SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jun 17, 2024 • 4min

Susan Sontag – Über Frauen

In einem Beitrag für die Frauenzeitschrift Libre schreibt Susan Sontag, die Befreiung der Frauen sei eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft. Der Aufsatz ist Teil des Essaybands „Über Frauen“, den Susan Sontags Sohn, David Rieff, jüngst publizierte. Er enthält die wichtigsten Aufsätze von Susan Sontag zum Thema Frausein. Die US-amerikanische Autorin widmet sich darin politischen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten und macht deutlich, wie sich unsere Vorstellungen von Geschlecht auf die Lebenswirklichkeit von Frauen auswirken. Eine kritische Beobachterin, die ihrer Zeit voraus war Sontag erweist sich dabei als kluge und aufmerksame Beobachterin der Gesellschaft. Wie ihre Bücher „Das Leiden anderer betrachten“ oder „Über Fotografie“ sind auch die Texte in diesem Band anspruchsvoll und doch gut verständlich. Sontag findet eine Sprache, die ihr eine präzise und wissenschaftlich fundierte Argumentation erlaubt und sich doch flüssig liest. Die Philosophin beweist ein weiteres Mal, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Die Denkmuster und Machtstrukturen, die sie in den USA der Siebzigerjahre offenlegte, lassen sich auch in der heutigen westlichen Gesellschaft beobachten. Keine Frage, Schönheit ist eine Form von Macht. [...] Beklagenswert ist jedoch die Tatsache, dass es die einzige Form von Macht ist, nach der zu streben Frauen ermuntert werden. Diese Macht definiert sich immer im Verhältnis zu den Männern: Es ist nicht die Macht, zu tun, sondern die Macht, Anziehung auszuüben. Es ist eine Macht, die sich selbst negiert. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Auch unbequeme Wahrheiten kommen ans Licht Susan Sontag scheut nicht davor zurück, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch solche, die vielleicht nicht gern gehört werden, etwa, dass die Befreiung der Frau unmittelbar an den Verlust männlicher Privilegien geknüpft ist. Oder dass Frauen zum Teil selbst an der Aufrechterhaltung repressiver Strukturen mitwirken. Manche Passagen sind durchaus brisant, etwa wenn die Autorin die Geschlechterdiskriminierung mit der Rassentrennung oder Kolonialzeit vergleicht. Alle Frauen leben in einer »imperialistischen« Situation, in der die Männer die Kolonialherren und die Frauen die Kolonialisierten sind. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Hier erweist sich eine Anmerkung der Autorin als hilfreich: Sie erläutert, dass der Beitrag in der sozialistischen Frauenzeitschrift Libre erschienen ist, was die revolutionär-sozialistische Rhetorik erklärt. Eine Kontextualisierung wäre auch bei dem Beitrag über die umstrittene Regisseurin Leni Riefenstahl hilfreich gewesen. Dieser weicht nämlich inhaltlich von den vorigen Texten etwas ab und befasst sich vor allem mit Ästhetik und Faschismus. Diskursfreude statt Dogmatismus Ein Briefwechsel mit der Dichterin Adrienne Rich zeigt, dass Sontag in der feministischen Szene umstritten war. Sie distanziert sich auch selbst von Teilen der Frauenbewegung und betont, dass sie ihre „Texte nicht von A bis Z in den Dienst der feministischen Sache gestellt“ habe. Sontag ist engagiert in der Debatte, schlagkräftig und selbstbewusst. Sie greift verschiedene Perspektiven auf, entkräftigt gekonnt gängige Klischees und benennt deutlich, was sich ändern müsste, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen: Die Demokratisierung der Familienarbeit ist einer der erforderlichen Schritte, um die repressive Definition der Rollen von Ehemann und Ehefrau, Mutter und Vater zu verändern. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Der Band knüpft also eng an heutige Diskurse an und ist beinahe erschreckend aktuell. Darüber hinaus können wir von der Philosophin einiges lernen, was den Umgang mit kontroversen Themen und festgefahrenen Debatten betrifft. Meiner Ansicht nach verdient nur eine kritische, dialektische, skeptische, jeder Vereinfachung entgegenwirkende Intelligenz, verteidigt zu werden. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Wer entlang von Parteilinien denkt, so Susan Sontag weiter, produziere nichts als „intellektuelle Monotonie und schlechte Prosa“.
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Jun 16, 2024 • 5min

