SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jun 10, 2024 • 4min

Gabriel Garcia Márquez – Wir sehen uns im August

Jedes Jahr am 16. August setzt Ana Magdalena mit der Fähre zu der Karibik-Insel über, auf der ihre Mutter begraben liegt. Sie steigt jedes Mal im ältesten der Touristenhotels ab, kauft einen Gladiolenstrauß und fährt mit einem Taxi zum armseligen Friedhof. Nachdem Ana Magdalena die Blumen auf den Grabstein gelegt hat, erzählt sie der Mutter die Neuigkeiten aus ihrem Leben. Dann fährt sie wieder ins Hotel, wo auf dem Nachttisch bereits der Klassiker wartet, den sie gerade liest. Am nächsten Tag kehrt sie in die Stadt zurück – zu ihrem Ehemann, mit dem sie seit fast dreißig Jahren verheiratet ist. Mit einem dieser routinemäßigen Insel-Besuche der kultivierten Mittvierzigerin beginnt „Wir sehen uns im August“, der posthum veröffentlichte Roman des 2014 verstorbenen Gabriel García Márquez. Anders als sonst, sucht Ana Magdalena dieses Mal plötzlich das Abenteuer. Abends, in der Hotelbar, wirft sie einem Unbekannten tiefe Blicke zu. Sie stoßen an, unterhalten sich. Und dann fühlte sie sich stark genug, den Schritt zu tun, der ihr in ihrem ganzen Leben nicht einmal im Traum eingefallen wäre, und sie tat ihn ungeniert: „Gehen wir hinauf?“. Er hatte nicht mehr das Heft in der Hand. „Ich wohne nicht hier“, sagte er. Sie fiel ihm ins Wort, sagte „Ich aber“ und stand auf, schüttelte gerade mal ihren Kopf, um ihn zurechtzurücken. „Zweiter Stock, Zimmer zweihundertdrei, rechts von der Treppe. Nicht klopfen, nur die Tür aufdrücken. Quelle: Gabriel Garcia Márquez – Wir sehen uns im August Damit beginnt eine Liebesnacht, die Ana Magdalena bisheriges Leben einer angepassten Ehefrau und Mutter verändern wird. Fortan erwacht bei jeder ihrer Reisen auf die Insel eine unbezähmbare Lust auf außereheliche Affären. García Márquez, dem begnadeten Erzähler, gelingt es mühelos, dass wir uns Ana Magdalena vorstellen können: wie die reife, attraktive Frau in der Hitze der Insel aufblüht und erwartungsfroh die Lokale des Urlaubsorts aufsucht. Der Literatur-Nobelpreisträger beschreibt seine Romanfigur mit warmherzigem Blick. Gespannt und amüsiert begleiten wir sie bei ihrer verwegenen Suche nach sinnlichen Erlebnissen. Man könnte diese als erotische Phantasie eines alternden Autors abtun, das wäre aber zu kurz gegriffen. Es ist interessant, dass García Márquez versucht, sich in eine Frau einzufühlen, die eine Art Midlife Crisis durchlebt – und sich sexuell so ausleben will, wie es oft eher die Männer tun. Warum genau allerdings seine Heldin nach vielen Jahren ehelicher Treue plötzlich die Moral über den Haufen wirft, das überlässt García Márquez weitgehend der Interpretation der Lesenden. Dass wir über Anna Magdalenas Beweggründe und über ihre Ehe nicht mehr erfahren, ist eine Schwäche des Romans. Weniger schlimm ist hingegen, dass es ihren Liebhabern, die wie skizziert wirken, an Tiefenschärfe fehlt. Ob „Wir sehen uns im August“ veröffentlicht werden sollte, daran schieden sich schon vor dem Erscheinen die Geister. Der Vorwurf, hier solle mit einem minderwertigen, viel zu kleinen Text des großen Schriftstellers Geld gemacht werden, blieb nicht aus. García Márquez hatte die Geschichte ursprünglich als Teil eines größeren Werks geplant, das erklärt ihre Kürze. Natürlich reicht der Roman nicht an opulente Meisterwerke wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit ihrer bildgewaltigen Sprache heran – der Vergleich macht auch nicht viel Sinn. Gabriel García Márquez schrieb an dem Text auch noch, als seine geistigen Kräfte bereits nachließen. Die Sprache ist schlichter, im Aufbau gibt es kleine Inkonsistenzen. Dennoch bietet das Buch eine kurzweilige Lektüre – und ist ein origineller Beweis dafür, dass es den Autor in fortgeschrittenem Alter umtrieb, über veränderte Geschlechterbeziehungen zu schreiben.
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Jun 9, 2024 • 8min

