

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Jun 4, 2024 • 4min
Andreas Kilcher – Kafkas Werkstatt
Wer noch glaubt, dass Autoren ihre Geschichten einfach so erfinden, bekommt von Andreas Kilcher eine klare Ansage: „Bücher entstehen aus Büchern. Literatur aus Literatur“. In diesem Sinn begreift der Literaturwissenschaftler Kafka als wandelndes Textverarbeitungssystem, dessen Schreiben genährt und katalysiert wird durch Lektüren vielfältiger Art: Mit seiner Studie „Kafkas Werkstatt“ will Kilcher…
… einem Kafka-Bild widersprechen, das sein Schreiben als schwierige, einsame und geniale Geburt eines Einzelgängers jenseits aller Kontexte versteht (…). Dagegen richtet das Verständnis von Kafkas Texten als Hypertexten den Blick auf die direkte sowie auch indirekte Verarbeitung von Gelesenem. Kafkas Texte erweisen sich dann förmlich als „Krypto-Konferenzen“, als mehr oder weniger verdeckte „Lektüreprotokolle“.
Quelle: Andreas Kilcher – Kafkas Werkstatt
Abgesehen davon, dass die Magie von Kafkas Sätzen nun wirklich nichts mit einem „Protokollstil“ zu tun hat, muss man fragen, wer eigentlich noch ernsthaft dem Bild vom einsamen Genies Kafka anhängt? Ist die ausufernde Kafka-Forschung nicht seit langem damit beschäftigt, vielfältige Kontexte an dessen Werke heranzutragen?
Wer oder was ist Odradek?
Wie auch immer, an Kafkas anderthalbseitiger Kurzgeschichte „Die Sorge des Hausvaters“ demonstriert Kilcher seine Methode. Sie handelt von einem kleinen, im Treppenhaus herumhuschenden Wesen, das aus Spulen, Fäden und Hölzchen zusammengesetzt ist und sich selbst mit raschelnder Stimme „Odradek“ nennt. Es richtet keinen Schaden an, ärgert den titelgebenden „Hausvater“ aber doch, weil so etwas Überflüssiges, Unzugehöriges, Zweckloses einfach hartnäckig fortexistiert.
Kilcher zeigt nun, wie in diesem kleinen Text vier Großdiskurse der Moderne vibrieren, mit denen sich Kafka als intellektuell wacher Zeitgenosse und Leser beschäftigte: die Psychoanalyse, der Marxismus, der Zionismus und der Okkultismus.
Kafka und der Zionismus
Die interessantesten Aufschlüsse bietet das profunde Kapitel über den Zionismus, mit dem sich Kafka stark beschäftigte. Er lernte Hebräisch und plante die Auswanderung nach Palästina. Die verfitzte Odradek-Gestalt lässt sich in diesem Zusammenhang lesen als Verbildlichung der jüdischen Selbstkritik am bodenlosen Diaspora-Judentum:
All die negativen Bestimmungen des Diaspora, die im zionistischen Diskurs auf zahlreichen publizistischen Kanälen zirkulierten, erscheinen in der Figur Odradeks kongenial verdichtet und verflochten: Odradek ist nicht kohärent, sondern ‚verfitzt‘, nicht verwurzelt, sondern ‚von unbestimmtem Wohnsitz‘, nicht tätig und produktiv, sondern untätig und zwecklos. Odradek ist mithin die syndromartige Ausgestaltung all dessen, was dem Zionismus am eigenen Judentum so unheimlich geworden war.
Quelle: Andreas Kilcher – Kafkas Werkstatt
Enzyklopädische Patchwork-Partituren
Aus anderthalb Kafka-Seiten entfaltet Kilcher gleichsam eine Enzyklopädie. Dabei geht es ihm weniger darum, im Stil der alten, detektivischen Quellenphilologie Einflüsse, Zitate und Paraphrasen exakt nachzuweisen. Sondern, viel unschärfer, um „Resonanzen“ und „Kraftfelder“, um „textuelle Energetik“, mögliche „Korrelationen“ und Motive in doppelter oder dreifacher Brechung. Um nichts Ein-deutiges, Ein-sinniges also. Vielmehr rühmt Kilcher Kafkas Werke als „heterogene Texturen“ und „Patchwork-Partituren“.
