Klemme.
Er kann morgen im Orion schlecht sagen: ‚Entschuldige, Bianca, ich habe mich geirrt. Kurz vor dem Einschlafen ist mir eingefallen, dass ich doch einen Bruder habe, und zwar einen, der geistig behindert ist.‘
Quelle: André Kubiczek – Nostalgia
Zur Tragik gehört es, dass sich die Krankheiten von Bruder und Mutter durch medizinische Fehlbehandlungen und missglückte Operationen verschlimmern.
Eindrücklich und authentisch erzählt
Die Vorgeschichte insbesondere der Mutter lässt sich nicht allein durch die Perspektive des Sohns vermitteln. Deshalb wechselt der Roman in der zweiten Hälfte mehrfach überraschend in die Gedankenwelt der Mutter, was erzähltechnisch inkonsequent wirkt, aber inhaltlich erheblichen Zugewinn bringt.
Die Sehnsucht nach ihrer laotischen Herkunftswelt wird immer mächtiger und das Fremdheitsgefühl in der DDR mit dem scheußlichen Kochbeutelreis immer größer. Ein starkes, anrührendes Kapitel schildert die letzte Reise der Sterbenskranken zur Familie nach Laos.
„Nostalgia“ hätte einige Straffungen gut vertragen. Aber es ist eine eindringliche Lektüre, die durch Authentizität und Ehrlichkeit überzeugt. Der Roman lebt von den atmosphärischen Details und kontrastiert die Tragik mit einem leichten, bisweilen gewitzten Ton. Erinnerungsschwere Romane mit DDR-Hintergrund gibt es inzwischen viele, aber durch die ungewöhnliche, interessante laotische Komponente bricht „Nostalgia“ aus dem Gewohnten aus.
André Kubiczek macht aus seinem autobiographischen Verfahren keinen Hehl. Am Ende widmet er das Buch den beiden früh verstorbenen Hauptfiguren: seiner Mutter, die nur vierzig, und seinem Bruder Alain, der nur siebzehn Jahre alt wurde.

May 19, 2024 • 55min
Eltern, Altern und Nostalgie: lesenswert Magazin mit neuen Büchern von Elke Heidenreich, Richard Russo und Colm Tóibín
Ein persönlicher Essay
Wir sprechen im lesenswert Magazin mit Elke Heidenreich über ihren Essay „Altern“. Ein persönliches und auch kämpferisches Buch der 81jährigen. Sie schaut auf ihr Leben, streift durch die Literaturgeschichte – und macht Mut für ein zufriedenes Alter.
Und: Der Ire Colm Tóibín erzählt in seinem aktuellen Roman „Long Island“ von einem folgenreichen Seitensprung. Eine Großfamilie bricht auseinander, eine ungelebte Liebe flackert wieder auf. Etwas konventionell erzähltes Lesefutter.
Rezession, Rassismus und Gewalt: Der neue Roman von Richard Russo
„Von guten Eltern“ heißt der neue Roman von Richard Russo, der in die US-amerikanische Kleinstadt führt: Zu Familien und Paaren, zu kleinen und großen Katastrophen, zu Rezession, Rassismus und Polizeigewalt, packend und mit hohem Tempo erzählt.
Und André Kubiczek erinnert sich in „Nostalgia“ an seine Mutter, die aus Laos stammte und in der DDR untergründigen Rassismus zu spüren bekam.
Außerdem: Ein Lesetipp und eine Lesung zum Werk der Lyrikerin Barbara Köhler und ein Sachbuch über das Liebesleben der Vögel.
Musik:Jessica Pratt – Quiet SignsLabel: City Slang

May 16, 2024 • 4min
Golo Maurer – Rom. Stadt fürs Leben | Buchkritik
Rom ist mehr als ein Fest fürs Leben – und nach der Lektüre des gleichnamigen Buchs von Golo Maurer spürt der Leser, dass Rom das Leben selbst ist: in all seiner Schönheit und Abgründigkeit, in seinem Kontrast zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit. Freilich sollte man die Stadt kennen, um Golo Maurers Huldigung an sie schätzen zu können. Dabei gelingt dem Autor, der die Bibliothek des römischen Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte leitet, das Kunststück, immer wieder zwischen der Begeisterung für die ewige Stadt und ironischer Distanz zu ihr zu changieren.