Annie Ernaux – Eine Leidenschaft

Die Geschichte, die Annie Ernaux in „Eine Leidenschaft“ erzählt, meint man schon unzählige Male gelesen zu haben: eine Frau hat eine Affäre mit einem Mann und gerät in Abhängigkeit von ihm. Die beiden haben Sex, sie wartet sehnsüchtig auf ihn, er benutzt sie. Aus lauter Angst, seine Anrufe zu überhören, wagt sie nicht, staubzusaugen oder die Haare zu föhnen, ja, sie traut sich kaum aus dem Haus. Nur die Zeit, die sie mit A. – so heißt er – verbringt, zählt. Ich schreibe keinen Bericht über eine Affäre, ich schreibe keine Geschichte mit einer präzisen Chronologie … Für mich gab es so etwas in dieser Beziehung nicht, ich kannte nur An- oder Abwesenheit. Quelle: Annie Ernaux – Eine Leidenschaft Die Ich-Erzählerin der knapp achtzig Seiten kurzen Geschichte ist unschwer als alter Ego der Autorin zu erkennen. Sie ist geschieden, Mutter zweier Söhne, ungefähr Mitte vierzig, beruftstätig. Wie sie A., - Zitat - „einen Ausländer“ kennengelernt hat, erfahren wir nicht. Er kommt aus Ost-Europa, ist etwas jünger als sie, verheiratet und erinnert, so heißt es im Text, an Alain Delon. Die Affäre erstreckt sich über ein gutes Jahr. „Ich habe das gelebt. Ich habe alles komplett akzeptiert, was so eine Leidenschaft bedeutet: Der Mann ist verheiratet, ist also nicht mehr frei und unterliegt Zwängen. Das habe ich akzeptiert und diese Leidenschaft als eine wunderbare Erfahrung wahrgenommen und nicht als Entfremdung. Ich würde sagen, letztendlich ist es ein Luxus, wenn man eine Leidenschaft leben kann.“  Annie Ernaux, hier in einem Interview im französischen Fernsehen aus dem Jahr 1992, hat fast alle Phasen ihres Lebens – die Eltern, die verstorbene Schwester, die Abtreibung, die soziale Herkunft – in Literatur verwandelt. Auch „Eine Leidenschaft“ ist ein autofiktionaler Text, in dem die „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich bezeichnet, in ihrer schnörkellosen Sprache, ohne Pathos und Larmoyanz, das Private mit dem Gesellschaftlichen verknüpft. Eines der Hauptthemen ihres Werkes, das Zerrissensein zwischen den gesellschaftlichen Klassen, streift sie in diesem Roman nur ganz kurz. Wie in all ihren Büchern skizziert sie mit knappen Strichen die Zeit, in der die Geschichte spielt, die ausgehenden 1980er Jahre: sie erwähnt den Fall der Berliner Mauer, die Unruhen in Algerien und hört Sylvie Vartans Chanson „C’est fatal, animal“ das – passenderweise - von einer wilden, leidenschaftlichen Liebe erzählt. „Ich habe mich zuweilen gefragt: ist das jetzt eine Art Geständnis, wie man sie in manchen Frauenzeitschriften findet? Das Protokoll einer Passion? Ein Manifest der Leidenschaft? Das ist es ja in gewisser Weise. Aber wie dem auch sei - ich hatte das Bedürfnis, alles zu erzählen. Denn zweifelsohne gibt es diesen heimlichen Wunsch: wenn man etwas sehr Schönes erlebt hat, liegt die wahre Vollendung vielleicht darin, darüber zu schreiben.“ In Frankreich hat Annie Ernaux ihren kleinen Roman 1991 veröffentlicht und für Aufsehen gesorgt. Gut dreißig Jahre später hat die Geschichte allerdings nicht mehr die gleiche Brisanz wie damals. Eine Frau schreibt über ihre Affäre, über Sex und ihre Abhängigkeit von einem eigentlich Unbekannten - das ist nichts Neues mehr. Aber Annie Ernaux wäre nicht Annie Ernaux, wenn ihr dabei nicht etwas Anderes am Herzen läge: das Schreiben als Frau über ein Thema, das meist Männern vorbehalten ist. In ihrer Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises hatte Annie Ernaux gesagt, es gehe ihr darum, den Zorn auf den diskriminierenden Umgang mit Frauen und die Wertschätzung des eigenen Körpers auszudrücken. Dafür ist „Eine Leidenschaft“ ein gutes Beispiel. Wie auch der im letzten Jahr auf Deutsch erschienene Kurztext „Der junge Mann“, in dem sie eine Affäre mit einem dreißig Jahre jüngeren Studenten beschreibt. In beiden Geschichten erinnert sich Annie Ernaux an das traumatische Erlebnis einer illegalen Abtreibung. In „Eine Leidenschaft“ kehrt sie - nachdem A. in sein Land zurückgekehrt ist, - in das Haus zurück, in dem sie damals, als junge Studentin, eine sogenannte Engelmacherin aufgesucht hat. Ihr Fazit: Ich ging zurück zur Station Malsherbes und nahm die Metro. Dieser Schritt hat nichts geändert, aber ich war froh, ihn gegangen zu sein, noch einmal mit dem Gefühl absoluter Verlorenheit in Kontakt getreten zu sein, deren Ursache auch damals ein Mann gewesen war. Quelle: Annie Ernaux – Eine Leidenschaft 2004 gab es bereits eine Übersetzung, die Annie Ernaux‘ Roman in der Ecke erotischer Frauenliteratur platzierte: „Eine vollkommene Leidenschaft. Die Geschichte einer erotischen Faszination.“ Diese Ecke, in die sie ja nie gehört hat, hat die Autorin längst verlassen. Die Neuübersetzung von Sonja Finck hat dazu beigetragen.
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Jun 16, 2024 • 11min

Paula Irmschler – Alles immer wegen damals

Karla ist ein richtiger „Drinnie“: Am liebsten ist sie für sich, putzt, mistet aus und verbringt Zeit mit ihrer Freundin. Aber so einfach ist es nicht. Die Ausbildung in Köln lässt sie schleifen, ihre Freundin studiert weit weg in Leipzig und dann sind da noch die vielen Ticks und Neurosen, die Karla hat. Und der Streit mit ihrer Mutti Gerda, mit der hat sie seit zwei Jahren nicht gesprochen. In „Alles wegen damals“ zeichnet Paula Irmschler eine komplizierte Mutter-Tochter Beziehung und entlarvt den „Ostfrauen-Mythos“ auf liebevolle Weise.
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Jun 16, 2024 • 7min

