

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Mentioned books

Jun 23, 2024 • 11min
Marion Löhndorf – Leben im Hotel | Gespräch
Was macht Hotels zu so besonderen Orten? Und was inspiriert Künstler immer wieder, sich mit ihnen zu befassen oder für immer einzuchecken? Dem spürt Marion Löhndorf in ihrem klugen Essay über das „Leben im Hotel“ nach.

Jun 23, 2024 • 6min
Victor Santos – Fahrenheit 451
Homers „Odyssee”, Joseph Conrads „Herz der Finsternis”, „Alice im Wunderland” von Lewis Carroll – Geschichten, die die Welt in Atem gehalten haben. Nun liegen diese und viele andere Bücher auf dem Boden – ein Scheiterhaufen der Kulturgeschichte zum Abfackeln bereit. Denn die Feuermänner stehen schon da - ihre Kerosinpistolen im Anschlag, um die Ordnung wiederherzustellen, um Schluss zu machen mit aufrührerischen, sehnsüchtigen, unabhängigen Worten. Als Guy Montag wenig später nach getaner Arbeit seine feuerfeste Uniform in den Spind räumt, ist er mit sich und der Welt zufrieden. Eine erfolgreiche Woche liegt hinter ihm.
Víctor Santos: „Bradbury ist mehr ein Dichter als ein Science-Fiction-Autor“
Der Comic „Fahrenheit 451“ beginnt mit einer starken Szene, die den Albtraum einer postliterarischen Gesellschaft auf eine dramatische Weise sichtbar macht. Eigentlich sei er kein hardcore Science-Fiction-Leser, meint Víctor Santos, aber Ray Bradbury möge er besonders gern. „Er ist mehr ein Dichter als ein Science-Fiction-Autor“.
Víctor Santos: „I am not a hardcore science-fiction reader. But this is one of my favorite books. So for me was a dream to do it. Bradbury - he is more a poet than a sci-fi-author.”
Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451” in einen Comic umzusetzen, war allerdings nicht ursprünglich Víctor Santos Idee. Der spanische Verlag planeta hatte den Künstler wegen seines besonderen Zeichenstils angefragt, der mit einer reduzierten Optik, mit starken grafischen Kontrasten und noir-Motiven arbeitet. In deutscher Übersetzung liegt bislang nur ein Werk von Víctor Santos vor: „Polar“ – ein actiongeladener Spionagethriller, eigentlich ein Web-Comic, der so erfolgreich war, dass er 2019 von netflix mit Superstar Mads Mikkelsen verfilmt wurde. Die Ästhetik von „Fahrenheit 451“ hat zwar Ähnlichkeiten mit dem „Polar“-Comic, doch Víctor Santos hat für seine Adaption des Klassikers eine ganz eigene, spannende, farbige Bildsprache entwickelt.
Eine eigenständige Comic-Version des Klassikers
Ray Bradburys Zukunftsszenario entstand 1953. Den Geist dieser Zeit hat der Comic-Künstler immer wieder durch einzelne Referenzen an Mode, Einrichtung und Architektur sichtbar gemacht. So sitzt der Feuermann Guy Montag in einer pastellfarbenen Küche, auf einer Party tragen die Frauen Swingkleider und nippen an ihrem Cocktailglas. Selbst das Cover, das eine sehr stilisierte Feuerbrigade zeigt, versprüht Retro-Charme und die Gebäude sind in der Regel funktional, groß und kantig.
Es sei denn die Feuerbrigade steuert auf das Haus einer alten Frau zu, die im Verdacht steht, Bücher zu besitzen. Es ist eine in die Jahre gekommene, verwitterte Villa aus Holz vor dem düsteren Hintergrund steil aufragender Betonklötze. Diesmal ist die Säuberungsaktion unerbittlich. Die alte Frau geht mitsamt ihrer Bibliothek in Flammen auf. Für seine Comic Adaption hat Víctor Santos Bradburys Dystopie nicht einfach nur bebildert. Er hat eine weitgehend eigenständige Version entwickelt:
Víctor Santos: „I was more concerned about transmit the feeling and the emotion of the Story than using all the dialogs, all the descriptions of the story. For example, I never use the narration of Bradbury only the dialogues. Because I have this rule: if Bradbury is telling me something, I am going to draw it, to show it. I`m not going to copy and pace the text.”
„Mir ging es mehr darum, die Gefühle und Emotionen der Geschichte zu vermitteln, als alle Dialoge und Beschreibungen der Geschichte zu übernehmen. Ich verwende zum Beispiel nie Bradburys Erzählung, sondern nur die Dialoge. Denn ich habe diese Regel: Wenn Bradbury mir etwas erzählt, zeichne ich es, um es zu zeigen. Ich kopiere den Text nicht und füge ihn nicht einfach ein.“
In den 1950er Zeiten futuristisch, heute bereits Realität
Es ist nicht nur der grausame Tod der alten Dame, der die geordnete Welt des Feuermannes Guy Montag allmählich ins Wanken bringt. Vor seinem Haus begegnet er dem jungen Mädchen Clarisse, eine Nachbarin, die durch den Regen tanzt, die merkwürdige Gedanken äußert und ihn mit seltsamen Fragen irritiert –ob er glücklich sei, will sie wissen. Anders als die sehr lebendige Clarisse sitzt Guy Montags Frau Mildred wie ein Fernseh-Zombie daheim. Die Zimmerwand besteht aus einem einzigen riesigen Bildschirm und sehr zum Leidwesen Mildreds hat das Gehalt ihres Mannes bislang nur für drei Wände gereicht.