In sein Buch sind Jahrzehnte der Beschäftigung mit Kafka und seinen Kontexten eingeflossen. Kilchers Einblicke in Kafkas Werkstatt, wie er sie versteht, sind superklug und faszinierend. Aber fast tut einem der kleine Odradek leid. Wie der griechische Titan Atlas muss er hier eine ganze Welt der Diskurse und Bedeutungen stemmen.

Jun 3, 2024 • 4min
Thomas Lehr – Kafkas Schere
Thomas Lehr ist ein literarischer Verwandlungskünstler. Er kann packende realistische Romane genauso schreiben wie formal raffinierte, assoziationsgeladene Prosagebilde. Sein schmales Bändchen mit dem Titel „Kafkas Schere“ zeigt nun, dass er auch die kleine Form beherrscht.
Er hat „Zehn Etüden“ verfasst. Kafkas Texte sind per se ein ästhetischer Maßstab, und auch Thomas Lehr schärft an ihnen erkennbar seinen eigenen Stil. Die kurzen, brillanten, vielstimmigen Kompositionen in seinem Band haben alle etwas mit Themen und Motiven des großen Pragers zu tun.
Zehn brillante Texte, die Motive Kafkas aufgreifen
Man erkennt es sofort an der Atmosphäre, an der dunklen Grundstimmung, in der sich der Einzelne fremd fühlt und in eine undurchschaubare Umgebung hineingestellt sieht – und das alles in prägnanten, apodiktisch wirkenden Sätzen. Einmal etwa stürzen existenziell ausgesetzte Kletterkünstler hinab in ein tiefes, schwarzes Wasser, bis auf den Grund:
Von dort könnten sie, für Äonen auf dem Rücken liegend wie tote Kaiser, mit neuen, ungeheuren Augen versehen, zuschauen, wie sich die Kähne an der Oberfläche bewegten und mit welch anrührenden, arabesken Silberspuren ihre Kollegen von oben herab in die Namenlosigkeit einschlügen.
Quelle: Thomas Lehr – Kafkas Schere
Lehrs Etüden sind keine Geschichten, die sich nacherzählen ließen. Diese literarisch-philosophischen Grenzgänge entziehen sich den üblichen Begrifflichkeiten und Handlungsschemata. Und es sind nicht nur Künstlerfiguren, die der Autor aus dem Kafka-Kosmos in eine ganz eigene Gegenwart überführt.
Ein Lehrscher Etüden-Titel wie „Die Babylonischen Maulwürfe“ könnte auch über einem der klar konturierten, symbolisch aufgeladenen Prosatexte Kafkas stehen, und „Das Kinesische Zimmer“ scheint Vorstellungen Kafkas direkt weiterzuschreiben, der seine Phantasie gelegentlich bis in asiatische Wüsten und Mauern austreiben ließ.
Leere Weiten und hetzende Hunde
Die Verlassenheit in leeren Weiten, ein zentrales Kafka-Bild, formuliert Thomas Lehr einmal in einem dichten Tableau mit hetzenden Hunden aus, die letztlich aber ebenso verloren sind wie die Wesen, die von ihnen verfolgt werden und als ein namenloses „Wir“ sprechen.
Thomas Lehr findet im juristisch geschliffenen, kalten und scharf akzentuierenden Kafka-Ton auch neue Versionen klassischer Mythen. Sisyphos und Orpheus etwa werden zu Phantasmagorien einer ausweglosen Spätmoderne.
Jedes Mal entstehen ironische, abgrundtief lachende Kafka-Paraphrasen aus heutiger Perspektive. Lehr greift lustvoll in das Arsenal der Kafka-Obsessionen, spinnt sie bis in zeitgenössische Science-Fiction-Welten weiter. In der Etüde „Das Notizbuch“ geht Thomas Lehr auch der Bedeutung des Schreibens bei Kafka auf den Grund: Das Papier wird in all seinen Erscheinungsformen und Herstellungsprozessen benannt und bekommt eine ungeahnte Eigendynamik, saugt das Leben des Einzelnen förmlich auf, von der Geburt bis zum Tod:
In freundlicher Abstimmung mit der uns noch verbleibenden Zeit wählt das Zimmer die Geschwindigkeit, mit der es unser Dasein aufblättert, um es vorbeirauschen zu lassen, auf Wänden, Decke und Boden wie die Bilder der grandiosesten Achterbahnfahrt, angefangen beim Anblick jenes Lindenblatts, das aufbrach, uns zu suchen, und sacht auf den noch kaum gewölbten Bauch unserer Mutter fiel.