Tobi Dahmen – Columbusstraße

Columbusstraße 7 in Düsseldorf. In der hohen, schlanken Villa mit Erker und Fachwerkgiebel lebt Rechtsanwalt Karl Dahmen mit seiner Familie. Im imposanten Eckhaus schräg gegenüber: die Parteizentrale der NSDAP. Sehr zum Missfallen des Rechtsanwalts, einem überzeugten Katholiken und ehemaligen Mitglied der Zentrumspartei. Es ist das Jahr 1935, vier Jahre später wird Karl Damen die unliebsamen Nachbarn aufsuchen, um seine Mitgliedschaft bei der Partei zu beantragen. Woher dieser Gesinnungswandel, mit welchen Parolen, welchen Versprechungen konnten die Nazis die Menschen erreichen? Es sind gerade solche Fragen, die viele Jahrzehnte später den Enkel und Comiczeichner Tobi Dahmen bei der Erforschung seiner Familiengeschichte angetrieben haben: Das ist keine Geschichte einer strammen Nazifamilie. Das glaube ich schon behaupten zu können. Aber eben eine Familie, die wie so viele so langsam immer weiter in diese Zahnräder dieses Regimes hineingezogen werden, weil alles andere mit großer großer Gefahr verbunden gewesen wäre. Quelle: Tobi Dahmen Ein wertvoller Fund: Fotos und Briefe im Nachlass des Vaters Tatsächlich hat der Druck auf den Großvater, der anfangs noch Regimegegner vertreten hat, stetig zugenommen. Als der Rechtsanwalt eine obdachlose Familie lautstark in der Öffentlichkeit verteidigt, wird er zur Gestapo vorgeladen. Man macht ihm klar, dass er auf der Liste und unter Beobachtung steht. Als er schließlich seine Zulassung verliert, sieht er sein Heil darin, unter die Fittiche der Partei zu kriechen. Es ist eine Mischung aus Verzweiflung, Demütigung und Scham, die Tobi Dahmen seinem Großvater ins Gesicht gezeichnet hat. Den Anstoß für diese eindrucksvolle Graphic Novel gab ein Verlust: der Tod seines Vaters, eines letzten Zeitzeugen. Auf einer längeren Zugfahrt habe dieser von seinen Erinnerungen an die NS-Zeit erzählt, meint Tobi Dahmen. Im Nachlass des Vaters entdeckte er dann eine große Schachtel, die ursprünglich für Unterwäsche gedacht war: Da waren Briefe aus dem ersten Weltkrieg drin von meinem Großvater. Und da war so ein kleinerer Stoß mit Briefen meiner Onkels von der Ostfront. Dann dass da noch Fotoalben auftauchten. Da hat man wirklich gesehen, wie so ein Leben von fröhlichen Urlauben am Timmendorfer Strand und Kinderbildern bis zum Abitur schließlich in so einer Soldatenkarriere mündet, was seit 33 vorgegeben war. Das hat einen dann sehr betrübt, wie vorgegeben so ein Leben war und dann auch sein Ende gefunden hat. Quelle: Tobi Dahmen Das „Mini-Universium“ Familie in der großen Weltgeschichte Diese sehr persönlichen Momentaufnahmen hat Autor Tobi Dahmen zum Ausgangspunkt einer fundierten historischen Recherche gemacht, geht es ihm doch darum, „in einem Mini-Universum die große Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu erzählen“. Und er macht das, indem er Wert selbst auf das kleinste Detail legt. Ein Beispiel: Der jüngste Sohn in der Columbusstraße, Karl-Leo, 1932 geboren und Vater des Comiczeichners, wird 1943 wegen der heftigen Bombenangriffe auf Düsseldorf nach Villingen aufs Land geschickt. Er darf unbeschwerte Tage in der Natur erleben. In einem Brief an die Eltern berichtet er, dass er Heilkräuter sammeln war. Kein schlichter Zeitvertreib, denn ab 1938 musste jedes Schulkind pro Jahr zwei Kilo getrocknete Heilpflanzen abliefern für Wehrmacht und Sanitätswesen. Ein Erlass, der zeigt, wie das System alle Bereiche der Gesellschaft selbst auf unterster Ebene für sich zu nutzen wusste. Ein umfangreiches Glossar am Ende der Graphic Novel klärt über all diese Zusammenhänge und viele andere Personen auf. Der Abgleich der Familienerzählungen mit der Realität war für Tobi Dahmen mit sehr ernüchternden Erkenntnissen verbunden: Mein Großvater war sehr katholisch, sehr streng. Gleichzeitig war er Patriot, wie die meisten Leute, glaube ich. Und leider finden sich in einem Brief auch antisemitische Denkweisen, die ich dann auch wieder aus dem Alltagsrassismus wiedererkenne, der uns heute so begegnet. Ich glaube nicht, dass das so ein rassischer Antisemitismus war, sondern eher aus einem gläubigen Hintergrund. Aber natürlich findet man so was nicht schön. Aber ich wollte das auch nicht unter den Teppich kehren wie so viele das getan haben. Ich habe das dann in einen Dialog mit seinem Sohn eingebaut. Quelle: Tobi Dahmen Die Konfrontation mit Flecken in der eigenen Familiengeschichte Die Graphic Novel war schon auf dem Weg in den Druck, als Tobi Dahmen vom Stadtarchiv noch auf einen weiteren dunklen Fleck in der Familiengeschichte aufmerksam gemacht wurde.  Der Großonkel in Wesel, ein Arzt, hatte offensichtlich davon profitiert, dass er seine Praxis von einem jüdischen Kollegen übernehmen konnte. Der Großvater wiederum hatte ein ähnliches Angebot ausgeschlagen. Judenverfolgung und Holocaust hat der Comic-Zeichner so in Szene gesetzt, wie sie für die Zeitgenossen damals sichtbar wurden. Und das war nicht zu übersehen, betont Tobi Dahmen: Darüber hinaus waren die Pogrome in Düsseldorf so massiv. Das hat jeder mitbekommen. Und so habe ich halt die Reflektion eines zerstörten Spielzeugladens in einer Straßenbahnscheibe gezeichnet, die mein Großvater dann bemerkt. Das ist aber tatsächlich was, was jeder mitbekommen hat. Das Foto stand sogar in der Zeitung. Das Mantra nach dem Krieg war ja, wir haben von nichts gewusst. Aber wenn man sich das Maß der Zerstörung anschaut in Düsseldorf, dann kann man das nicht behaupten. Quelle: Tobi Dahmen Tiefenschärfe auch in den Zeichnungen Der Genauigkeit und der Tiefenschärfe bei den Fakten entspricht die zeichnerische Umsetzung in sehr detaillierten Bildern. Reale Dokumente – wie Briefe oder Einberufungsbescheide – sind wie Fotos in die Szenen integriert. Viel Wert legt Tobi Dahmen auf die exakte Architektur der Städte und Plätze, die er als „Zeitzeugen aus Stein“ betrachtet. Alte Fotos und Straßenpläne wurden dabei zur Grundlage seiner Zeichnungen, die aus holzkohleartigen, grauen Strichen bestehen. Nicht schwarz-weiß, aber mit ganz vielen Grautönen. Wir versuchen uns das immer so ganz eindeutig vorzustellen. Das waren die Nazis und die Mitläufer und das die Gruppe der Widerstandskämpfer. Aber es ist natürlich ein sehr viel diffuseres Bild. Quelle: Tobi Dahmen Differenziert, packend – eine sehr bewegende Erinnerungsarbeit Und genau das macht diese Graphic Novel so wertvoll: sie eröffnet viele Schauplätze, wechselnde Perspektiven und lässt Raum für eigene Schlussfolgerungen und Bewertungen. Immer wieder leuchtet Tobi Dahmen über die Briefe seiner Onkel auch die Geschehnisse an der Front und in den Lagern – in Russland, in Italien, in Nordafrika – aus. Sein damals 11jähriger Vater wird im süddeutschen Villingen bei der Familie des Organisten Ewald Huth untergebracht, der das Unterdrückungssystem der Nazis öffentlich anprangert. Allerheiligen 1944 wird er wegen Wehrkraftzersetzung auf der Stuttgarter Dornhalde erschossen. „Columbusstraße“ ist ein starker Beweis dafür, dass gerade (auch) ein Comic Erinnerungskultur sein kann – differenziert, packend und sehr berührend.
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Jun 16, 2024 • 11min