Als sie eines Tages eine Überdosis Tabletten nimmt, kommt eine Spezialeinheit zum schnellen Blutwechsel vorbei. Ein Standardeinsatz, Ärzte werden für solche Lappalien nicht mehr belästigt, erfährt Guy, was ihn fassungslos macht und in die Krise stürzt. Er fängt an, Bücher beiseitezuschaffen, zu lesen, die Schönheit der Gedichte zu feiern, was ihn aus der Sicht des Systems verdächtig macht. Víctor Santos hat in seine Bilder immer wieder hoch moderne Technik integriert. Zu Zeiten Ray Bradburys geradezu futuristisch, heute Alltag:
Víctor Santos: “I could see all the elements of the social Media, the fake news. A lot of elements I even know when I read the novel seven years ago. But now they are my present. I feel Bradbury was talking about it and I try to add this new interpretation to the graphic novel. I think it fits perfectly.“
„Ich konnte alle Elemente der sozialen Medien und der Fake News erkennen. Viele Elemente kannte ich schon, als ich den Roman vor sieben Jahren las. Aber jetzt sind sie meine Gegenwart. Ich habe das Gefühl, Bradbury hat darüber gesprochen und ich versuche, diese neue Interpretation in den Graphic Novel einzubringen. Ich finde, es passt perfekt.”
Mahnung vor einer intellektuellen Gleichschaltung
Das Faszinierende an Bradburys Vision ist die Tatsache, dass die Menschen in seiner Geschichte selbst Literatur und kritisches Denken abgeschafft haben, um alle Bürgerinnen und Bürger auf ein gleiches intellektuelles Niveau zu bringen. Nun hat ein totalitärer Staat darüber zu wachen, dass dieser Standard und der allgemeine Seelenfrieden nicht gefährdet werden. Fatal, wie sich in Bradburys Roman aktuelle Trends wiederfinden: die Sehnsucht nach Vereinfachung, nach einer künstlichen Intelligenz, die Lern- und Denkarbeit erleichtert, nach Spaß und Ablenkung, verbunden mit einer zunehmenden inneren Leere.
Víctor Santos legt viel Wert auf die emotionalen Momente dieser Geschichte: er zoomt die Gesichter heran, arbeitet sehr gekonnt mit unterschiedlichen grafischen und farblichen Effekten und spielt sehr lebendig mit den Vignetten, den Bildrahmen, um die Charaktere noch stärker hervorzuheben oder zu kommentieren. Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451“ auf diese spannende Weise wiederentdecken zu können, ist ein wertvolles Geschenk.

Jun 23, 2024 • 6min
Judith Poznan – Aufrappeln | Buchkritik
Dieses Buch hat seinen Höhepunkt gleich am Anfang, und er kommt als Ratte daher. Die guckt eines Tages aus Judiths Kloschüssel.
Da war eine Ratte in meinem Klo. Ihr Kopf war ganz schmal, die Nase spitz, und ihr Fellhaar schwamm im Klowasser. Und noch bevor ich irgendwie hysterisch werden konnte, zog sich ihr Kopf wieder zurück.
Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln
Was Judith, die Ich-Erzählerin in „Aufrappeln“, die zufällig genauso heißt wie Judith Poznan, die Autorin des Buches, was Judith also dann tut, ist sehr, sehr lustig. Sie schnappt sich eine Rolle Gaffa-Klebeband, das ist dieses ganz feste, klebrige mit dem man fast alles irgendwo anpappen kann, und dann „verbarrikadiert“ sie die Rattentoilette mit dem Dichtungsband.
Fünf silberne Streifen verschlossen das Tor zur Hölle. Und ich packte einen hohen Stapel alter Bildbände und Graphic novels drauf. Ratten, las ich, sind stark. Sie konnten ohne Weiteres das Dreifache ihres Körpergewichts stemmen und sich nahezu überall hindurchquetschen. Die hier würde aber keine Chance haben, rauszukommen.
Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln
Eine Ratte im Klo als Omen
Die Rattengeschichte gleich auf den ersten Seiten, ist stark. Charmant und unterhaltsam erzählt Judith Poznan sie und deutet das Nagetier im Klosett als eine Art Omen, ein schlechtes Zeichen für das, was da auf sie zukommt. Und tatsächlich, ein paar Tage später – ist die Katastrophe da, ihr Freund Bruno teilt ihr mit, dass er sich von ihr trennen will. Für Judith bricht eine Welt zusammen, mit Bruno hatte sie sich eine Zukunft vorgestellt, Mann, Frau, Kind in einer Berliner Altbauwohnung - mit allem, was dazugehört zu so einer heilen kleinen Familie, also mit allem, was Judith dachte, dass es dazugehört:
Ich wollte aus unserer Wohnung ein Zuhause machen, mit Schnittblumen und zu vielen Bilderrahmen. Ich wollte Kinder, die es eklig finden, wenn wir uns küssen. Ich wollte den Markt, auf den wir jeden Samstag Händchen haltend rübergehen. Ich wollte die Hochzeit, die trotz des Regens eine schöne war. (...) Ich wollte das ganze Leben, die Höhen und die Tiefen, den Tag und die Nacht, ich wollte die große Liebe und im wenigen das Glück.
Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln
Der Kampf um Haltung in der Paar-Krise
Und jetzt plötzlich das Kontrastprogramm – quasi über Nacht ist Judith alleinerziehend, zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus, und bemüht sich, trotz allem, um eine gute Beziehung zu ihrem Ex-Freund, dem kleinen Sohn zuliebe. Denn obwohl die Trennung „das Ende von uns Dreien“ bedeutet, wollen Judith und Bruno doch weiter Eltern, gute Eltern sein.