Herr Maurer, was macht das Leben in Rom schwer für einen Nicht-Römer, ja für einen Deutschen:
„In Rom Urlaub machen ist eine ganz andere Sache als in Rom leben. Wer in Rom lebt, der erlebt diese Stadt von ihrer anstrengenden Seite, sie ist dysfunktional, schmutzig, frustrierend manchmal, aber manchmal denke ich mir dann: Wenn Rom in seiner ganzen Schönheit auch noch die Funktionalität von – sagen wir – Bielefeld hätte, dann wäre das zu viel.“
Diese Mischung aus Enthusiasmus und Ironie, ja Sarkasmus zeigt sich gerade auch bei Passagen, in denen Golo Maurer sich mit den eher dunklen Seiten der jüngsten italienischen Geschichte und ihrer Hauptstadt beschäftigt, beispielsweise beim Blick auf die von Mussolini geprägten Straßennamen:
So ist er, der italienische Faschismus, proletarisch und doch von pathetischer Gelehrsamkeit, futuristisch und gleichzeitig historistisch, gewalttätig und würdevoll, eine Mischung aus Sportstunde, Schlägertrupp und Lateinunterricht.
Quelle: Golo Maurer – Rom. Stadt fürs Leben
Ein Reiseführer? Nein, eine begeisterte Liebeserklärung an Rom
Dieses Buch ist kein Reiseführer und will es auch nicht sein. Vielmehr ist es Konfession, Bildungsroman, Tagebuch, impressionistisches Sprachbild und – leider ist das Wort so abgegriffen – Liebeserklärung an Rom: an seine vielfältigen Stadtteile, die meistens mit den berühmten sieben Hügeln übereinstimmen, an seine Trattorien und Bars und die Köstlichkeiten, die es dort zu entdecken gibt, an seinen nonchalanten Umgang mit Ruinen und Kirchen und katholischer Ästhetik, an die mit sprezzatura getragene Mode – und nicht zuletzt an die Römerinnen und Römer selbst: trotz mancher ihrer politischen Irrungen und Wirrungen und wegen ihrer Lebenskunst, die einem so ganz anderen Kulturverständnis entspringt. Dies bringt Golo Maurer immer wieder zu grundsätzlichen Betrachtungen – beispielsweise im Kapitel über den italienischen Signore:
Nichts ist einnehmender und zugleich verunsichernder, als diese graziöse, delikate, irgendwie antikische Bipolarität, der gegenüber der Macho sich plump und der Schöngeist sich schwächlich vorkommt.
Quelle: Golo Maurer – Rom. Stadt fürs Leben
Elegant-entspannte Sprache – und durchdachte kulturgeschichtliche Theorie
Solche kulturgeschichtlichen Überlegungen tauchen plötzlich auf aus dem Fluss scheinbar leicht dahinplätschernder und im Stil einer conversatione formulierten Beobachtungen; und immer ist da auch ein Kulturvergleich mit Deutschland und den Deutschen. Vielleicht ist es ja gerade dieser Kulturschock, der manche Deutsche ins bel paese und besonders nach Rom lockt – sie dann aber zu einer gewissen Überheblichkeit führt, wie Golo Maurer im Interview schildert:
“Wobei ich immer den Eindruck habe, dass diese Überheblichkeit am Ende eine Kompensation ist für die ja von Deutschen doch im Alltag schmerzlich gefühlten Defizite im Zivilisatorisch-Kulturellen.“
Der Lesegenuss kann die Reise kaum ersetzen – aber er schafft ungeduldige Vorfreude
Sprachliche Krönung des Buchs sind zweifellos die Kapitel über den Versuch einer Wanderung von Rom nach Neapel und über den Strand von Rom – ja, Rom liegt am Meer: Wer bei dieser Beschreibung „grüner Inseln, winziger Haine und sich durch das üppige Grün schlängelnder Pfade“ (284) und eines geglückten Tages am winterlichen Lido, den Golo Maurer als ein „aus dem trüben Ozean der Zeit gezogenes goldenes Fischlein“ in allen Facetten beschreibt – wer jetzt nicht gleich den Koffer packt und nach Rom aufbricht, dem ist nicht mehr zu helfen. Und keinen Hehl macht der Autor daraus, dass für den, den einmal die Liebe zu dieser abgründig-schönen Stadt gepackt hat, jede Ankunft in Rom zur Heimreise wird.