Isabel Waidner – Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Die im Schwarzwald geborene Isabel Waidner definiert sich selbst als non-binär, lebt und arbeitet seit langem in London und hat schon in ihrem Debütroman „Geile Deko“ von 2020 bewiesen, dass sie für queeres Dasein und Erleben eine neue, andere Sprache entwickeln kann. Auch in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“, der mit zweijähriger Verspätung nun auf Deutsch erscheint, steht die Freundschaft zweier queerer Menschen im Zentrum des oft surrealen Geschehens: Sterling Beckenbauer ist Kind des hier homosexuellen Franz Beckenbauer, der an AIDS verstorben ist. Sterling und Chachki Smok haben zusammen eine Performance-Gruppe, die „Cataclysmic Foibles“, mit der sie, in Drachenkostüme aus Schaumstoff gekleidet, eine Art „Anti-Theater“ in Chachkis Wohnzimmer betreiben. Rettung durch Freundschaft und Science-Fiction Als Sterling Opfer eines queerfeindlichen Gewaltangriffs wird, finden sich die Charaktere in einer alptraumartigen Situation wieder, in der Sterling angeklagt und verhaftet wird und befreundete Mitstreiter:innen spurlos verschwinden. Rettung kommt durch eine Zeitreisefunktion in einem Raumschiff, das die Geschehnisse zurückdrehen kann. Die Geschichte wird neu geschrieben. Neuerfindung von Sprache für queeres Erleben Isabel Waidner hat einen bewegenden und widerständigen Roman über queeres Dasein geschrieben, sagt SWR Kultur Literaturkritikerin Eva Marburg. Der Roman erfinde und verwende eine kreative, assoziative und formsprengende Sprache, die sich außerhalb der binären Denkweisen und Zuweisungen bewege. Der Roman nehme viele Bezüge aus dem Reservoir der Literatur- und Kunstgeschichte, etwa wenn die Gerichtsszene in ihrer Surrealität an Franz Kafkas „Prozess“ angelehnt ist und in der Tierfiguren aus Hieronymus Boschs Bildern agieren. Starke Revolte Mit diesen künstlerischen Strategien setze das Buch der realen Gewalt der binären und normkonformen Welt - die nicht nur unterdrückerisch, sondern in vielen Fällen auch tödlich ist - eine queere Lebendigkeit als Widerstand entgegen. „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ sei ein bewegendes Buch über queere Revolte – ein Buch über Freundschaft, Solidarität, Allianzen und Rache. Besonders lesenswert!
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Jun 16, 2024 • 6min