Piazza und Protest – Italien ist Buchmessen-Gastland 2024

Ein Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse ohne Skandale und Streitereien? Das gibt es wahrscheinlich nicht. Auch das diesjährige Gastland Italien macht da keine Ausnahme. Dort hat man sich augenblicklich in den Haaren, weil Starautor Roberto Saviano nicht Teil der offiziellen Autorendelegation sein wird. Wurde er wegen seiner Bücher, in denen er die mafiösen Strukturen Italiens aufdeckt, links liegengelassen? Wie auch immer: Sein deutscher Verlag – der Hanser-Verlag – lädt ihn nun selbst ein. Und was erwartet uns noch? Die Italianistin Anna Voller berichtet im Gespräch auf SWR Kultur von den Querelen, aber auch von der Frankfurter Gastlandhalle, die aussehen wird wie eine traditionelle Piazza. Sie freut sich ganz besonders auf die Bücher von der italienischsprachigen Autorin Fleur Jaeggy (*1940), die gerade frisch ins Deutsche übersetzt und wiederentdeckt werden.
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Jun 9, 2024 • 6min

Elias Hischl – Content

Ein Aufenthaltsstipendium in Dortmund kann tiefe Spuren im Literatengemüt hinterlassen. Vor allem, wenn man anderes gewohnt ist, Wien zum Beispiel. Der gebürtige Wiener Elias Hirschl, Jahrgang 1994, lässt in seinem jüngsten Roman „Content“ mit spürbarem Vergnügen am Exotischen die Reize einer von der Kohle- und Stahlindustrie in die Mangel genommenen und für immer gezeichneten Landschaft spielen. Riesenbagger und verlassene Produktionsstätten allenthalben, versinkend in einem toxischen Untergrund voller Löcher und Schächte, die mit Wasser volllaufen, weil auch die sogenannten Ewigkeitspumpen nicht ewig arbeiten. Jedenfalls, wenn eine Kommune kein Geld mehr für den Weiterbetrieb aufwenden kann. Der Name des posturbanen Konglomerats: Staublunge. Was das ganze Internet verstopft Aber hey, man muss auch das Positive sehen! Wo, wenn nicht in solchen Gefilden jahrzehntelangen Verfalls haben mutige Start-ups und sinistre Investoren derart viel Auslauf und werden von der Kommunalpolitik so freudig willkommen geheißen? Die Pressekameras klicken, und der Bürgermeister steht in seinem zu groß geschnittenen Anzug vor den weiß glänzenden Toren des Logistikzentrums. Als er das rote Samtband mit der comichaft riesigen Schere durchtrennt, grinst er mit dem Selbstbewusstsein eines schüchternen Jungen, dem der Schulfotograf gesagt hat, er soll jetzt mal so richtig fröhlich lächeln. Er sagt, er war selten so stolz auf seine Gemeinde. Ich trete die Zigarette aus und schreibe einen Artikel über zehn Prominente, die wir im neuen Jahr vermissen werden. Quelle: Elias Hirschl – Content Die Ich-Erzählerin, die hier ins Spiel kommt, verdient ihren Lebensunterhalt nämlich mit dem Verfassen von Listicles. Solche in Listenform aufgeführten Pseudofakten über garantiert wirksame Haushaltstricks, schlimmste Reiseziele, unglaublichste Ufo-Sichtungen oder eben Promi-Skandälchen waren mal als angeblich Internet-taugliche Form von Journalismus gedacht. Mittlerweile wird von Content-Schrott wie diesem nicht nur Social Media verstopft, sondern das komplette Netz. Handys zerquetschen, Clicks generieren Die namenlos bleibende Erzählerin ist Anfang, Mitte dreißig und träumte mal von einem kreativeren Broterwerb, so wie all ihre Kollegen, die auf derselben Etage einer ehemaligen Zeche Clickbait-Material produzieren: Youtube- und TikTok-Filmchen von Nokia-Handys etwa, die in Hydraulikpressen zerquetscht werden, mit post-ironischer Meta-Ebene, versteht sich. Andere denken sich Trends aus, die viral gehen sollen, irgendwas mit Kuchen, die wie Gegenstände aussehen – und umgekehrt. Alles im Auftrag einer geheimnisvollen Firma namens Smile Smile Inc. mit Sitz auf Zypern. Der traurige Witz an der Texterei der Ich-Erzählerin ist, dass ihre liebevoll zusammengegoogelten Listicles niemals, wirklich niemals so veröffentlicht werden, wie sie sie geschrieben hat, weil eine Fülle von Kontrollebenen daran herumoptimiert. Ihre Kollegin hält das nicht aus, legt irgendwann statt eines Handys die eigene Hand in die Hydraulikpresse und ist dann länger krankgeschrieben. Wie sich herausstellt, eine glückliche Wendung für die Kollegin, deren Twitter-Aktivitäten in eine Fernsehkarriere als Late-Night-Gagschreiberin münden. Die Fallhöhe zwischen dem Verlust einer Hand und dem überraschenden Aufstieg ist eine der satirischen Pointen, mit denen Hirschl gern arbeitet – ein Exempel des turbokapitalistischen Versprechens, man könne alles erreichen, wenn man nur fest an sich glaube und hartnäckig dranbleibe, und zugleich dessen Demontage. Die Doppelgängerin macht Influencer-Karriere Die Ich-Erzählerin muss derweil feststellen, dass sie Opfer eines umfassenden Identitätsdiebstahls geworden ist und eine frischere Version ihrer selbst sich all ihrer Social-Media-Konten bemächtigt hat. Ihr Instagram-Account hat in letzter Zeit ordentlich an Followern zugelegt. Ich bin offenbar diverse Verträge mit Sponsoren eingegangen, deren Produkte ich jetzt auf Instagram und TikTok ausprobiere und weiterempfehle. Anscheinend lebe ich in einem Loft mit Dachterrasse, meistens aber in Wellnesshotels, Thermen, japanischen Onsen, Sponsoren in meinem Gesicht, Sponsoren auf meiner Haut, Sponsoren unter meinen Füßen, die Wände um mich herum zeigen weitere Sponsoren. Quelle: Elias Hirschl – Content Während die Doppelgänger-Inszenierung durchgezogen wird bis zum bitteren Ende, wird die reale Stadt da draußen, die ganze Staublunge, mitsamt den gefluteten Wohngebieten, den einstürzenden Industriebauten und Logistikzentren von sich häufenden Erdbeben erschüttert. Aus der Entsprechung von inneren und äußeren Implosionen gewinnt Elias Hirschl tatsächlich eine Menge fesselnden Content. Immer neue Einfälle zieht er aus dem Fundus seiner Gegenwartsbeobachtung heraus wie ein Zauberer die Kaninchen aus dem Zylinder. Es gibt einen Journalisten, der hinter der Content-Schmiede Smile Smile Inc. die Chinesen, die Russen oder noch viel Schlimmeres vermutet, einen jungen Gründer, der unverzichtbare öffentliche Institutionen bis hin zur Feuerwehr reihenweise in dysfunktionale Start-ups verwandelt, streikende Fahrradkuriere, die flugs gefeuert und durch Drohnen ersetzt werden. Zwischen Amüsement und innerem Haareraufen Vieles davon mag zunächst völlig übertrieben scheinen – bis man sich den Umgang von Streaming-Plattformen mit Urhebern oder die Geschäftsmodelle von Lieferdiensten in Erinnerung ruft. So schwankt man lesend zwischen Amüsement und innerem Haareraufen angesichts der rasenden digitalen Verblödung, deren Folgen hier sichtbar werden: Je mehr Bildschirmzeit mit Stuss verbracht wird, desto besser für diejenigen, die ungestört ihren Geschäften nachgehen wollen. Elias Hirschls Roman liefert weder eine tiefgründige Handlung noch stilistische Höhenflüge. Im Gegenteil, auf weite Strecken bedient er sich genau der Normcore-Sprache seiner Generation der Millennials. „Content“ ist ein Spiel mit den Klischees unserer durchdigitalisierten Welt – keine große Literatur, aber eine immer wieder witzig auf den Punkt gebrachte Kapitalismuskritik 2.0.
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Jun 9, 2024 • 55min