An sich ist das alles kein unspannendes Setting, der Kampf um Haltung in der Krise, die Frage, wie man als Eltern zusammenbleiben kann, wenn die Paarbeziehung endet. Doch leider verpasst Judith Poznan regelmäßig die Momente, in denen das Buch mehr Tiefe und Reflexion über diese wichtigen Fragen gebraucht hätte. Stattdessen verlässt sie sich ganz auf ihr Erzähltalent, sie pickt sich kleine Alltagsepisoden heraus und kombiniert diese mit Rückblicken auf ihre eigene Kindheit und Jugend in Berlin Moabit. Die war „typisch 90er“, zwar hatte Judith schlechte Noten und der Vater war mal arbeitslos, aber ansonsten: alles normal.
In dieser Zeit war ich das, was man von einer Jugendlichen erwarten konnte. Trockene Haut, fettige Haare, besessen von Leonardo di Caprios müdem Blick und ohne meine beste Freundin kein ganzer Mensch. Meine Emailadresse lautete crazynoodle@gmx.de. Wie sich ein Zungenkuss anfühlen könnte, war die alles beherrschende Frage.
Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln
Was hat diese Mitt-Dreißigerin zu sagen?
Auch in den ernsten Teilen des Buches, in denen es zum Beispiel um die Abtreibung bei ihrer besten Freundin mit 16 geht, bleibt Judith Poznan an der Oberfläche. Ihre Kämpfe gehen nie aufs Ganze, ob nun als Heranwachsende oder in der Zeit nach der Trennung. Judith und Bruno sind für ihren Sohn, der seltsamerweise immer nur „der Junge“ genannt wird, weiterhin da, das gelingt ihnen sehr gut. Fertig.
Nur leider, so scheint es, hatte Judith Poznan eben noch knapp 150 Seiten zu füllen. Also lässt sie es plätschern, sorgt hier und da für kleine Schmunzler, durch ihre Berliner Schnauze – sie geht „pullern“ und liebt ihren Sohn „ganz dolle“ – es geht um ihre erste Teenagerverliebtheit und darum, wie sie das Tagebuchschreiben für sich entdeckt hat, aber das reicht eben nicht für ein Buch, das auf dem Klappentext ankündigt „unsere Vorstellung von Liebe zu ergründen.“ Es wird einfach nicht klar: was hat diese Mitte Dreißigjährige eigentlich zu sagen? Für wen sind ihre kleinen Alltagsbeobachtungen spannend, außer für sie selbst? Und selbst die Stellen, die eigentlich emotional sein sollen, klingen seltsam distanziert.
Am nächsten Morgen stehe ich erst spät auf. Die Freude über den Umzug in die Wohnung, der Schmerz über die Trennung von Bruno, beides hat meinen Kopf zu einem Geschwür aus Verwirrung anschwellen lassen. Anstatt nach draußen zu gehen, die Sorgen abzulegen, gammle ich allein vor mich hin. Ich warte einfach nur darauf, dass alles besser wird.
Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln
Judith Poznans zweiter Roman „Aufrappeln“ hat kein Stilproblem. Wer ihren schnodderigen Berliner-Schnauze Ton mag, der kann sich an vielen unterhaltsamen Passagen erfreuen. Und dass ihr der Schreibprozess selbst wichtig, dass er heilsam für sie ist, wird auch klar. Was dem Buch fehlt, ist Relevanz oder Gewicht. Kleine Anekdötchen, witzige Wortspiele hier und da reichen vielleicht für Posts in den sozialen Netzwerken, sind aber nichts für die Langstrecke.

Jun 23, 2024 • 55min
lesenswert Magazin: Ab in die Ferien!
Neue Bücher von Judith Poznan, Jörg Später, Marion Löhndorf, John Wray und der Klassiker "Fahrenheit 451“ als Graphic Novel

Jun 23, 2024 • 8min
John Wray – Unter Wölfen
Florida Ende der 80er Jahre: Kip, Kira und Leslie sind drei auf je eigene Art gebeutelte Kids, die sich zufällig in der Kleinstadt Venice begegnen – und feststellen, dass sie etwas verbindet: die Leidenschaft für eine neue und extreme Musik, die zu dieser Zeit direkt in ihrer Nachbarschaft entsteht: Black Metal. Megadeth, Anthrax, Slayer oder Hanoi Rocks heißen die einschlägigen Bands.
Dann setzte das Kreischen ein, und es hörte sich an, als versuchte jemand, auf einem brennenden Scheiterhaufen ein Kinderlied zu singen. Der Gesang klang wütend, ekstatisch, als litte jemand höllische Schmerzen – wissen konnte man das nicht, der Text ließ sich unmöglich verstehen. Wie ein Horrorfilm, dachte Kip, und das nicht bloß wegen des auf die Plattenhülle geairbrushten Zombies. Ihm wurde dieselbe reinigende Angst zuteil, dieselbe Katharsis, dieselbe Offenbarung wie durch einen Slasher-Film um Mitternacht: die Einsicht nämlich, dass nichts, aber auch rein gar nichts gut werden würde. Jetzt nicht. Später nicht. Nie. Und das ergab für ihn durchaus einen Sinn. (John Wray – Unter Wölfen)
Der interessante Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein
Diese selbst ziemlich musikalische Beschreibung eigentlich unbeschreiblicher Musik stammt von dem amerikanisch-österreichischen Autor John Wray. Sein neuer Roman heißt „Unter Wölfen“. Wray beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit Charakteren, die in jenem labilen Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein ihren Weg finden müssen, angetrieben von Ängsten, Paranoia, Euphorie, Größenwahn und hormonellem Irrwitz.
John Wray:„Diese Phase, in der man eigentlich die eigene Identität zu gestalten anfängt, habe ich immer wahnsinnig spannend gefunden.“
Wir treffen John Wray in seinem Haus im Brooklyner Stadtteil Park Slope, gelegen in einer ruhigen Seitenstraße. Hier lebt er mit seiner Familie, umgeben von Büchern, Kinderspielzeug und Gitarren.