Quelle: Thomas Lehr – Kafkas Schere
Absurde Komik und existenzielle Leere
Direkt benannt wird Kafka nur einmal, in der titelgebenden Etüde „Kafkas Schere“. Die geheimnisvollen Bilder Kafkas, das ständige Changieren zwischen absurder Komik und existenzieller Leere sind hier spielerisch eingefangen, aber dabei glitzert und funkelt alles in großen sprachlichen Gesten. Der Band „Kafkas Schere“ ist leichtfüßig und tiefgründig zugleich. Er holt die großen Fragen des Prager Schriftstellers ein und überführt sie in ein irrlichterndes Heute.

Jun 2, 2024 • 16min
Claire Keegan: Reichlich spät
Claire Keegan ist eine Meisterin der kurzen Form. Kein Wort zuviel steht in ihren Erzählungen. Ihr neues Buch hat gerade einmal 60 Seiten. Keegan erzählt von einem Durchschnittsmann und von internalisierten Machtstrukturen.

Jun 2, 2024 • 1h 5min
SWR Bestenliste Juni mit Büchern von Salman Rushdie, George Saunders, Claire Keegan und Heinrich Steinfest
Warum das Unheimliche rätselhaft bleiben muss: Shirin Sojitrawalla, Denis Scheck und Jan Wiele diskutieren vier auf der SWR Bestenliste im Juni verzeichneten Werke im Mozartsaal des Schwetzinger Schlosses. Die düsteren Erzählungen von George Saunders, die in herausragender Übersetzung von Frank Heibert unter dem deutschen Titel „Tag der Befreiung“ erschienen sind, haben die Runde gleichermaßen beeindruckt und verstört.
Denis Scheck feiert Heinrich Steinfests Kunstroman, Detektivgeschichte und Familiendrama „Sprung ins Leere“, den Jan Wiele für zwar unterhaltsam, aber deutlich zu lang hält. Shirin Sojitrawalla zeigt sich begeistert von Claire Keegans Erzählung „Reichlich spät“, über dessen Kürze sich wiederum Denis Scheck freut. Jan Wiele kritisiert Keegans eindimensionales Erzählkonzept zum Thema „Misogynie“, kann der in Irland spielenden Geschichte aber mit der Perspektive des „touristischen Lesens“ durchaus etwas abgewinnen.
„Gedanken nach einem Mordversuch“ lautet der Untertitel von Salman Rushdies Memoir „Knife“, in dem er über das Attentat auf ihn im August 2022 berichtet. Ein wichtiges und ein intimes Buch, wie die Runde befand – selbst wenn es unter literarischen Gesichtspunkten – wie Scheck und Sojitrawalla meinen – nicht Rushdies bestes Buch sei. Jan Wiele verweist auf die vielen inhaltlichen und formalen Ebenen des Textes, von der freien Assoziation als schriftliche Eigentherapie, über essayistische Passagen bis zu fiktiven Dialogen mit dem Attentäter.
Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führt Carsten Otte.

Jun 2, 2024 • 16min
Salman Rushdie: Knife. Gedanken nach einem Mordversuch
Unfassbar ist die Freude, mit der Salman Rushdie im Leben steht. Am 12. August 2022 wurde er bei einem Attentat schwer verletzt. In „Knife“ setzt er der rohen Gewalt das entgegen, woran er immer geglaubt hat – die Kraft der Literatur.

Jun 2, 2024 • 16min
George Saunders: Tag der Befreiung
Saunders kehrt zu den Erzählungen zurück und hebt die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft auf. Befinden wir uns in einer Dystopie? Oder in einer grell verzerrten Gegenwart? Saunders Welt ist dunkel, aber noch nicht verloren.