Irrschweifen und Lachen – neue Bücher proben den Aufbruch im lesenswert Magazin

Piazza und Protest – Italien ist Buchmessen-Gastland 2024. Wir sprechen über bisherige Skandälchen und auf welche Bücher wir uns freuen können. Finnland und die DDR Mit der Finnin Meri Valkama streifen wir durch Berlin, und wir lernen in ihrem Roman „Deine Margot“, warum Finnen die DDR so liebten. Mit „Blue Ruin“ rundet Hari Kunzru seine Dreifarben-Trilogie ab. Diesmal geht es um Kunst und Covid. Darüber berichtet Kunzru auch im Interview. Empfehlung von Deniz Ohde Regelmäßig verraten Autor*innen bei uns ihre Lieblingslektüren. Heute erzählt die Autorin Deniz Ohde, warum sie Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ immer wieder liest. „Irrschweifen und Lachen“ heißt eine neue Anthologie mit Erzählungen und Essays von den Antillen. Romanist Ralph Ludwig erzählt von den Besonderheiten antillanischer Geschichten und liest eine Passage auf Kreolisch vor. Zum Schluss nimmt Elias Hirschl die schöne neue Online-Welt aufs Korn: „Content“ heißt seine böskomische Digital-Satire. Musik:Remi Chaudagne, David Starck: CubaLabel: KLANGLOBBY
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Jun 9, 2024 • 7min

