

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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May 28, 2024 • 4min
Hans-Gerd Koch – Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Mit seiner Familie hätte Franz Kafka lieber nichts zu tun gehabt. Diesen Eindruck erwecken zumindest bestimmte Passagen in seinen Tagebüchern, Briefen und vor allem sein berühmter „Brief an den Vater“. In diesem Prosatext wird nicht nur der Vater Hermann als übermächtig und übervital porträtiert, auch die Schwestern Elli und Valli werden wenig schmeichelhaft gezeichnet. Die große Ausnahme: Ottla, die jüngste der drei Schwestern. So schreibt der 29-jährige Kafka 1912 an seine spätere Dauerverlobte Felice Bauer:
Im übrigen ist meine jüngste Schwester (schon über 20 Jahre alt) meine beste Prager Freundin, und auch die zwei anderen sind teilnehmend und gut. Nur der Vater und ich, wir hassen einander tapfer.
Quelle: Hans-Gerd Koch – Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Der Dichter im Hauptquartier des Lärms
Hier kommen also auch die anderen beiden Schwestern gar nicht so schlecht weg. Aber insgesamt bemüht sich der junge Dichter, das Image des vom familiären Trubel in der elterlichen Wohnung Gemarterten zu kultivieren, im „Hauptquartier des Lärms“, wie er schreibt. Dass der neue Text-Bild-Band des Kafka-Herausgebers Hans-Gerd Koch den Titel „Kafkas Familie“ und den Untertitel „Ein Fotoalbum“ trägt, könnte deshalb verwundern. Aber ebenso, wie die Arbeit des promovierten Juristen Franz Kafka bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt nicht die reine Fron war, sondern ein vergleichsweise lauer Job mit Feierabend ab mittags um zwei, ebenso wenig ist Kafka vorstellbar ohne seine große Verwandtschaft.
Hans-Gerd Koch dokumentiert dies mit mehr als 100 Fotografien, zum Großteil aus dem vom Verleger Klaus Wagenbach aufbewahrten Kafka’schen Familien-Archiv, ergänzt um schlaglichtartig ausgewählte Auszüge aus Tagebuchnotizen und Briefen. Anhand der so eingeordneten Aufnahmen führt der Herausgeber durch die Familiengeschichte, von den Großelternpaaren Kafka und Löwy über die Eltern Julie und Hermann Kafka und deren zahlreiche Geschwister bis zu den Kindern der Schwestern Elli, Valli und Ottla, Franz‘ Nichten und Neffen also, für die der Onkel sich durchaus und sehr wohlwollend interessierte.
Unverdüsterte Mitteilungen aus der Sommerfrische
In einigen dieser Briefe ist Kafka ganz der verantwortungsvolle große Bruder, der etwa der Schwester Elli nahelegt, sie möge ihre kleine Tochter in die Reformschule Dresden-Hellerau schicken. In anderen schreibt er aus der Sommerfrische in böhmischen Bädern, an der Ostsee oder, nach Ausbruch seiner Tuberkulose-Erkrankung, bei Schwester Ottla, die während des Ersten Weltkriegs das Gut ihres Schwagers bewirtschaftete. Ihr vom Kriegsdienst freigestellter Bruder genoss derweil den heiteren Landaufenthalt, wie er im September 1917 einem Freund schreibt:
„Dabei sieht mich infolge vorteilhafter Anlage der nächsten Umgebung kaum irgendjemand, was bei der komplicierten Zusammenstellung meines Liegestuhles und bei meiner Halbnacktheit sehr angenehm ist. [...] Vielleicht werde ich noch Dorfnarr werden, der gegenwärtige, den ich heute gesehen habe, lebt eigentlich wie es scheint in einem Nachbardorf und ist schon alt.“
Quelle: Hans-Gerd Koch – Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Franz Kafka ließ sich nicht gern fotografieren. Von den bekannten Kinderbildnissen und Passfotos abgesehen, ist er nur auf wenigen der Schnappschüsse und Gruppenbilder vertreten. Umso reichlicher sind die Aufnahmen der Verwandtschaft. Auf diese Weise vervollständigt sich nicht nur das Porträt Franz Kafkas, es entsteht auch ein Zeitbild jüdischen Aufstiegs in den letzten Jahrzehnten des Habsburgerreichs und der Umbrüche, die Weltkrieg und Gründung der tschechoslowakischen Republik mit sich brachten.
Hans-Gerd Koch fasst in seiner Nachbemerkung zusammen, wie es für die Familie nach Kafkas Tod am 3. Juni 1924 weiterging. Während der deutschen Besatzung starben alle drei Schwestern Anfang der Vierzigerjahre in Konzentrationslagern, auch viele der Nichten und Neffen, deren Kinderbildnisse in diesem Album versammelt sind, wurden ermordet. Angesichts dessen wirken die fotografischen Zeugnisse dieses lebendigen Familienzusammenhangs umso eindrücklicher.

May 27, 2024 • 4min
Günter Karl Bose – Kafka im Ostseebad Müritz (1923) | Buchkritik
Meer und Wald-in diesen beiden Worten liegt der Zauber Müritz. Still und friedlich ist Müritz, kein Luxusbad, doch auch nicht altmodisch, sondern ein wirkliches Erholungsbad.