John Wray:„Für mich waren die letzten Teenagerjahre und Anfang 20 auch eine sehr, sehr glückliche Zeit und eine sehr spannende Zeit. Dieses Gefühl der Selbstbestimmung und der Autonomie Sachen für sich selbst entdecken, ästhetische Fragen (…), ja, dieses Gefühl der Selbstbestimmung und der Autonomie, das war einfach so unglaublich. Das war ein Abenteuer sondersgleichen, das erste echte Abenteuer meines Lebens. (…) Das bleibt nach wie vor spannend und wunderschön für mich. Natürlich ist es auch eine extrem beklemmende Zeit und eine oft sehr traumatische Zeit. Als Rohmaterial für einen Roman könnte man sich kaum etwas Besseres wünschen.“
Das Traumatische und das Abenteuerliche liegen eng beieinander
Das Traumatische und Abenteuerliche liegen in „Unter Wölfen“ tatsächlich eng beieinander: Kip ist gerade erst nach Venice zu seiner Großmutter gezogen – nicht freiwillig natürlich. Sein Vater sitzt im Gefängnis, seine Mutter treibt sich irgendwo herum und zeigt kein großes Interesse an ihrem Sohn.
Leslie, ein von jüdischen Adoptiveltern innig geliebter schwarzer Junge, bewegt sich als Fremdkörper durch die Welt – mit seinen Glamklamotten, seinem ausgefallenem Musikgeschmack fällt er auf, seine Homosexualität macht ihn angreifbar, sein Drogenkonsum tollkühn.
Und Kira, die dritte im Bunde, lebt bei einem Vater, der sie missbraucht. Sie flüchtet sich in immer drastischere Situationen, die Lust am Exzess ist bei ihr mindestens so ausgeprägt wie der Wunsch nach Selbstauslöschung.
Alle drei wollen etwas spüren, erleben, etwas Wahres und Echtes und Authentisches. Metal birgt all das in sich. Sie werden zu einer verschworenen Gemeinschaft, ziehen sogar zusammen nach Los Angeles, ins Mekka des Metal, wo sich verschiedene Szenen überschneiden. Nähebedürfnis und Abgrenzungszwang wechseln sich auf unheilvolle Weise ab. Kip und Kira lieben sich, aber diese Liebe hat etwas Zerstörerisches.
Das alles erzählt John Wray rasant, in einem lässigen, aber nie anbiedernden Ton, den Bernhard Robben ebenso lässig ins Deutsche gebracht hat. Musik spielt in diesem Roman nicht im Hintergrund. Sie grundiert das Leben, erdet es. Wray versucht nicht, cool über Musik zu sprechen, sondern lässt seinen Figuren den Vortritt. Sie wachsen in die Musik hinein und sinnieren darüber – nie klüger und nie blöder als es Jugendliche eben tun. Wray selbst hat viel gelesen und gehört, mit Heavy-Metal-Anhängern gesprochen und dabei eine gar nicht so verwunderliche Erkenntnis gewonnen:
John Wray:„Ich muss ehrlich sagen, die Heavy-Metal-Fans, mit denen ich zu tun gehabt habe, sind weitaus die liebsten, sanftesten, sympathischsten Menschen, die ich infolge meiner Arbeit kennengelernt habe.“
Tatsächlich klaffen äußere Erscheinung und innere Befindlichkeit selten so weit auseinander. Die Heavy-Metal-Kultur sei sehr bunt, sagt Wray.
John Wray:„Und für mich war das natürlich faszinierend und eine wirklich große Überraschung.“
Überraschend ist auch, welche Wendung der Roman nimmt. Von Florida über Kalifornien geht es im letzten Teil nämlich nach Norwegen, wo sich zu jener Zeit eine noch heftigere Spielart des Metal entwickelt: Black Metal. Kip und Kira reisen nach Europa, und Kira verschwindet irgendwann spurlos in der berüchtigten norwegischen Szene.
Der legendäre Osloer Plattenladen Helvete spielt dabei eine wichtige Rolle – und dessen Gründer Øystein Aarseth alias Euronymus, der zugleich Gitarrist der stilprägenden Band Mayhem war. Uralte Holzkirchen werden zu dieser Zeit angezündet, satanische Rituale sind ebenso beliebt wie Songs über die Pest. Der Tod ist in dieser Kultur allgegenwärtig: Es ist die radikalste Auflehnung, die sich in einer tief christlichen, spaßfeindlichen und restriktiven Gesellschaft denken lässt.
John Wray:„Als ich mit Metal-Fans gesprochen habe, also aus Florida stammend und dann aus Norwegen, weil ich war auch eine Zeit lang in Norwegen, habe ich immer wieder das Gleiche gehört: Also, wir haben nicht Heavy Metal gemacht, weil es so finster war im Winter. Oder weil die Wikinger aus Norwegen stammten. Oder weil wir alle Alkoholiker sind. Sondern weil es so extrem langweilig war als junger Mensch. Weil die Gesellschaft nichts für uns getan hat. Und weil alles so extrem homogen war. (…) Und das ist genau gleich gewesen in Norwegen, so wie in Florida, so wie überall. Die extremsten Jugendbewegungen entstehen immer dort, wo es am langweiligsten ist zu leben.“
Die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt
Wrays Roman entwickelt sich im Schlussteil zu einem Thriller, einer verzweifelten Suche nach Kira, aber auch nach einem Platz in der Welt. Kip ist vielleicht der Einzige der drei, der sich am Ende wirklich aus der gefährlichen Umklammerung der intensiven Überwältigungskunst in eine andere Sphäre der Kunst- und Weltwahrnehmung retten kann. Er fängt an, über Musik zu schreiben, wird zum Autor, der notgedrungen eine Distanz zu seinem Gegenstand einnehmen muss. Die Musik kann zwar Leben retten, aber manchmal muss man sich auch vor der Musik retten, indem man sie auf andere Weise betrachtet. Vielleicht erzählt John Wray, der Schriftsteller, der selbst als Jugendlicher dem Lauten und Chaotischen zugeneigt war, da auch ein wenig seine eigene Geschichte.