Meri Valkama – Deine Margot

Berlin-Mitte. Fischerinsel heißt ein Wohngebiet auf einer Spreeinsel zentral in Berlin. Plattenbauten, zwischen ihnen ein Spielplatz, eine Schwimmhalle. Gebaut wurden die Häuser Anfang der 1970er Jahre in der DDR. In den 1980er Jahren hat die finnische Autorin Meri Valkama in einem der Hochhäuer gewohnt. Deshalb spielt hier auch ihr Romandebüt „Deine Margot“. „Diese fast vier Jahre waren die glücklichste Zeit meiner Kindheit“, erzählt sie bei einem Spaziergang über die Fischerinsel. Als Vierjährige kam sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Ost-Berlin: Ihr Vater war Auslandskorrespondent einer linken finnischen Zeitung. „Das ist unser Haus, das, mit der Nummer 10, mit diesem Gelb bei den Fenstern. Wir wohnten auf der zweiten Etage.“ Das 20-stöckige Haus ist ein wichtiger Handlungsort ihres Romans: Dort bezieht ihre Protagonistin – die Journalistin Vilja – im Jahr 2011 eine Ferienwohnung. Der Geruch flutete ihr entgegen, als die Fahrstuhltüren sich im achtzehnten Stock öffneten. Derselbe Geruch, derselbe noch nach fünfundzwanzig Jahren, dachte Vilja, und auch wenn sie sich unter anderen Umständen den Schal vor das Gesicht gedrückt und sich vor dem Gestank des Müllschluckers geschützt hätte, ließ sie jetzt den süßlich-fauligen Geruch in sich hineinströmen. Quelle: Meri Valkama – Deine Margot Auf der Suche nach der Vergangenheit In Berlin will Vilja herausfinden, von wem die Briefe stammen, die sie im Nachlass ihres verstorbenen Vaters gefunden hat. Unterzeichnet sind die Briefe mit „Deine Margot“, gerichtet an „lieber Erich“ – eine Anspielung auf die Honeckers, die Vertrautheit zeigt und mehr noch: Offenbar hat ihr Vater in den 1980er Jahren ein neues Leben mit dieser Frau geplant. Langsam wird Vilja klar, warum ihre Familie nach der Rückkehr nach Helsinki zerbrach. Nun will sie dahinter kommen, was damals passiert ist: Sie besucht alte Bekannte ihrer Eltern aus jenen Jahren, spricht mit der besten Freundin ihrer Mutter, einem damaligen Kollegen ihres Vaters – und hinterfragt ihre eigenen Erinnerungen an diese Zeit.  „Wie soll ich es erklären? Wenn man in ein anderes Land zieht, dann erinnert man sich später an vieles. Natürlich sind es die Erinnerungen eines Kindes, ich weiß auch nicht, ob jeder Moment real war. Aber ich habe starke Erinnerungen an bestimmte Geschmäcker, Gerüche und so etwas.“ Dazu gehört auch dieser leicht süßliche Geruch nach Müll, der sich durch die Hausflure und fast leitmotivisch durch den Roman zieht. Solche Details zeichnen ein vielfarbiges, oftmals sinnliches Bild jener Jahre. „Mir ist klar, dass ich damals ein kleines Kind war. Ich wusste nicht viel über gesellschaftliche oder politische Fragen. Und wir waren eine Familie, die eine Art Diplomatenstatus hatte. Für uns war es anders als beispielsweise für unsere ostdeutschen Nachbarn.“ „Aber der wichtigste Teil waren die Diskussionen mit Ostdeutschen“ So ergeht es auch Vilja: In ihren Gesprächen stößt sie immer wieder auf Fakten, die ihre eigenen Erinnerungen korrigieren. Nicht nur das. Im Roman werden auf einer zweiten Zeitebene die Erlebnisse und Erfahrungen von Viljas Eltern erzählt: Ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre Gespräche mit Freunden und Nachbarn in Berlin. Manche hadern mit Einschränkungen, wollen die DDR verlassen. Andere sind weiterhin überzeugt, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen ist. In den vielfältigen Nebenfiguren zeigt sich, dass Meri Valkama über zehn Jahre für ihr Buch recherchiert hat. Sie hat viel gelesen, ist oft nach Berlin gereist, hat eine Zeitlang hier gelebt. „Aber der wichtigste Teil waren die Diskussionen mit Ostdeutschen. Man kann lesen und Filme oder Serien schauen, aber wenn man wissen will, was Menschen denken, muss man mit ihnen reden.“ Für Vilja wird die Suche nach der Geliebten des Vaters auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie wird herausfinden, wer die Frau war. Warum sie selbst – Vilja – Probleme mit Nähe hat. Und warum ihr Verhältnis zu ihrer Mutter so schwierig ist. Das Gefühl war stark, es errichtete um sich herum tief im Boden verankerte Pfähle und bestand, überraschend für Vilja selbst, aus der Gewissheit: Sie hatte das Recht, ihre eigene Vergangenheit aufzuklären, das Recht, ihre eigene Geschichte zu kennen, und auf jede Art von Fragen, die ihr helfen würden, zu verstehen und weiterzukommen. Warum war das für die Mutter so unmöglich zu akzeptieren? Quelle: Meri Valkama – Deine Margot In Finnland anders über die DDR Sprechen Diese Verankerung im Persönlichen sorgt dafür, dass der Roman trotz einiger Längen und manch kitschiger Passagen überzeugt: Sie bringt große historische mit den nur vermeintlich kleinen privaten Ereignissen zusammen. Dazu schreibt Meri Valkama über das Verhältnis Finnlands zur DDR. Finnland ist ein Land mit einer ausgeprägten und starken linken Tradition. Davon erzählt auch Autorin Pirkko Saisio in ihrer Helsinki-Trilogie, die aktuell erscheint. Es gab Austauschprogramme zwischen der DDR und Finnland, viele Finnen haben eigene Erinnerungen an ihre Zeit in diesem Land.   „Der Historiker Seppo Hentilä hat viele Bücher über die DDR geschrieben und seine Analyse ist: Vor dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges wurde in Finnland ein sehr positives Bild von der DDR gezeichnet. Und mit dem Ende des Kalten Krieges wurde alles nur noch schwarz gemalt. Diese Veränderung war wirklich riesig und ich denke, einige hat das traumatisiert – gerade die, die noch Verbindungen zur DDR hatten. Viele Finnen dachten, man dürfe nun nach dem Mauerfall nicht mehr gut über diese gemeinsamen Zeiten sprechen.“ Mit ihrem Roman – in Finnland war er ein großer Erfolg – will Meri Valkama dazu beitragen, dass in Finnland wieder offener über die DDR geredet wird. Dennoch ist „Deine Margot“ keine groß angelegte historische Analyse, sondern ein bisweilen leicht überfrachteter, aber spannender Familienroman, der geschichtliche Ereignisse mit persönlichen Erinnerungen geschickt und überzeugend verbindet.
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Jun 9, 2024 • 15min