Quelle: Günter Karl Bose – Kafka im Ostseebad Müritz (1923)
Für Franz Kafka wird der verträumte Ort an der Ostsee mit viel Wald und Wellen, Sonne und Strand einen letzten, ungeahnten Sommer bereithalten: vier Wochen des Jahres 1923, die sein Leben noch einmal und grundlegend verändern. Davon ahnt Kafka noch nichts, als er sich am 10. Juli auf die Reise begibt. Es geht ihm sehr schlecht.
Ein letzter, ungeahnter Sommer für Franz Kafka im Jahr 1923
Vor einem Jahr ist er vorübergehend pensioniert worden, regelmäßige Büroarbeit kann er nicht mehr leisten. Immer wieder drücken ihn Fieberanfälle oder Magen-Darmkrämpfe nieder. Die Tuberkulose schreitet voran, Kuren zeigen keinen Erfolg.
Die schrecklichen Zeiten, unaufzählbar, fast ununterbrochen. Spaziergänge, Nächte, Tage, für alles unfähig außer für Schmerzen.
Quelle: Franz Kafka
notiert der Niedergeschlagene am 12. April 1923 in sein Tagebuch. Wenige Wochen später aber wagt er zusammen mit seiner Schwester Elli und deren Kindern die Fahrt nach Müritz. Sie wohnen im Haus „Glückauf“, Kafka bezieht ein Zimmer im zweiten Stock mit Blick auf den Wald.
50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienheim des jüdischen Volksheims in Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehen. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks.
Quelle: Franz Kafka
Folgenreiche Begegnung mit Dora Diamant
Bereits drei Tage nach Ankunft im Ostseebad hat sich die Stimmung Kafkas deutlich aufgehellt, wie seinem Brief an den Schulfreund Hugo Bergmann zu entnehmen ist und es wird nicht mehr lange dauern, bis er in eben jenem Haus des Jüdischen Volksheims Dora Diamant begegnet.
Sie arbeitet dort als Wirtschafterin und Köchin. Dora stammt aus einer Familie orthodoxer Juden in Lodz. Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, hat sich die junge Frau bis Berlin durchgeschlagen und eine Anstellung gefunden.
Den Sommer verbringt sie nun in Müritz. Eines Abends kommt Kafka, um den Sabbat mitzufeiern. Zum ersten Mal richtet er das Wort an Dora Diamant. Sie beschreibt es in den wenigen von ihr erhaltenen Notizen.
Als ich von meiner Arbeit aufblickte – der Raum hatte sich verdunkelt, es stand jemand draußen vor dem Fenster – erkannte ich den Herrn vom Strand wieder . Dann trat er ein – ich wusste nicht, dass es Kafka war und dass die Frau, mit der ich ihn am Strande zusammen gesehen hatte, seine Schwester war. Er sagte mit sanfter Stimme: ‚So zarte Hände, und sie müssen so blutige Arbeit verrichten!‘
Quelle: Dora Diamant
Eine folgenreiche Begegnung
Sie ist die erste Frau, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann, ein „anderes Leben“ in Berlin, nicht in ferner Zukunft, vielleicht im nächsten Monat schon. Nun hat er dafür eine „Komplizin“ gefunden. Erzählen wird er es niemandem. Noch können die Dämonen, die seit Jahren seinen Spuren folgen, die Pläne durchkreuzen.
Quelle: Günter Karl Bose – Kafka im Ostseebad Müritz (1923)
befürchtet mit Kafka der in Wort und Gestaltung feinsinnige Günter Karl Bose. In seinem wunderbar gestalteten Buch „Franz Kafka im Ostseebad Müritz (1923)“ beschreibt und bebildert der Germanist und Typograf die letzte große Vision des todgeweihten Autors.
Ein bibliophiles Kleinod
Was alles Platz findet in diesem bibliophilen Kleinod! Annoncen, Fotos, historische Beschreibungen, Karten des Ostseebades Müritz, Abbildungen der Häuser und Bewohner bereichern den sorgsam recherchierten Text.
Dieser, immer aufs Neue durchfurcht von Zitaten, Briefen oder Berichten, erzählt nicht nur die Geschichte von Kafka und Dora Diamant (die glückliche in Müritz wie auch die traurige danach).
Doras Kollegin und spätere Palucca-Tänzerin Tile Rössler erfährt ebenso ausführliche Erwähnung wie die Geschichte des Jüdischen Volksheims und seiner Gründer oder auch der Pension „Glückauf“ und was aus ihr wurde. Die Lektüre dieses Buches gleicht einer Reise – an die See und in die Seele eines großen Sommers.

May 26, 2024 • 5min
Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao. Mit 100 neuen und alten Songs durch Italien
Mit dem Schlager „Abbronzatissima“ – „stark gebräunt“ von Edoardo Vianello beginnt Eric Pfeils zweite musikalische Italienrundreise. Dass dieser Sommerhit aus dem Jahr 1963 den Auftakt bildet, ist zwar schlicht der alphabetischen Aufzählung nach Liedtiteln geschuldet. Aber auch inhaltlich ergibt es Sinn:
Die Wirtschaft boomt, Italien hebt ab ins scheinbar ewige Blau, und da darf es an leichtfüßigem Liedmaterial nicht mangeln. Doch nicht genug damit, dass hier eine italienische Musiktradition ihre Geburt erlebt; wir dürfen gewissermaßen dabei sein, wie Italien, so wie wir es kennen, sich überhaupt erst erfindet. Der Großteil dessen, was wir heute als „typisch italienisch“ wahrnehmen – Esskultur, Aperitivo-Tradition, Caffé-Rituale, Mode, Kino, Musik – ist ein Produkt der Nachkriegszeit und des „Boom economico“, des wirtschaftlichen Aufschwungs. „Abbronzatissima“ ist in diesem Sommer 1963 mithin der Soundtrack zur Erschaffung der italienischen Leichtigkeit.