Jun 2, 2024 • 17min
Heinrich Steinfest: Sprung ins Leere
Eine Museumsaufseherin, die die Exponate liebt. Eine Großmutter, die vor Jahrzehnten spurlos verschwand. Und eine burleske Reise nach Japan. Steinfests neuer Roman ist Detektivgeschichte und Generationenporträt zugleich.

Jun 2, 2024 • 56min
Krieg ist keine Metapher - Über Lyrik im Ausnahmezustand
"Krieg ist keine Metapher", lautet die These der ukrainischen Dichterin Halyna Kruk. Sie und andere Lyrikerinnen und Lyriker sprechen über die Bedingungen einer Poesie im Ausnahmezustand. Manche unter ihnen setzen nun ganz neu an.
Dabei wiederholen sich die Debatten aus den Weltkriegen. Und eigentlich begann alles schon mit Homer.
Norbert Hummelt hat für das SWR Kultur lesenswert Feature die Autoren Durs Grünbein, Slata Roschal, Yevgeniy Breyger, Karl-Heinz Ott und Halyna Kruk getroffen.

May 30, 2024 • 5min
Saša Stanišić – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne | Buchkritik
Das Leitmotiv: Ein Proberaum für das Leben
Sie hängen in den Weinbergen ab, werfen dann und wann Steine in die Luft: Fatih, Piero, Nico und Saša, vier Jungs um die 16, mitten in der Pubertät und kurz vor den großen Ferien. Fatih hat eine bestechende Idee – einen Proberaum für das Leben. Jeder, der will und 130 Mark zahlt, darf zehn Minuten lang die eigene Zukunft testen.
Und überlegen: Will ich das? Oder will ich etwas ganz anderes? Dieses allzu menschliche Verlangen wird zum Leitmotiv im neuen durch und durch spielerischen Prosaband von Saša Stanišić.
Saša Stanišić: Literatur ist ja so ein Möglichkeiten-Raum. Da probieren wir Geschichten aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart – und eben auch die Zukunfts-Geschichten – aus. Und das wäre eine doppelte Vorstellungskraft, die dann zu Werke geht. Einmal haben wir diese Sci-Fi-Idee vom Proberaum. Und zweitens haben wir die literarische Umsetzungskraft dieser Biographien, die sich verändern. Und ich lasse meinen Figuren immer diese zweite Chance gewähren – dass sie noch einmal zehn Minuten von ihrem Leben leben können. Die sie sonst nicht hätten.
Kein Roman, auch kein Erzählungsband
Saša Stanišić nennt sein Buch mit dem Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“: eine Chimäre. Es ist kein Roman, es ist auch kein klassischer Erzählungsband. Vielmehr beständiges Dazwischen, furios, voller Witz, oft in kurzen Sätzen, rhythmisch und mit knappen Dialogen: Geschichten von unterschiedlichen Menschen aus unserer Zeit, auf magische Weise miteinander verbunden – nicht nur, weil alle Figuren den Proberaum für das Leben betreten.
Ein Saša Stanišić ist auch dabei. Er war angeblich als Jugendlicher auf Helgoland und wird dreißig Jahre später dort beschuldigt, das alte Wirtshausschild aus dem „Inselkrug“ gestohlen zu haben. Hochironische Autofiktion, voller Brechungen.
Saša Stanišić: Wir haben da einen dahin gereisten Jugendlichen, der aber in Wirklichkeit nicht dahin gereist ist. Er hat nur seinen Freunden erzählt, dass er dahin reist, weil er sich geschämt hat oder Geltungsbedürfnis hatte, weil er auch einmal etwas erleben wollte. Dann haben wir den erwachsenen Saša Stanišić, den Schriftsteller, der sich wohl eine Geschichte durchliest, in der er selber Protagonist ist, die er aber nicht gut finden. Die Bilder gefallen ihm nicht, die Sprache gefällt ihm nicht. Und dann gibt es die Geschichte, die erzählt wird, dass ein Kneipenschild geklaut worden ist. Dieses Kneipenschild hat eine große Wichtigkeit für die Wirtin auf dieser Insel, auf Helgoland.