John Wray:„Man wird älter. Und so sehr man sich vielleicht dagegen wehren möchte, muss man diese Phase des Lebens irgendwie doch hinter sich lassen. (…) Man empfindet die Welt, die Liebe und auch die Musik nicht mehr mit einer solchen ungeheuren Intensität wie früher. Das ist natürlich einerseits eine leicht melancholische Tatsache, aber andererseits könnte man mit einer solchen Einstellung kaum überleben. (…) Glücklicherweise kann man sich immer noch daran erinnern und vielleicht sogar einen Roman darüber schreiben.“

Jun 23, 2024 • 5min
Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik | Buchkritik
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die deutsche Bevölkerung nicht nur mit dem unvorstellbaren Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert, sondern auch an einem moralischen Tiefpunkt angelangt. Wer nicht mit dem Verschweigen und Vertuschen der eigenen Taten beschäftigt war, beteiligte sich an der Verdrängung der Taten anderer. Ein Interesse an einer echten Aufarbeitung der grausamen Vergangenheit hatten nur wenige.
Die Rettung aus dem Exil
In dieser Situation waren es die exilierten Intellektuellen, die der Bundesrepublik zu einem neuen Gewissen verhalfen. Unter denen, die rechtzeitig fliehen konnten, waren viele Juden, die sich immer noch ihrer Heimat verbunden fühlten. Ihre Rückkehr nach Deutschland wurde keineswegs begrüßt, stellten sie doch eine kritische Stimme dar, die niemand hören wollte. Der berühmteste unter ihnen war Theodor W. Adorno, ein öffentlicher Intellektueller wie kaum ein anderer.
Die weitreichenden Folgen dieser Rückkehr hat der Historiker Jörg Später nun in seinem Buch „Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik“ rekonstruiert. Adorno ist erst spät nach der Machtergreifung zunächst nach England, dann endgültig in die USA emigriert. Bei seiner Rückkehr hatte er eine Kritische Theorie im Gepäck, deren Wirkung der Philosoph Manfred Frank wie ein Lebenselixier beschrieben hat:
Meiner ganzen Generation war die Existenz der Kritischen Theorie eine geistige Überlebensfrage angesichts von Eltern und Lehrern, die vom Nationalsozialismus entweder kompromittiert waren oder in einer Vermeidungsstrategie die verspäteten Analysen umgingen.
Quelle: Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
Der neue kategorische Imperativ
Bereits in seinem amerikanischen Exil hatte sich Adorno einen Namen gemacht, vor allem mit der „Dialektik der Aufklärung“, die er zusammen mit Max Horkheimer geschrieben hatte. Dieses Buch wurde zu einer der wichtigsten intellektuellen Ressourcen der Bundesrepublik und hat ganze Generationen geprägt. Während viele Deutsche die nationalsozialistische Herrschaft am liebsten aus ihrer Erinnerung getilgt hätten, machte Adorno sie zum Ausgangspunkt seines Denkens und formulierte einen neuen kategorischen Imperativ für die Nachkriegszeit:
Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.
Quelle: Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
Für die Verbreitung dieses Imperativs spielte das Institut für Sozialforschung eine zentrale Rolle. Ohne diese Einrichtung an der Frankfurter Universität wäre die enorme Wirkung der Kritischen Theorie nicht möglich gewesen. Gegründet wurde das Institut 1924, seine Gründer waren enttäuscht von der Novemberrevolution. Ihre Absicht war es, eine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, mit der die Klassenkämpfe der Weimarer Republik besser zu verstehen waren als mit der orthodoxen marxistischen Lehre.
Die Auseinandersetzungen von 1968
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde das Institut geschlossen. Die Belegschaft übersiedelte nach New York, wo ihr von der Columbia University ein Haus zur Neugründung überlassen wurde. Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte das Institut auf Bitten der Stadt Frankfurt wieder zurück und wurde schnell zu einem der wichtigsten Orte für die Aufarbeitung der Vergangenheit.
Nachdem sich Horkheimer zurückgezogen hatte, wurde Adorno alleiniger Direktor des Instituts. Der Höhepunkt seiner Anerkennung als moralische Instanz fiel zusammen mit den Turbulenzen, in die das Institut durch die Studentenbewegung geriet. Dem philosophischen Meister wurde vorgeworfen, einer echten Revolution auszuweichen. Entsetzt musste Adorno zusehen, wie die Studenten unter Berufung auf seine eigene Theorie immer dogmatischer wurden:
In Wahrheit habe nicht ich meine Position geändert, sondern jene die ihre, oder vielmehr die meine, da sie ja doch unendlich viele Kategorien von mir, besser: von der Frankfurter Schule überhaupt bezogen haben. So war’s nicht gemeint.
Quelle: Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
Als Adorno 1969 starb, hinterließ er ein weit verzweigtes Netz von treuen Anhängern. Sein wichtigster Schüler Jürgen Habermas begleitet die Bundesrepublik bis heute. In seiner brillant geschriebenen Studie geht Jörg Später diesem Netz mit großer Genauigkeit nach. Vor allem aber macht er deutlich, wie wichtig die jüdische Erfahrung für die Begründer der Kritischen Theorie war, ein Umstand, der heute viele Jahrzehnte später selbst an den deutschen Universitäten in Vergessenheit zu geraten droht.