Quelle: Eric Pfeil - Ciao Amore, ciao
Ein Buch wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte
100 Lieder in 100 Kapiteln – wie schon das erste Italien-Buch von Eric Pfeil ist auch dieser Band wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte: bunt, abwechslungsreich, überraschend, aber auch tiefgründig.
So erklärt der Autor beispielsweise anhand von Ivano Fossatis „La mia banda suona il rock“ das Verhältnis des Einzelnen zur Nation. Der Genueser Fossati nahm das Album 1979 in den USA auf, um der provinziellen Kleinteiligkeit seiner Heimat zu entfliehen.
Man denkt weniger national als regional – als piemontese, napoletano oder pugliese. Sich kollektiv unter dem Banner Italia zu versammeln, fällt den Bewohnern des Bel Paese bis heute schwer. In Italien spricht man vom Campanilisimo, der extremen Bezogenheit auf den örtlichen Glockenturm.
Quelle: Eric Pfeil - Ciao amore, ciao
Leidenschaftlicher Italien-Forscher
Pfeil, das scheint auf jeder Seite durch, ist nicht einfach nur Tourist. Er ist ein leidenschaftlicher Italien-Forscher, der das Land in all seiner kulturell und regional fragmentierten Gesamtheit erfassen will. Dafür hat er es über Jahrzehnte hinweg bereist, sich in die Geschichte eingelesen und mit vielen Menschen gesprochen. Dieses Wissen vermittelt er uns anhand der ausgesuchten Lieder.
Ich gehör erstmal auch zu diesen Leuten, die sich unschuldig in dieses Land verknallt haben – sah einfach alles besser aus, war sehr überzeugend, zumal wenn man wie ich aus Bergisch Gladbach kommt. Irgendwann läuft man dann natürlich vor sehr viele Wände. Dann stehen die Widersprüche im Raum herum. Der Katholizismus, die Frauen, die Männer, die Mütter, die Mafia…. Die Musik, die für mich immer parallel lief, die ich auch immer faszinierend fand, weil sie so ein anderes Flirren hatte als anglo-amerikanische Musik, hat sich für mich irgendwann als das Mittel herausgestellt, mit dem man das Land wirklich verstehen kann.
Quelle: Eric Pfeil
Große Themenvielfalt der italienischen Popmusik
Weil, so Pfeil, in der Musica leggera, wie sie in Italien heißt, wirklich jedes Thema abgehandelt werde. Die Anni di piombo, die bleiernen Jahre des Links-Rechts-Terrors in den 70ern, haben genauso ihre musikalische Entsprechung wie die LGBTQ-Bewegung oder die Rückkehr des Rechtspopulismus. Wir erfahren zudem, welche Künstler politisch wo zu verorten zu sind, und Pfeil erinnert daran, wie wichtig das San Remo-Festival für italienische Liedkultur ist. Und dass die wahren Superstars des italienischen Lieds nicht die sind, die wir in Deutschland dafür halten - statt Ramazotti, Zuccero und Cutogno nämlich: De Andre, di Gregorio, Mina und immer wieder Lucio Battisti.
Manchmal versteigt sich Pfeil etwas in seinen Formulierungen, verfällt dann in eine Art Jugendfreizeitleiter-Sprech der 80er-Jahre oder in Manager-Denglisch: da wird mächtig aufs Pedal gedrückt, direkt durch den Käse geschnitten und Themen werden adressiert, statt sie – nun ja – eben einfach an- oder auszusprechen. Das jedoch sind lässliche Verfehlungen dieses Reiseführers der anderen Art. Eric Pfeil trifft darin nämlich genau den Ton, den er am Gegenstand seiner Betrachtung so liebt: glitzernd und flirrend.

May 26, 2024 • 11min
Theresia Enzensberger – Schlafen
Die Schlaflosigkeit nimmt in unserer Gesellschaft rasant zu. Was sind die Ursachen? Theresia Enzensberger widmet dem Schlafen und auch seinen politischen Implikationen jetzt ein sehr interessantes Buch.

May 26, 2024 • 6min
Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich
Eine der vielen Figuren im literarischen Kosmos von Karl Ove Knausgård ist der Architekt Helge. Zu seinem 60. Geburtstag hat eine große norwegische Tageszeitung ein Interview mit ihm geführt, das er nun zu Hause in seinem Arbeitszimmer liest. Da sagt er unter anderem:
Ich glaube, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Und dass das, was zwischen den Menschen entsteht, was wir gemeinsam erschaffen, mehr ist als das, was jeder für sich ist. Und dass das vielleicht eine Form des Göttlichen ist.
Quelle: Karl Ove Knausgård
Eine Summe von Selbstporträts, die größer ist als ihre Teile
An dieser Stelle hört der Architekt auf weiterzulesen, weil er den Blick auf sich selbst und seine Bedeutungshuberei nicht länger erträgt. Und doch sind diese Sätze zentral, weil sie genau das beschreiben, was Knausgård literarisch unternimmt: Alle seine Figuren – sympathische und weniger sympathische – sind gleich viel wert, schon deshalb, weil sie alle als Ich-Erzähler auftreten.