Immer wieder kommen Saša Stanišić‘ Geschichten ungestüm daher, mancher erzählerische Kniff ist rotzfrech. Unter der Oberfläche aber liegen Melancholie und tiefer Ernst. Eben: der großen Frage folgend, welches Leben verpassen wir, während wir ein anderes leben? Und was wollen wir hinter uns lassen?
Einige der Figuren erfahren Ausgrenzung, aufgrund ihrer Herkunft, aufgrund ihrer Sprache. Der Helgoland-Fahrer Saša Stanišić etwa begegnet – in der literarischen Imagination – Heinrich Heine. Lebens- und Zeitgeschichten verbinden einander: die Ablehnung, die Angst.
Fatihs Anproberaum, das wäre es jetzt. Die Gegenwart war klar. Wie Heine hätte ich sie oft am liebsten verlassen. Wäre lieber woanders gewesen. Woanders und vor allem wer anders. Wenn die Albträume der Abschiebung uns heimsuchten. Wenn zu Hause gestritten und gelitten und das Geld am Ende des Monats knapp wurde. Oder wenn die Bullen uns mal wieder anhielten und: Leert die Taschen, Jungs, alles. In unserem Viertel, idyllisch zwischen Weinberg und Wald, reichte es unterwegs zu sein, um verdächtig zu sein. Hattest du dunklere Haut, fuhr keine Streife an dir vorbei. (aus: Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne)
Ein paar Sätze – und abgrundtiefe Traurigkeit. Und doch behaupten sich die Figuren von Saša Stanišić. Auch die beiden Frauen, die jeweils eine Art Zentrum in den vielen Prosatexten bilden: die Hamburger Witwe Gisel – die unter anderem über die entsprechende Platzierung der Gießkanne am Grab ihres Mannes räsoniert.
Und Dilek, in einer Geschichte in Heidelberg zu Hause, in einer anderen – einer „Traumnovelle“ – Putzfrau in Wien, angestellt bei einer reichen wie unverschämten Wienerin. Dilek merkt bei ihrer Arbeit, dass die Zeit plötzlich stehen bleibt. Oder vielleicht auch ihr Herz, man weiß es nicht. Sie erlebt einen utopischen Moment der Freiheit. Und emanzipiert sich.
Ein erzählerisches Labyrinth
Saša Stanišić: Fast alle meine Figuren schaffen es, zumindest in Gedanken, wenn auch nicht in Vorstellungen und Wünschen und Zielen, die sie haben, sich ihres Lebens zu bemächtigen und zu sagen: Okay, ich will es aber so! Das ist meine Entscheidung, das ist mein neuer Weg. Bei ihr gelingt es mir, glaube ich, am intensivsten, diesen Kampf gegen die Konventionen – die Konvention, mit ihrem Mann zurück in die Türkei zu gehen, die Konvention, sich um die Kinder gekümmert zu haben und jetzt gar kein eigenes Leben gehabt zu haben, all diese Dinge zu verlassen und für sich einen kleinen Weg zu finden, wie klein der auch ist – aber es ist ein Weg in die Freiheit.
Ja, ein Weg in die Freiheit. Das ist der Kern der nicht nur in emotionaler Hinsicht vielschichtigen Prosa von Saša Stanišić. Man verschwindet lustvoll in diesem erzählerischen Labyrinth, all denen folgend, die von einem anderen Leben träumen. Könnte man selbst einen Proberaum für die Zukunft betreten – die Geschichten von Saša Stanišić wären unbedingt mitzunehmen, aus welcher Gegenwart auch immer.

May 29, 2024 • 4min
Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie
Franz Kafka hat nur ein schmales Werk hinterlassen: drei unvollendete Romane, einige Erzählungen, Briefe und Tagebücher. Trotzdem wurde der Prager Autor zum wirkmächtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, zum großen Vorahner der technologischen und bürokratischen Moderne. Benjamin, Adorno, Canetti, Deleuze – um nur einige zu nennen – haben die rätselhafte Welt Kafkas zu deuten versucht. Von dem Berg literaturwissenschaftlicher Analysen ganz zu schweigen, der immer weiter anwächst. Fast jedes Wort dieses Autors wurde unter die Lupe genommen. So begegnet man der Anthologie, in der 26 Autorinnen und Autoren über ihre Erfahrung mit Kafka schreiben, erst einmal mit einiger Skepsis. Der Herausgeber, der Verleger und Lektor Sebastian Guggolz, weiß um solche Vorbehalte. „Kafka gelesen“ versteht er dennoch als Einladung, fremden Lektüren zu folgen und in die Textwelt Kafkas aufzubrechen.