Jun 20, 2024 • 4min
B. Traven – Die weiße Rose
Die Hacienda Rosa Blanca, von der B. Travens sozialkritischer Roman „Die weiße Rose“ den Titel hat, ist ein irdisches Paradies. Hier, in der mexikanischen Provinz Vera Cruz, leben die indigenen Bewohner in Harmonie und wollen diese einfache, aber glückliche Lebensform auch für ihre Nachkommen bewahren. Darum denkt Jacinto Yañez, der sich mehr als Treuhänder denn als Besitzer versteht, auch keine Sekunde daran, die Hacienda zu verkaufen, obwohl eine US-amerikanische Erdöl-Company ihm riesige Summen anbietet.
Die Vertreibung aus dem Paradies
Mit Grausen stellt sich Jacinto vor, was geschehen würde, wenn er das Angebot annehmen und dadurch alle Gemeindemitglieder heimatlos machen würde.
Wo einst die Orangen- und Zitronenbäumchen standen, wo einst die grünen Maisfelder waren, da stöhnten und ratterten jetzt fauchende Lastautos. Der Boden war schlammig und sumpfig von Öl, das entsetzlich stank und die Luft verpestete.
Quelle: B. Traven – Die weiße Rose
In seinem früheren deutschen Leben war B. Traven links und Anarchist, doch in keiner ideologischen Richtung linientreu. 1924 gelangte er nach etlichen Stationen auf abenteuerlichen Wegen nach Mexiko und wurde aus dem Stand zum literarischen Chronisten der regionalen Ausbeutungsverhältnisse im Schatten der übermächtigen USA.
Ein Erdölmagnat sorgt für Profit und Luxus
Denn es ist Mr. Collins, der Präsident der Condor Oil Company in San Francisco, der sich Jacintos Hacienda unter den Nagel reißen will. Was für die Mexikaner die Zerstörung der Natur und ihrer Gemeinschaft bedeutet, verspricht für ihn die Steigerung der Profite, mit denen er das Luxusleben für sich, seine Familie und seine Mätressen finanziert.
Betty, du sollst die eleganteste Jacht haben, und wenn du die Jacht des Königs von England außerdem noch haben willst, ich mache ihn bankrott und kaufe alle seine Jachten, Pferde und Schlösser auf der Auktion.
Quelle: B. Traven – Die weiße Rose
Traven liefert böse schillernde Ansichten vom Auftrumpfen der Superreichen. Natürlich ist das holzschnittartig. Doch genauso stellte sich die Realität der damals so genannten „Räuberbarone“ des amerikanischen Kapitalismus dar. Ganz abgesehen davon, dass weibliche Schönheit, Yachten und alles Hochpreisige nach wie vor zu den beliebtesten Statusobjekten von Milliardären gehören.
Kurt Tucholsky feierte Traven kurz nach Erscheinen von „Die weiße Rose“ im Jahr 1929 für das treffende Porträt des Ölmagnaten Mr. Collins. Die scharfsichtige Schilderung von dessen ebenso gewinnbringendem wie skrupellosem Handeln erreichte in seinen Augen das Niveau von Balzac.
Urszenen des Kapitalismus
Mr. Collins sah einen Menschen, und wusste, wie er ihn zu gewinnen hatte. Die einen brüllte er nieder, die andern redete er nieder, und wieder andere streichelte er nieder. Und wenn nichts half, schlug er sie zu Boden.
Quelle: B. Traven – Die weiße Rose
Natürlich ist die Hacienda vor dem Zugriff der Ausbeuter, die schließlich Gangstermethoden anwenden, nicht zu retten. Die ökonomische Logik und das gerade anbrechende Zeitalter ölhungriger Motoren lassen keinen Ausweg.
Travens ebenso farbig wie präzise ausgemalte Urszenen eines ungezähmten Kapitalismus sind nach wie vor ein fesselndes Lehrstück über Macht und Unterwerfung. Und gerade im Licht der postkolonialen Debatten von heute gewinnen sie eine ganz neue Brisanz.

Jun 19, 2024 • 4min
Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao
Mit dem Schlager „Abbronzatissima“ – „stark gebräunt“ – von Edoardo Vianello beginnt Eric Pfeils zweite musikalische Italienrundreise. Dass dieser Sommerhit aus dem Jahr 1963 den Auftakt bildet, ist zwar schlicht der alphabetischen Aufzählung nach Liedtiteln geschuldet. Aber auch inhaltlich ergibt es Sinn.
Der Großteil dessen, was wir heute als „typisch italienisch“ wahrnehmen – Esskultur, Aperitivo-Tradition, Caffé-Rituale, Mode, Kino, Musik – ist ein Produkt der Nachkriegszeit und des „Boom economico“, des wirtschaftlichen Aufschwungs. „Abbronzatissima“ ist in diesem Sommer 1963 mithin der Soundtrack zur Erschaffung der italienischen Leichtigkeit.
Quelle: Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao
Ein Buch wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte
100 Lieder in 100 Kapiteln – wie schon das erste Italien-Buch von Eric Pfeil ist auch dieser Band wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte: bunt, abwechslungsreich, überraschend, aber auch tiefgründig.
So erklärt der Autor beispielsweise anhand von Ivano Fossatis „La mia banda suona il rock“ das Verhältnis des Einzelnen zur Nation. Der Genueser Fossati nahm das Album 1979 in den USA auf, um der provinziellen Kleinteiligkeit seiner Heimat zu entfliehen.
Man denkt weniger national als regional – als piemontese, napoletano oder pugliese. Sich kollektiv unter dem Banner Italia zu versammeln, fällt den Bewohnern des Bel Paese bis heute schwer. In Italien spricht man vom Campanilisimo, der extremen Bezogenheit auf den örtlichen Glockenturm.
Quelle: Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao
Leidenschaftlicher Italien-Forscher
Pfeil, das scheint auf jeder Seite durch, ist nicht einfach nur Tourist. Er ist ein leidenschaftlicher Italien-Forscher, der das Land in all seiner kulturell und regional fragmentierten Gesamtheit erfassen will. Dieses Wissen vermittelt er uns anhand der ausgesuchten Lieder.