Aus der Summe der Selbstporträts erschafft Knausgård zugleich etwas, das größer ist als jede einzelne Person. Da ist zum Beispiel der Lehrer Gaute, der von einer krankhaften Eifersucht auf seine Frau umgetrieben wird. Seine Frau Kathrine, eine Pastorin, ist von ihm schwanger, hat es ihm aber noch nicht gesagt, denn sie denkt über Trennung nach.
Da ist der Polizist Geir, der einen grausamen Ritualmord an drei jungen Musikern einer Black-Metal-Band aufklären soll und der zwischen zwei Frauen lebt, die nichts voneinander wissen. Oder die neunzehnjährige Line, die sich in einen so undurchschaubaren wie attraktiven Philosophiestudenten verliebt und ihm zu einem geheim gehaltenen Konzert auf dem Land hinterher reist.
Am Himmel erscheint ein neuer Stern
„Das dritte Königreich“ ist der dritte, mit 650 Seiten vergleichsweise schmale Band eines groß angelegten Romanprojektes. Man muss die beiden ersten Bände nicht gelesen haben, um in den dritten hineinzufinden, doch ohne Kenntnis der früheren entgeht einem Vieles. Die Figuren und die Ereignisse sind zum größten Teil bekannt, denn Knausgård schildert erneut dieselben zwei Tage, bevor ein mysteriöser neuer Stern am Himmel erscheint.
Nun jedoch dreht er Perspektiven um. So schilderte im ersten Band mit dem Titel „Der Morgenstern“ der Literaturwissenschaftler Arne seine Ferien mit den drei Kindern und seiner Frau Tove an einem fischreichen Fjord. Tove erleidet dort einen psychotischen Schub, so dass er sie schließlich in die Psychiatrie bringen muss. Jetzt erzählt Knausgård dieselbe Episode aus ihrer, Toves Sicht, so dass sich aus dem Bekannten eine ganz andere Ereignisfolge ergibt.
Er erzählt nicht weiter, sondern verharrt an selber Stelle und geht über neue Einzelheiten in die Tiefe. Das ist raffiniert gemacht und aufregend zu lesen, weil es zeigt, wie sich Wirklichkeit und Wahrnehmung unterscheiden, wie Rationalität und Wahn als zwei Systeme getrennt nebeneinander existieren und die Figuren dennoch in derselben Welt leben. Tove ist es dann auch, die in ihrem Wahn als erste erfasst, dass sich seltsame Phänomene ereignen. Sie hört Stimmen, die zu ihr sprechen:
In zwei Tagen wird ein Stern am Himmel aufsteigen. Die Tore zum Totenreich werden sich öffnen. Du wirst sehen, was kein anderer sehen kann. Das ist unser Geschenk an dich.
Quelle: Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich
All das sind spannende Geschichten, die Knausgård auch in diesem Band nicht zu Ende erzählt, sondern gekonnt in der Schwebe hält. Doch es geht ihm nicht primär um den Plot, sondern viel mehr um die Frage, was der Mensch überhaupt ist und was die Substanz des Lebens ist. Auch in diesem dritten Band lotet er immer wieder die Grenze von Leben und Tod aus und stellt dem detailversessen dargestellten Alltag das Unerklärliche, Unbegreifliche gegenüber.
Dafür steht symbolhaft der neue Stern als Menetekel am Nachthimmel. Seit er erschienen ist, so stellt sich heraus, sind in ganz Norwegen keine Menschen mehr gestorben. Selbst ein Mann, der nach einem Unfall mit schweren Hirnschäden im Koma liegt und der von den Ärzten schon für tot erklärt wurde, zeigt zum Erstaunen der Mediziner Spuren von Bewusstsein.
Knausgård wagt es sogar, ein Kapitel aus der Perspektive dieses Komapatienten zu schreiben und dessen traumartige Gedankenschleifen abzubilden. Die Experten, die sich über ihn beugen, versuchen, das Bewusstsein zu messen und zu verstehen, was ein Gedanke ist. Kann es Gedanken geben, wo kein Bewusstsein ist? Oder umgekehrt? Was ist ein Gedanke überhaupt? Und wie kann es sein, dass die fleischliche Materie des Leibes Immaterielles wie das Bewusstsein hervorbringt?
Es war wie ein Blick ins Unbekannte. Es war eine Sprache, aber so fremd und unverständlich, dass sie aus den Tiefen des Weltalls zu uns hätte gesandt sein können. Es war unfassbar, dass wir uns selbst sahen. Dass unsere Kodierung der Welt und all dessen, was wir waren, sichtbar wurde. Das Mysterium bestand darin, dass es sich von innen nicht wie ein Code anfühlte, sondern wie die Welt.
Quelle: Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich
Dem Mysterium Leben auf der Spur
Karl Ove Knausgårds „Das dritte Königreich“ ist wie das gesamte „Morgenstern“-Projekt ein abgründiger philosophischer Roman über die Liebe und das Leben mit Mystery-Elementen und einer Kriminalhandlung. Auch mit diesem dritten Teil ist nichts erklärt und nichts gelöst.