Ralph Ludwig – „Irrschweifen und Lachen. Ein neuer Wind in der antillanischen Literatur"

„Irrschweifen und Lachen“ heißt ein neuer Erzählband mit 21 Geschichten und Essays von den Antillen. Die Texte wurden eigens für diese Anthologie verfasst – die meisten auf Französisch, drei auf Kreolisch. Kreolische Originaltexte haben Seltenheitswert auf unserem Buchmarkt. Wie schön also, dass sie diesem Band im Original enthalten sind. Herausgeber Ralph Ludwig ist Romanist an der Universität Halle-Wittenberg. Er ist spezialisiert auf Kreol-Sprachen und spricht selbst auch das Kreolisch der Karibik-Insel Guadeloupe. Im Gespräch mit Katharina Borchardt (SWR Kultur) erklärt er die Herkunft des Kreolischen und liest auch eine Textpassage vor. Die Begriffe „Irrschweifen und Lachen“ stehen in diesem Band zentral, weil sie zwei tief in der kreolischen Kultur verankerte Bewegungen beschreiben. Aufgrund der Verschleppung afrikanischer Sklaven in die Karibik und des Zuzugs europäischer Glückssucher und Freibeuter wurde den karibischen Gesellschaften schon früh das Irrschweifen eingeschrieben. Dies hat auch das Denken der Region geprägt, das Ludwig sehr zeitgemäß findet. „Der Autor Édouard Glissant von der Insel Martinique sieht im Irrschweifen eine Form des Entdeckens“, erklärt Ludwig. „Man kann nur zu etwas gedanklich Neuem kommen, wenn man Grenzen überschreitet, wenn man sich nicht in gerader Linie auf etwas zu bewegt“, sagt Ludwig und ergänzt: „Glissant fand, ein Stück Opazität, ein Stück Überraschung, ein Stück vielseitiger Verstricktheit müssen wir allem und jedem zugestehen. Auch das ist ein wesentlicher Teil des Irrschweifens.“ Eine verführerische Art des Denkens! Zu der auch das Lachen gehört. „Lachen ist eine Haltung“, findet Ludwig. „Lachen ist etwas, was über materielle Schwierigkeiten und über Kummer hinweghilft. Lachen ist eine Art, sich zu befreien.“
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Jun 9, 2024 • 2min

Marlen Haushofer - Die Wand

Plötzlich ist da diese unsichtbare Wand in der Welt. Die Erzählerin im Erfolgsroman „Die Wand“ von Marlen Haushofer (1920-1970) ist mit ihrer Cousine und deren Ehemann in die Berge erfahren. Als die beiden aus einem Wirtshaus nicht zurückkehren, geht sie sie suchen und stößt dabei gegen eine Wand, die sie nicht überwinden kann und hinter der alle Menschen wie erstarrt wirken. Mit der Zeit lernt die Erzählerin, sich diesseits der Wand selbst zu versorgen, und sie kümmert sich auch zunehmend um die Tiere, die ihr zulaufen. Der Roman erschien 1963 und wurde später mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt (2012). Die junge Schriftstellerin Deniz Ohde liest „Die Wand“ immer wieder. Auf SWR Kultur empfiehlt sie diese Geschichte, die darüber nachdenkt, „dass wir zwar vergänglich, zugleich aber dazu gezwungen sind, zu lieben und uns zu sorgen“. Und: „Er stellt die Frage, ob wir diesen Weg der Liebe gehen oder nicht.“ Die Autorin Deniz Ohde (*1988) wurde bekannt mit ihren Romanen „Streulicht“ und „Ich stelle mich schlafend“.
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Jun 9, 2024 • 6min