Eric Pfeil: Irgendwann läuft man dann natürlich vor sehr viele Wände. Dann stehen die Widersprüche im Raum herum. Der Katholizismus, die Frauen, die Männer, die Mütter, die Mafia…. Die Musik, die für mich immer parallel lief, die ich auch immer faszinierend fand, weil sie so ein anderes Flirren hatte als anglo-amerikanische Musik, hat sich für mich irgendwann als das Mittel herausgestellt, mit dem man das Land wirklich verstehen kann.
Große Themenvielfalt der italienischen Popmusik
Weil, so Pfeil, in der Musica leggera, wie sie in Italien heißt, wirklich jedes Thema abgehandelt werde. Die Anni di piombo, die bleiernen Jahre des Links-Rechts-Terrors in den 70ern, haben genauso ihre musikalische Entsprechung wie die LGBTQ-Bewegung oder die Rückkehr des Rechtspopulismus. Wir erfahren zudem, welche Künstler politisch wo zu verorten zu sind, und Pfeil erinnert daran, dass die wahren Superstars des italienischen Lieds nicht die sind, die wir in Deutschland dafür halten – statt Ramazotti, Zuccero und Cutogno nämlich: De Andre, di Gregorio, Mina und immer wieder Lucio Battisti.
Manchmal versteigt sich Pfeil etwas in seinen Formulierungen: da wird mächtig aufs Pedal gedrückt, direkt durch den Käse geschnitten und Themen werden adressiert, statt sie – nun ja – eben einfach an- oder auszusprechen. Das jedoch sind lässliche Verfehlungen dieses Reiseführers der anderen Art. Eric Pfeil trifft darin nämlich genau den Ton, den er am Gegenstand seiner Betrachtung so liebt: glitzernd und flirrend.

Jun 18, 2024 • 4min
Alana S. Portero – Die schlechte Gewohnheit
Das Kind Alex lebt in einem ärmlichen Stadtteil von Madrid. Schon früh weiß es, dass es ein Mädchen ist, obwohl es im Körper eines Jungen geboren wurde. Heimlich schminkt sich Alex im Badezimmer oder tanzt zur Musik von Madonna, wenn die Eltern nicht zuhause sind. Der Vater ist Fabrikarbeiter, die Mutter Putzfrau. Als Alex älter wird, spielt sie tagsüber den ganzen Kerl, den das Umfeld in ihr sieht. Sie versteckt ihre wahre Geschlechtsidentität – aus Angst und aus Scham.
Ich fürchtete das Urteil eines unsichtbaren Gottes, das in jedem Blick anderer lauerte. Eine Art jagender Heiliger Geist, der von Körper zu Körper sprang und mich umkreiste wie ein Geier, der auf die endgültige Kapitulation eines verwundeten Tiers wartete. (…) Ich war zutiefst davon überzeugt, dass jeder Versuch, mich als das Mädchen, die Jugendliche oder die Frau, die ich war, zu behaupten, irgendeine unerträgliche Art der Korrektur nach sich ziehen würde.
Quelle: Alana S. Portero – Die schlechte Gewohnheit
Selbstverleugnung und Nachtleben
So schildert die spanische Autorin Alana S. Portero Alex‘ inneren Konflikt. Die junge Transsexuelle leidet zutiefst unter der Selbstverleugnung. Die schlechte Gewohnheit, die dem Roman seinen Namen gegeben hat, ist, dass Alex viel weint. Lebendig und wahrhaftig fühlt sie sich erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sie für einige Stunden in das Madrider Nachtleben eintaucht und in Frauenkleidern ihre weibliche Identität und ihre Sexualität erkundet.
Die 46-jährige Autorin Alana S. Portero ist selbst transsexuell. Früher war sie ein Junge. Jetzt ist sie eine Frau.
Alana S. Portero:El barrio. ... Y evidentemente la experiencia trans – aunque mi experiencia es diferente de la de la protagonista de la novela. Yo necesitaba esas dos o tres ayudas personales para poder crear una buena ficción encima, para usarlas como suelo para construir un buen texto. La novela tiene mucho menos que ver conmigo de lo que parece.
Voiceover:Das Viertel San Blas, in dem die Protagonistin aufwächst – da komme ich auch her. Und natürlich die Tatsache, dass sie wie ich eine Trans-Frau ist, obwohl meine Erfahrung anders ist als ihre. Diese paar Bezugspunkte brauchte ich als Grundlage für eine gute Fiktion. Aber der Roman hat viel weniger mit mir persönlich zu tun als es scheint.
Das Kind als Chronistin
Im heruntergekommenen San Blas müssen die Bewohner in den 1980er Jahren hart als Fabrikarbeiter oder Bedienstete schuften. Nachbarinnen werden von ihren Männern verprügelt, Jugendliche betäuben sich mit Heroin. Durch die Augen und die Stimme von Alex erleben wir das Viertel. Das sensible und scharf beobachtende Kind ist eine Chronistin der rauen Wirklichkeit. Zugleich ist sein Blick auf die Menschen von San Blas freundlich und mitfühlend. Alex selbst wird in einer liebevollen Familie groß, aber (eben) auch in einer Umgebung, in der queere Menschen verspottet werden oder sogar Gewalt erfahren.
Vor ihrer Angst und Einsamkeit flüchtet sich Alex oft in Traumwelten, die von Fabelwesen bevölkert werden. Und wenn sie sich als Jugendliche in der Madrider Nacht Männern hingibt, beschreibt sie sie diese als Drachen und sich selbst als geflügelte Nymphe.