Knausgård zieht es vor, Fragen zu stellen, die Unruhe und Unentschiedenheit der Menschen zu zeigen, um gerade durch diese Offenheit das Geheimnis der Existenz zu erfassen. Da draußen in der Welt geschehen viele seltsame Dinge.
Das Allermerkwürdigste ist aber das eigene Leben und die Tatsache, als ein „Ich“ in der Welt zu sein. Diesem Mysterium ist Knausgård auf der Spur. Ihm dabei zu folgen ist ein Leseabenteuer mit enormem Suchtpotential.

May 26, 2024 • 6min
Max Czollek – Gute Enden
da ist die hosentasche, da der strohhalm, da das feuerzeug in der zigarettenschachtel aus papier, das ist unser land,unberechenbar wie aprildas ist unser körper, eine durchgeschüttelte flasche krimsekt, die wir huckepack richtung morgenlicht tragen
Quelle: Max Czollek – Gute Enden (Gedicht: Gemeinsame Kriege)
„Gute Enden“ heißt der neue Gedichtband von Max Czollek – ein Titel wie eine Irreführung, denn es ist ja gar nichts gut in unserer Gegenwart und wird wahrscheinlich auch nicht gut enden. Seit dem erweiterten Angriffskrieg auf die Ukraine, seit dem 7. Oktober 2023, seit Hanau oder seit dem Treffen Rechtsradikaler in Potsdam – ist die Hoffnung endgültig verschüttet, dass die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts beendet wurde.
„Und plötzlich sind wir in einer Situation, die auf so vielen Ebenen klar macht, wir sind jenseits dieser Guten Enden. Und welche Sprache, auch welche Sprache für die Emotionen, die das auslöst, brauchen wir jetzt eigentlich? Und ich habe schon den Eindruck - und aus diesem Eindruck heraus ist glaub ich auch dieser Gedichtband gehoben, wenn man so will – dass wir in einer ziemlich heftigen Verleugnungsphase gerade sind: wir wollen uns dieser neuen Realität nicht stellen.“
Traurigkeit auf 125 Seiten
Der Gedichtband „Gute Enden“ stellt und stemmt sich jedoch mitten hinein in diese Realität, in diese Gegenwart. Auf 125 Seiten türmt sich Traurigkeit und spannt ihr Netz in Raum und Zeit.
Das lyrische Ich bereist die Welt, hat die Trauer immer im Gepäck und findet sie auch vor: in Berlin oder Los Angeles, in Vancouver, Venedig, Pompeij, in Tel Aviv und in Prag. Gewaltgeschichte ähnelt sich und verbindet Orte, das bezeugen die Gedichte. Die Sterne im Hollywood Boulevard erinnern an Stolpersteine, des einen Exil ist des Anderen Vertreibung. Von überall schickt ein ramponiertes Herz Ansichtskarten von der Schlaflosigkeit.
Es ist beeindruckend und bewegend, mit welcher Sprache Max Czollek die tiefe Verstörung herausarbeitet, die sich dem lyrischen Ich in den Gegenwartsphänomenen offenbart. Eine bildlich komplexe Sprache, die sich nicht zufriedengibt, mit den äußeren Erscheinungen, sondern stehen bleibt, Schichten von Geschichte abträgt, genau hinsieht.
In dieser Sprache hat alles seine Unschuld verloren, auch die vermeintlich schöne Natur. Wenn in Brandenburg „für jeden der danach greift / Gärten blühender Zucchinischläger“ bereit liegen, dann evoziert das eine Landschaft, in der die Gewalt tatsächlich verwurzelt ist, in der selbst die Früchte an Baseballschläger und rechten Terror erinnern. „Dachte ich könnte keine Idyllen, nichts ohne Zweifel mehr schreiben“ heißt es an anderer Stelle.
„Lyrik ist eine Form, zu der ich seit langer Zeit immer wieder zurückkehre. Ist sicher der Punkt auch von dem ich gestartet bin, und zwar nicht nur persönlich künstlerisch, sondern auch familiär. Mein Vater war Lyriker, mein Großvater war Verleger und hat unter anderem Lyrik verlegt. Lyrik ist sehr sehr nah an mir dran und damit auch nah an einem Gespräch mit den Toten, was ich als ein Kernstück meiner Kunst verstehen würde. Zu sagen: das ist die Möglichkeit, diese Oberfläche des Lebenden zu durchbrechen in eine Vergangenheit.“
Wachheit für die Wiederholung für Geschichte
Die Vorfahren von Max Czollek wurden im Nationalsozialismus ermordet, nur der Großvater Walther Czollek überlebte im Exil. Ihm mitgegeben ist deshalb vielleicht eine besondere politische Wachheit, wie es in dem Gedicht „ich komme vom stamme der asra“ in Anlehnung an Heine deutlich wird.
Diese Wachheit für die Wiederholung von Geschichte sowie die Tatsache, dass die gewaltsamen Ereignisse nicht jeden gleichermaßen betreffen oder zu interessieren scheinen – dieses Auseinanderdriften von gesellschaftlicher Wahrnehmung, all das bündelt sich in den unerbittlichen Beobachtungen des lyrischen Ich. Wie in der Zeile:
manche stehen schon in flammen / andere riechen nicht einmal den rauch.