Kafkas Wirkung auf die eigene Biografie
Man kann sich auf einzelne Sätze, Motive oder Lieblingserzählungen konzentrieren, wie das einige Autoren tun, um diese mal mehr mal weniger originell zu dechiffrieren. Oder man erinnert sich an die Begegnung mit Kafkas Texten und rekapituliert deren Wirkung auf die eigene Biografie und das eigene Schreiben. Viele Autoren erzählen so sehr unmittelbar nicht zuletzt auch von sich selbst. Und das ist durchaus spannend zu lesen. Michael Kumpfmüller arbeitete sich als Gymnasiast nahezu durch das komplette Werk Kafkas. Ein später Widerhall der frühen Lektüre ist der gerade verfilmte Bestseller Kumpfmüllers „Die Herrlichkeit des Lebens“ über Kafkas letztes Lebensjahr und seine Liebe zu Dora Diamant. Aber vor dem souveränen späteren Umgang stand die umstürzende Erfahrung der ersten Begegnung.
Schwer zu sagen, wie und mit welchem Ergebnis ich ihn damals gelesen habe; ich sehe die Dunkelheit, vor allem sie; dass ich alles gut kannte oder zu kennen glaubte – die Figur des übermächtigen Vaters, dass die Liebe schwierig bis unmöglich ist und der Einzelne klein und für sich, verdammt und zugleich seltsam frei.
Quelle: Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie
Schreiben als Ausweg aus den Begrenzungen der Gegenwart
Katerina Poladjan schreibt einen Brief an den liebsten Franz und erzählt von kafkaesken Erfahrungen. Isabella Lehn kennt – wie Kafka – das Gefühl nur zu gut, den Anforderungen der Welt nicht zu genügen. Das Schreiben ist für sie ein Ausweg aus den Beschränkungen der Gegenwart. Für Kafka war es noch mehr: die eigentliche Existenz. Dana Grigorcea berichtet ebenfalls von ihrer frühen Kafka-Lektüre. Im kommunistischen Rumänien waren die Bücher des Prager Autors für sie geradezu überlebenswichtig:
Da wurden Stimmungen, die ich bestens kannte, in Worte gefasst, in einprägsamen, repetitiven Bildern festgehalten. Nie mehr würden sie wieder formlos, als beunruhigende Ahnungen um mich schweben. Es war bei Kafka, wo ich die wirksamen Bannsprüche gegen die Angstlähmungen fand, das Gegengift für meine Erfahrungen von Diktatur und Willkür.
Quelle: Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie
Ein Buch, das die Neugier auf Kafka weckt
Kafka habe dafür gesorgt, dass das Fragmentarische, das Abgebrochene und Verstümmelte Zugang in die Literatur findet und dort seine eigene Würde bekommt, hat sein Biograf Reiner Stach einmal gesagt. In einem der besten Beiträge der Anthologie bekennt Jan Faktor, dass „der ganz große Kafka“ für ihn der fragmentarische ist. Auch den unvollendeten Werken sei nichts mehr hinzuzufügen.
Da in der von Kafka geschaffenen Realität so vieles nicht stimmt, wäre es – jedenfalls in den umfangreicheren Werken – sowieso fast unmöglich, aus derartigen Konglomeraten ein rundes Ganzes zu erschaffen. Auf das sogenannte „Process“-Fragment bezogen: Kann sich jemand vorstellen, wie Kafka Josef K. vor irgendwelchen unteren, mittleren oder hohen Richtern antreten lässt?
Quelle: Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie
Vorstellen können wir uns, dass diese Anthologie die Neugier weckt auf Kafka. Und dass sie dazu führt, ihn neu oder wieder zu lesen. Es wäre sicher der schönste Ertrag dieses Buches.