Hiroko Oyamada – Das Loch

Ich bin mit meinem Mann hierher aufs Land gezogen Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch – so beginnt der Roman „Das Loch“ von der japanischen Autorin Hiroko Oyamada. Doch von Idylle keine Spur. Vielmehr entpuppt sich das Landleben für die 30-jährige Asahi als ein Mix aus zu viel Tagesfreizeit und bizarren Zwischenfällen. Eine mäandernde Sommergeschichte, zwar knapp gehalten, aber ohne zwingende Dramaturgie. Das beginnt schon damit, dass Asahi gemeinsam mit ihrem Mann in ein Haus zieht, das neben dem seiner Eltern steht. Bloß war ihr dieses Haus vorher nie aufgefallen. Stand es wirklich schon früher da? Und warum wurde ihr nie erzählt, dass ihr Mann einen älteren Bruder hat, der im Gartenhaus wohnt, ein Hikikomori-Einsiedler? Oder bildet sie sich diesen Bruder bloß ein? Und was arbeiten ihre Schwiegereltern eigentlich? Ständig sind sie weg. Meinem Schwiegervater war ich noch nicht so oft begegnet. Er war zu unserer Verlobungsparty und zur Hochzeit gekommen. Ich hatte ihn auch im Sommer zu Obon gesehen und als wir Neujahr zu Besuch gewesen waren, aber ich hatte keinen richtigen Eindruck von ihm, da meist meine Schwiegermutter die Unterhaltung bestritt. Er war längst im Rentenalter, aber in irgendeiner Funktion arbeitete er noch, vielleicht in einem Aufsichtsrat. Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch Reimt sich Asahi zusammen. Sie weiß kaum, wie der Schwiegervater aussieht, was an die groteske Erzählung „Feierabend“ des Koreaners Cheon Myeong-kwan erinnert (zu finden in der Zeitschrift „Krachkultur“). Darin lebt ein Familienvater nur noch im Büro und im Restaurant. Sein Sohn denkt, er habe die Familie vor vielen Jahren verlassen, doch es ist anders: Papa hat einfach bloß nie Feierabend. Desperate Housewife Asahi kennt ihren Ehemann kaum Auch desperate housewife Asahi weiß nicht genau, was ihr Mann tagsüber tut, wo er arbeitet und was er ständig am Handy tippt, wenn er denn mal zuhause ist. Sie fragt auch nicht nach. Überhaupt fragt keiner keinen irgendwas. Von einem Antrittsbesuch bei den Nachbarn rät die Schwiegermutter der zugezogenen Asahi ebenfalls ab: Die Nachbarn haben bestimmt anderes zu tun. Gelegentlich werden Hiroko Oyamadas Kurzromane mit Kafka verglichen, an dessen 100. Todestag gerade weithin erinnert wurde. „Das Loch“ ist ihr erster Roman auf Deutsch. Auf Englisch gibt es außerdem „The Factory“ – über den Alltag in einer immensen Fabrik – und „Weasels in the Attic“ – über ein abgeschiedenes Haus in den Bergen mit Wiesel-Plage. Am Kafka-Vergleich ist was dran, denn auch Oyamadas Figuren verstehen ihre Umgebung nicht, sind Arbeits- und Familienstrukturen oft ungut unterworfen. Allerdings fehlt ihnen dabei das Verzagte, Gequälte, das Kafkas Figuren oft haben. Oyamada schreibt Grusel ohne Schrecken. Ich fiel in ein Loch. Ich fiel mit den Beinen zuerst und landete mit beiden Füßen auf dem Boden. Erstaunt blickte ich in das Schilf, das nun auf Augenhöhe stand, aber das Tier war darin verschwunden, eine Weile raschelte es noch, dann hörte ich nichts mehr. Direkt neben meinem Gesicht sprang ein Schnellkäfer aus dem Grün hervor. […] Schmerzen hatte ich keine. Das Loch reichte mir bis zur Brust, es musste etwa einen Meter tief sein. Ich passte gerade hinein, so eng war es, um mich herum war kaum Platz. Es war wie geschaffen für mich. Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch Von wilden Hunden und grölenden Kindern Es ist ein schwarzes Tier, dem sie neugierig folgte. Hundeähnlich. Kein Zufall, dass es ausgerechnet am Fluss entlangläuft und dass sich dort auch das Loch befindet. In Oyamadas Geschichten spielen Flüsse eine besondere Rolle. Auch im Roman „The Factory“ fließt ein belebender Fluss durchs Firmenareal, und in ihrer eigens für das internationale literaturfestival berlin 2021 geschriebenen Geschichte „Das Biotop“ wird aus einem künstlichen Dachgarten-Geplätscher ein reißender Strom. Im Roman „Das Loch“ nun herrscht am Fluss fröhliche Anarchie. Wuchernde Pflanzen, zirpende Insekten – und auch viele Kinder, deren Haarschöpfe nicht zufällig an das rätselhafte Tier erinnern. In dem Gebüsch am Deich zeigte sich hier und dort etwas Schwarzes und verschwand wieder. Es waren die Köpfe von noch mehr Kindern. Hatten sie keine Angst, sich an dem Schilf zu schneiden? Oder vor Zecken? Inmitten dieser Festung aus Gewächsen, die sie um einiges überragten, spielten sie ein Spiel, dessen Regeln ich nicht durchschaute. Ab und zu sprang eins der Kinder aus dem Dickicht hervor und schrie etwas, worauf die anderen Kinder vor Lachen grölten. Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch Zuhause bei Mama und Papa Wüst sind diese Kinder, auch weil sie ständig irgendwas mampfen oder sich im 7-Eleven-Supermarkt breit machen und alle Mangas kostenlos lesen. Die kinderlose Asahi ist befremdet und fasziniert zugleich. Einerseits ist sie eine dieser typischen japanischen Frauenfiguren, die wenig entscheiden und meist zuhause bleiben. Yoko Ogawa, Mieko Kawakami und Sayaka Murata sind bekannt für Rückzugsromane dieser Art. Aber auch die Koreanerin Cho Nam-Joo hat mit „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ gerade wieder einen Roman über eine junge Frau geschrieben, die nicht arbeiten, sondern lieber bei ihren Eltern bleiben will. Hiroko Oyamadas Erzählerin rafft sich schließlich doch noch auf und sucht sich einen Job als Verkäuferin mit Laden-Uniform. Eine farblose Wendung. Wie die Autorin auch aus dem schwarzen Tier, dem versteckten Schwager und den wilden Kindern mehr hätte machen können. Da fehlt es noch an Dramaturgie. Dennoch bezaubern ihre fantasievoll-fluiden Texte, denn sie erzählen den Übergang zwischen gebändigter und ungezähmter Natur. Sie überraschen in ihrer poetischen Bildlichkeit, und man kann sie auch als einen Kommentar auf den ökologischen Zustand unserer Welt lesen.
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Jun 16, 2024 • 55min