Quelle: Max Czollek – Gute Enden
In dem Eröffnungsgedicht des Bandes „Eigentlich hätten wir ja den Reichstag stürmen müssen“ werden die Ereignisse in einem poetischen Akt des Widerstands umgedichtet. Lyrik als Ort der Trauer, aber auch als Möglichkeit, für einen Moment die Dinge umzukehren:
treffen uns am wannsee, laden alle eindie verstreut auf feldern, unter trümmern verschüttetverbrannt in wohnungen, aus straßenbahnen geschleudertabschied genommen habenschreiben tausendfach: wir vermissen euch, wir sind weiterohne jede fassung, wir hätten euch verdammtnochmal gebraucht all die tage, jahre
Quelle: Max Czollek – Gute Enden (Gedicht: Eigentlich hätten wir ja den Reichstag stürmen müssen )
Gedichte wie die Alpträume unserer Gegenwart
Gedichte müssen so schrecklich sein wie unsere Gegenwart, wie Alpträume, aus denen wir schweißgebadet erwachen – so wird in dem Gedicht „unsere gemeinsamen kriege“ die existenzielle Aufgabe von Lyrik beschrieben. Hoffnung besteht vielleicht nur noch darin, dass diese Gedichte jemanden erreichen:
denke meine gedichte als lunte, die in eure herzen reicht. eure ohren als letztes streichholz in meiner aufgeweichten packung
Quelle: Max Czollek – Gute Enden (Gedicht: Unsere gemeinsamen Kriege)
„Ich schreibe doch keinen ganzen Gedichtband über die Guten Enden oder das, was danach kommen wird, wenn es mir egal wäre. Ich glaube, es gibt eine große Trauer, die im Zentrum meiner Arbeit steht, die ist familiär, die ist über Generationen jetzt weitergegeben worden – und diese Trauer wächst natürlich auch aus einem großen Verlust. Sicher auch aus einer großen Liebe zu dem, was nicht mehr da ist oder zu dem, was man verliert gerade - immer und immer wieder. Und was das eigentlich heißt, dass diese Dinge einem andauernd verloren gehen? Und ich glaube, sich darüber immer wieder zu empören, dieses Gefühl nicht fallen zu lassen – das scheint mir doch eine Aufgabe meiner Kunst zu sein, vielleicht auch eine Aufgabe einer Kunst, die mich interessiert.“
„Gute Enden“ ist ein Buch der Unruhe - ein großer Gedichtband, der an der Erkenntnis festhält, dass wir durch die Trauer und Traurigkeit hindurchmüssen. Sprache, die klarmacht, nur so sind die Kontinuitäten von der Gewalt der Geschichte zu verstehen. Gedichte, die auf schreckliche Weise gegenwärtig sind und zum Glück gekommen, uns zu stören.

May 26, 2024 • 6min
Carlos Fonseca – Ein außergewöhnlicher Schriftsteller aus Costa Rica
Carlos Fonseca kommt aus einem Land, das bei uns nicht gerade für seine Literatur bekannt ist, sondern eher für seine Schönheiten. Dieser 37-jährige Schriftsteller gilt jedoch bereits als „einer der 25 wichtigsten jüngeren Schriftsteller der spanisch-sprachigen Welt“. Dazu hat ihn jedenfalls vor einigen Jahren die einflussreiche, englische Literaturzeitschrift Granta-Magazine erklärt.
Ich war also sehr gespannt auf diesen Autor aus einem Land, von dessen literarischen Stimmen sich bei uns bisher keine wirklich eingeprägt hatte. Liegt das nur an der Ignoranz unseres Buchmarktes? – fragte ich ihn. Und Carlos Fonseca begann unser Gespräch mit einem Zitat.
Ein costa-ricanischer Kollege, den ich sehr schätze, Carlos Cortés, eröffnete seinen Roman Kreuz des Vergessens mit den ironischen Worten: „Über was soll man in einem Land schreiben, in dem nichts passiert bis zum Big Bang.“ Es ist nun mal so: Anders als in Nachbarländern wie Guatemala oder Nicaragua oder El Salvador, deren Geschichte eine Fülle von Gewalttaten, von politischen und klimatischen Katastrophen charakterisiert, kennzeichnet Costa Rica ein fortgesetzter Frieden. Deshalb dürfte unsere Literatur weniger sichtbar geworden sein als die der anderen Länder. Aber auch sie besitzt eine reiche Tradition.
Quelle: Carlos Fonseca
Bruch mit der literarischen Tradition
Carlos Fonseca hat sie mit den drei Romanen, die er bisher veröffentlicht hat, auf außerordentliche Weise fortgesetzt. Er bricht darin mit dem traditionellen Erzählkanon der lateinamerikanischen Literatur, verzichtet auf eine sich linear entfaltende Story, fragmentiert vielmehr das Geschehen, besonders in Austral, seinem dritten Roman.
Darin geht es um einen costa-ricanischen Schriftsteller, der den Auftrag erhält, das letzte Manuskript einer verstorbenen Freundin herauszubringen, von der er sich vor dreißig Jahren getrennt hat. Er begibt sich dazu auf eine Suche nach dieser Vergangenheit und damit seiner eigenen Identität. Carlos Fonseca beschreibt die Wege und Irrwege individueller und kollektiver Erinnerung mit einer Fülle von kulturellen, philosophischen, literarischen und historischen Bezügen oder Chroniken.