Hari Kunzru – Blue Ruin

Ein Gesellschaftsroman in der Pandemie Vor 20 Jahren hatte Jay in London eine große Künstlerkarriere vor sich, jetzt wohnt er in den USA, ist desilluioniert, ein Wrack, Treibgut des Lebens, von seelischen Narben gezeichnet und von Covid geschwächt. Ohne Wohnung, lebt er in seinem Auto, verdient ein paar Dollar und liefert Lebensmittel in ein hochgesichertes Anwesen im Wald Upstate New York. Plötzlich steht Alice vor ihm, seine große Liebe, die ihn damals mit seinem besten Freund Rob verließ und nun in der Luxusvilla wohnt. Die Reiche und der Lieferant, ein unangenehmes Zufallstreffen. Ich ging zurück zum Auto und versuchte, mir im Klaren darüber zu werden, was los war, wie diese Frau sich plötzlich wie eine Jalousie vor meine Erinnerung legen konnte. Zwanzig Jahre später war aus der dürren Kettenraucherin von früher die Herrin eines Märchenreichs geworden. - Jay? Ich wollte nur noch, dass der Moment vorbeiging. Einfach wegfahren und nicht mehr an sie denken. Quelle: Hari Kunzru – Blue Ruin Mit seinem filmischen Erzählen, versetzt Hari Kunzru im Nu in die klaustrophobische dunkle Szenerie im Wald, fern von New York, wo Pandemie und Panik herrschen und Polizeihub-schrauber die Demonstranten überwachen, wie es Hari Kunzru selbst im Lockdown erlebte. New York mit all den Protesten in der Nachbarschaft fühlte sich an wie eine belagerte Stadt, das Land wurde zum Überwachungsstaat. Das Leben in den Wäldern von Up State New York, ohne Masken, schien dagegen wie unwirklich. Quelle: Hari Kunzru – Blue Ruin Käuflichkeit als Symptom der Zeit Alice, Rob und zwei Künstlerfreunde begegnen sich wie in Shakespeares Zauberwald; eine geschlossene Gesellschaft, die sich den Sommernachtstraum in der Natur leisten kann; Reiche, die in ihrer Blase leben und nicht sehen, was draußen geschieht. Kontrovers diskutieren sie nun mit Jay: Was ist ein Kunstwerk? Wem gehört eine Idee? Wer oder was ist käuflich? „Er selbst habe sich für eine leicht zugängliches Schreibweise entschieden, nicht für Avantgarde, sondern für eine große Leserschaft“, sagt Hari Kunzru. Als ehemaliger Londoner Kunstkritiker skizziert er mit leichter Hand die Kunstszene der 90er Jahre. Politische Zeitzeugenschaft ist ihm wichtig. Er erzähle Geschichten, um die Welt zu verstehen, sagt Hari Kunzru. „Jeder sei zu sehr mit sich, seinen romantischen oder finanziellen Nöten beschäftigt, sagt Kunzru, auch dieses Buch handle von Leuten, die die Welt ignorierten“. Der Autor als Zeitzeuge „Blue Ruin“ ist vor allem die Geschichte der zerstörerischen Liebe von Jay und Alice und die Rückschau auf ein Künstlerleben. Aber hinter Jay‘s persönlicher Krise liegen die Probleme von heute: Rassismus, Migration und Polizeigewalt, die Kluft zwischen Arm und Reich, Kontrollwahn, Verschwörungstheorien und eine Demokratie in Gefahr. Kunzru, der Brite in New York, ist ein scharfer Beobachter, und „Blue Ruin“ Teil 3 und Abschluß einer Trilogie. „White Tears“ handelte vom Musikgeschäft, „Red Pill“ von einem Schriftsteller, „Blue Ruin“ nun spielt in der Welt der Kunst, und nicht zufällig sind Weiß, Rot, Blau die Farben der US-Flagge, ist die Trilogie ein Spiegel der gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft mit der Tendenz zum Überwachungsstaat. Während Trump sein Comeback plant, akzeptiert die liberale Elite ein Zwei-Klassen-Denken, demokratische Werte gelten nur für Privilegierte, und studentische Israel-Proteste dieser Tage werden niedergeprügelt. Die Demokratie in Gefahr Die USA seien in vielerlei Hinsicht zum Polizeistaat geworden. Die Demokratie sei ein Chaos mit häßlichen Auswüchsen, aber die Alternative umso schrecklicher. Quelle: Hari Kunzru Seine Romanfiguren im Wald, Vertreter der Reichen in der Pandemie, ficht das alles nicht an. Sie sind egoman verstrickt in ihrem Kokon bis zum westernähnlichen, parodistischen Showdown. „Blue Ruin“, blue wie der Gin und ruinös wie die Gesellschaft, ist keine Apokalypse wie „Red Pill“, eher ein Beziehungsdrama von psychologischer Tiefe und grotesker Komik, mit versöhnlichem Ende; das szenisch erzählte, ungemein facettenreiche und fesselnde Psychogramm eines Mannes und einer gefährdeten Demokratie wie den USA, die der Roman schemenhaft spiegelt. „Was, wenn der Überwachungsapparat in die Hände von Diktatoren fällt“, fragt Hari Kunzru besorgt. „Wir, die Demokratie weltweit, befinden uns in einem gefährlichen politischen Moment“.
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Jun 6, 2024 • 4min

Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber

Die Stille ist allgegenwärtig. Die Einsamkeit lauert überall. Im belarussischen Wort „Samota“ fließen beide Bedeutungen zusammen. „Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“ heißt der neue und sehr leise Roman von Volha Hapeyeva im Untertitel. Im Mittelpunkt steht die Vulkan-Forscherin Maja. Sie kommt zu Beginn in einem abgelegenen Hotel des Instituts für Vulkanologie an, das irgendwo im europäischen Norden liegen könnte. Doch die Orts- und Zeitbestimmungen bleiben unscharf. Der umliegende Wald mit Wölfen, die nahe Kleinstadt, die Bibliothek mit einem geheimnisvollen Japan-Buch – all das ergibt eher eine mythische Landschaft im Nirgendwo als eine bestimmbare Gegend.   Die Ortlosigkeit des Exils  Diese Ortlosigkeit ist womöglich Ausdruck der Exilsituation, in der die belarussische Lyrikerin und Übersetzerin Volha Hapeyeva lebt. Während der Proteste gegen Diktator Alexander Lukaschenko in Minsk im Jahr 2020 hielt sie sich in Graz auf und kehrte nicht in ihre Heimat zurück. Stipendien in München und Berlin folgten. Dabei ist Hapeyeva keine dezidiert politische Autorin. Doch gerade ihr unaufdringlicher Ton, das Lob der Einsamkeit und die Verwunderung darüber, dass der Mensch allzu oft stumpf und mitleidlos agiert, machten sie zur Außenseiterin in einer kollektivistischen Gesellschaft – so wie Literatur generell das Misstrauen der Diktatoren dieser Welt hervorruft.   In der Bibliothek war es gemütlich und still. Manchmal suche ich solche Orte auf, um bei den Büchern zu sein, diesen schweigenden Gelehrten, die mich immer gern daran erinnern, was es auf der Welt doch alles gibt und was die Menschen nicht alles erinnern und erforschen.   Quelle: Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber Der Kongress der Tierpräparatoren  Den Büchern ist mehr zu trauen als den Menschen. Eher abstoßend wirkt zum Beispiel die seltsame Männerrunde, die sich im Hotel der Ich-Erzählerin versammelt. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Tierpräparatoren, die einen Kongress zur „Regulation von Tierpopulationen“ besuchen und dem Vortrag einer gefühlskalten japanischen Expertin lauschen. Sie stehen exemplarisch für eine Menschheit, die Lebewesen zu Objekten degradiert und ihren Zwecken unterwirft. Den Gegenpol dazu bildet die Tiertherapeutin Helga-Maria, eine Freundin Majas. Sie behandelt Angststörungen bei Hunden, erzählt Geschichten von weggelaufenen Hunden und Katzen und bekommt Liebesbriefe von einem jungen Mann namens Sebastian. Der wohnt in einer Pension und muss sich dort mit dem Wolfsjäger Meszaros auseinandersetzen, einer Figur, die in ihrer Grobschlächtigkeit einem finsteren Märchen zu entstammen scheint. Sebastian fragt sich:  Waren die Charakterzüge die Folge einer bestimmten Lebensweise oder waren sie angeboren, so dass der Mensch von Beginn an weder Freude noch Leid empfinden konnte und Mitgefühl für andere gänzlich fehlte.  Quelle: Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber Der poetische Gegenentwurf zu einer zweckbestimmten Ökonomie  Das Böse besteht für Volha Hapeyeva im Mangel an Empathie, wie es sich vor allem im Umgang mit Tieren ausdrückt. Gegenstand ihrer Kritik ist aber nicht nur das ausbeuterische Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern auch eine Wissenschaft, die „keine Individualität duldet“, weil sie das Leben „maximal vereinheitlicht“ und „von Emotionen befreit“. Das ist zwar durchaus richtig, aber auch ein wenig schlicht. Hapeyeva legt eben keine gesellschaftliche Analyse vor, sondern einen poetischen Gegenentwurf zur zweckbestimmten Ökonomie. Auch deshalb ist ihr Roman in einem mythischen Nirgendwo angesiedelt. Sie bringt darin ein zivilisatorisches Unwohlsein zum Ausdruck, erprobt aber noch nicht einmal ansatzweise Antworten auf die doch drängende Frage, woher Gewaltbereitschaft und Mitleidslosigkeit kommen. Das Empathie-Serum, das die leicht verrückte Helga-Maria entwickeln möchte, um die Menschen damit zu imprägnieren, ist zwar eine hübsche Idee, wird aber wohl kaum die Lösung sein.
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Jun 5, 2024 • 4min

Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne

Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen dar, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen? Quelle: Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Was wie eine vorsichtige Anfrage an diejenigen klingt, die jegliche Beschäftigung mit dem Fremden unter den Verdacht ‚kultureller Aneignung‘ stellen, ist ein Plädoyer für die Anverwandlung des ursprünglich einmal Fremden und damit für eine Ethnologie, die sich mit Interesse und ohne Überheblichkeit den außereuropäischen Kulturen widmet. In seinem Buch ‚Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne‘ plädiert der Ethnologe Karl-Heinz Kohl dafür, die Moderne nicht lediglich als ein europäisches Phänomen zu betrachten, das indigene Kulturen darauf reduziert, einer früheren Entwicklungsstufe anzugehören. Wirklich auf Augenhöhe könne man indes – um nur drei indigene Völker zu nennen – den brasilianischen Tupinambá, den Bewohner/-innen von Palau und Tahiti oder den Hopi im Südwesten der USA begegnen, wenn man sie nicht darauf reduziert, die europäische Tradition zu spiegeln. Stattdessen geht es um ihre jeweils eigenen Weltsichten.  Émile Durkheim und Sigmund Freud entdecken das Eigene im Fremden  Und in diesen Weltsichten ist einiges zu entdecken, was geeignet ist, die Vertreter europäischer Kultur bescheidener werden zu lassen. So zeigt Kohl, inwiefern der Stamm der Irokesen das politische System der USA, dieser am längsten bestehenden Demokratie der Welt, beeinflusst hat: Benjamin Franklin hatte sogar vorgeschlagen, den zunächst als Einkammersystem konzipierten amerikanischen Kongress in Analogie zum Großen Rat der Irokesen als Grand Council zu bezeichnen. Quelle: Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Und was die Gleichstellung der Frau angeht: die war bei den Irokesen seit jeher vorhanden, während in Europa so viele Jahrhunderte dafür gekämpft worden war. Aber nicht nur die Kultur nordamerikanischer Indigener lässt die Wurzeln der Moderne in einem neuen Licht erscheinen: Die Kritik an dem das europäische Denken nicht erst seit Darwin dominierenden Evolutionismus entstand durch die Erforschung der elementaren Formen der Religion, zu der Émile Durkheim durch die Beschäftigung mit den australischen Aranda motiviert wurde – ein Jahr später veröffentlichte Sigmund Freud seine Studien über Totem und Tabu, um „auf einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ aufmerksam zu machen.  Die Öffnung des europäischen Blicks auf eine Welt-Kultur  Es geht in der Tat um Übereinstimmungen und nicht um Überlegenheiten – dass der Begriff des Wilden dem Freud’schen Zeitkolorit geschuldet ist, versteht sich von selbst. Wie aber verhält es sich mit dem Begriff ‚Stamm‘ – ist der nicht genauso despektierlich? Unmissverständlich macht der Autor deutlich, dass es sich keineswegs um eine Bezeichnung herablassender Europäer über andere Völker handelt: Seine Verwendung gleich im ersten Satz der Weimarer Verfassung, die sich ‚das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen‘ im Jahr 1919 gab, zeigt, dass man es keineswegs allein auf die ‚Eingeborenenstämme‘ bezog. Quelle: Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Und waren es nicht die 12 Stämme Israels, deren Religion zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte geworden ist? Karl-Heinz Kohl lässt keinen Zweifel daran, dass der Beitrag der von ihm vorgestellten neun Stämme auf den verschiedenen Kontinenten dieses Planeten zu einer Welt-Kultur ebenso hoch zu schätzen ist.  Aktuelle Debatten und die Ignoranz gegenüber anderen Erinnerungsspuren  Aber noch etwas wird an diesem Buch über die unbekannteren Wurzeln der Moderne deutlich – nämlich welche Wege und Irrwege manche aufgeregte Debatte unserer Tage geht: Neben der bereits angesprochenen Frage der kulturellen Aneignung geht es auch um die postkoloniale Wahrnehmung kolonialer Vergangenheit: Die lange ignorierten deutschen Verbrechen an Nama und Herero bestimmen unseren Blick auf das frühere Deutsch-Südwest-Afrika und heutige Namibia; außereuropäische Kulturen nicht auf den Opferstatus zu reduzieren, vielmehr ihren Beitrag zur heutigen Gestalt einer Welt-Kultur zu zeigen, ist das Vorhaben dieses Buches – das ist gelungen!

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