Der Raum füllte sich schnell, und wir kamen alle zusammen – Gehörnte mit Geflügelten, Stachelrücken mit Paarhufern, Feuerhäute mit Moosumhängen. Als die bucklige Mondkönigin hervorkam und ihr Licht in unsere Münder ergoss, boten wir ihr, wie es sich gehörte, unsere unsterbliche Seele dar, um den Tanz einzuläuten.
Quelle: Alana S. Portero – Die schlechte Gewohnheit
Der Mut, sich so zu zeigen, wie man wirklich ist
Ein Roman voller phantastischer Abschweifungen, die etwas mit der Leidenschaft der Autorin für Mythen und Märchen zu tun haben, wie sie selbst erzählt.
Alana S. Portero schildert den schwierigen Prozess von Alex‘ Transition berührend, passagenweise aber auch leicht und humorvoll. Die harten, schmerzhaften Erfahrungen der Protagonistin bricht sie durch die poetischen Einschübe und auch durch die warmherzige Beschreibung einer Reihe von Menschen, die Alex Weg kreuzen und ihr letztendlich Hoffnung geben. Porteros Debüt ist mehr als ein Trans-Roman. Es ist eine universelle Geschichte über die schwierige Suche nach sich selbst und über den Mut, den es braucht, um sich so zu zeigen, wie man wirklich ist.

Jun 17, 2024 • 4min
Susan Sontag – Über Frauen
In einem Beitrag für die Frauenzeitschrift Libre schreibt Susan Sontag, die Befreiung der Frauen sei eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft. Der Aufsatz ist Teil des Essaybands „Über Frauen“, den Susan Sontags Sohn, David Rieff, jüngst publizierte. Er enthält die wichtigsten Aufsätze von Susan Sontag zum Thema Frausein. Die US-amerikanische Autorin widmet sich darin politischen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten und macht deutlich, wie sich unsere Vorstellungen von Geschlecht auf die Lebenswirklichkeit von Frauen auswirken.
Eine kritische Beobachterin, die ihrer Zeit voraus war
Sontag erweist sich dabei als kluge und aufmerksame Beobachterin der Gesellschaft. Wie ihre Bücher „Das Leiden anderer betrachten“ oder „Über Fotografie“ sind auch die Texte in diesem Band anspruchsvoll und doch gut verständlich. Sontag findet eine Sprache, die ihr eine präzise und wissenschaftlich fundierte Argumentation erlaubt und sich doch flüssig liest. Die Philosophin beweist ein weiteres Mal, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Die Denkmuster und Machtstrukturen, die sie in den USA der Siebzigerjahre offenlegte, lassen sich auch in der heutigen westlichen Gesellschaft beobachten.
Keine Frage, Schönheit ist eine Form von Macht. [...] Beklagenswert ist jedoch die Tatsache, dass es die einzige Form von Macht ist, nach der zu streben Frauen ermuntert werden. Diese Macht definiert sich immer im Verhältnis zu den Männern: Es ist nicht die Macht, zu tun, sondern die Macht, Anziehung auszuüben. Es ist eine Macht, die sich selbst negiert.
Quelle: Susan Sontag – Über Frauen
Auch unbequeme Wahrheiten kommen ans Licht
Susan Sontag scheut nicht davor zurück, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch solche, die vielleicht nicht gern gehört werden, etwa, dass die Befreiung der Frau unmittelbar an den Verlust männlicher Privilegien geknüpft ist. Oder dass Frauen zum Teil selbst an der Aufrechterhaltung repressiver Strukturen mitwirken.
Manche Passagen sind durchaus brisant, etwa wenn die Autorin die Geschlechterdiskriminierung mit der Rassentrennung oder Kolonialzeit vergleicht.
Alle Frauen leben in einer »imperialistischen« Situation, in der die Männer die Kolonialherren und die Frauen die Kolonialisierten sind.
Quelle: Susan Sontag – Über Frauen
Hier erweist sich eine Anmerkung der Autorin als hilfreich: Sie erläutert, dass der Beitrag in der sozialistischen Frauenzeitschrift Libre erschienen ist, was die revolutionär-sozialistische Rhetorik erklärt. Eine Kontextualisierung wäre auch bei dem Beitrag über die umstrittene Regisseurin Leni Riefenstahl hilfreich gewesen. Dieser weicht nämlich inhaltlich von den vorigen Texten etwas ab und befasst sich vor allem mit Ästhetik und Faschismus.
Diskursfreude statt Dogmatismus
Ein Briefwechsel mit der Dichterin Adrienne Rich zeigt, dass Sontag in der feministischen Szene umstritten war. Sie distanziert sich auch selbst von Teilen der Frauenbewegung und betont, dass sie ihre „Texte nicht von A bis Z in den Dienst der feministischen Sache gestellt“ habe.
Sontag ist engagiert in der Debatte, schlagkräftig und selbstbewusst. Sie greift verschiedene Perspektiven auf, entkräftigt gekonnt gängige Klischees und benennt deutlich, was sich ändern müsste, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen:
Die Demokratisierung der Familienarbeit ist einer der erforderlichen Schritte, um die repressive Definition der Rollen von Ehemann und Ehefrau, Mutter und Vater zu verändern.
Quelle: Susan Sontag – Über Frauen
Der Band knüpft also eng an heutige Diskurse an und ist beinahe erschreckend aktuell. Darüber hinaus können wir von der Philosophin einiges lernen, was den Umgang mit kontroversen Themen und festgefahrenen Debatten betrifft.
Meiner Ansicht nach verdient nur eine kritische, dialektische, skeptische, jeder Vereinfachung entgegenwirkende Intelligenz, verteidigt zu werden.
Quelle: Susan Sontag – Über Frauen
Wer entlang von Parteilinien denkt, so Susan Sontag weiter, produziere nichts als „intellektuelle Monotonie und schlechte Prosa“.