Wir leben ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern inmitten von Plänen und Ideen unserer Vorgänger, die ähnliche Fragen wie wir heute zu beantworten versuchten. Und deshalb bewegen sich meine Figuren auf den verschiedenen Ebenen der Vergangenheit, erinnern sich an Utopien und Dystopien, um von ihnen zu lernen. Ich möchte die Ideengeschichte, zumindest ihre Restbestände sichtbar machen, und so ist eine Collage von Geschichten anstelle einer linearen, klassischen Erzählweise entstanden.
Quelle: Carlos Fonseca
Autobiographische Bezüge
Dieser Julio scheint autobiografische Züge seines Urhebers zu haben. Beide sind in Costa Rica geboren und leben seit langem im Ausland, vor allem in den USA. Nur hat Fonseca an der Princeton University promoviert, ist inzwischen nach England übergesiedelt und arbeitet an der University von Cambridge als Professor für lateinamerikanische Literatur. Gibt es darüber hinaus autobiografische Details?
Julio ist Akademiker wie ich, ist Costa-Ricaner, lebt seit langem in den USA und beginnt sich irgendwann zu fragen, ob er überhaupt noch Lateinamerikaner ist oder nicht überall ein Fremder. Er glaubt sogar, seine Sprache zu verlieren, denn er vergisst spanische Wörter. Er fühlt sich als Fremder, als Tourist in Lateinamerika und denkt daran, zurückzukehren. Im Roman gelingt ihm das, weil er dieses Manuskript herausgeben will. Dabei findet er seine alten Wurzeln wieder. Aber was bedeutet wirklich Rückkehr? Das sind Fragen, die auch ich mir immer wieder stelle nach so vielen Jahren im Ausland.
Quelle: Carlos Fonseca
Ergründung der karibischen Wurzeln
In seinem nächsten Roman, an dem er gerade schreibt, wird es jedoch um eine ganz andere Frage gehen. Denn Carlos Fonseca ist zwar in Costa-Rica geboren, doch in Puerto Rico aufgewachsen, wo seine Mutter zu Hause ist. Und deshalb will er endlich seine puertoricanischen, seine karibischen Wurzeln ergründen.
Doch erstmal wird er in Kürze den Anna-Seghers-Preis in Empfang nehmen. Die große, deutsche Schriftstellerin hat von 1941-1947 in Mexico im Exil gelebt, und deshalb wird der nach ihr benannte Preis auch jeweils an einen lateinamerikanischen Autor oder eine Autorin vergeben. Was bedeutet er für Carlos Fonseca?
Er hat für mich einen sehr großen Stellenwert, denn durch ihn wird eine literarische Region wie Costa Rica, wie Mittelamerika wieder einmal sichtbar gemacht. Aber er hat auch durch den großen Namen von Anna Seghers besonderes Gewicht. Kurioserweise habe ich in der letzten Zeit an einer Studie über den berühmten kubanischen Künstler Wifredo Lam geschrieben, der auf demselben Schiff wie Anna Seghers von Marseille aus seine Reise nach Lateinamerika angetreten hat. Für ihn eine Rückreise, für sie eine Fahrt ins Exil. Als ich von dem Preis erfuhr, steckte ich also bereits tief in dieser transatlantischen Vorstellungswelt von Anna Seghers und der Beziehung zwischen Europa und Lateinamerika.
Quelle: Carlos Fonseca
Dem zentralen literarischen Thema von Carlos Fonseca, einem außergewöhnlichen Autor aus Costa Rica.

May 26, 2024 • 55min
Sterne, Schlaf, Italo-Pop – Der neue Knausgård und andere neue Bücher im lesenswert Magazin
Theresia Enzensberger ist eine von vielen Schlaflosen: Jetzt hat sie den politischen Implikationen und den heilenden Kräften des Schlafes ein interessantes Buch gewidmet. Wir sprechen mit ihr.
Suchtpotential: Der neue Roman von Karls Ove Knausgård
Der Norweger Karl Ove Knausgård legt den dritten Teil seines neuen Roman-Großprojektes vor: „Das dritte Königreich“. Ein Buch, das süchtig nach mehr macht, findet unser Kritiker.
In Mainz wird der puerto-ricanische Schriftsteller Carlos Fonseca mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. Wir haben mit ihm über sein großes Thema Erinnerung und den aktuellen Roman „Austral“ gesprochen.
Italienische Popmusik ist auch in Deutschland sehr beliebt - kaum etwas anderes bringt einen so direkt in eine gewisse, lässige Urlaubsstimmung wie Italo-Pop: Der Musikjournalist Eric Pfeil widmet in „Ciao, Amore, ciao“ 100 alten und neuen Songs kluge und die Italien-Sehnsucht befeuernde Betrachtungen.
Wiederbegegnung mit Agatha Christie
Unvergessen sind Figuren wie der sehr von sich überzeugte belgische Privatdetektiv Hercule Poirot und die schrullige britische Miss Marple: Schöpfungen der Krimi-Königin Agatha Christie. Jetzt gibt es eine schöne Wiederbegegnung mit ihnen in einem „Very best of“-Hörbuch.
Max Czollek ist vor allem bekannt als streitbarer Zeitgenosse, unermüdlicher Twitterer und Autor von politischen Essays. Er kann auch leisere Töne anschlagen, wie er in seinem neuen Gedichtband „Gute Enden“ beweist. Gut ist darin allerdings nichts - ein Buch der Trauer und der Unruhe.