lesenswert Magazin: Neue Bücher für die Halbzeit

Fußball EM und Pride Month prägen diesen Juni. Und es gibt auch Verbindungen zu neuen Büchern von Isabel Waidner, Paula Irmschler und Hiroko Oyamada. Surreale Welten Traumhaft und surreal ist das Leben in Hiroko Oyamadas Roman „Das Loch“. Eine junge Frau folgt einem schwarzen Tier und fällt in ein Loch – Alice im Wunderland lässt grüßen! Ebenfalls surreal und dazu queer ist der Roman „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ von Isabel Waidner. Im Mittelpunkt: Sterling Beckenbauer, dessen Vater ein homosexueller Franz Beckenbauer ist. In London wird Sterling Opfer von queerfeindlichen Stierkämpfern. Ein Angriff, der alptraumhafte Folgen hat. Acht Jahre lang arbeitete der Illustrator Tobi Dahmen an seiner Graphic Novel „Columbusstraße“. Darin erzählt er sehr persönlich die Geschichte seiner Familie in der Zeit des Nationalsozialismus. Herausgekommen ist eine vielschichtige und bestürzend aktuelle Graphic Novel. „Ostfrauen-Mythos“ liebevoll entlarvt „Meine Figuren sind keine Stellvertreterinnen für ihre Biographie“, sagt Satirikerin und Autorin Paula Irmschler über ihren Roman „Alles immer wegen damals“. Wir sprechen mit ihr über die komplizierte Mutter-Tochter-Geschichte und entlarven den Mythos „Ostfrau“. Es gibt wieder eine Neuübersetzung von Annie Ernaux: „Eine Leidenschaft“ ist ein schmales Büchlein, das von einer schmerzlichen Affäre erzählt. Musik: Billie Eilish – Hit me hard and soft, Label: UNIVERSALThe Cranberries – No need to argue, Label: Island RecordsFrançoise Hardy – Salut les idoles, Label: MUSIDISC
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Jun 13, 2024 • 4min

Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit

Stefan Zweig, der Kosmopolit, verstand die Welt nicht mehr:   Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. […] Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden.  Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Mit diesem Auszug aus Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ beginnt Tara Zahra ihr Buch „Gegen die Welt“, ihre Geschichte über „Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit“. Doch die Historikerin interessiert sich nur einleitend für die Perspektive des österreichischen Schriftstellers.  Erste „Globalisierung“ verschärft Ungleichheiten massiv  Im Zentrum ihrer Analyse steht viel mehr das, was Zweig und andere fortschrittsgläubige Internationalisten auf ihren Oberdecks nicht sahen: Nämlich die Ausbeutung und Drangsalierung der Reisenden in den Unterdecks.  Vor dem Ersten Weltkrieg konnten Zweig und [John Maynard] Keynes vor allem deshalb frei von bürokratischen Hindernissen durch die Welt reisen, weil sie wohlhabende, gebildete, weiße Europäer waren. […] Die Welt hatte vor 1914 durchaus nicht allen gehört, wohl aber Menschen wie Keynes und Zweig. Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Die erste „Globalisierung“, die massive Ausdehnung von Welthandel und Arbeitsmigration im späten 19. Jahrhundert, hatte ihre Gewinne höchst ungleich verteilt, schreibt Zahra, und dabei enormen Unmut auf sich gezogen. Die Versorgungskrise durch den lahmgelegten Welthandel während des Ersten Weltkriegs verschärfte insbesondere in Mitteleuropa das Misstrauen gegen die wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Spanische Grippe mit ihren Millionen von Toten ließ Einwanderung auf einmal als öffentliches Gesundheitsrisiko erscheinen. Der Quarantänezustand, einmal eingeübt, blieb aufrecht. Und die Weltwirtschaftskrise gab dem geschwächten System der internationalen Zusammenarbeit den letzten Rest.  Antiglobalistische Bewegungen beginnen an der Basis  Tara Zahra interessiert sich weniger für die viel beschriebenen ideologischen Kämpfe dieser Zeit. Ihr Fokus liegt auf dem Rückzug von der Welt, der in allen politischen Lagern schlüssig erschien. Ob im faschistischen Italien, im konservativen Österreich oder in den USA unter Roosevelt: Allerorts verfolgten Regierende eine Strategie der nationalen Souveränität, der Selbstversorgung, der „inneren Kolonisation“ und der massiven Beschränkung von Zu- und Abwanderung. Sie reagierten damit laut Zahra auf Druck aus dem Volk.  Antiglobalistische Bewegungen beginnen typischerweise an der Basis, mit aus der Masse kommenden Forderungen nach Land, nach Nahrung oder nach einer Entlastung von der Instabilität und Ungleichheit, die mit der Weltwirtschaft assoziiert werden. Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Fast überall scheiterten die Versuche einer nationalen „Autarkie“ kläglich, urteilt Zahra, wenn sie nicht gar, wie im Fall Nazideutschlands, in einen beispiellosen Vernichtungskrieg um sogenannten Lebensraum mündeten.   Irritierende Parallelen zum Heute  Über die Biographien sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten – vom tschechischen Schuhmogul Tomáš Baťa bis zur New Yorker Krankenschwester Lilian Wald – nähert sich die Autorin dieser Ära der „Deglobalisierung“, die uns irritierend vertraut erscheint. Zahra macht keinen Hehl daraus, dass die Phänomene und Entwicklungen der Gegenwart – Trump, Brexit, Flüchtlingskrise, zuletzt Covid -–  ausschlaggebend für ihr Erkenntnisinteresse waren.   Die Vergangenheit soll uns helfen, die Gegenwart besser zu verstehen. In diesem Fall war ich jedoch eher überrascht, wie sehr die Gegenwart meine Sicht der Vergangenheit veränderte. […] Ich hoffe, dieses Buch wird einiges Licht auf die Vergangenheit und die Gegenwart werfen und seine Erkenntnisse reichen über den Augenblick hinaus, in den sie so eindeutig eingebettet sind.  Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Erkenntnisreich ist dieses Buch. Aber nicht nur das. Die originelle Konstruktion und Zahras prägnante Sprache verleihen dem schwierigen Stoff und der komplexen Argumentation eine wundersame Leichtigkeit. Dem Sog dieser großen, weltumspannenden Erzählung kann man sich nicht entziehen.
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Jun 12, 2024 • 4min

Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch

Dorothy Parker ließ nur selten eine Rechnung offen. Und da sie sich schon mit siebzehn als Dichterin einen Namen gemacht hatte, zahlte sie vornehmlich mit Worten, am liebsten pointiert, witzig und gerne ätzend. Kaum hatte ihre erste Ehe mit einem Börsenmakler genügend Risse bekommen, brachte sie ihre Verachtung für das Geld und seine Besitzer in lustigen Versen zum Ausdruck.  Wer dem Mammon hörig ist,  Muss ein armes Hascherl sein,  Geld ist letztlich großer Mist -  Trichter das dem Krämer ein.   Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Chronistin des Jazz Age  Dorothy Parker brachte den Zeitgeist der Zwanziger Jahre mit all seinem Glanz auf den Punkt und markierte zugleich mit spitzer Feder seine komischen und bitteren Seiten. Ihre verstreut in Zeitschriften veröffentlichten Gedichte, die nun unter dem Titel „Unbezwungen“ in einem Band versammelt sind, stammen aus den Jahren 1916 bis 1938.   Dem meist spöttischen Blick der Schriftstellerin entging kaum etwas, gleich, ob es sich um Alltagsgeschwätz, Kulturfehden, den Lifestyle der Reichen und Eingebildeten oder den neuen kessen Frauentyp der Flapper mit Bubikopf und kurzen Röcken handelte.   Der Flapper stellt verspielt sich dar,  Bildschön und singulär. Sie ist nicht mehr, wie Oma war -  Eher denkt man, au contraire.  Witz, Geist und Abgründe der Melancholie  Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Obwohl nicht alle über ihre Witze lachen konnten, wurde Parkers Ruhm mit dem Superlativ „die geistreichste Frau Amerikas“ gekrönt. Allerdings spielte ihr Humor oft ins Tiefschwarze hinein, genauso wie ihre Melancholie sich mehr als einmal zu Selbstmordversuchen steigerte. Ihr Liebesleben war bewegt und stürzte sie oft genug in einen Tumult aus Glück und Unglück. Das schärfte ihr Gespür für Liebesqualen jeder Art.   Hab ich's mit meiner Technik versiebt?  Das frage ich mich bis ins Grab.  Schlau bin ich, schwach und schnell verliebt -  Warum krieg ich keinen Lover ab?  Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Ulrich Blumenbachs Übersetzung ist eine Gratwanderung. Es ist bestimmt richtig, dass er die Reimformen erhalten hat, die für Tonlagen und Rhythmus entscheidend sind. Für diese schwierige Aufgabe hat er oft gute Lösungen gefunden, nicht selten aber knirscht es im Klangbild und im Bedeutungsgefüge recht vernehmlich. Doch da die Gedichte zweisprachig abgedruckt sind, lässt sich das verschmerzen.  Abrechnung mit allem und jedem  Das ganze Spektrum von Parkers Lust an satirischen Abkanzelungen ist in ihren explizit so genannten „Hassversen“ zu bewundern. Da bleibt nichts und niemand verschont, egal ob es sich um Frauen, junge Männer, schlaue Bücher, Partys oder Ferienparadiese handelt.   In der Regel loben die Gäste die Landschaft über den grünen Klee  Und haben nur Gutes über die Luft zu sagen. - Sie können sie geschenkt haben. Ich hasse Ferienparadiese;  sie verhageln mir den Urlaub.   Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Es ist erstaunlich und amüsant, wie viele Parallelen zwischen den rasanten Modernisierungen von damals und heute in diesen Gedichten sichtbar werden. Parkers Daseinsgefühl mit all seiner Überreiztheit und Verletzlichkeit lässt sich auch aus gegenwärtiger Sicht sehr gut nachempfinden.
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Jun 11, 2024 • 4min