Musik:Angèle - Nonante-Cinq La SuiteLabel: Angèle VL recordsLucio Battisti - Il mio canto libero Label: Numero Uno Milva - Alexanderplatz Label: EMM

May 24, 2024 • 57min
"Ich stelle mich schlafend" - Deniz Ohde erzählt von Liebe und Manipulation
Als 13-Jährige war Yasemin in Vito verliebt. Mit 35 lässt sie wieder auf ihn ein. Keine gute Idee. In „Ich stelle mich schlafend“ erzählt Deniz Ohde von einer haltlosen jungen Frau.

May 23, 2024 • 4min
Rainald Goetz – Wrong | Buchkritik
Rainald Goetz trägt für seinen Vortrag einen pinkfarbenen Trainingsanzug. Aus einer gar nicht so großen Tasche packt er erstaunlich viele Bücher aus und deponiert sie vor sich auf dem Tisch. Das dauert ein bis zwei Minuten. Dann fördert er Papierstapel zu Tage. Rasch macht er sich noch ein paar letzte Notizen. Dann lässt sich der Vortrag nicht länger aufschieben: Rainald Goetz spricht.
So geschehen vergangenen Herbst nach der Uraufführung seines Dramas „Baracke“ am Deutschen Theater in Berlin. So zu sehen auf Youtube.
Pretty in Pink am Deutschen Theater
Abgedruckt ist dieser Vortrag jetzt in einem Band mit Essays, Gesprächen, Kritiken, Notaten, Tagebüchern aus den letzten zwanzig Jahren. Er erscheint pünktlich zu Rainald Goetz‘ 70. Geburtstag unter dem Titel „Wrong“.
Daraus ergibt sich das Bild eines originellen Denkers, seines irrlichternden Suchens, seines präzisen Empfindens und seiner ganz eigenen Art, Dinge und Menschen wahrzunehmen. Als „huschendes Schreiben“ und „flatterndes Denken“ hat Goetz selbst das bezeichnet.
Dabei sehnt er sich, wie er 2022 in einem Interview verriet, nach Güte, Zärtlichkeit und Mitleidsfähigkeit. Dass Literatur dennoch „vor Negativität bersten“ soll, wie er 2019 in seinem Arbeitsjournal notierte, muss dazu nicht unbedingt ein Gegensatz sein.
Ich träume den irrationalen, extrem simplen Traum von GÜTE, dass die Leute nett miteinander umgehen, rücksichtsvoll, zartfühlend, vernünftig, höflich. Das wäre eine Revolution, das schon, aber die könnte nur jeder für sich selbst machen, wenn er sie machen wollen würde.
Quelle: Rainald Goetz – Wrong
Der Körper im öffentlichen Raum
Berühmt wurde Rainald Goetz 1983, als er sich bei seiner Bachmann-Preis-Lesung mit einer Rasierklinge in die Stirn schnitt und sein Blut aufs Papier tropfen ließ. Inzwischen lehnt er ab, was zu Performance und Verkleidung tendiert, auch wenn der Auftritt im pinkfarbenen Trainingsanzug dagegen sprechen mag.
Über sein Erscheinungsbild nachzudenken ist schon deshalb unausweichlich, weil er in seinen Texten immer wieder über die Wirkung von Körpern im öffentlichen Raum nachdenkt. So beobachtete er jahrelang, weil er einen Roman über den Politikbetrieb schreiben wollte, Politikerauftritte im Bundestag.
Ein Porträt seines verehrten Verlegers Siegfried Unseld beginnt er damit, wie der raumgreifende Mann sich rasch in den Schritt fasst, während er auf ihn zukommt. Und einen Vortrag im Berliner Wissenschaftskolleg leitete Goetz im Februar 2023 mit der Überlegung ein, was wohl in all den Köpfen vor ihm im Publikum vor sich geht:
Was sind das für Leute? Wie reden sie, wie bewegen sie sich, wie schauen sie aus und was haben sie an? Wie also drückt ihr körperliches Sein, ihre Kleidung und ihr Habitus das aus, was sie gedanklich sind. Wie steht das im Verhältnis zueinander, wie passt es zusammen?
Quelle: Rainald Goetz
Jung mit 70
Rainald Goetz ist auch mit 70 noch jung, weil er sich eine unstillbare Neugier auf alles Gegenwärtige bewahrt hat. Coolness lehnt er erklärtermaßen ab. Sie passt schon deshalb nicht zu ihm, weil er sich vor allem durch eine überbordende Begeisterungsfähigkeit auszeichnet; das verbindet alle die disparaten Texte in „Wrong“.
Goetz ist ein manischer Leser und auch ein vorzüglicher Kritiker, der aggressive Gedankenschärfe mit Empathie verbindet. So schrieb er unter anderem über Michel Houellebecq, über Joachim Bessing und die Popliteratur und immer wieder über Wolfgang Herrndorf und dessen Suizid, betätigte sich aber auch als Kunstkritiker, als er 2007 anlässlich der Berliner Impressionisten-Ausstellung über das Licht nachdachte.
All sein Schreiben ist eine fortgesetzte, unendliche Verstehensbemühung. In „Wrong“ kann man Rainald Goetz dabei zuschauen. Seine quecksilbrigen „Textaktionen“ sind Protokolle dieser das Leben ausmachenden Gedankenbewegung. Das macht sie so lebendig wie unberechenbar.