Tanja Raich (Hg.) – Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert

Im Vorwort schreibt die Herausgeberin Tanja Raich:     Freiheit. Es ist ein Wort, das beschadet und beschmutzt ist, das an den mörderischen Hohn im KZ erinnert, rechter Kampfbegriff geworden ist, Parole für jeden noch so kleinen Anlass, selbst wenn es um einen Impfstoff oder um die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn geht, ist am Ende wieder von Freiheit die Rede. (…)  Quelle: Tanja Raich (Hg.) – Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert Freiheit. Das ist dieses Wort, das trotz allem treffend formuliert, wofür wir kämpfen müssen und wofür es sich zu kämpfen lohnt.   Möglichkeiten und Abgründe von Freiheit  Das nimmt einen sofort ein für diesen Band: dass jemand nicht nur die Möglichkeiten sieht, sondern auch die Abgründe, die sich hinter diesem großen Wort „Freiheit” verbergen.  Für die Sammlung hat Tanja Raich 20 Menschen eingeladen, darüber zu schreiben, was für sie „frei-sein“ bedeutet.   Es sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller dabei: Anna Kim, Franziska Hauser oder Deniz Utlu und Autoren und Autorinnen, wie Çigdem Akyol oder Linus Giese, die bisher mit Sachbüchern aufgefallen sind, aber auch Künstlerinnen, wie Sophia Süßmilch, die vor allem bildnerisch arbeitet, oder Aktivist*innen, wie Marlene Engelhorn.   Diese Mischung ist einerseits gut, weil sie ein breites Spektrum an Haltungen, Geschlechtern, Klassenzugehörigkeiten und Herkünften abdeckt; aber die Ausdruckskraft, die Stringenz, die Zuspitzung der Texte ist dementsprechend heterogen. Maßgeblich auch die Qualität.   Franziska Gänsler etwa schreibt ihren sehr persönlichen Essay Horse Power als wilden Ritt durch Literatur, Kino, Kunst, Kindheitserinnerung, Mutterschaft, Träume und Psychoanalyse, und irgendwie geht nichts zusammen – aber doch alles, weil sie eine gute Schriftstellerin ist, die unter dem Motto Freiheit & Kraft ihre eigenen Möglichkeiten als Frau auslotet, die im Traum auch ein Hengst sein kann.  Freiheit in verschiedensten Kontexten   Überhaupt sind die Motti, die jedem Text angefügt sind, eine schöne Sache für den Band. Sie weisen von vornherein eine Spur, was man erwarten kann, wenn man diesen oder jenen Text liest: Freiheit & Meinung, Freiheit & Körper, Freiheit & Queerness, Freiheit & Hoffnung.  Die Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming analysiert in ihrem Essay Pseudo-selbstbestimmt den Zusammenhang von Freiheit & Sex:  Was ist weibliche Freiheit?  Oeming befragt die Rolle der Frau in der Gesellschaft, in der wir gerade leben, sie fragt danach, wie Sprache unsere Rolle bestimmt, wie das Patriarchat es tut, aber auch danach, warum selbst Frauen die Sexualität von Frauen in gut und böse einteilen. Sie fragt, was der Feministische Blick gebietet und verbietet. Sie analysiert ihre Rolle als „weiße, akademisierte, heterosexuelle, nicht behinderte und also die privilegierteste aller Frauen“ und kommt doch zu dem Schluss: Sexuelle Freiheit geht anders.   Ein wenig schade ist der verschenkte einladende Satz ihres Essays, „Ich musste sechsunddreißig Jahre alt werden, um zum ersten Mal halbwegs befreiten Sex zu haben“, der natürlich die Erwartung schürt, dass wir etwas darüber erfahren: wie befreiter Sex für sie geht, und wie es ihr gelang, dorthin zu kommen. Das tun wir nicht.  Trotzdem gibt dieser Band einen sehr guten Überblick zu Fragen und Themen, die in diesen Zeiten unter den Nägeln brennen, wenn ernsthaft darüber nachgedacht wird, wo und warum „Freiheit” so viel zählt und wir Menschen uns noch entwickeln können, als Individuen und als Gesellschaft.   Da geht noch was, verstehen wir, und fühlen uns bisweilen ziemlich angeregt, über uns selbst nachzudenken.

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